Mensch 2.0
Die 2. Schöpfung

Auf dem Weg zum Ende der natürlichen

Menschheit - am Beginn des neuen

Zeitalters

Inhalt

Der klare Weg zum Ende der Menschheit und zum Beginn der endgültigen Zeit

„Guten Abend, ich bin Tom Vargas“

Wer erobert die Macht über die Welt?

Vargas verschwindet

Goldman

Goldman hat recht: Der Mensch ist eine Fehlkonstruktion

Urknall oder Gott? Wie denn nun?!

Gott? Gott, ja, Gott!

Gott … Gott? Nein!

Gott … eventuell doch?!

Lenina

Adam & Eva

Mensch alt gegen Mensch neu

Siegfried hat recht: Der Mensch kann sich bessern!

Gutmenschen … Terroristen: Alles eins?!

Der unsichtbare Feind

Angriff: Der sichtbare Feind

Weltherrschaft ist nicht genug

Überleben in neototalitärer Umgebung

Altdumm & neudumm: Mensch bleibt Mensch und immer gleich

Fretty hat recht: Der Mensch ist ein Geschäft. Sonst nichts

Kursklärung

Von Seneca bis jetzt. Oh, Seneca?

Blau hat recht: Der Mensch ist zu berechnen!

Ein wundervolles Geschäft!

Lady de Winter

NeuMenschen-Herstellung

NeuMenschen-Herstellung: Masse + Klasse

Angriff auf Blau

Entscheidung in Las Vegas

Wie tötet man Goldman?

Jetzt schnell weg und alles neu …!

Danach und seither

Nachwort 1: Wie weit sind wir und wie weit werden wir kommen?

Nachwort 2

Worüber Vargas wie denkt (1)

Worüber Vargas wie denkt (2)

Worüber Vargas wie denkt (3)

So funktioniert Herde

Der klare Weg zum Ende der Menschheit und zum Beginn der endgültigen Zeit

„Jeder, der sich ernsthaft mit der Wissenschaft beschäftigt, gelangt zu der Überzeugung, dass sich in den Gesetzen des Universums ein Geist manifestiert – ein Geist, der dem des Menschen weit überlegen ist und angesichts dessen wir uns mit unseren beschränkten Kräften demütig füh-len müssen.“

Albert Einstein

„Alle Materie entspringt einer Kraft. Wir müssen annehmen, dass hin-ter dieser Kraft ein bewusster, intelligenter Geist steht. Dieser Geist ist die Matrix aller Materie.“

Max Planck

Lesen Sie hier, was auf Sie zukommt.

Es gibt nichts, was Sie dagegen tun können.

„Guten Abend, ich bin Tom Vargas“

1.

An diesem Abend wehte eine angenehm warme Brise von den Florida Keys herüber zu unserem Haus. Die Luft duftete leicht nach Sonnenöl und Grillsteaks. Fröhliche Stimmen, Gelächter und Tanzmusik klangen vom Strand herüber.

Meine Frau Anne und ich saßen entspannt auf der Porch unseres Hau-ses in unseren bequemen Schaukelstühlen mit einem Dry Martini und unterhielten uns über die Ereignisse des Tages. Langsam wurde es dunkel.

Ein Mercedes fuhr langsam durch unsere ruhige Straße. Er hielt vor unserer Auffahrt, ein Mann stieg aus und blickte interessiert zu uns her-über.

Er trug ein dunkelblaues Jackett mit silbernen Knöpfen, eine graue Flanellhose und ein weißes Hemd mit elegantem Schaltuch. Mit schnel-lem Griff hob er einen Koffer und eine große braune Papiertüte aus dem Kofferraum.

Ich hatte ihn nie zuvor gesehen. Ich schätzte ihn auf 45 Jahre. Er be-wegte sich straff und sportlich. Sein Gesicht fiel mir als „klassisch“ auf. Seine Haare waren kurz und weiß.

Er kam direkt über den Rasen auf uns zu und grüßte Anne mit einer höflichen, kleinen Verbeugung.

„Formvollendet“, dachte ich, „wahrscheinlich East Coast, Boston, Harvard … oder sogar Europa?“

Er zog sich einen Stuhl herbei, musterte mich interessiert und sagte dann ernst: „Guten Abend, Mr. Class. Ich bin Tom Vargas. Ich kenne Sie … sehr gut. Ich muss mit Ihnen reden.“

„Aha“, sagte ich verwundert, „und worüber?“

„Über … eine bestimmte Wahrheit, eine sehr gefährliche. Es gibt so viele Wahrheiten wie Menschen: Entschuldigen Sie den Gemeinplatz. Wahrheit ist die Erfindung eines Lügners. Im Alltag ist Wahrheit eine Frage von Glaube und Mehrheiten. Sie erinnern sich an Luigi Pirandello: ‚Jeder hat seine eigene Wahrheit.‘?“

Er zögerte einen Augenblick, schien aber keine Antwort zu erwarten. „Nun, hier geht es um eine Wahrheit, die die Menschheit in ihrer bisheri-gen Form ablöst.“ Er sah mich nervös und forschend an.

Eine unangenehme kleine Pause entstand.

„Und gerade Sie wissen darüber Bescheid, ja?“, fragte ich vorsichtig, „meinen Sie das im Ernst? Ist das nicht eine etwas merkwürdige Begrü-ßung für jemanden, der Sie nicht kennt? Und was habe ich damit zu tun?“ Ich holte tief Luft. „Vielleicht sollten Sie Ihre Wahrheit irgendwo anders loswerden?“

Ich schielte hinüber zu Anne. Sie runzelte die Stirn und schien sich zu fragen, ob wir es mit einem Psychopathen zu tun hätten. Sie wirkte ange-spannt und unschlüssig.

Er fing meinen zweifelnden Blick auf und entgegnete: „Ich werde Ih-nen das alles zeigen, ich brauche es nicht zu beweisen, es ist selbsterklä-rend. Es sind keine Zweifel möglich. Die gesamten Folgen sind für unsere normalen Gehirne noch unvorstellbar. Aber dazu kommen wir gleich.

Ich weiß Bescheid über Sie. Sie sind mutig. Sie legen sich mit Politi-kern an, mit Bossen aus der Wirtschaft, mit der Großfinanz, mit der Ma-fia, sogar mit Deep State. Ich wundere mich, dass Sie noch leben.

Aber ich weiß auch, dass Sie ständig auf der ‚Suche nach dem Absolu-ten‘ sind, Sie leben Ihre ‚Politeia‘ nach Platon, nicht wahr?“ Er lächelte mir freundlich und ein wenig mitleidig zu. „Eine altmodisch-philosophische Einstellung! Nun, ich weiß alles über Ihre Herkunft, über Ihre Vorfahren, über die philosophischen Prinzipien, die Sie geerbt haben und nach denen Sie sich richten. Sie werden vermutlich an meinem The-ma sehr interessiert sein.“

Er schwieg einen Moment und sah mich seltsam durchdringend an. Mir wurde unbehaglich zumute. Ich rutschte auf meinem Stuhl zurück.

„Und genau deshalb vertraue ich Ihnen mehr als sonst irgendwem auf dieser Welt. Vielleicht kenne ich nur die falschen Leute. Vielleicht sind Sie der Richtige, um bestimmte Dinge zu erkennen und sie zum allgemeinen Wohl anzupacken. Vielleicht ist auch schon alles längst gelaufen, irreversibel. Aber vielleicht können wir gemeinsam Dinge bewegen, die ich allein niemals bewältigen kann. Viele ‚Vielleichts‘, nicht wahr?“

Seine Augen ruhten durchbohrend auf meinem Gesicht, schienen mich zutiefst erkennen und einschätzen zu wollen. Auf seiner Stirn bildete sich eine tiefe, senkrechte Falte, und mir wurde wieder ein wenig unbehaglich. Dann durchscannte sein Blick wachsam unseren Garten, die Büsche und die Bougainvillien des Nachbarn. Seine Augen kehrten zu mir zurück. Seine Züge entspannten sich. Er lächelte freundlich und offen.

2.

Dann setzte er die braune Tüte auf den Tisch und zauberte daraus eine wundervolle Flasche Cognac, dem Etikett nach älter als ich, dazu frische Macadamianüsse und zwei Coronas mit makellosem Deckblatt, von denen er mir eine reichte.

Anne holte wortlos Gläser und einen Siphon mit gekühltem Wasser dazu und setzte sich mit einem Buch in unsere Nähe hinter ihn. Sie ver-folgte unsere Unterhaltung aufmerksam und musterte ihn ab und zu inte-ressiert über ihre Brillenränder.

Er lehnte sich elegant und aufrecht in seinem Sessel zurück, schlug die Beine übereinander und saß da wie ein König auf einem alten Gemälde.

Es stellte sich heraus, dass er einen meiner Vorträge über die Wir-kungsreste der athenischen Kultur im heutigen Alltag gehört hatte. Ich hatte darin über die Möglichkeiten einer ideal-genossenschaftlichen Ge-sellschaft doziert, in der jeder unter Einsatz all seiner Möglichkeiten seine Persönlichkeit weiterentwickeln, sich an die gesellschaftlichen Spielregeln der christlichen Idee halten und dabei „in-dividuum“ – das heißt unteilbar und ganz – bleiben würde.

Meine Vorbilder waren dabei Edward Bellamy und Georg Malkowsky gewesen, die Vargas seither wohl gründlich verinnerlicht hatte: freiwilli-ges Kollektiv, größte geistige Freiheit, größte klassische Bildung für alle und rollierende (Aus-)Bildung für alle. Das war auch der Ansatz von Var-gas geworden.

Wir haben uns lange über Kunst und Philosophie unterhalten, über Li-teratur und Religion, Geschichte und Architektur, Traum und Wirklich-keit, Physik und Mathematik, Erwin Schrödinger und Max Delbrück, Recht und Gesetz, Determinismus und Willensfreiheit … Und immer wieder über die Menschen in all ihrer Unterschiedlichkeit, Unberechen-barkeit und Unverständlichkeit.

Lange nach Mitternacht fragte ich ihn: „Worum geht es eigentlich? Ganz offen: Ich bin sehr froh, dass Sie uns heute besucht haben – ich kann nur mit wenigen Menschen so reden wie mit Ihnen. Die meisten wissen nichts Eigenständiges beizutragen … Respekt! Sie werden uns willkom-men bleiben. Aber Sie sprachen von einer riskanten Wahrheit … die Sie mir anvertrauen wollten …?“

Seine Augen bekamen wieder den durchbohrenden Blick, und wieder erschien die tiefe, senkrechte Falte auf seiner Stirn. Er starrte hoch kon-zentriert durch unseren Garten, auf die Büsche und die Hecken des Nach-bars.

„Korrekt“, sagte er ein wenig abwesend, „ich will Ihnen etwas zeigen.“ Er beugte sich zu dem Koffer. Er war einer von der Art, wie man sie vor zehn oder 20 Jahren auf Reisen mit sich schleppte: schäbig, und kein Dieb würde sich für ihn interessieren. Er sah nach einem wenig stehlenswerten Inhalt aus und passte so gar nicht zu Vargas’ Auftritt. Er stellte ihn auf den Tisch und zögerte unentschlossen.

„Ja und? Wollen Sie ihn nicht aufmachen?“, fragte ich auffordernd.

Er öffnete ihn nach einem kurzen, scharfen Kontrollblick auf mein Ge-sicht. Im Koffer hob sich eine Hand an einem Unterarm, und das Ellbo-gengelenk verschwand im Boden des Koffers. Die Hand bewegte sich ein wenig, aber nicht automatisch oder mechanisch oder sonst irgendwie künstlich. Ich konnte die Poren und die Härchen sehen. Es war absolut eindeutig und auf den allerersten Blick klar zu erkennen: eine lebendige menschliche Hand.

3.

Ich war verblüfft und ratlos (und ja, seltsam berührt, als die Hand mir zuwinkte …!).

Vargas sah abwechselnd amüsiert auf mich und auf die Hand. „Es hätte mich gewundert, wenn Sie das nicht gewundert hätte. Sie haben sofort erkannt, dass diese Hand lebt?“

„Ja! Was ist das für eine merkwürdige Sache? Aber ‚leben‘ ist das ja wohl eher nicht. Ich denke, dass es einen Trick als Erklärung gibt. Der Arm enthält Akku, Fernsteuerung, Sensoren, Bewegungsmodule und so weiter. Und schon bewegt sich das gute Stück. Richtig?!“

„Nein, nicht richtig. Dieser Arm lebt wie Sie oder ich, nur auf einer anderen Basis, das erkläre ich Ihnen gleich. Er erhält seine Befehle vom Gehirn, in diesem Fall von meinem. Schütteln Sie ihm doch mal die Hand.“

Anne stand plötzlich neben mir, hoch interessiert. Ich ergriff die Hand aus dem Koffer: Sie war warm, ein wenig feucht von Schweiß, mensch-lich, natürlich. Ihre Finger legten sich zart um meine. Unglaublich …

Ein plötzlicher Schmerz riss mich hoch aus meinem Sitz. Ich schrie laut auf und zerrte die Hand samt Koffer hoch: Die Hand quetschte meine Finger brutal zusammen, und ich hatte Angst, dass meine Knochen bre-chen. Eine Sekunde später ließ der Druck ebenso plötzlich nach, wie er gekommen war. Die Hand öffnete sich, der Koffer krachte auf die Tisch-kante und polterte dumpf auf den Bretterboden.

Ich keuchte vor Schmerzen und massierte meine schmerzenden Kno-chen …

„Tut mir sehr leid“, sagte Vargas bestürzt und hob den Koffer wieder auf den Tisch, „ich habe nicht recht aufgepasst. Es tut mir wirklich leid, der Fehler liegt ganz bei mir. Geht es? Ist etwas gebrochen?!“

„Nein, ich glaube, ich hatte Glück. Aber verdammt, was war das? Was soll das heißen: Sie haben nicht recht aufgepasst? Wie funktioniert das?“

„Gut so! Freut mich! Gott sei Dank! Das erkläre ich Ihnen gleich!“, sagte er hastig und erleichtert. „Bitte vertrauen Sie mir jetzt noch einmal: Ich möchte das wiedergutmachen, lassen Sie mich Ihre Hand ein wenig lockern und massieren. Halten Sie sie so unter meine Finger, dass ich darauf drücken und sie massieren kann. Ich mache das, ich bringe das wieder in Ordnung.“

Er blickte mich fast zwingend an. Also schob ich meine Hand unter die Hand im Koffer, sehr wachsam und bereit, sie blitzschnell zurückzuzie-hen. Die Hand begann, meinen Handrücken sanft abzutasten, gefühlvoll zu massieren und leicht zu kneten. Ich erwiderte den Druck und bot mei-nen Handballen und dann die Handwurzel zur Massage an.

Anne brachte einen Weinkühler voll mit kaltem Wasser und einigen Eisstückchen herbei und tauchte meine Hand hinein.

„Sie haben verstanden?“, fragte Vargas.

„Nein, was soll ich denn verstehen?“, knurrte ich schmerzerfüllt, „mei-ne Hand ist vor zwei Minuten fast zerquetscht worden. Sie hätten mich um ein Haar zum Krüppel gemacht. Ich habe immer noch heftige Schmer-zen. Was soll ich da verstehen?!“

„Sie können keinen Unterschied zwischen dieser Hand und einer nor-malen menschlichen Hand bemerken, oder? Wenn diese Hand zu einem Menschen gehört, der aus derselben Produktion kommt, dann merken Sie nicht, dass dieser Mensch kein Mensch mehr ist wie Sie und ich.

Ihr Nachbar McFerrin und seine Frau sind zum Beispiel keine Men-schen, sondern industriell erzeugte Produkte wie diese Hand, also soge-nannte NeuMenschen. Haben Sie das jemals bemerkt?“

Ich sah zu Anne hinüber, und sie schüttelte verneinend den Kopf. „Nein“, sagte ich, „aber das glaube ich Ihnen nicht. Wie soll denn das funktionieren?!“

„Ich werde es Ihnen beweisen. Ich kann den McFerrins befehlen, jetzt zur Hecke zu kommen und Sie zu begrüßen. Sie werden nicht wissen, wieso sie das tun, aber sie werden gehorchen. Sie werden Sie freundlich grüßen, winken und dann wieder verschwinden. Wollen Sie das? Würde Ihnen das als Wahrheitsbeweis reichen?“

Ich fragte mich, woher er den Namen unserer Nachbarn kannte – an ihrer Tür stand er nicht –, musste dann aber grinsen.

Anne kicherte: „Ja, das wäre ein toller Gag. Machen Sie doch mal. Es ist fast Mitternacht, da schlafen die beiden tief und fest. Sie machen im-mer um zehn ihr Licht aus, und dann hört man ihn schnarchen bis zu uns. Von wegen künstlicher Mensch, da muss ich ja lach…!“ Anne unterbrach sich abrupt und starrte zur Hecke.

Die Zweige der Bougainvillien rauschten und teilten sich: Im hellen Mondlicht standen Johnny und Sarah McFerrin und winkten freundlich herüber. „Na, auch noch auf?“

Ich bezwang den Kloß in meinem Hals und rief zurück: „Ja, herrlicher Abend, nicht wahr?!“

Sie winkten nochmals kurz, lächelten freundlich weiter und ver-schwanden wieder.

Mich überlief ein kalter Schauder. Ein unbeschreibliches Gefühl von Zweifel, aber auch von Angst und von völligem Nicht-begreifen-Können kroch meinen Nacken hoch. Was ging da vor sich?! Anne hatte beide Ar-me in instinktiver Abwehr steif vor sich gestreckt.

„Sie können sich die ganze Tragweite dieser Entwicklung vermutlich nicht vorstellen“, sagte Vargas leise und eindringlich, „aber es bedeutet, dass schon jetzt eine enorme Zahl von Menschen gar keine Menschen mehr sind; keine Menschen mehr wie die bekannten, von einer Mutter geboren. Sie bemerken es nicht. Sie haben es auch bei Ihren Nachbarn nicht bemerkt, obwohl Sie ihnen täglich wenigstens zweimal begegnen und obwohl Sie miteinander reden, Golf spielen und mit ihnen im Baywa-ter-Bridge-Club sind, nicht wahr?

Die beiden könnten auch herüberkommen und Sie töten – ohne die ge-ringsten Skrupel, ohne jedes Zögern – und weitgehend selbstständig ent-scheiden, wie sie das abwickeln, wenn sie den Auftrag dazu erhalten. In ihnen ist kein ‚Gewissen‘ eingebaut.“

Ich war total baff: „Das ist Wahnsinn, wenn das stimmt. Aber was soll das denn alles bedeuten?!“

Wer erobert die Macht über die Welt?

1.

Vargas fuhr fort: „Jemand übernimmt endgültig, irreversibel, unum-kehrbar die Macht in der Welt. Dazu kann er keine Originalmenschen mehr gebrauchen. Die neuen sind besser, besser zu nutzen, sie stehen still, wenn man sie nicht braucht, sie können, wenn nötig, upgedated und ge-appt werden, sie halten theoretisch ewig, sie brauchen keine ‚Umwelt‘, keine Luft, kein Wasser, keine Nahrung, keine Pflege und keine ‚Freizeit‘, nur Sonne oder jedenfalls Licht zu gewissen Zeiten, um sie wieder aufzu-laden. Sie sind ideal für den Einsatz im Weltraum, in Wüsten, im Eis, unter Wasser, in Bergwerken – und absolut unübertrefflich in der Weiter-entwicklung neuer Projekte – mit EINEM zentral koordinierten, einheitli-chen Gehirn für EIN zentral koordiniertes, einheitliches Entwicklungsziel! Sie fangen keinen Krieg an. Gegen wen denn auch? Sie folgen ja alle ein-heitlich demselben Befehl!

Und: Es gibt sie jetzt auch in neuen Ausführungen für Spezialaufga-ben, zum Beispiel zum Reinigen von Abwasserkanälen, zum Tiefseetau-chen nach Manganknollen in über 13 500 Meter Tiefe im Marianen-graben, zum Durchwühlen alter Müllhalden nach Wertstoffen für die Pro-duktion. Dann sehen sie allerdings total zweckmäßig aus, das heißt ohne Arme und Hände mit entsprechenden Werkzeugen, direkt am Torso ange-setzt, ein bisschen wie Torpedos. Soeben entsteht eine neue Generation von echten Riesen: Sie sind bis zu 213 Meter hoch, ebenso intelligent und ebenso beweglich wie ein Mensch – und sie alle müssen niemals aufhören zu arbeiten, sie können sich an glatten Bergwänden hochsaugen und so weiter und so fort.

Die ‚XXXL-Größen‘ sind anders gestaltet als die normalen NeuMen-schen, damit niemand dumme Fragen stellt. Aber die technologische Platt-form, ihre menschliche Innenausstattung mit den immer noch unersetzli-chen Gehirneigenschaften und damit die alles entscheidende Anwendung menschlicher Flexibilität und Kreativität sind bereits fast genau identisch. Eine völlig ungeklärte Frage ist: Sollen sie konsumieren wie bisher oder nicht?“

Vargas hielt inne. Er schien intensiv über die Frage nachzudenken. Dann sagte er etwas zögernd: „Die Gründe dafür und dagegen erkläre ich Ihnen gerne gelegentlich, heute Nacht wäre es zu viel. Haben Sie Ihre Nachbarn schon einmal beim Einkaufen gesehen?“

„Ja“, erwiderte Anne, „vor Kurzem bin ich ihnen mittags im Super-markt begegnet, für den Abend hatten sie uns zum Essen eingeladen, und ihr Kühlschrank war voll mit Bier und allem. Kein Problem.“

„Klar: Sie MÜSSEN ja darauf vorbereitet sein, also muss etwas an Vorräten da sein. Natürlich können sie selbst essen und schlucken. Sie speichern das dann in einem Behälter, der sofort automatisch alle nutzba-ren Wertstoffe abrufbar sortiert.

Die gesamte NeuMenschen-Programmierung läuft vollautomatisch und erzeugt etwa 400 000 Mal mehr Nutzwissen im Leistungsvolumen als ein ‚normales‘ menschliches Hirn. Praktisch steht das gesamte Wissen der Welt permanent zum sofortigen Rückgriff zur Verfügung, und zwar nicht theoretisch, sondern sofort anwendbar! Total vernetzt!“

Er machte eine Pause und warf mir einen abschätzenden Blick zu. Er drehte sich um zu Anne und musterte sie mit derselben Intensität.

„Und wer den richtigen ‚Schlüssel‘ dafür hat, kann jeden NeuMen-schen jederzeit zu jeder Aktivität steuern, die er will.“

Ich fühlte mich hilflos und irgendwie in die Enge getrieben. Anne saß verängstigt und schlapp in ihrem Sessel und warf mir einen fragenden Blick zu.

„Sie müssen schweigen, alle beide“, sagte er drohend und drehte sich zu Anne um.

Sie nickte ein wenig mit dem Kopf und sah ratlos aus.

„Zu einer solchen Entwicklung gehören gewaltige Mächte mit wirklich unvorstellbaren Geldmengen, niemand will da etwas riskieren. Und ich muss Ihnen sagen: Wenn herauskommt, was Sie gesehen haben, dann sind Sie tot.“

Vargas erhob sich plötzlich leicht wie eine Feder aus seinem Sessel, schloss rasch den Koffer, nahm ihn an die Hand, nickte Anne mit einer eleganten Verbeugung zu, gab mir fest die Hand, sagte einige Höflichkei-ten und verschwand lautlos und geschmeidig.

2.

Am Abend darauf kam er wieder, ohne Ankündigung, ohne Erklärung, so als sei er vor fünf Minuten kurz verschwunden und wolle das Gespräch von vorhin fortsetzen.

„Ich bin noch nicht so weit, mit Ihnen gemeinsam eine Strategie aus-zuarbeiten, nach der wir vorgehen. Geben Sie mir Zeit. Ich bin in einer lebensgefährlichen Lage.“ Er schaute durch mich hindurch, irgendwohin, weit, weit weg von hier.

Die Abende mit ihm waren spannend, kontrovers, voller neuer Einsich-ten. Er war ein gebildeter Mann mit einem ungeheuren Wissen. Vargas hatte den Marquis de Vauvenargues und andere französische Moralisten im Blut. Er genoss Franz Kafka, ohne sich zu fürchten. Er liebte William Shakespeare und Friedrich von Schiller, Alain-Fournier und Johann Peter Hebel, Miguel de Cervantes, Marc Aurel, Ralph Waldo Emerson und Anton Tschechow …

Er konnte den Unterschied zwischen Gaius Julius Cäsar auf der einen und Adolf Hitler auf der anderen Seite zutiefst begreifbar beleuchten: „Die wahren Großen brauchen nicht die Wahnsinnstaten der kleinen Em-porkömmlinge. Die mörderischen, maßlosen Erzproleten kennen keine Grenzen. Die alten Herrscherfamilien haben größere Ziele, größere Zeit-räume im Auge. Der Hauptunterschied ist aber: Sie leben Empathie! Sie betrachten ihre Länder als ihre Betriebe, denen es gut gehen muss, damit es ihnen selbst gut geht. Das fehlt den Emporkömmlingen!“

Oder: „Lesen Sie mal ‚Ereignisse und Gestalten aus den Jahren 1878–1918‘. Das sind die Memoiren des deutschen Kaisers Wilhelm II. Er wur-de als Dummkopf, Dekadenzler, Kriegstreiber verleumdet. Was werden Sie entdecken? Einen selbst gegenüber seinen wüstesten Gegnern respekt-vollen, äußerst nachdenklichen, um das Wohl seines Landes und dessen Bürger unendlich besorgten Mann, der von unterschiedlichsten Strömun-gen in einen ungewollten Krieg gezogen wurde.“

Oder: „Was waren die proletarischen Massenmörder Hitler, Pol Pot und Saddam Hussein für verkommene Feiglinge im Vergleich mit einem Napoleon Bonaparte: Napoleon war mit seinen Truppen in Kälte, Morast, Hunger, Gefecht und Tod in vorderster Linie vereint, während sich Hitler ab 1942 feige in die Wolfsschanze zurückzog und sich am Ende in einem Bunker unter Berlin verkroch. Pol Pot hatte sich in Ställen versteckt, und Saddam musste aus Erdlöchern gezerrt werden. Das wäre einem Mann von Ehre nicht eingefallen: Er hätte sich an der Spitze seiner Männer gegen seine Feinde gewehrt und wäre dabei ehrenvoll untergegangen.“

So waren unsere Abende plötzlich voller Spannung, voll knisternder Anregungen und neuer, oft revolutionärer und unbequemer Ansätze!

Falls Sie sich, liebe Leserin, lieber Leser, für die philosophischen De-tails und tiefer gehenden Gedanken in den Gesprächen zwischen Vargas und mir interessieren, können Sie diese gerne im Nachwort 2 nachlesen. Ob jetzt oder später, bleibt selbstverständlich Ihnen überlassen.

Vargas verschwindet

1.

Vargas’ wahre Gründe, seine wirklichen Aktivitäten und seine genauen Ziele habe ich nie erfahren. Wieso nicht? Er hatte uns doch als Mitkämp-fer ausgesucht! Warum schwieg er also über alles Konkrete, über alles, was er tun wollte, um die Katastrophe aufzuhalten, von der wir ja erst vor wenigen Tagen durch die Demonstration der lebenden Hand und der McFerrins erfahren hatten?

Ich erinnere mich an einen Abend, an dem er über den Peloponnesi-schen Krieg sprach, als hätten wir die vielen Jahre lang Schulter an Schul-ter auf den Schlachtfeldern gekämpft und säßen beim Feuer im Lager, um uns für den möglichst überraschenden Überfall des nächsten Tages Mut zu machen. Anne nannte ihn beim Abschied zum Spaß Thukydides, und weil wir in Amerika waren, machte sie „Thuky“ daraus.

„Thuky? Oh nein“, wehrte er lachend ab, „alles, bloß nicht NOCH eine Verpflichtung!“

Aber wenn sie uns zum Essen ins Haus rief oder wenn es etwas zum Lachen gab, dann rief sie ihn bei diesem Spitznamen, und er schien sich darüber zu amüsieren.

Eines Abends hatte Anne – von ihm unbemerkt – mit ihrem Handy ein leider unscharfes Foto von ihm gemacht: Mehr Persönliches gab es nicht. Und trotzdem war er uns so vertraut geworden wie kaum ein anderer Mensch auf dieser Erde.

2.

Wochen danach saß ich auf der Porch im wettergegerbten Schaukel-stuhl meines Großvaters und erwartete ungeduldig seinen Besuch – wie immer um diese dämmerige Stunde. Die Stimmung über der ruhigen See war ein wenig melancholisch. Ich dachte an ein Wochenende mit meiner Frau und unseren Söhnen bei Freunden drüben in Havanna auf Ernest Hemingways Spuren.

Anne hatte einen köstlichen uralten Cognac besorgt, und wir hatten schon einen ordentlichen Teil davon „getestet“, was mir nicht sonderlich schwergefallen war … Der Humidor mit fetten Montecristos stand bereit, und ich freute mich auf einen dieser vertrauten Abende, die unser Leben inzwischen so sehr ausfüllten.

Heute Abend würde ich ihn fragen, ob er uns alle diese großen Bei-spiele menschlicher Gedanken und Konstruktionen so intensiv dargestellt hatte, um – sich oder uns? – zu beweisen, was der Mensch durch eigenen Antrieb erreichen könne.

Denn er war niemand, der uns durch überwältigendes Wissen imponie-ren wollte. Das war unter seinem Niveau. Eine tiefe Überzeugung steckte dahinter, die uns faszinierte, mitriss und kraft ihrer durchdringenden Menschlichkeit dazu motivierte, irgendetwas zu tun, um seinen Gedanken zum breiten Erfolg zu verhelfen.

Eine schwere schwarze Limousine glitt leise summend vor unser Haus und hielt an der Auffahrt. Das verdunkelte hintere Fenster öffnete sich lautlos. Ich sah in das rassige Gesicht einer südländischen Frau: Ihre Haut hatte einen leichten Olivton, ihr schwarzblaues Haar glänzte wie die schweren Diamanten an ihrem Hals, ihre Lippen waren sinnlich und ihre Augen groß und dunkel.

Es waren die kältesten Augen, die mich je angestarrt haben. Mich schauderte … Sie waren völlig leer, glatt, ein eisiger Spiegel, schrecklich, kalt wie ein Skalpell von Saddams Schlächtern im Foltergefängnis Abu Ghuraib. Ein kalter Schauder lief über meine Arme, meine Brust und durch mein Genick. Ich war wie gelähmt.

Ihre Stimme passte dazu – beherrscht, gespannt, eisig: „Kommen Sie her!“, befahl sie schneidend. Ihre Stimme peitschte durch die Stille des warmen Abends. Sie musterte mich kurz und verächtlich.

Ich sah sie fragend an.

„Kommen Sie, kommen Sie“, zischte sie ungeduldig, „haben Sie ver-standen? Es geht um Vargas.“

Ich stand auf, ging zum Wagen und sah sie an: Ihr Mund war breit, blutrot und brutal, ihre Lippen waren aufgeworfen, sinnlich und dick wie eine Vulva. Auf ihrer glatten Schulter schimmerte merkwürdig zuge-schminkt eine Tätowierung in Form einer stilisierten Lilie.

„Das sieht aus wie eingebrannt, wie das Brandzeichen einer Kuh in Texas“, dachte ich respektlos.

Es war keine Tätowierung: Die Lilie war tatsächlich eingebrannt – es war ein Brandzeichen!

„Wer außer einer Kuh braucht so etwas?! Warum hat sie das?! Eine Li-lie?! Das erinnert mich an die Verbrecher in französischen Zuchthäusern im 17. und 18. Jahrhundert“, spann ich meine Gedanken weiter.

Sie drehte den Kopf etwas mehr zu mir hin: Auf der halb abgewandten Seite des Gesichts sah ich eine hässliche Narbe, untrüglich das Einschlag-loch aus einer großkalibrigen Waffe. Auch viel Kosmetik konnte die Wunde nicht verdecken, das Loch war zu groß, zu tief, wie ein Trichter. Ich fragte mich, wo die Kugel stecken geblieben oder ausgetreten sein mochte. Vermutlich hatte sie sehr viel Glück gehabt, das zu überleben.

Sie strich mit den Fingerspitzen sanft darüber, fast unbewusst und ein wenig eitel, wie um das Loch zu verbergen, das die Kugel gerissen hatte. Sie starrte mich berechnend an. „Warten Sie nicht mehr. Vargas kommt nie wieder. Zu Ihnen nicht. Auch sonst nirgendwohin. Haben Sie verstan-den?“

Ich war völlig überrascht. „Wo ist er? Ist ihm etwas passiert?!“

„Er hat sich in Dinge eingemischt, aber er hätte sich besser herausge-halten. Er wollte, dass ich Ihnen das da übergebe, Ihnen persönlich.“ Sie wedelte mit ihrer schön geformten Krallenhand nachlässig in Richtung eines braunen Pakets auf dem Sitz neben sich. „Es ist sein Lebenswerk. Er hat nur dafür gelebt. Kümmern Sie sich darum. Es ist gefährlich, eine Zeitbombe. Damit leben Sie ab sofort. Haben Sie verstanden?“

Sie warf mir einen verächtlichen Blick zu. „Sie sollen das veröffentli-chen. Sie tun, was ich Ihnen sage. Andernfalls bekommen Sie Probleme, keine kleinen, sondern richtige. Ich lasse Sie beobachten. Haben Sie ver-standen?“

„Können Sie einmal etwas anderes sagen als ‚Haben Sie verstanden‘?“, sagte ich ärgerlich. „Wie wäre es zum Beispiel mit: ‚Hallo, ich bin Mona Lisa aus den Slums und irgendwann werde ich vielleicht Manieren in einem Crashkurs lernen, aber warten Sie nicht auf das Ergebnis.‘?“

Sie warf das braune Paket mit einer verächtlichen Gebärde vor meine Füße, zog die rechte Augenbraue etwa drei Millimeter hoch und zischte ein knappes Kommando. Das Fenster schloss sich. Der Wagen glitt mit sattem Schurren in die Dämmerung.

Ich drehte mich unschlüssig um. Anne stand auf der Porch. Sie presste die Hände vor den Mund. Über ihre Finger sickerten Tränen.

Das Paket enthielt ein Manuskript.

„Mensch 2.0“ stand darüber, in Vargas’ altmodischer und schwungvol-ler Handschrift.

3.

Ich habe das Manuskript mit zitternden Händen geöffnet. Ich habe es gelesen, wieder und immer wieder und bedrohliche Dinge erlebt, die damit zusammenhängen. Der Inhalt ist so gefährlich, dass Vargas wohl tatsächlich verschwinden musste. Irgendjemand fühlt sich so angegriffen, dass auch wir auf furchterregende Weise an der Veröffentlichung gehindert werden sollten. Welche wichtigen Querverweise haben wir übersehen?

Welche Rolle spielt die mysteriöse Frau in der Limousine, die unverkennbar in Vargas’ Geschichte wiederkehrt? Es kann sich nur um sie handeln. Sie werden ihr gleich selbst begegnen.

Je tiefer ich in seine Aufzeichnungen einstieg, desto mehr zitterten meine Hände. Der Schweiß auf meiner Stirn kam nicht von der Witterung. Ich las die ganze Nacht und konnte nicht einschlafen. Was von alledem ist schon Wahrheit?! Was geschieht mit uns? Mit Ihnen? Mit Ihren Kindern?

Ist Vargas Siegfried? Gibt es einen versteckten Hinweis? Ein Detail, das niemand wissen darf? Eine Technologie, über die er niemals reden sollte? Streng geschützte und abgeschottete Interessen? Eine Bedrohung für das größte, das ultimative, das abschließende Geschäft in der Ge-schichte der Menschheit?

War er zu früh dran mit seinen Ideen? Wer genau wollte was genau vertuschen oder unter einem Deckel halten? Wurden Teile des Manu-skripts ausgetauscht oder manipuliert oder vernichtet, bevor ich es in die Hände bekam? Wer jagt wen – offensichtlich mit mörderischer Entschlos-senheit?

Wo ist er jetzt? Was ist ihm passiert? Lebt er noch? Wer weiß über sein Verschwinden Bescheid?

Ich weiß noch immer nicht, wie alles zusammenpasst: Urteilen Sie selbst. Was auch immer Sie herausfinden mögen: Ich freue mich auf Ihre Reaktionen (Zuschriften bitte an den Verlag). Und reden Sie nicht zu of-fen mit Unbekannten darüber, dass Sie Vargas’ Geschichte kennen – man weiß nie, wem Sie wirklich gegenüberstehen. Ich kann Sie nicht beschüt-zen.

Vieles von dem, was in diesem Buch vorausgesehen wurde, ist schon jetzt durch die Wirklichkeit weit überholt. Die Menschheit hat Tausende von Jahren gebraucht, um das Automobil zu erfinden, nur hundert Jahre, um den Mond zu erreichen, und noch weniger, um die ganze Welt durch PCs zu verbinden – sie wird noch schneller das letzte Ziel erreichen: sich selbst zu ersetzen durch den besseren Menschen, den NeuMenschen: Made by Goldman.

Sie werden es erleben. Ob Sie es noch bemerken, ist allerdings eine ganz andere Frage.

Lesen Sie nun Vargas’ Manuskript:

Goldman

1.

Aaron Goldman thronte hinter seinem Schreibtisch. Goldman war rie-sig. Sein Schreibtisch war riesig. Der Raum war riesig. Die Fenster waren riesig. Der Ausblick über San Francisco war riesig.

Goldman runzelte die Stirn, blickte auf seine Schreibtischuhr, erhob sich kraftvoll und geschmeidig, ging zum Fenster und schaute hinüber zum Golden Gate.

„Warum wird er niemals alt?“, dachte Siegfried beunruhigt und ratlos.

Das Rotbraun der Brücke leuchtete satt in der goldenen Nachmittags-sonne. Eine leichte Wolke segelte zwischen Fahrbahn und Trägerspitzen. Der Himmel darüber war klar und blau. Kurze Wellen bedeckten das Meer mit weißer Gischt, Sonnenstrahlen tanzten darauf, und durch das offene Fenster drang der Duft des frischen Seewinds. Goldman nahm nichts davon wahr.

Ein riesiges weißes Kreuzfahrtschiff näherte sich der Brücke. An sei-ner Seite glänzten riesige goldene Lettern: „Goldman Lines: The Fun-is-Life-&-Life-is-Fun-Lines!“ Ein goldener Riese auf dem Schornstein hob die Arme zum Victoryzeichen und lachte einladend.

Goldman schaute grimmig hinüber. Siegfried betrachtete dessen Hin-terkopf: Seit der merkwürdig geheimen Operation im Herbst vergangenen Jahres war er gewachsen oder geschwollen, jedenfalls unnatürlich größer geworden. Ein Chirurg hatte gekonnt überall Haare eingewoben, aber ein paar Zentimeter hinter dem rechten Ohr waren eindeutig zwei Buchsen sowie – nach vorne gerichtet – eine winzige Linse und ein Nanolesegerät zu erkennen.

Goldman war schon früher ungeduldig und direkt und anspruchsvoll gewesen, was seine Mitarbeiter betraf. Seither war er eine verdammte Nervensäge: Er wusste alles. Er ahnte alles. Er dachte an alles. Er kontrol-lierte alles. Er vergaß nie etwas. Nichts konnte ihn überraschen. Er plante in weiten, schwer verständlichen Bögen.

Er war das typische Alphatier, hatte immer mit eisernem Willen be-stimmt und nie Kritik zugelassen. Er hatte es mit jedem Gegner aufge-nommen und blieb in jeder Streitigkeit der überlegene Sieger. Jetzt war er womöglich noch direkter, noch zielführender, noch nachdrücklicher, aber auch noch rücksichtsloser geworden.

Siegfried bewunderte Goldmans aristokratische Züge und seine rätsel-hafte Ausstrahlung, die ihn überall sofort als „den Boss“ erkennen ließen, selbst wenn er im Pullover eine verräucherte Skihütte betrat.

Goldman kannte seine Macht: Wenn ihm danach war, sagte er un-glaubliche, völlig irrwitzige Dinge, um sich an der unterwürfigen Hin-nahme seiner Sprüche durch die Menschen um ihn herum zu weiden.

War Siegfried dabei, dann zwinkerte er diesem unauffällig zu. Sieg-fried schämte sich für die Menschheit, die wie eine Herde war – auch das schien Goldman zu amüsieren –, und sie waren sich nach solchen Szenen oft in die Haare geraten: Goldman zitierte dann gern Étienne de La Boé-ties „Abhandlung über die freiwillige Knechtschaft des Menschen“ und war davon überzeugt, dass Menschen sich niemals ändern und immer unselbstständig bleiben würden. Im Gegensatz dazu wollte Siegfried der Menschheit die Chance vorleben, sich selbst an die Kandare zu nehmen. Allerdings bewies der souveräne, weltmännische Goldman ihm mit er-kennbarer Bitterkeit das Aussichtslose seiner Hoffnungen.

Während ihres Studiums in Heidelberg (Deutschland) hatte Siegfried Goldman auf eine Party mitgenommen. Die besonders emanzipierte Re-dakteurin eines großen internationalen Verlags empfing sie. Gegenüber dem immer nachsichtig-liebenswürdigen Siegfried war sie arrogant und selbstbewusst aufgetreten: eine selbstbestimmte, voll emanzipierte Frau, die ihren hohen Wert kannte. Aber kaum hatte sie Goldman erblickt, da schmolz all ihr feministischer Stolz dahin, und Siegfried erwartete, dass sie sich mit gespreizten Beinen zu Boden werfen und stöhnend winden würde.

Teils hatte ihn das abgestoßen, teils malte er sich aus, was für ein Ge-nuss es sein müsse, so über Menschen zu herrschen: einfach durch die Kraft der Natur, des Willens, der Veranlagung, der instinktiven Unterwer-fung unter das Leittier zur Zeugung der stärksten möglichen Nachkommenschaft in der Herde, was auch immer das unbewusste Motiv sein mochte.

Jahre danach waren sie sich in Washington D. C. wieder begegnet. Goldman hatte seine Macht über Menschen bei einem Empfang in der Botschaft von *** ausgespielt, als er einen afrikanischen Regierungschef und Massenmörder, vor dem sich jeder hütete, laut und klar „Sadistisches Dreckschwein“ nannte. Siegfried hatte schnell und verstohlen seine unauf-fällige Ruger 38 gezogen, weil er damit rechnete, dass der Terrorist seine Leibwächter auf Goldman hetzen würde. Aber nichts geschah: Der Mör-der zog feige den fetten Hals ein, glotzte ihn an, hasserfüllt und unterwür-fig zugleich – ein abstoßendes Schauspiel. Und: Er behandelte Goldman den ganzen Abend mit größtem Respekt.

Seither hatten sie Kontakt gehalten. Goldman hatte ihn immer wieder um Rat gefragt, oft zu merkwürdigen Themen, deren Ziel Siegfried nicht erkannte. Fast jedes Treffen endete mit hitzigen Debatten in verärgerter Stimmung – und mit einem Scheck „Für Beratungsaufgaben“, den Sieg-fried als zu großzügig für das empfand, was er geleistet hatte. „Trotzdem bleibe ich hier, solange es irgendwie mit Dir auszuhalten ist, Du alter Fuchs“, dachte er lächelnd. Er spürte mit sicherem Instinkt: Er würde We-sentliches, wahrscheinlich sogar Einzigartiges für sein ganzes Leben ver-säumen, wenn er sich von ihm entfernte.

Goldman war unermesslich reich, er besaß gigantische Wirtschafts- und Finanzimperien. Man munkelte, dass er alle wichtigen Regierungen der Welt direkt kontrollierte. Zu Siegfried hatte er einmal gesagt, er sei ein Zeitgenosse Karls des Großen und er werde nicht mit 700 oder 900 Jahren sterben, sondern dafür sorgen, dass er 100 000 Jahre oder unendlich lange leben werde – in welcher Form auch immer. Siegfried hatte das für allego-rische Scherzchen gehalten.

Goldman schaute auf seine Armbanduhr und drehte sich verärgert um. „Das verdammte Schiff hat drei Tage und 19 Stunden Rückstand! Wisst Ihr, warum?“ Er schaute wütend in die Runde:

2. Zu „Fretty“ Wangler Levine,

dem eigentlichen Manager von Goldmans Imperium, dem Antreiber und Macher, der mit seinem glatten, harten Frettchengesicht taxierend zurückstarrte. Er sah ein wenig ölig aus wie ein aalglatter Zuhälter: Seine Züge waren vulgär und brutal, seine Augen hellwach, lauernd, berech-nend, seine Haltung war immer die eines Frettchens kurz vor dem Sprung auf die fette Henne. Unter Anspannung zog sich seine Oberlippe etwas zurück, und seine Nagezähne traten hervor: schmal, spitz, gefährlich und unangenehm.

Aber: Er war ein genialer Geschäftschancen-Entdecker und erwirt-schaftete Billionen für Goldman, Jahr für Jahr steigend. Er besaß ein rie-siges Haus, von dem er gerne wollte, dass es wie ein Schloss aussah: mit einem kitschig vergoldeten Portikus vor einem übergroßen Risaliten, drinnen einen Seewasserwellenpool, Wasserfall im Wohnzimmer, ein Großraumkino, Kraftcenter, und das alles mitten in einem riesigen engli-schen Landschaftsgarten mit Hubschrauber, Piloten, eigenem Golfplatz … und derzeit zwei auffallend gut gebauten jungen Philippininnen, die sich tagein und nachtaus intensivst um ihn zu kümmern hatten …

Dann zu Hang Zhen Blau,

dem Herrn über alle Finanzen, Verträge, Kooperationen, Regierungen, Hintergründe, Netzwerke, Internetgeschäfte, Technologien und Fabriken in Goldmans Weltkonzernen, der als Einziger ALLES BIS INS DETAIL wusste, der jetzt anscheinend unbeteiligt auf seinem Sessel kauerte und fast geräuschlos in Listen blätterte. Niemand sah unauffälliger aus als er, niemand konnte sich so „unsichtbar“ machen. Er war mittelgroß, hager und drahtig.

Nur ein sehr wachsamer Beobachter konnte erkennen, wie kräftig er wirklich war und wie katzengleich er sich bewegen konnte. Seine Ge-sichtszüge strahlten auf seltsame Weise Rechtschaffenheit aus, seine Au-gen dagegen waren halb geschlossene, verdeckte, dunkle Schlitze, schwarz, wachsam, schnell, seine Haare kurz und akkurat, seine Anzüge teuer, alt und sauber … Er wohnte trotz seines immensen Reichtums in einem unscheinbaren Reihenhaus … Seine Frau war sportlich mit guter Figur, nach außen hin liebenswürdig bis zur Unterwürfigkeit, aber in Wirklichkeit charmefrei, unzufrieden und abweisend. Sie zeigte ihm gerne und boshaft, dass sie jederzeit gut auf ihn verzichten könnte, kümmerte sich um alles, war immer gepflegt und auf körperliche Distanz bedacht: Fretty spottete, das sei eher eine Versorgungsgemeinschaft als eine Ehe …

Und schließlich zu Siegfried Nibelung,

den Goldman so überraschend und mit so hoher Dringlichkeit angefor-dert hatte, dass dieser jetzt interessiert vorgeneigt abwartete. Siegfried war Professor für Geschichte, Philosophie und alte Sprachen an einer renom-mierten Efeu-Universität im Osten der USA und leitete Ferienkurse über gestaltende Kunst.

Er lebte mit seiner sanften, großen, schönen Frau Elsa (oder war es seine Freundin? – so ganz sicher war sich da keiner der Anwesenden), ihren zwei Söhnen und ihrer Tochter Sarah (… und waren das alle seine Kinder …?!) in einem klassisch schönen weißen Haus über einer Klein-stadt an der Küste. Geld war ständig knapp – Goldman hatte oft durch überhöhte Honorare ausgeholfen –, aber sie waren glücklich miteinander und lebten ihre Vorstellung von Schönheit inmitten ihrer antiken Möbel, Bücher und Gegenstände einfach in inniger Wärme und Zärtlichkeit. Ihre permanente Sinnlichkeit blieb überraschend aktiv und schien sich sogar mit wachsender Reife noch deutlich zu verstärken …

Fretty leckte sich langsam, zögernd die Lippen und sagte: „Sie hatten in Manila eine Streptokokken-Infektion an Bord. Bis die ganzen Kranken verarztet waren, war fast eine Woche verloren. Wieder einmal die Folgen menschlicher Schwächen. Das kostet uns einen Haufen Kohle, Chef. Wir haben jetzt schon über 60 Prozent Stornos für die Anschlussreise.“