„Mensch Jonas, kannst du nicht mal deinen Kram wegräumen? Ich breche mir irgendwann nochmal die Hacken, weil ich ständig über deine Latschen fliege.“ Ich bin wirklich schlecht gelaunt. Und dass mein Mitbewohner seine Plörren ständig überall liegen lässt, wo er sich ihrer entledigt, nervt mich heute noch mehr, als es unter normalen Umständen bereits der Fall ist.
Und dass er mir nicht antwortet, bringt mich erst so richtig in Fahrt. „JOOOONAS? Hörst du nicht? Kannst du jetzt vielleicht auch mal helfen, die Wohnung aufzuräu…“, weiter komme ich nicht. Ich reiße die Tür zu seinem Zimmer auf … und blicke auf zerwühlte Laken, Füße, und von jedem zu viel nackte Haut für eine einzelne Person. Schockiert kneife ich die Augen zu, aber das Bild hat sich bereits in meinem Hirn festgefressen. Diese auf und ab wippenden Brüste im Gesicht meines Mitbewohners.
„Ohh, Verzeihung, ich wollte nicht stören.“ Aber ich störe anscheinend überhaupt nicht. Die beiden unterbrechen ihr Intermezzo nicht und ich trete den Rückzug an.
Ist er noch nicht mal in der Lage, einfach abzuschließen???
Vielleicht ist es tatsächlich an der Zeit, meine Wohnungssituation mal zu überdenken. Mit fast Mitte 30 bin ich wohl doch schon zu alt für den gelebten Studententraum. Und mit traumhaft hat es tatsächlich nur noch wenig zu tun, wenn alles an einem selbst hängen bleibt. Vom Wäschewaschen bis zum Kloputzen.
ES REICHT!
Manchmal komme ich mir vor, als würde ich Jonas hier ein Hotel Mama ermöglichen. Seine Pflichten beschränken sich irgendwie nur noch auf Müll entsorgen, Spülmaschinendienst und Einkaufen. Ohne dass wir das jemals abgesprochen hätten, versteht sich. Abgesprochen war hälftige Miete und hälftige Übernahme der Putzpflichten.
Na, Mahlzeit.
Also werde ich meinen freien Tag mal wieder damit verbringen, diesen Schweinestall in Ordnung zu bringen, während sich der Prinz hofieren lässt.
Pah, ich glaube ich spinne!
Ich schnappe mir meinen Mantel und meine Tasche, die ich eigentlich gerade erst abgelegt habe und schmeiße die Wohnungstür geräuschvoll hinter mir ins Schloss.
Nein, mein Lieber. Dieses Mal nicht.
Heute kann er mich mal kreuzweise.
Auf der Straße krame ich nach meinem Handy und nehme mir fest vor, den Tag heute sinnvoll zu nutzen. Vielleicht ein frisches Bierchen irgendwo in einer schönen warmen Spelunke? Oder mal wieder eine ausgiebige Shoppingtour, gerne auch auf Pauli? Irgendwas wird sich doch finden lassen um mich wieder zu erden.
„Hanna? Wolltest du nicht eigentlich einen Couchtag einlegen, nach dem Stress der letzten Wochen?“ Meine Freundin Pia ist hörbar überrascht.
Na, mit Sicherheit nicht weniger, als ich es bin.
„Denkste, Puppe. Jonas hat mir einen Strich durch die Rechnung gemacht. Er lässt sich gerade die neuesten Trends in Sachen Brustimplantate vorführen. Ich kann dir sagen, diese Aufgabe füllt er wirklich äußerst zuverlässig aus, während er sie in Augenschein nimmt.“
Sie kichert. „Du hast ihn beim Vögeln erwischt?“
Ich liebe meine beste Freundin. Sie weiß immer sofort, worauf ich hinaus will.
„Ja, ich bin mitten reingeplatzt. Das Vorspiel hatten die beiden jedenfalls schon hinter sich.“ Jetzt muss ich auch schmunzeln. „Gehen wir was trinken? Ich weiß es ist kurzfristig, aber…“
Sie fällt mir ins Wort. „Gerne! Wo sollen wir uns treffen? Soll ich dich irgendwo abholen?“
Sie klingt ja fast erleichtert darüber, dass ich sie anrufe. Ich runzle meine Stirn und sehe auf meine Uhr. „Am Hafen? In einer halben Stunde? Das müsste ich hinbekommen.“ Und schon ist das Gespräch beendet und ich freue mich auf einen Weibernachmittag. Wie in alten Zeiten.
Seitdem Pia mit meinem Chef verheiratet ist, kommen wir viel zu selten dazu.
Umso schöner ist es, dass sie spontan zugesagt hat.
Keine 35 Minuten später sitze ich mit meiner Freundin in unserem Lieblingscafé am Hafen.
„Wirklich Pia, es wird allerhöchste Zeit, dass ich mir eine eigene Wohnung suche. Sonst bringe ich Jonas entweder um oder mutiere noch zur Mutter des Jahres, weil der Junge immer frisch gewaschene Unterhosen im Schrank liegen hat.“
Pia lacht und nimmt einen großzügigen Schluck von ihrem alkoholfreien Weizen. Ich verziehe das Gesicht. „Wirklich Schätzchen, dann braucht man auch gar kein Bier zu trinken.“
„Ich muss noch fahren, Hanna. Es reicht, wenn du dich betrinkst. Ich bringe dich sicher nach Hause.“
„Nach Hause? Ich bin mir gar nicht sicher, dass ich da hin zurück möchte.“
„Vielleicht kennt Alexander ja jemanden, der jemanden kennt, der schick und günstig vermietet.“
„Klar. Hier in Hamburg. Du glaubst auch noch an die gute Fee.“ Ich schüttele ungläubig meinen Kopf. Pia ist wirklich niedlich. Eine bezahlbare Wohnung … in Hamburg … bestimmt! Ich hätte damals ihre alte Wohnung übernehmen sollen, als sie zu Alexander Hofer gezogen ist. Die war günstig und wirklich nett. Aber zu dem Zeitpunkt hatte ich noch nicht vor, eine häusliche Trennung von meinem Mitbewohner in Betracht zu ziehen. Aber mittlerweile …
„Nein, Hanna, ich meine das ernst. Er kennt doch Gott und die Welt. Es würde mich wundern, wenn er dir nicht bei deiner Suche nach einer bezahlbaren Wohnung helfen kann.“
„Wenn ich schon auf Vitamin B zurückgreifen kann …“ Mit einem Augenzwinkern schiebe mir einige Erdnüsse in den Mund, die vor uns auf dem Tisch stehen. „Ich freue mich übrigens, dass du heute tatsächlich Zeit hast“, ich grinse sie an und sie verdreht lediglich die Augen.
„Na hör mal, für dich habe ich immer Zeit. Mal ganz davon abgesehen, dass du mich irgendwie gerettet hast. Alexander ist noch immer mit diesem Hotelmanager zugange und ich habe vor lauter Langeweile darüber nachgedacht, die Fenster zu putzen.“
Ahh ja, der Hotelmanager. Der hat mich auch einiges an Nerven gekostet in der letzten Zeit. Irgend so ein reicher Arsch plant ein Event der Extraklasse seines schicken Hotels in Hamburg. Entsprechend will der rote Teppich gefeiert werden. Die Kalkulation hat mich einige schlaflose Nächte gekostet.
„Ich dachte, die Party steht bereits?“ Etwas verwundert greife ich nach meinem Bier.
„Ja, das dachte Alexander auch. Aber irgendwie…“ Sie bringt den Satz nicht zu Ende und zuckt lediglich mit ihren Schultern.
Ich belasse es dabei. Von der Arbeit habe ich für heute genug.
Drei Stunden später ist die Wohnung verlassen, jedoch nicht weniger unordentlich. Im Gegenteil, irgendwie werde ich das Gefühl nicht los, dass Jonas’ Betthäschen sich an meinem Schokoladenvorrat bedient hat. Und die leere Weinflasche ist ebenfalls nicht mein Werk.
Hinter meiner Schläfe beginnt es zu pochen und eine unbeschreibliche Wut macht sich in mir breit, während ich liegengelassene T-Shirts, Hosen, Pullover und sogar den einen oder anderen Schuh vom Wohnzimmer- oder Küchenboden aufklaube und alles kurzerhand auf Jonas` Bett verfrachte.
„Es reicht, mein Freund. Ich habe jetzt wirklich die Schnauze voll. Jeder andere zahlt seiner Putzfrau zumindest einen Zehner die Stunde.“ Um meinen ungehörten Worten Nachdruck zu verleihen, stecke ich die leere Flasche samt benutzter Gläser mitten in den Wäscheberg und streue das Zellophanpapier meiner jetzt nicht mehr vorrätigen Lieblingsschokolade über dieses skurrile Gebilde. Damit werfe ich die Tür lautstark ins Schloss und lasse mir mein wohlverdientes Bad einlaufen.
Gibt es denn nur noch Idioten um mich herum?
Das heiße Wasser entspannt mich und die Zigarette, die ich mir gönne, tut ihr übriges.
Das wütende „Hanna!“ aus dem Nebenraum lässt mich vermuten, dass die kleine Schlampe wieder zu Hause ist. Ebenso wie das kurz darauf folgende Klopfen an der Badezimmertür.
„Hanna, was soll der Scheiß? Hast du keine anderen Hobbys, als mich zu tyrannisieren?“
Jonas` Stimme klingt dumpf durch die geschlossene Tür. So gar nicht beeindruckend. Ich ziehe noch ein letztes Mal an meiner Zigarette.
„Ich bin nicht deine polnische Perle, mein Freund. Räume gefälligst deinen Scheiß alleine weg.“
„Das hätte ich jetzt sicherlich getan. Aber du musst ja mal wieder übertreiben, indem du alles auf mein Bett wirfst. Der Rest Wein aus der Flasche ist in meinen Klamotten. Shit, Hanna, jetzt muss ich alles waschen und das Bett beziehen.“ Seine Faust schlägt kurz an die Tür. „Sag mal, du rauchst doch nicht wieder in der Wanne, oder? Es stinkt.“
„Sei doch nicht so unentspannt, ich dachte, du hattest gerade Sex.“ Mit einem Grinsen im Gesicht ziehe ich den Stöpsel und mit einem Gluckern bildet sich ein feiner Strudel gen Abfluss. „Ich mache gleich die Lüftung an.“
Diese neuen Nichtraucher machen mich wahnsinnig. In den ersten Monaten halten sie ihre Nase in jede blaue Dunstwolke, die ihren Weg säumt, nur um die Gier nach Nikotin auf indirektem Weg zu befriedigen und wenn sie dann endlich meinen, über den Berg zu sein, verachten sie alle anderen, die dem Glimmstängel noch nicht gänzlich abgeschworen haben. „Du lässt deinen Scheiß überall rumfliegen und ich rauche, wenn ich fertig bin mit putzen. Finde dich damit ab.“ Ich fische nach dem Frotteehandtuch, welches auf dem Klodeckel für mich bereit liegt.
„Ehrlich, Hanna, suche dir endlich was Neues fürs Bett. Du bist unerträglich launisch. Ich kann dein ewiges Rumgezicke nicht mehr ertragen.“ Und noch ehe ich hierauf eine passende Antwort geben kann, höre ich seine Tür zufallen.
„Du Riesenarschloch.“
Ich war laut. Er muss es noch gehört haben.
Mit dem Zipfel meines Handtuchs wische ich über den beschlagenen Spiegel. Meine blonden, schulterlangen Locken umrahmen mein blasses, viel zu schmales Gesicht. Die Ränder unter meinen Augen stehen für die Anstrengungen der letzten Wochen. Mein Schlüsselbein zeichnet sich spitz unter meiner Haut ab und auch sonst habe ich nicht mehr viel Fleisch auf den Rippen.
Aber ich bin auf dem Wege der Besserung. Wirklich. Es geht mir wieder gut. Zumindest fast.
Die Abstände, in denen ich noch verzweifelt versuche, Sebastian zu hassen, werden größer, die Träume seltener.
Es ist ein halbes Jahr her, dass er mich über seinen neuen Job in den Staaten informiert hat. Und mich darüber in Kenntnis gesetzt hat, dass es seine Frau sein wird, die er über den großen Teich mitzunehmen gedenkt.
Tja, Hanna, so kann es gehen, wenn man sich mit dem Status der Geliebten zufrieden gibt. Man wird aussortiert.
Immerhin wusste ich von seiner Frau, und ich habe es hingenommen, immer nur bereit zu stehen. Bereit für die schnelle Nummer zwischendurch, für die langen Abende und Nächte, die seine Frau, ihres Zeichens Chirurgin, lieber im OP als zu Hause verbracht hat, für all die Kongresse und Tagungen, bei denen ich im Hotelzimmer darauf gewartet habe, dass er nach einem schicken Essen oder einer Gala für ein paar Stunden mir gehörte.
All das war am Ende nichts wert und egal, wie sehr man sich einredet, Teil einer funktionierenden Beziehung zu sein, zum Schluss gewinnt immer die Ehefrau.
Aber das ist jetzt vorbei. Nie wieder werde ich mich von einem Mann derart abhängig machen, nie wieder werde ich einem Mann gestatten, mich emotional so zu vereinnahmen.
Nein, so wahr ich Hanna Seiler heiße. Die Sebastians dieser Welt können mir gestohlen bleiben. Ab jetzt bestimme ich die Regeln. Ich sage, wo es lang geht.
Wenn ich denn jemals wieder einen Mann finde, der mich überhaupt genug interessiert, um meine neuen Vorsätze direkt an ihm auszuprobieren.
Mein derzeitiges Wohnproblem ist doch um einiges akuter und es wird höchste Zeit für eine Veränderung. Pia hat recht.
Mit einem kapitulierenden Aufseufzen schlüpfe ich in meinen Pyjama und verziehe mich in mein Zimmer.
Für heute fehlt mir eindeutig die Kraft, mich länger als nötig mit meinem Mitbewohner auseinanderzusetzten.