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Über Frédéric Lenoir

© Ingrid Hoffmann / Opale / Bridgeman Images

FRÉDÉRIC LENOIR, geb. 1962, ist Philosoph, Religionswissenschaftler, Soziologe und Schriftsteller. Seine Bücher stehen regelmäßig auf der französischen Bestsellerliste. Bei Reclam erschien 2018 sein Offener Brief an die Tiere und alle, die sie lieben (ISBN der Buchausgabe: 978-3-15-011169-7, ISBN der E-Book-Ausgabe: 978-3-15-961398-7).

Über dieses Buch

»Am Glücklichsein hindert uns nicht die Wirklichkeit, sondern die Vorstellung, die wir uns von ihr machen.«

 

Ist nicht jeder auf der Suche nach Weisheit? Schließlich gilt sie als Schlüssel zu einem sinnerfüllten und guten Leben.

In den Lehren der Weltreligionen und bei großen Denkern findet der französische Philosoph und Bestsellerautor Frédéric Lenoir weise Antworten auf die entscheidenden Fragen des Lebens. Inspiriert von Montaigne, Nietzsche oder Spinoza gibt er konkrete Ratschläge, was wirklich wichtig ist, wie wir uns selbst besser kennenlernen und mit der Welt in Einklang sein können. Denn wenn man nur will, kann man sein Leben zu einem Kunstwerk machen.

Hinweise zur E-Book-Ausgabe

Die E-Books des Reclam Verlags verwenden entsprechend der jeweiligen Buchausgabe Sperrungen zur Hervorhebung von Textpassagen. Diese Textauszeichnung wird nicht von allen Readern unterstützt.

Enthält das E-Book in eckigen Klammern beigefügte Seitenzählungen, so verweisen diese auf die Printausgabe des Werkes.

Auch wenn uns die Gelehrsamkeit anderer gelehrt machen sollte – weise sein können wir nur durch unsere eigene Weisheit.

Michel de Montaigne, Essais, I,25.

Wir werden in diesem kleinen Buch durchweg miteinander reden und deshalb bitte ich Dich, lieber Leser, dass du Dich zunächst selbst zu Deinem eigentlichen Anliegen befragst. Das Wort »Weisheit« kann tatsächlich zwei recht unterschiedliche Bedeutungen haben. Hast Du dieses Buch aufgeschlagen, weil Du bedacht und vorausschauend handeln möchtest? Oder eher, weil Dir Dein Leben gut gelingen soll, weil Du ein gutes, aufrechtes und glückliches Leben führen möchtest? Die Weisheit im philosophischen Sinn, für die ich mich interessiere, beinhaltet das Ideal eines gelingenden Lebens. Ist es das, wonach Dir der Sinn steht? Also suchst Du nicht nach einem erfolgreichen Leben im landläufigen Sinne – in dem Du einen guten Beruf hast und viel Geld verdienst –, sondern nach einem für Dich gelingenden Leben: nach einem schönen und glücklichen Dasein.

Seit jeher haben sich Menschen die Frage nach dem Sinn des Lebens gestellt: Sind wir nur auf der Erde, um zu essen, zu schlafen, uns fortzupflanzen, zu arbeiten und uns zu vergnügen? Oder könnte das menschliche Leben noch einen anderen Sinn haben? Immer und überall haben Männer und Frauen versucht, diese Frage zu beantworten. Die Antworten, die sie aus ihrem Wissen und ihrer Erfahrung geschöpft haben, weisen stets in die gleiche Richtung. Sie meinen, in unserem kurzen Dasein sei es das Wichtigste zu lernen, wie man mit Herz und Verstand lebt. Nur so kann man sein

 

 

Ich versuche durchaus, dieses Ideal zu erreichen, aber ist das überhaupt möglich?

 

Es ist in der Tat sehr schwer zu verwirklichen, und deshalb definiere ich Weisheit als ein Ideal, nach dem man strebt, weniger als ein Ziel, das man um jeden Preis erreichen muss. Will man weiser werden, muss man eine fundamentale Wahl treffen, die unser Leben verändern kann: Es geht darum, unsere Werte in eine Reihenfolge zu bringen. Was ist wichtig und was nicht? Welche Prioritäten setze ich im Leben? Möchte ich in erster Linie äußeren oder inneren Reichtum besitzen? Möchte ich von allerhand materiellen Gütern umgeben sterben oder lieber im Kreis einiger guter Freunde?

 

 

Das eine schließt ja nicht zwangsläufig das andere aus! Kann man denn nicht zugleich reich und weise sein?

 

Selbstverständlich. Geld und gesellschaftlicher Erfolg stehen nicht unbedingt im Widerspruch zur Weisheit. Es gibt reiche, mächtige Menschen, die gut und weise sind, sowie arme, unbekannte Menschen, die habgierig und böse sind. Der römische Kaiser Marc Aurel war einer der reichsten und mächtigsten Männer seiner Zeit. Gleichzeitig war er ein

Und das ist die Frage, die ich Dir stelle: Was ist das Wichtigste für Dich? Dein Leben zu meistern und nach einem ebenso schönen wie glücklichen Dasein zu streben, egal wie sehr Du Dich bemühen müsstest, um diesem Ideal näher zu kommen? Oder ist es wichtiger für Dich, Erfolg im Leben zu haben, reich und anerkannt zu sein, selbst wenn beide Lebensformen wie gesagt nicht notwendigerweise unvereinbar sind?

Es gibt auch Menschen, die nur versuchen, gut zu schlafen, zu essen, sich zu lieben, sich zu vergnügen, ohne über weitere Fragen nachzudenken, und die weder an sich selbst arbeiten noch etwas zur Verbesserung der Welt beitragen möchten. So sagte Maimonides, der große jüdische Denker des 12. Jahrhunderts:

Jeder Mensch kann ein Gerechter werden […] oder ein Frevler […], er kann weise werden oder beschränkt […]. Doch niemand ist da, der ihn zwänge, niemand, der über ihn beschlösse, niemand, der ihn hinzöge nach dem einen von zwei Wegen; sondern aus sich selbst und seiner Erkenntnis wendet er sich dem Wege zu, den er will.

Moses Maimonides. Ein Querschnitt durch das Werk des Rabbi Mosche BenMaimon / Moses Maimonides, S. 76 f.

Zwar würde ich, unter Berufung auf Spinoza und Freud, diesen absoluten Glauben an den freien Willen des Menschen differenzierter betrachten, denn immerhin werden wir stark durch unsere unbewussten Affekte gesteuert. Allerdings stehen wir unaufhörlich vor moralischen Entscheidungen,

 

 

Und Du? Welche Prioritäten hast Du im Leben? Dank Deiner erfolgreichen Bücher bist Du relativ reich und bekannt. War das Dein Hauptziel?

 

Es ist wichtig, dass ich diese Frage beantworte, denn wie könnte ich von Weisheit sprechen, wenn ich nicht selbst diesen Weg eingeschlagen hätte, wenn ich keinen Gefallen an ihm fände oder keine Erfahrung mit ihm hätte! Für die Philosophen der Antike ist Weisheit zugleich theoretisches (griech. sophía) und praktisches Wissen (phrónēsis). Das eine ist ohne das andere nicht denkbar. Wie mein Freund André Comte-Sponville, ein echter Liebhaber der Weisheit, sagt: »Der Weise überdenkt sein Leben und lebt seine Gedanken.« Es geht folglich immer um den Versuch, eigene Ideen und Überzeugungen in seinen Handlungen umzusetzen. Das bedeutet nicht, dass beides immer perfekt übereinstimmt, sondern dass wir uns ständig darum bemühen sollten.

Um Deine Frage zu beantworten: Ich habe mir seit meiner Kindheit Gedanken über den Sinn des menschlichen Lebens gemacht. »Warum sind wir auf der Welt?«, fragte ich mich immer wieder. Eine erste Antwort auf diese Frage zeichnete sich für mich ab, als mir mein Vater, da war ich dreizehn oder vierzehn, Platons Gastmahl zu lesen gab. Ich habe dann alle sokratischen Dialoge verschlungen und begriffen, was ich später wirklich machen wollte: Ich wollte lernen, mich selbst zu erkennen, ich wollte die Welt ergründen und so an

Zugleich habe ich mich stets bemüht, ein gutes und glückliches Leben zu führen, indem ich intensiv an mir selbst gearbeitet habe: Fast zwanzig Jahre lang habe ich verschiedene Therapien gemacht! In diesen therapeutischen Behandlungen konnte ich mich selbst besser kennenlernen und zahlreiche Blockaden, Ängste sowie Trauer und Zorn über meine in emotionaler Hinsicht schmerzliche Kindheit überwinden. So habe ich – auch mithilfe von Meditation – gelernt, besser mit meinen Emotionen umzugehen und sie zu beherrschen, meinen Körper, meinen Geist und meine Seele in Einklang

Aber jetzt zu Deinen Fragen im Hinblick auf Geld und soziale Anerkennung. Geld war für mich nie ein Wert an sich, auch wenn ich heute dank des Erfolges meiner Bücher sehr gut verdiene. Dieser Erfolg kam, als ich 42 Jahre alt war und schon um die zwanzig Bücher veröffentlicht hatte, die sich nur mäßig gut verkauft hatten. Trotzdem war ich kein bisschen unglücklich. Ich habe nie meine Prioritäten aus den Augen verloren, egal ob ich gut oder schlecht verdient habe, ob ich bekannt war oder nicht. Als ich anfing, viele Bücher zu verkaufen, habe ich mir durchaus ein paar materielle Wünsche erfüllt, beispielsweise habe ich mir einen Sportwagen mit offenem Verdeck gegönnt! Dann wurde mir das allerdings langweilig, ich habe das Cabrio weiterverkauft und wieder mein altes Auto aus der Garage geholt; es ist heute über zwanzig Jahre alt und hat 350 000 Kilometer auf dem Buckel. Der größte Teil meines Einkommens geht als Steuer an den Staat (und kommt somit der Gesellschaft zugute), oder ich spende ihn verschiedenen, teilweise von mir gegründeten Gesellschaften und Stiftungen. Ich lebe sehr gut, aber ohne Extravaganzen. Was gesellschaftliche Anerkennung anlangt, so habe ich in vielen Therapiejahren verstanden, dass ich sie für eine gewisse Zeit brauchte, um meinem Vater zu beweisen, dass er auf mich stolz sein könne. Doch als ich erst einmal echtes Selbstvertrauen entwickelt und diese Neurose bewältigt hatte, konnte ich mich vom Bedürfnis nach Anerkennung befreien. Meine Bekanntheit gestattet mir, meine Ideen zu verbreiten, und darüber bin ich glücklich. Heute ist mein einziger Lebensinhalt, an menschlicher Größe zu gewinnen und somit anderen nützlich zu sein.

 

 

 

Nein, überhaupt nicht! Noch einmal: Weisheit ist ein Ideal, welches ich anstrebe. Aber obwohl ich versuche, meine Werte, Gedanken und Handlungen so gut wie möglich in Einklang zu bringen, gibt es noch Bereiche, in denen mir das nur schwer gelingt! Ich schaffe es nicht, bestimmte Neigungen meines Wesens zu korrigieren. Das Wichtigste ist, Weisheit wirklich zu begehren sowie wachsen, sich verändern, sich verbessern zu wollen. Es ist immer besser, sich auf die Suche zu begeben, auch wenn diese unabgeschlossen bleibt, als ganz aufzugeben oder sich vorzuwerfen, dass man ein zu hohes Ideal verfolgt. Im Übrigen werde ich innerlich und äußerlich immer glücklicher, und nur wenige Dinge erschüttern diese Freude und Heiterkeit. Doch wer weiß, ob ich sie nicht schon morgen aufgrund eines Todesfalls in der Familie oder einer schweren Krankheit verliere?

 

 

Du willst sagen, das Wichtigste ist, sich ein Ziel, eine Richtung zu geben und zu versuchen, diesen zu folgen – auch wenn man nie sicher ist, wirklich anzukommen?

 

Genau. Eine meiner liebsten Maximen, die ich habe drucken und rahmen lassen, ist ein von Seneca inspirierter Satz aus Montaignes Essais: »Was nützt mir der beste Wind, wenn ich nicht weiß, zu welchem Hafen ich segeln will.« Das heißt, wer im Leben vorankommen will, sollte einen Hafen, ein Ziel anstreben und nach Mitteln suchen, um sie zu erreichen, anstatt ziellos umherzuirren. Niemand hat je ein höheres Ziel erreicht, der es nicht sehnlichst gewollt hätte. Was für die Welt der Künstler, der Sportler, was für den Beruf oder die Familie zutrifft, gilt auch für das Ideal der Weisheit, also des schönen und glücklichen Lebens. Versuchen wir, so

 

 

Allerdings habe ich auch schon gelesen, dass »der Weise nichts erwartet«. Und dass man beispielsweise gemäß der buddhistischen Weisheitslehre alle Bedürfnisse auslöschen soll.

 

Buddha empfiehlt, das »Begehren-Verlangen« bzw. den Durst (tanha