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Inhalt

Impressum

Widmung

Hinweis

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Impressum

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie­.

Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Film, Funk und Fern­sehen, fotomechanische Wiedergabe, Tonträger, elektronische Datenträger und ­auszugsweisen Nachdruck, sind vorbehalten.

© 2019 novum Verlag

ISBN Printausgabe: 978-3-99064-647-2

ISBN e-book: 978-3-99064-648-9

Lektorat: Philine Ternes

Umschlagfoto: Skypixel | Dreamstime.com

Umschlaggestaltung, Layout & Satz: novum publishing gmbh

www.novumverlag.com

Widmung

An meinen verlorenen Bruder

Pius und alle Kinder,

die von der katholischen Kirche

missbraucht wurden.

Hinweis

Die Personen und Handlungen dieses Buches sind frei erfunden.

Etwaige Ähnlichkeiten mit tatsächlichen Begebenheiten wären rein zufällig.

*

Ich sitze in meinem komfortablen Haus und schaue versonnen auf den Genfersee, der sich vor mir in seiner vollen Schönheit ausbreitet.

Die Waadtländer Riviera mit ihrem einzigartigen Ambiente, dieser Mischung aus dem französischen Flair und der schweizerischen Perfektion, ist seit Jahren mein fixer Wohnsitz.

Obwohl ich ein glückliches Leben führe, kann ich nie ganz die in mir verankerten Gefühle von Wertlosigkeit und Angst für längere Zeit unterdrücken. Meine Jugend- und Kindheitsjahre haften wie ein unsichtbares Brandmal an mir.

Obwohl ich einen Schweizer und einen österreichischen Pass besitze, fühle ich mich irgendwie wie ein Staatenloser. Ich kann mich ohne Mühe an allen Orten anpassen, ich fühle mich wie von überall und nirgendwo.

Auch meine Muttersprache ist mir oft fremd.

Wenn ich französisch spreche, fragt man mich immer, ob ich angelsächsischer Abstammung bin, da ich einen leichten englischen Akzent habe.

Wenn ich erschrecke oder überrascht bin, sind meine ersten Worte kurioserweise immer auf Englisch, was davon kommt, dass ich mit neunzehn einen emotionellen Schock hatte, dessen Spuren sich nie total verwischen werden.

Ein ausgezeichnetes Gedächtnis zu haben, hat mir sicher geholfen, mit Leichtigkeit mehrere Sprachen zu erlernen. Andererseits gibt es keine entfernte Vergangenheit und das kleinste schmerzhafte Detail kann immer noch wehtun, als ob es gerade jetzt passiert wäre.

Ich muss nur den Film vierzig Jahre zurückdrehen und bin wieder dieses unscheinbare neun Jahre alte Mädchen. Meine großen blaugrünen Augen beobachteten alles, und meine innere Datenbank speichert ohne Pause.

Es war mir, soweit ich mich zurückerinnern konnte, immer klar, dass ich nicht wie die anderen Leute im Dorf war.

Auch der Rest meiner Familie gab mir nie das Gefühl, ein zugehöriges Mitglied zu sein.

*

Ich weiß auch heute noch nicht, ob dies der Grund ist, dass mich mein Vater und meine Mutter enterbt haben, wahrscheinlich war auch ihnen klar, dass ich anders war.

Es ist vielleicht beängstigend ein Kind zu haben, das man nicht versteht.

Wenn ich meine Mutter frage, warum sie mich nie geliebt hat und es für sie nur ein einziges Kind gegeben hat, für welches sie eine liebende Mutter war, ist ihre Antwort: „Romy, du bist ja verrückt, als erwachsene Frau solche Sachen zu sagen, das ist ja wirklich kindisch!“

In Langenegg waren in den 70iger Jahren eigentlich fast alle Männer Kriegsveteranen, entweder vom Zweiten oder Ersten Weltkrieg. Wenn ich mir das heute überlege, ist eigentlich ganz klar, dass diese Menschen unter einem totalen Kriegstrauma litten. Jedoch gab es zu dieser Zeit eine totale Omertà, was diese Epoche anging. Wahrscheinlich bin ich aufgewachsen umgeben von Männern, die gemordet haben, weil sie für das Reich oder für den Kaiser und das Land gekämpft haben.

Auch meine Generation, die dies nicht an der eigenen Haut miterlebt hat, ist davon noch infiziert, weil man darüber nie die genaue Wahrheit erfahren hat, aber besonders, weil man uns nach den Prinzipien einer Kriegergeneration erzogen hat. Wir Kinder sind nicht im Krieg aufgewachsen, jedoch das Schlachtfeld kennen wir gut.

Emotionen waren nicht erlaubt, denn da unsere Vorfahren diese wahrscheinlich total kastriert hatten, um wieder einen Neuanfang zu machen, als sie vom Krieg zurückkamen, erwarteten sie das Gleiche von ihren Familien.

Die Autorität, die sie während der Kriegsjahre ausgeübt oder erfahren hatten, war tief verwurzelt und wurde in den Familien weiter ausgelebt.

Den Stoizismus, den sie im Krieg gelernt hatten, erwarteten sie nun ebenfalls von ihren Kindern. Mein Vater zitierte regelmäßig, was Hitler bei einer Rede gesagt hatte:

„Flink wie Windhunde, zäh wie Leder und hart wie Kruppstahl“, so sollten wir Kinder sein.

*

Genau kann ich im Nachhinein nicht sagen, was eigentlich der Auslöser war, warum mein Leben eine total andere Richtung eingeschlagen hat. Wahrscheinlich war es eine Akkumulation von vielen kleinen Ereignissen.

*

Ich mochte den Tag, an dem der Doktor in die Schule zur jährlichen Schuluntersuchung kam, gar nicht.

Man musste sich schon bis auf die Unterhose ausziehen und das war schon sehr ungewohnt, sich so seinen Mitschülern gegenüber zu zeigen.

Was mich aber besonders beängstigte, war, wenn ich Zahlen und Buchstaben auf einer weißen Tafel lesen sollte. Eigentlich hatte ich immer schon Probleme mit meinen Augen. Beim Fernsehen oder bei längerem Lesen waren meine Augen gerötet.

Wie oft wurde ich, wenn ich voller Energie über die Wiese zum Haus meiner Cousine Gabrielle rannte, auf den Boden geschmissen, da ich wieder einmal mehr die elektrische Umzäunung nicht gesehen hatte.

Unsere Lehrerin Fräulein Nenning, rief uns alphabetisch auf und so kam ich erst zum Schluss dran.

In der Zwischenzeit stellte ich mich möglichst nahe an die Tafel mit den Buchstaben, die ab jeder Zeile kleiner wurden, und versuchte zu memorieren, was meine Mitschüler auf der Tafel lasen.

„Romy Steyrer!“, rief die Lehrerin.

Ich trat vor den Dr. Küng.

„Also Romy, steig auf die Waage!“

Er lachte und schaute mich verschmitzt an.

„Du musst schon etwas mehr essen, denn sonst wird dich im Winter der Wind umblasen.“

Der Doktor war sicher nicht der Schlankste und konnte den Arztkittel nicht über seinem Bauch zumachen.

Bei mir konnte man sämtliche Rippen zählen und meine dünnen Beine sahen auch mehr nach zwei krummen Spazierstöcken aus.

„Ja, bestens“, sagte Dr. Küng, nachdem er seine Untersuchung mit dem Stethoskop beendet hatte. „Jetzt lies mir noch die ersten vier Zeilen vor!“

Mein Herz fing an schneller zu schlagen. Die erste Zeile ging ganz gut, aber bei der zweiten kam ich natürlich total ins Stocken und die dritte Zeile sah ich nur verschwommen.

„So, das müssen wir uns genauer ansehen“, sagte der Arzt und hielt mir ein Papier vor ein Auge.

„Lies jetzt die oberste Zeile!“

Mit dem rechten Auge konnte ich mit Mühe noch die erste Zeile lesen, aber die zweite schon gar nicht mehr und mit dem linken Auge ging es wirklich schlecht.

„Ich schreib dir eine Überweisung zum Augenarzt“, sagte der Doktor.

Meine Mitschüler tuschelten: „Romy braucht eine Brille.“

Niemand sonst in der Klasse hatte Probleme mit den Augen.

Im Alter von neun Jahren wurde mir das erste Mal klar, dass ich hässlich sein könnte. Als ich nach der Schuluntersuchung diesen verfluchten Zettel von Dr. Küng in die Hand gedrückt bekam, damit man mit mir zum Augenarzt ging, brach in mir eine Welt zusammen. In diesem Moment hatte sich der Grundstein für meinen exzessiven Körperkult gelegt.

*

Als ich nach der Schule nach Hause lief, weinend gegen meine Mutter stürzte und die Hiobsbotschaft heraus stammelte, schien meine Mutter dies nicht so dramatisch zu finden.

„Es ist schon seltsam, dass du schlecht siehst, da in unserer Familie ja niemand Probleme mit den Augen hat. Von meiner Seite sehen alle äußerst gut. Nur die Tante Mik hat eine Brille und du schaust ihr schon ziemlich ähnlich.“

Ich war innerlich von ihrer Reaktion aufs Tiefste verletzt. Mir kam es so vor, dass es ihr egal war, dass sie von nun an das hässlichste Mädchen im Dorf als Tochter hatte.

„Mit einer Brille werde ich doch furchtbar ausschauen“, sagte ich mit Tränen in den Augen.

„Romy, du übertreibst aber wirklich, es gibt doch viel Schlimmeres“, sagte meine Mutter und fügte hinzu: „Ich hoffe, dass die Krankenkasse die Brille bezahlen wird.“

Mir kam die Reaktion meiner Mutter wie ein Schlag ins Gesicht vor. Das Einzige, was ihr Sorgen machte, war, wer wohl die Brille bezahlen würde.

Alle Leute, die ich kannte, die Brillen trugen, waren entweder alt oder ledige Jungfern. Weder meine Eltern noch Brüder brauchten eine Brille. Nur meine hässliche Großtante Maria-Katharina, die wir Tante Mik nannten, hatte eine Brille, weil sie eine bösartige alte Jungfer war.

Es stand für mich so oder so fest, dass ich die Brille so wenig wie möglich in der Öffentlichkeit tragen würde, koste es, was es wolle.

Eine Woche später hatte ich einen Termin beim Augenarzt, der mir eine Brille verschrieb.

Beim Optiker gab es nur ein Modell, das nicht zu groß für mein Gesicht war, ich konnte zwischen einer braunen oder schwarzen Hornbrille aussuchen. Ich entschied mich ohne jegliche Begeisterung für die braune Brille. Die Gläser waren furchtbar dick und schwer und meine Augen schauten dahinter ganz winzig aus, fast wie Schweineaugen.

Da ich ab der ersten Schulklasse in der vordersten Schulbank saß, damit ich überhaupt etwas an der Schreibtafel sah, dachte ich mir, dass mich die meisten meiner Mitschüler am wenigsten mit der Brille sehen würden, wenn ich sie erst aufsetzen würde, sobald wir alle in unseren Schulbänken saßen.

Sobald ich die Klasse verließ, packte ich diese verhasste Brille wieder in meine Schultasche. Als ich zum ersten Mal meine furchtbar hässliche Brille aufsetzte, kicherte die ganze Klasse.

Ich wurde knallrot und schaute verlegen auf den Boden.

Mir kam es so vor, dass mich der Lehrer mit einem amüsierten Blick musterte und danach mit ernster Stimme sagte: „Ruhe! Schlagt euer Heft auf, wir werden ein Diktat schreiben!“

Ich hätte am liebsten meine Schulsachen genommen und wäre aus der Klasse geflüchtet, aber ich wusste, dass man so etwas nicht machen konnte.

*

Im gleichen Jahr war meine Erstkommunion. Der Herr Hochwürden bereitete uns im Religionsunterricht auf diesen großen Tag vor. Er sagte mit ernster Miene:

„Ab der Erstkommunion könntet ihr euch als richtige gute Christen bezeichnen.“

Besonders die Mädchen in der Klasse waren sehr aufgeregt und fieberten diesem großen Tag, der unser Leben als Katholiken verändern würde, entgegen.

Am Weißen Sonntag würden die Erstkommunikanten in einer Prozession vom Pfarrhof zur Kirche herüberlaufen, die Buben im Sonntagsanzug und die Mädchen in einem weißen Kleid mit einer kleinen Krone und einem weißen Schleier auf dem Kopf. Wir würden weiße, bestickte Handschuhe tragen und am Arm würde ein kleiner, weißer Beutel baumeln.

Alle meine Mitschülerinnen fingen an zu erzählen, dass man ihnen schon das Festtagsgewand gekauft hätte und jede beschrieb die genauen Details von den dazugehörigen Accessoires. Auch ich erwartete, dass meine Eltern mir bald ein Kleid in der Stadt kaufen würden.

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Wir saßen beim Mittagessen und meine Mutter sagte zu meinem Vater: „Das lohnt sich doch nicht für einen einzigen Tag so viel Geld für ein Kleid auszugeben. Romy ist ja unser einziges Mädchen in der Familie.“

Mein Vater antwortete: „Es gibt doch sicher auch ein gebrauchtes Kleid, welches wir kaufen können. Die Tochter vom Holzhändler Sutter in Egg hatte doch auch vor ein paar Jahren ihre Erstkommunion. Ich werde da mal nachfragen.“

Ein paar Tage später erhielte ich das Kleid, das die Tochter des Holzhändlers Sutter vor ein paar Jahren getragen hatte, sowie die kleine Krone und die Handschuhe. Meine schwarzen Sonntagsschuhe wurden für diesen Tag auf weiß umgefärbt und so brauchte man mir nicht extra ein neues Paar zu kaufen.

Mein Erstkommunionskleid schien mir weniger schön zu sein als alle anderen. Meine Enttäuschung war groß und ich verstand es irgendwie nicht, dass andere Leute im Dorf, die sicher auch nicht mehr Geld wie wir hatten, ihren Kindern ein neues Gewand für diesen Tag kauften.

*

Die andere große Veränderung im gleichen Jahr war, dass sich mein Vater entschloss, unser Haus umzubauen. Dieses Haus, dem ich heute noch nachtrauere, oder besser gesagt, ich trauere der Zeit nach, während der wir in diesem Hause lebten. Auch nach all den Jahren kommen in mir Gefühle von Wehmut hoch, wenn ich zufällig irgendwo in Österreich noch ein solches uraltes kleines Bauernhaus sehe, das mich an meine Kindheit erinnert.

Heute rieche ich noch, wenn ich zurückdenke an dieses Haus, den Geruch von Frühäpfeln, die unsere Mutter aufs Fenstersims in unser Zimmer legte. Dieser Geruch, den ich jetzt noch dem teuersten Parfüm vorziehen würde.

Mir kam es so vor, als wir in diesem einfachen Haus wohnten, dass alles schön, sauber und gemütlich war. Es war für mich das Natürlichste auf der Welt, dass wir kein Badezimmer hatten. Wir wuschen uns in der Küche am Abwasch, und wenn man die Küchenschranktür aufmachte, hatte man eine gewisse Intimität, denn es wäre nicht denkbar gewesen, ein anderes Familienmitglied ohne Kleider zu sehen. Dies wäre eine Todsünde gewesen. Die Toilette war ein Plumpsklo in der Scheune. Es störte mich auch nicht, dass wir als Klopapier Zeitungspapier benutzten, das ich einmal in der Woche schneiden musste.

Das einzig Unangenehme war, dass ich im Winter oft Mühe hatte, den hölzernen Klodeckel aufzumachen, da er angefroren war, oder im Sommer oft, wenn es heiß war, sehr viele Fliegen in der Toilette waren.

*

Anfang der 70er Jahre gab es einen wirtschaftlichen Wandel. Im Bregenzerwald lebten die Menschen, abgesehen von ein paar Handwerksunternehmen, hauptsächlich von der Landwirtschaft und niemand war wirklich reich.

Auf einmal kamen deutsche Sommerfrischler, die unsere Gegend als billiges Urlaubsziel entdeckten. Immer mehr Dorfeinwohner boten Zimmer mit Frühstück an, was ein gutes Nebeneinkommen für die bäuerliche Bevölkerung war.

Meine Eltern entschlossen sich unser Haus zu vergrößern, um ebenfalls Fremdenzimmer zu vermieten.

Mein Vater, Johannes Steyrer, war der Jagd- und Waldaufseher in Langenegg.Er war bei einem reichen Bauherrn aus Bregenz als Jagdaufseher angestellt. Herr Kommerzialrat Rhomberg hatte die Jagd von Langenegg gepachtet und es kam mir so vor, dass er eine der machtvollsten Personen war. Ich kannte auch niemand anderen, den man „Kommerzialrat“ nannte, und hatte, wie wahrscheinlich die meisten Leute, keine Ahnung, was dieser Titel bedeutet.

Die Leute sprachen von ihm mit einem gewissen Respekt, was sicherlich normal war, denn für die meisten Menschen in unserem kleinen Dorf, die sehr bescheiden lebten, kam die Familie Rhomberg aus einer anderen Welt. Die Rhombergs hatten ein Jagdhaus in Langenegg und mein Vater musste regelmäßig zu Pirschbesprechungen erscheinen.

*

Der Kommerzialrat Rhomberg machte die Baupläne für unser neues Haus. Eigentlich habe ich mich nie richtig gefreut, dass wir in Kürze eine neue Küche, ein Badezimmer, mehrere Spültoiletten und ich sogar ein eigenes Zimmer im Hause haben würden. Es würde eine Zentralheizung installiert werden und im ganzen Haus Heiß- und Kaltwasserleitungen geben.

Um ehrlich zu sein, kam mir das alles eher bedrohlich vor.

Ich hörte auch das erste Mal, wie wichtig es ist, dass man Geld hat. Meine Eltern sprachen viel über die Kosten dieses Umbaus. Meine Mutter und mein Vater saßen am Küchentisch und meine Mutter wischte sich ihre noch feuchten Hände an ihrer Schürze trocken und sagte seufzend: „Ich kann nur beten, dass es gut gehen wird, denn solche Schulden, wie wir uns da auf den Rücken laden, sind schon ein Grund, um schlaflose Nächte zu verbringen.“

Mein Vater, der eigentlich nie besorgt ausschaute, was vielleicht von seinem tief gebräunten Gesicht kam, meinte: „Wir müssen eben etwas sparsam umgehen in den nächsten Jahren und die Urlauber werden uns doch sicher Geld einbringen.“

Ich überlegte mir, wo wir noch mehr sparen sollten, denn es gab wirklich keinen Luxus bei uns. Abgesehen davon, dass mein Vater zwei Pakete Zigaretten pro Tag verrauchte, gab es kaum eine Möglichkeit, wo meine Eltern noch sparen könnten.

Damals wusste ich noch nicht, dass mein Vater vierzig Jahre später Millionär sein würde.

Die Landwirtschaft mit unseren paar Kühen und Schweinen, die meistens von unserer Mutter Hildegund betrieben wurde, brachte auch nicht sehr viel Geld ein.

*

Unser Vater besaß recht viel Wald und es wurde sehr viel Holz für die Hausvergrößerung geschlagen. Wir Kinder mussten dabei auch mithelfen.

Mein Bruder Adalbert, der immerhin schon vierzehn Jahre alt war, schälte die Baumstämme. Mein um zwei Jahre älterer Bruder Rudolf und ich mussten die Äste wegräumen und zum Trocknen auf einen Haufen geben. Danach würden wir daraus Buscheln für den Kachelofen machen.

Unser Vater war immer dabei, uns anzuspornen bei solchen Sachen, und rief uns zu, wenn wir anfingen etwas langsamer zu arbeiten: „Also zeigt mal, was in euch steckt, noch ist nicht Feierabend!“

Rudolf und ich jammerten: „Papa, uns tun die Arme weh, können wir nicht eine Pause machen?“

„Ein bisschen Muskelkater wird euch doch nicht gleich ermüden“, antwortete unser Vater und fuhr fort: „In eurem Alter musste ich viel mehr arbeiten, da war ich schon als Knecht im Bayrischen.“

Rudolf und ich schauten uns achselzuckend an und wussten, dass jammern bei unserem Vater nicht sehr gut ankam.

Dass wir zu Hause mithalfen war nichts Außergewöhnliches. Besonders wenn man eine Landwirtschaft hatte, war es normal, dass die Kinder im Sommer beim Heumachen halfen. Von klein auf war ich es gewohnt, beim Heurechen mitzuhelfen oder neben dem Heuwagen herzurennen, um das Heu aufzuladen.

Im Herbst waren wir alle damit beschäftigt, Äpfel und Birnen aufzuklauben. Abgesehen von den schönsten Früchten, die in den Keller kamen und während des Winters gegessen wurden, fuhr man mit der Obsternte in die Mosterei.

Ich mochte den Süßmost nicht besonders, weil ich davon meistens schnell Bauchschmerzen bekam, und sobald er anfing säuerlich zu werden, war mir der Geschmack zuwider.

Im Spätherbst brannte mein Vater auch Schnaps und es schien, dass es sich um ein äußerst kostbares Gebräu handelte, denn nicht jeder, der in unserem Haus verkehrte, bekam ein Gläschen davon, die meisten Leute bekamen ein Glas Most serviert.

Da es noch keine Miststreuer gab, mussten wir auch stundenlang mit der Gabel auf den Wiesen den Mist verteilen. Meine Brüder halfen ebenfalls mit, die Jauchenrohre auf die Wiesen zu schleppen, damit man die Jauche verteilen konnte. Dies war eine äußerst unangenehme Arbeit und ich war froh, dass ich zumindest dabei nicht mithelfen musste.

Auch das Holzspalten war eine Arbeit für Adalbert und Rudolf, während ich besonders beim Holzstapeln helfen musste.

Die Milch wurde mit dem Milchkarren zweimal pro Tag in die Sennerei gebracht werden. Mir kam es nicht so vor, dass ich außergewöhnlich viel arbeiten musste, es gehörte einfach zu unserem Tagesablauf, dass, wenn wir nicht in der Schule waren, wir eben nicht einfach faul herumsaßen.

Da es wie gesagt sehr wenige technische Hilfsmittel gab, konnte man jede Hand gebrauchen.

Besonders in unserer Familie waren wir nicht besonders gut ausgerüstet, da die Landwirtschaft nicht die einzige Arbeit meines Vaters war. Wir besaßen einen furchtbar alten, schwarzen Traktor, den man mit einer Handkurbel anließ, und der mehr nach einer Dampflokomotive aussah. Schon von Weitem konnte man unseren Vater damit hören, wenn er mit einer Ladung Holz durchs Dorf fuhr.

*

Das Projekt für den Umbau unseres Haus schien eine sehr komplexe Angelegenheit zu sein. Der Wohnteil des Hauses, bis auf die Stube und die kleine Küche, die sich auf der Südseite befanden, würde abgerissen werden.

Der Keller, der sich darunter befand, würde logischerweise auch stehen bleiben. Gegenüber des Altbaus war eine große Wohnküche, ein Frühstückszimmer für die Gäste sowie ein Badezimmer und WC vorgesehen, und darunter würde es eine große Garage geben.

Darüber würden noch zwei Stockwerke für Komfortzimmer mit Waschbecken für die Sommerfrischler sowie ein Zimmer für meine beiden Brüder und ein Zimmer für mich gebaut werden.

Den ganzen Wohnteil abzureißen und einen Neubau an den Stadel anzubauen, schien eigentlich viel einfacher zu sein und sicher nicht kostspieliger. Mein Vater bestand aber darauf, einen Teil, in dem schon unsere Vorfahren gelebt hatten, zu belassen.

Ich fragte mich, ob es sich um eine Art Nostalgie handelte.

Mein Vater war ein Mensch, der sich ganz schlecht von alten Sachen trennen konnte, und darum waren auch die Scheune und der Dachboden mit Sachen, die noch von vor dem Krieg stammten, vollgestopft.

In Kartons und alten wurmstichigen Schränken lagen verstaubte Bilder, alte Feuerwehrhelme, getrocknete Blumensträuße sowie Waschschüsseln, verrostetes Besteck und alle Sorten von Werkzeug. Ebenfalls gab es einige Schachteln mit Munition, die angeblich noch vom Krieg übrig geblieben waren.

Meine Mutter sagte manchmal: „Die alten Sachen können wir doch verbrennen, es wird doch keiner dieses alte Gerümpel brauchen.“

„Wenn es vielleicht wieder einen neuen Hitler geben wird, ist man über alles froh, was man besitzt“, antwortete mein Vater. Ob er das wirklich glaubte, war ich mir aber nicht sicher. Trotzdem fand ich die Idee etwas beängstigend, denn angeblich war diese Zeit wirklich schlimm gewesen. Obwohl niemand wirklich darüber reden wollte.

Trotz dieser düsteren Prognosen verbrannte meine Mutter manchmal ein paar Sachen im Herd in der Küche, wenn mein Vater nicht da war.

Die meisten Leute im Dorf und auch der Maurermeister Faisst schüttelten den Kopf über die verrückte Idee meines Vaters, nicht das ganze Haus abzureißen.

Mein Vater saß mit dem Maurermeister Faisst in der Küche bei einem Schnaps und dieser meinte kopfschüttelnd: „Du bist schon der sturste Mensch, der mir über den Weg gelaufen ist. Warum kannst du nicht einfach daneben hin ein neues Haus bauen?!“

Mein Vater nahm einen Schluck, zündete sich eine Zigarette an und während der Rauch aus seiner Nase quoll, antwortete er: „Stell dir vor, ich baue ein Haus daneben hin, da würde ich doch gleich einen Teil von der Wiese verlieren.“

Der Baumeister lachte: „Ja, die ist doch eh nichts wert.“

Der Förster von Langenegg meinte verschmitzt:

„Du weißt nie, vielleicht wird sich das einmal ändern.“

Aber der Förster Steyrer war nun mal bekannt für seine Engstirnigkeit bezüglich seiner Ideen, von denen ihn niemand abbringen konnte.

*

Ich hatte immer gehört, dass sich mein Vater mit meinem Großvater, der Leo hieß, nicht vertragen hatte. Angeblich war mein Großvater nicht einverstanden mit der Heirat meiner Eltern, da meine Mutter aus einer nicht sehr wohlhabenden Familie kam und keinen Besitz oder sonstigen Reichtum mit in die Ehe brachte.

Anscheinend war mein Großvater ein nicht sehr sympathischer Mensch gewesen. Meine Großtante Mik sagte manchmal, wenn sie bei uns auf Besuch war, zu meinem Vater: „Leo hat meine Schwester Paulina vor lauter Kummer ins Grab gebracht und daher ist sie schon so früh an Schwindsucht gestorben.“

Ich wusste zwar nicht, was Schwindsucht war, aber ich stellte mir vor, dass man da irgendwie immer kleiner wurde, bis man auf einmal tot war.

*

Dass mein Vater nichts geerbt hatte vom Großvater Leo, und er obendrein das Haus mit dem Grundstück seinem Bruder Walter abkaufen musste, hatte ich auch bei irgendwelchen Gesprächen aufgeschnappt.

Dass irgendetwas mit dem Onkel Walter, den wir aber nicht Onkel nannten und der der Senn von der Sennerei von Langenegg war, nicht stimmte, wusste ich auch.

Wir sprachen eigentlich nie mit ihm, als ob er mit uns näher verwandt wäre, und das obwohl wir zweimal täglich die Milch in die Sennerei brachten.

Mir war es immer sehr komisch zumute, wenn ich am Morgen mit dem Milchkarren in die Sennerei musste und es nicht schaffte, die schwere Milchkanne in den Messkessel zu schütten. Meistens half mir irgendein Bauer, der gerade auch zum Milch-Liefern kam, aber manchmal war niemand da und dann musste der Walter, der hinter dem Messkessel stand, um aufzuschreiben, wie viel Milch ich mitgebracht hatte, kommen und mir die Milchkanne leeren.

Er schaute mich immer etwas schroff unter seinen buschigen Augenbrauen an und sagte dann mit der gleichen Stimme wie mein Vater: „Kleine, hast du denn immer noch nicht genug Kraft? Na so wie du ausschaust, könnte man meinen, dass du nicht genug zu essen bekommst.“

Ich murmelte verlegen ein „Dankeschön“ und machte mich so schnell wie möglich davon.

Auf den ersten Blick sahen sich die beiden Brüder überhaupt nicht ähnlich, weil mein Vater immer sehr braun gebrannt war, da er ja das ganze Jahr im Freien arbeitete, und der Walter eben als Senn nicht sehr viel an die Sonne kam und die gleiche Farbe wie der von ihm hergestellte Käse hatte. Aber wenn ich mir meinen Vater blass vorstellte wie der Walter, konnte man gut erkennen, dass sie verwandt waren. Beide hatten die gleichen buschigen Augenbrauen, die ihnen einen furchterregenden Ausdruck verliehen. Auch die überdimensionale Habichtnase und der große Mund mit einer etwas nach vorne geschobenen Unterlippe waren identisch. Mein Vater hatte dunkelbraunes, fast schwarzes Haar und das von Walter war etwas heller. Beide hatten den gleichen runden Kopf mit einer Halbglatze, die mein Vater aber meistens unter einem Hut verbarg. Einer seiner Lieblingssprüche war: „Weidmänner tragen Hüte.“

Meine Mutter ging oft zur Frau von Walter, die Ilga hieß, die wir aber auch nicht Tante nannten.

Ilga hatte eine Krankheit, die zur Folge hatte, dass sie immer mehr gelähmt wurde. Ich ging sie ganz ungern besuchen.

Da die Wohnung über der Sennerei war, stank es fürchterlich nach Molke. Mir wurde bei dem Geruch fast übel, aber besonders die bedrückende Stimmung, die dort herrschte, fand ich unerträglich.

Ich habe Ilga immer nur in ihrem Bett gesehen. Ich fragte mich immer, warum meine Mutter diese Besuche machte, denn wir hatten ja sonst auch keinen Kontakt. Meine Mutter war bekannt als fromme Frau und vielleicht gehörten solche Besuche dazu, um ihre Frömmigkeit zu zeigen. Meine Mutter setzte sich an den Bettrand und ich stand immer etwas verloren daneben.

„Wie geht es dir denn heute so?“, fragte meine Mutter meistens.

„Die Schmerzen sind erträglich, aber der Doktor hat mir noch mehr Medikamente verschrieben“, antwortete Ilga und fuhr mit einem traurigen Gesicht fort. „Wenn ich nur sterben könnte, so wäre ich für keinen eine Belastung mehr.“

„Sag das nicht, ich werde für dich beten“, sagte meine Mutter und danach sprach sie meistens über irgendwelche banalen Sachen, wahrscheinlich, um Ilga auf andere Gedanken zu bringen. Wenn wir uns verabschiedeten, versprach meine Mutter noch einmal, dass sie für Ilga beten würde.

Walter war nie da, wenn wir kamen, und mir kam es so vor, dass unsere Krankenbesuche nicht besonders gerne gesehen wurden.

Der Senn und seine Frau hatten auch vier Kinder, die meine Cousinen, aber doch erheblich älter als ich waren, mit denen ich eigentlich nie richtig Kontakt hatte. Nur einmal im Jahr standen wir wie Verwandte an Allerheiligen um das Grab unserer Großeltern, und mein Vater und der Walter nickten sich als Gruß zu und auch seine schon erwachsenen Kinder kamen ans Grab und schüttelten uns die Hand.

*

Mein Vater war kein Mensch, der viele Gefühle zeigte, er war mit neun Jahren Halbwaise geworden. Er hatte eine recht derbe Jugend erlebt, mit vierzehn Jahren wurde er als Knecht ins Bayrische geschickt, um sich sein erstes Paar Lederschuhe zu verdienen, wie er uns immer erzählte.

Ich wusste zwar, dass er als Neunzehnjähriger in den Krieg musste und angeblich kurz vor Moskau simulierte er Gelbsucht mit Tabletten, die er von einer Krankenschwester irgendwie bekommen hatte. Danach war er im Kaukasus, anschließend in Jugoslawien und von dort nach Italien. In Nettuno bei Rom wurde er von den Alliierten am Kriegsende gefangen genommen. Er verbrachte einige Monate in einem Gefangenenlager in Italien.

Mein Vater sprach fast nie davon, auch nicht wenn ich ihn etwas Genaueres fragte, über seine Mutter oder seinen Vater, sondern sagte immer: „Ich kann mich nicht erinnern, es ist schon so lange her.“

Diese Antwort schien mir immer so seltsam, wie war es nur möglich, dass man so viele Sachen vergessen konnte?!

Erst später wurde mir klar, als ich ein Buch über die psychischen Folgen des Vietnamkrieges für die Veteranen las, dass eigentlich alle Leute, die im Alter meiner Eltern waren, unter einem ähnlichen Trauma litten und wahrscheinlich versuchten, alles in ihrem Gedächtnis zu verwischen.

*

Trotz der wenigen Details über seine Kindheit ohne Mutter und mit einem angeblich sehr harten Vater sowie seine Jahre im Krieg, vertiefte dies für mich nur das Bewusstsein, dass mein Vater ein außergewöhnlicher Mann war. Mit meinen Kinderaugen sah ich ihn als einen Helden.