Prof. Dr. med. Dipl.-Kfm. Reinhard Strametz, Professur Medizin für Ökonomen, Hochschule RheinMain, Facharzt für Anästhesiologie. Zusatzbezeichnungen Notfallmedizin und Ärztliches Qualitätsmanagement, Zertifizierte Person Risikomanagement nach ONR 49003.
Dr. med Michael Bayeff-Filloff, Chefarzt Zentrale Notaufnahme, RoMed Klinikum Rosenheim, Ärztlicher Landesbeauftragter Rettungsdienst im Bayerischen Staatsministerium des Innern für Sport und Integration; Facharzt für Chirurgie, Unfallchirurgie, Zusatzbezeichnungen Notfallmedizin und Ärztliches Qualitätsmanagement.
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1. Auflage 2019
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»Primum non nocere, secundum cavere, tertium sanare«
Erstens nicht schaden, zweitens vorsichtig sein, drittens heilen.
Risikomanagement, so wie es der römische Arzt Scribonus Largus 50 n. C. überaus knapp und treffend formulierte, ist eine der ethischen Grundlagen ärztlichen Handelns und steht in hippokratischer Tradition.
Was schadet dem Patienten in der Notfallmedizin, wo ist Vorsicht angesagt? Diese Fragen, die jeden Notfallmediziner jeden Tag schon vor dem Heilen umtreiben, sind die offensichtliche Motivation, über das wichtige Thema des Risikomanagements in den Notaufnahmen ein Buch herauszugeben.
Patientensicherheit, die im Zentrum des Risikomanagements steht, ist ein generelles und wichtiges Thema in der öffentlichen Gesundheitsfürsorge. Die Weltgesundheitsorganisation schätzt, dass in entwickelten Ländern jeder zehnte Patient durch eine Krankenhausbehandlung einen vermeidbaren Schaden erleidet. Man kann davon ausgehen, dass ein Teil dieser Schäden in der Notfallmedizin verursacht wird. Hoher Handlungsdruck, unübersichtliche Situationen durch hohe Patientenzahlen und fehlende diagnostische Sicherheit zeichnen die Notfallmedizin aus. Diese Situationen werden nicht selten durch schlecht eingespielte Teams, deren Mitglieder oft unterschiedliche medizinische Sprachen sprechen, weil sie aus unterschiedlichen Fächern kommen und einen unterschiedlichen Erfahrungsschatz haben, gemanagt – das ist der Alltag in vielen Notfallzentren Deutschlands.
Über die Fehlerrate in Notaufnahmen fehlen in Deutschland Statistiken, denn es sind in Deutschland keine Qualitätsparameter für die Notfallmedizin definiert, die ausgewertet werden und somit besteht keine Möglichkeit einer validen Analyse. Analysierbare Routinedaten, wie sie zum Beispiel für die »Initiative Qualitätsmedizin« (IQM) genutzt werden, existieren nur für stationäre Patienten, die Notaufnahmen behandeln aber mindestens genauso viele ambulante wie stationäre Patienten. Zudem werden Analysen bezüglich der Versorgungsqualität stationärer Patienten nach Diagnosen ausgewertet, sodass nur diagnosebezogene Qualitätsanalysen möglich sind. Das allgegenwärtige Risiko durch Diagnosefehler wird durch die Analysen nicht erfasst. Damit ist eine Aussage über unerwünschte Zwischenfälle, wie sie im November 2016 das Royal College for Emergency Medicine (RCEM) im Vereinigten Königreich veröffentlicht hat, in Deutschland (noch) nicht möglich. Diese Analyse des RCEM zeigt unter den TOP 5 vor allem Diagnosefehler:
1. Übersehene bedrohliche Pathologie bei alten Patienten mit Bauchschmerzen
2. Übersehene Aortendissektion
3. Übersehene Schenkelhalsfraktur bei Patienten, die aus medizinischer Ursache gestürzt oder synkopiert sind
4. Übersehene Wirbelkörperfraktur bei gestürzten älteren Patienten
5. Fehlende Wahrnehmung einer klinischen Verschlechterung auf dem Flur des Notfallzentrums/im Wartebereich/nach der Zuordnung zu einer Fachklinik/beim Warten auf den Transport zur Station
Auch wenn bei uns die Top 10 Liste wahrscheinlich ganz ähnlich aussehen würde, wird, bis wir in Deutschland so weit sind, dass die Notfallmediziner die allgegenwärtigen Fragen einer Verbesserung der Patientensicherheit so systematisch erfassen wie unsere englischen Kollegen, noch Zeit vergehen, weil die Entwicklung des Risikomanagements in der klinischen Notfallmedizin in Deutschland noch nicht so weit entwickelt ist wie in Großbritannien. Das vorliegende Buch versucht dazu beizutragen, diesen Zustand zu verändern.
Der Fokus auf das Risikomanagement in der Notfallmedizin kann nur von den Notfallmedizinern selbst entwickelt werden und dazu bedarf es einer starken Identifikation mit der Notfallmedizin, so wie sie von der Deutschen Gesellschaft Interdisziplinäre Notfall- und Akutmedizin (DGINA) gefördert wird und wie sie sich in Deutschland auch mehr und mehr entwickelt. Die Briten und das RCEM können uns in dieser Entwicklung als Vorbild dienen und zeigen wie die Patientensicherheit in der Notfallmedizin konsequent in den Fokus gerückt werden kann: Durch Etablierung der Notfallmedizin als eine eigene Fachlichkeit mit klarem Aufgabenfeld sowie durch Verankerung des Faches an den Universitäten und im öffentlichen Bewusstsein. Auch in Deutschland muss dieser Weg konsequent weiter beschritten werden und dazu bedarf es zu allererst begeisterter, langjährig in notfallmedizinischer Verantwortung stehender Ärztinnen und Ärzte und Notfallpflegender, die sich Tag für Tag um die Patientensicherheit sorgen. Es bedarf allerdings auch berufsständischer Vertretungen wie dem RCEM und der DGINA, die sich für Strukturen einsetzen, die gute Notfallmedizin möglich machen.
Das vorliegende Buch ist ein Meilenstein in der Entwicklung der Notfallmedizin in Deutschland, weil es den Herausgebern in vorbildlicher Weise gelungen ist, hervorragende, hochmotivierte Mitglieder der notfallmedizinischen Community als Autoren zu diesem wichtigen Thema zu gewinnen. Sie sind die Garanten für eine hohe Qualität und Praxisrelevanz der Beiträge.
Es sei allen Autoren und den Herausgebern gedankt, dieses Buch verwirklicht zu haben. Es ist zu wünschen, dass das Buch gerne gelesen wird und die präsentierten Erkenntnisse auf fruchtbaren Boden fallen und weite Verbreitung finden.
München, im Juni 2019
Prof. Dr. med. Christoph Dodt
Past President der Deutschen Gesellschaft Interdisziplinäre Notfall- und Akutmedizin
Vizepräsident der European Society of Emergency Medicine
Redfern, E., Boyle, A., McIntyre, S. (2016): The top ten significant incident reports in emergency medicine Themes identified as the 10 most commonly reported clinically significant incident reports in Emergency Medicine, November 2016 (https://www.rcem.ac.uk/docs/Safety/Newsletter draft – The Top Ten v2.pdf, Zugriff 20.08.2018).
Die notfallmedizinische Versorgung wurde in den letzten Jahren einem deutlichen Wandel unterzogen: Einerseits geraten Notaufnahmen durch insgesamt steigende Behandlungszahlen und eine starke Inanspruchnahme von Patienten ohne akuten Behandlungsbedarf zunehmend unter Druck. Andererseits wachsen das Bewusstsein für klinische Risiken und die dadurch entstehende Schädigung von Patienten und der medial und gesellschaftlich getriggerte Anspruch der Patienten. Dies alles geschieht in einem hochkomplexen Umfeld, das von Entscheidungsdruck und restriktiven ökonomischen Rahmenbedingungen geprägt ist. In diesem Spannungsfeld gilt es für medizinisches Fachpersonal aller Berufsgruppen täglich zu bestehen und mit den von Natur aus begrenzten Ressourcen eine wirksame, bedarfsgerechte, patientenzentrierte und vor allem sichere Patientenversorgung zu gewährleisten. Notaufnahmen sind zweifellos aufgrund ihres Versorgungsauftrages Hochrisikobetriebe.
Diese hohen Anforderungen erfordern neben der unabdingbaren notfallmedizinisch-fachlichen Qualifikation aller Akteure auch Kompetenzen, mit den wesentlichen klinischen Risiken der Patientenversorgung angemessen umzugehen. Hierfür sind sowohl detaillierte methodische Kenntnisse des klinischen Risikomanagements als auch ein Bewusstsein für die spezifische Ausprägung bestimmter Risiken in Notaufnahmen unabdingbar.
Dieses Buch schlägt, als unserer Kenntnis nach erstes seiner Art, einen Bogen von den Grundlagen des klinischen Risikomanagements hin zu spezifischen Risiken der Patientenversorgung in der Notaufnahme. Die kompakte Beschreibung möglicher Ursachen und Auswirkungen dieser Risiken wird insbesondere durch Tipps aus der Praxis ergänzt. Dies wird am Ende des Buches komplettiert durch die Beschreibung von Qualitäts- und Risikomanagement-Normen und Instrumenten, die bei der Implementierung von Risikomanagement-Systemen unterstützend eingesetzt werden können.
Wir konnten hierfür Experten des klinischen Risikomanagements gewinnen, die fundiert in die methodischen Grundlagen einführen, die für das Erreichen von Patientensicherheit notwendig sind. Von gleicher Wichtigkeit und Expertise sind jedoch auch die ausgewiesenen Experten und Führungskräfte der notfallmedizinischen Versorgung, die sich spezifischen Risiken durch eine detaillierte Aufarbeitung widmen und so ein Fundament für eigene Risikoanalysen in der eigenen Notaufnahme vor Ort ermöglichen.
Dieses Buch richtet sich somit gleichermaßen an notfallmedizinische Fach- und Führungskräfte aller Berufsgruppen, um für die Thematik des klinischen Risikomanagements zu sensibilisieren, und an im klinischen Risikomanagement beschäftigte Personen, um Ihnen abseits der theoretischen Grundlagen einen fundierten Einblick in die Besonderheiten der notfallmedizinischen Versorgung zu ermöglichen. Dies alles soll den notwendigen Dialog zwischen medizinischem Fachpersonal und Risikomanagement-Experten vor Ort unterstützen, der für ein umfassendes und wirksames Risikomanagement notwendig ist und beide Gruppen auf dem sicher lange dauernden und steinigen Weg zur Entwicklung einer umfassenden und nachhaltigen Sicherheitskultur begleiten.
Als Herausgeber möchten wir uns bei allen Mitautorinnen und Mitautoren herzlich bedanken, die durch Ihr Engagement und Ihre fachliche Expertise dieses, in seiner Art bislang einzigartige Buch, sowohl methodisch als auch fachlich auf ein sehr hohes Qualitätsniveau gehoben haben. Unser herzlicher Dank gilt auch Frau Ulrike Döring für ihre Unterstützung während des gesamten Enstehungsprozesses dieses Buches und und Herrn Jannik Schwarz für sein zielführendes Lektorat.
Frankfurt und Rosenheim, im Juni 2019
Reinhard Strametz und Michael Bayeff-Filloff
Keine medizinische Maßnahme ist frei von Risiken. Diese zentrale Erkenntnis wurde bereits in der hippokratischen Medizin unter dem Grundsatz »primum nil nocere, secundum cavere, tertium sanare« zusammengefasst. Gleichzeitig erkannte jedoch Seneca in seinen Epistulae morales, die grundsätzliche Fehlbarkeit des Menschen (Seneca 62 n. Chr., VI,57,12). Was in der verkürzten Darstellung dieser Erkenntnis durch das berühmte Zitat »errare humanum est«, also »irren ist menschlich« jedoch nicht berücksichtigt wird, ist die damit verbundene Aufforderung, aus Fehlern zu lernen:
Errare humanum est, sed in errare perseverare diabolicum. Seneca (4 v. Chr.–65 n. Chr) Irren ist menschlich, aber im Fehler zu verharren teuflisch.
Die Medizin vergangener Jahrhunderte ging durch nebenwirkungsreiche, oft schädliche Therapieansätze und mangelnde Kenntnisse über biologische Abläufe oder hygienische Grundanforderungen teilweise hohe Risiken für Patienten ein. Nach zahlreichen Meilensteinen in der medizinischen Versorgung, wie der Einführung von Impfungen, einer allgemeinen Hygiene bzw. sterilem Arbeiten im OP und der Entdeckung von Antibiotika reduzierten sich Risiken in der Patientenversorgung nachweisbar deutlich.
Die Tatsache, dass Risikomanagement und Gefährdungen der Patientensicherheit in unseren Tagen von wachsendem Interesse und wachsender Bedeutung sind, basiert auf einer Entwicklung, die insbesondere die notfallmedizinische Versorgung vor neue Herausforderungen stellt und im Wesentlichen auf vier Faktoren zurückzuführen ist (Strametz 2017): Zunehmende Komplexität in der Versorgung, gestiegene Erwartungen von Patienten, Angehörigen und Dritten, intensiver, teils ruinöser Wettbewerb und medizinisch-technischer Fortschritt.
Die zunehmende Komplexität der medizinischen Versorgung ergibt sich aus dem schnell steigenden medizinischen Wissenszuwachs und der damit einhergehenden Spezialisierung innerhalb der Fachdisziplinen. Als Konsequenz hieraus sind oftmals zahlreiche zusätzliche Akteure unterschiedlicher Gesundheitsfach- und Heilberufe, zunehmend hochspezialisiert auf einzelne Aspekte, gemeinsam an der Versorgung eines Patienten beteiligt. So ist es evident, dass gut trainierte, interdisziplinär agierende Teams im Schockraum eine zeitnahe Versorgung von Notfallpatienten gewährleisten, die insbesondere bei schwerstverletzten Patienten das Outcome deutlich verbessert (Schoeneberg 2014). Mit jedem zusätzlichen Prozessbeteiligten steigen jedoch die Risiken für Informationsverluste und Missverständnisse, die wiederum negative Auswirkungen auf die Patientensicherheit nach sich ziehen können. Es bedarf also speziell notfallmedizinisch breit ausgebildeter Ärztinnen, Ärzte und Pflegender in der klinischen Notfallversorgung, um die Patientensicherheit zu erhöhen. Die Einführung der Zusatzweiterbildung »Klinische Akut- und Notfallmedizin« in der Musterweiterbildungsordnung durch den 121. Deutschen Ärztetag 2018 (BÄK 2018) und die Einführung der Weiterbildung Notfallpflege (DKG 2016) sind wichtige Maßnahmen zur weiteren Professionalisierung der Notfallmedizin und somit zur Steigerung der Patientensicherheit.
Dem gegenüber stehen Ansprüche der Patienten an die medizinische Versorgung und deren Rahmenbedingungen, die in den letzten Jahren deutlich gestiegen sind und nicht selten, insbesondere im Spannungsfeld Notaufnahme, von einer hohen Erwartungshaltung geprägt sind. Dies wird durch die mediale Darstellung des Gesundheitswesens sowohl in der Fiktion, als auch der Berichterstattung über Ergebnisse der Grundlagenforschung als sogenannte »Durchbrüche« in der Behandlung bislang unheilbarer Erkrankungen ebenso wie der Skandalisierung mutmaßlicher Defizite zusätzlich befördert. Die teilweise bestehende und möglicherweise zunehmende Divergenz zwischen erwarteter und erlebter Leistung führt in der Notaufnahme zu besonderen Problemen. Die hohe psychische Anspannung des Notfallpatienten und/oder seiner Angehörigen, trifft auf Mitarbeitende mit qualitativ und quantitativ hoher Arbeitsbelastung. Durch die steigende Anzahl von Notfallpatienten, zum Beispiel durch den demografischen Wandel, aber auch durch die Inanspruchnahme von Notaufnahmen als Ersatz für vertragsärztliche Versorgungsstrukturen (Somasundaram 2016) entstehen neben direkt daraus resultierenden Risiken ( Kap. 2.1.3) somit Brüche in der Erwartung der Beteiligten, die ihrerseits wiederum ein Risiko darstellen ( Kap. 2.3.4).
Dies alles geschieht in der stationären Patientenversorgung unter einem zunehmenden ökonomischen Wettbewerbsdruck, der in den letzten Jahren kompensatorisch zu einer enormen Leistungsverdichtung geführt hat. So reduzierte sich die Zahl der Krankenhausbetten laut Statistischem Bundesamt von 1991 bis 2015 um 166.412 (-25%) bei gleichzeitigem Anstieg der Zahl jährlicher stationärer Behandlungsfälle um 32% auf 19.239.574 (DESTATIS 2017). Die Ausrichtung auf größtmögliche ökonomische Effizienz stellt auch die zentralen Notaufnahmen vor die Herausforderung, im Spannungsfeld zwischen reduzierten Belegungsressourcen und elektiver Patientenversorgung, die stationäre Aufnahme von Notfallpatienten sicher und zeitgerecht zu koordinieren.
Der medizinisch-technische Fortschritt bietet Patienten in der Notfallversorgung zusätzliche Chancen, auch lebensbedrohliche Zustände gut zu überstehen, birgt aber gleichzeitig auch Risiken. Durch die Verkürzung der Halbwertszeit medizinischen Wissens steigt bei allen Beteiligten der Bedarf an kontinuierlicher und zielgerichteter Fortbildung, was insbesondere im Kontext der oben beschriebenen Leistungsverdichtung Probleme aufwirft. Neben dem Wissen innerhalb einer Organisation, muss in einer Notaufnahme an 365 Tagen auch die Kompetenz vorgehalten werden, alle relevanten Prozessabläufe der Notfallversorgung – unabhängig von einzelnen Handelnden – verlässlich durchzuführen. Dies bringt jedoch insbesondere Notaufnahmen mit geringer Versorgungskapazität im ökonomischen Spannungsfeld unter zusätzlichen Druck ( Kap. 2.2.1). Der Beschluss des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) zu einem gestuften System von Notfallstrukturen in Krankenhäusern (G-BA 2018) trägt dem Rechnung und beschreibt die zukünftigen qualitativen Voraussetzungen von Krankenhäusern für die Teilnahme an der stationären Notfallversorgung.
Die eben genannten Punkte treten in der Notaufnahme eines Krankenhauses auch deswegen in besonderer Weise in Erscheinung, da letztlich alle Faktoren zusammentreffen, unter denen bei der medizinischen Versorgung eine erhöhte Häufigkeit und eine gravierendere Auswirkung von Risiken zu beobachten ist:
1. Die Patienten sind oftmals in einem kritischen bzw. gebrechlichen Gesundheitszustand und somit anfälliger gegen Fehler in der Versorgung.
2. Es handelt sich oftmals um zeitkritische Prozesse und es müssen Entscheidungen unter hohem Druck getroffen werden.
3. Das Patientenaufkommen und damit verbunden die notwendigen vorzuhaltenden Ressourcen sind im Vorfeld nicht immer präzise planbar, es kommt somit zu Arbeitsspitzen.
4. Aufgrund der Variabilität der Versorgung und der multiplen Schnittstellen präklinisch und innerklinisch sind viele Personen und Professionen beteiligt, wodurch die Komplexität und der Abstimmungsbedarf zunehmen.
Somit ist davon auszugehen, dass einerseits eine höhere Anzahl relevanter Risiken vorhanden ist und andererseits auch das potentielle Schadensausmaß bei Verwirklichung eines Risikos deutlich höher ist als in Bereichen ohne die oben genannten Kriterien.
Das mutmaßliche Ausmaß von Patientenschäden dokumentierte der Bericht »To err is human« des Institute of Medicine (IOM) im Jahr 1999 eindrücklich (Kohn 1999). So wurde basierend auf den damals verfügbaren Daten angenommen, dass jährlich ca. 48.000–96.000 Menschen im US-amerikanischen Gesundheitssystem in der stationären Versorgung aufgrund vermeidbarer Fehler versterben. Im Jahr 2016 publizierten Makary und Daniel im British Medical Journal sogar eine Schätzung, nach der medizinische Fehler als TOP3-Todesursache anzusehen sind (Makary 2016). Die Publikation des IOM kann als Auslöser zahlreiche Aktivitäten im Bereich des klinischen Risikomanagements angesehen werden und führte auch in anderen Gesundheitssystemen zu Schätzungen bezüglich der Anzahl vermeidbarer Todesfälle und anderer Schäden (Klauber 2014, Stiftung Patientensicherheit 2017, Endel 2004). Hierbei ist kritisch anzumerken, dass eine Übertragung dieser Schätzwerte aus anderen Gesundheitssystemen ein vergleichsweise großes Konfidenzintervall aufweist und somit nicht als verlässlicher Mittelwert angesehen werden sollte. So schätzen Experten die Zahl der jährlich vermeidbaren Todesfälle in Deutschland auf 4.000–45.000 (Deutscher Bundestag 2014). Doch selbst bei konservativer bzw. optimistischer Schätzung der betroffenen Patienten bleibt das große Potential patientensicherheitssteigernder Maßnahmen erkennbar.
Neben den Patienten und deren Angehörigen sind auch die Mitarbeitenden und Organisationen bei Patientenschädigungen unmittelbar und teilweise gravierend betroffen. So ist durch zahlreiche tragische Fälle mittlerweile hinlänglich bekannt, dass neben dem geschädigten Patienten in der Regel auch der Schädigende als sogenanntes zweites Opfer (second victim) anzusehen ist (Wu 2000) und durch seinen, in der Regel unbeabsichtigten Fehler schwer geschädigt werden kann. Durch Selbstvorwürfe, arbeitsrechtliche Sanktionen und juristische Auseinandersetzungen besteht die Gefahr der posttraumatischen Belastungsstörung, die in zahlreichen Fällen bis hin zum Suizid des Schädigenden führten (Scott 2009, Grissinger 2014). Diese Problematik wird in Kapitel 1.8 nochmals ausführlicher thematisiert.
Ebenso wie Patienten und Mitarbeiter erleiden Krankenhäuser Schäden bei medialer Berichterstattung mutmaßlicher Patientenschädigung. Dass Notaufnahmen in diesem Zusammenhang ein besonders sensibler Bereich sind, zeigt sich beispielsweise in der Tatsache, dass ein Fall besonders langer Wartezeit in einer Notaufnahme auf der Titelseite einer bekannten Tageszeitung Deutschlands in entsprechender Aufmachung als »Uniklinik-Skandal« publiziert wurde (BILD 2015).
Neben der Schädigung der physischen und psychischen Integrität von Patienten und Personal sowie dem Reputationsverlust durch negative Berichterstattung stellen patientensicherheitsrelevante Probleme auch ein ökonomisches Problem dar. Neben steigenden Prämien der Haftpflichtversicherer bis hin zur fraglichen Versicherbarkeit einzelner Organisationbereiche publizierte die OECD 2017 eine Studie, die basierend auf den derzeit verfügbaren Daten zu ökonomischen Auswirkungen schätzt, dass in den OECD-Ländern im stationären Bereich ca. 15% der Gesamtausgaben zur Kompensation von medizinischen Behandlungsfehlern verwendet wird. Untersuchungen aus den USA deuten darauf hin, dass zwischen 2010 und 2015 durch systematische Maßnahmen zur Steigerung der Patientensicherheit Einsparungen in Höhe von 28 Milliarden US-Dollar realisiert werden konnten. (Slawomirski 2017)
Aufgrund der genannten Komplexität und dem Auftreten von Schäden in relevantem Ausmaß scheinen bisherige Maßnahmen allgemeiner Sorgfalt nicht mehr ausreichend, um die Ansprüche aller Beteiligten an die Sicherheit und Wirksamkeit der Versorgung zu erfüllen. Aus der Unfallforschung im medizinischen Bereich ist mittlerweile bekannt, dass einzelne menschliche Fehler, das gern zitierte »menschliche Versagen«, in der Regel durch andere Faktoren begünstigt oder sogar provoziert werden. So entwickelte der Arbeitspsychologie James Reason das in Abbildung 1.1 dargestellte organisatorische Unfall-Ursachen-Modell (Reason 1990). Dieses zeigt deutlich, dass neben suboptimaler Gestaltung der Arbeitsabläufe auch latente Faktoren einen erheblichen Einfluss auf die Entstehung von Risiken und das Auftreten von Schadenfällen haben. Somit sind organisatorische Maßnahmen im Sinne eines klinischen Risikomanagements erforderlich, die nicht nur auf das einzelne Individuum, sondern auf alle in diesem Modell genannten Bereiche abzielen.
Unter klinischem Risikomanagement für Notaufnahmen ist gemäß der Definition des Aktionsbündnisses Patientensicherheit e. V. (APS) folgendes zu verstehen:
Klinisches Risikomanagement in Krankenhäusern […] umfasst die Gesamtheit der Strategien, Strukturen, Prozesse, Methoden, Instrumente und Aktivitäten in Prävention, Diagnostik, Therapie und Pflege, die die Mitarbeitenden aller Ebenen, Funktionen und Berufsgruppen unterstützen, Risiken bei der Patientenversorgung zu erkennen, zu analysieren, zu beurteilen und zu bewältigen, um damit die Sicherheit der Patienten, der an deren Versorgung Beteiligten und der Organisation zu erhöhen. (Aktionsbündnis Patientensicherheit 2016)
Abb. 1.1: Organisatorisches Unfall-Ursachen-Modell, (modifizierte Darstellung aus Kahla-Witzsch 2019, basierend auf Reason 1990)
Risikomanagement muss somit sowohl als Führungsaufgabe ( Kap. 1.2.) als auch Teil der täglichen Arbeit der Behandelnden verstanden werden. Dabei ist eine systematische Behandlung der Risiken erforderlich. Die im Qualitätsmanagement etablierte Vorgehensweise des Plan-Do-Check-Act-Zyklus‘ von Deming wird dabei im Risikomanagement (RM) durch den Risikomanagement-Prozess ( Kap. 1.3) auf Grundlage internationaler Normen ( Kap. 3.1) erweitert. Die Behandlung der Risiken wiederum muss kontextabhängig geschehen und sowohl die medizinischen Rahmenbedingungen der Notfallversorgung ( Kap. 1.4) als auch den hierfür geltenden gesetzlichen Rahmen ( Kap. 1.5) berücksichtigen. Zur konkreten Ausgestaltung des Risikomanagement-Prozesses wiederum ist die Anwendung einer geeigneten Kombination verschiedener Instrumente und Methoden des Risikomanagements notwendig ( Kap. 1.6).
Die Bemühungen um klinisches Risikomanagement zur Erhöhung der Patientensicherheit sind derzeit vor allem in medizinischen Disziplinen mit notfallmedizinischem Bezug ausgeprägt. Auch wenn perspektivisch Patienten aller medizinischen Disziplinen von einer möglichst risikoarmen Versorgung profitieren sollten, scheint die Führungsrolle bestimmter notfallmedizinischer Disziplinen in der systematischen Einführung von klinischem Risikomanagement nachvollziehbar und gerechtfertigt. Die Notaufnahmen sollten somit bei der Einführung, Aufrechterhaltung und Weiterentwicklung von klinischem Risikomanagement eine zentrale Funktion einnehmen.
Aktionsbündnis Patientensicherheit (2016): Mindestanforderungen an klinische Risikomanagementsysteme im Krankenhaus (http://www.aps-ev.de/wp-content/uploads/2016/08/HE_Risikomanagement-1.pdf, Zugriff 11.11.2017).
Bild-Zeitung, 05. Februar 2015, S. 1.
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Deutscher Bundestag (2014): Gefährdung der Patientensicherheit und tödliche Behandlungsfehler im Krankenhaus, Drucksache 18/1765 (https://www.bundesanzeiger-verlag.de/fileadmin/Betrifft-Recht/Dokumente/edrucksachen/pdf/1801765.pdf, Zugriff am 11.11.2017).
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Um Risikomanagement als Führungsaufgabe richtig zu verorten, stellt sich zuerst die Frage, was der Begriff Führung bzw. Management umfasst. »Manum agere« ist der lateinische Urbegriff und bedeutet »an der Hand führen«. Viele Wissenschaftler haben sich mit dem Begriff und der Konzeption »Management« bzw. »Führung« auseinandergesetzt. Sie werden etwa beschrieben als »Inbegriff aller Handlungen der Gestaltung und Lenkung von Organisationen« (Ulrich 1978, S. 13).
Eine weite Verbreitung hat die Führungskonzeption des Qualitätsmanagements erhalten. Deming, der amerikanische Physiker, Statistiker und Wirtschaftspionier im Bereich des Qualitätsmanagements, hat den Prozess der Führung im Qualitätsmanagement mit dem bekannten Deming-Kreis »Qualitätsplanung, Qualitätslenkung, Qualitätssicherung und Qualitätsverbesserung« umschrieben (Deming 1950). Der Deming-Kreis hat weit über das Qualitätsmanagement hinaus Anerkennung gefunden, er verkörpert im Allgemeinen die Aufgaben von Führung und Management mit den vier Begriffen »Plan-Do-Check-Act«, worunter der Prozess der Planung, Umsetzung, Bewertung und Verbesserung verstanden wird. Werden diese vier Elemente in ein Konzept zusammengefasst, spricht man von einem Managementsystem oder einem Managementframework.
Die Führungstätigkeit einer Organisation wird durch verschiedene Prinzipien bestimmt: Rechtliche Anforderungen (Legalität), die Bestandssicherung für die Organisation und ein Verhalten, das den ethischen Werten unserer Gesellschaft entspricht. Diese allgemeinen Grundsätze gelten auch für Notaufnahmen, wie auch immer diese rechtlich und betrieblich ausgestaltet sind. Um sicherzustellen, dass eine Organisation diese Prinzipien einhält und damit ihre Handlungsziele erreicht, erfuhr in den vergangenen Jahren das Risikomanagement als Führungsaufgabe eine starke Beachtung. Es stellt Werkzeuge und Modelle bereit, um die Führung von risikoreichen Organisationen und Prozessen zu optimieren.
Das Management von Risiken richtet sich an den Zielen, Tätigkeiten und Anforderungen aus, die eine Organisation im Allgemeinen und eine Notaufnahme im Besonderen bestimmen. Dabei spielen die Stakeholder, die »interessierten Kreise« eine besondere Rolle. Die Stakeholder einer Notaufnahme sind vielfältig:
• Notaufnahmen stellen ein wichtiges Glied in der Gewährleistung der öffentlichen Sicherheit in unserer Gesellschaft dar,
• Notaufnahmen sind Teil eines Krankenhauses,
• Notaufnahmen dienen dem Patienten bzw. der Patientensicherheit. Sein Überleben kann von der Effektivität der Notfallversorgung abhängig sein,
• Notaufnahmen beschäftigen Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen, die bei der Erbringung von Notfall-Leistungen auch Fehler machen und damit selbst zum Opfer werden können ( Kap. 1.8).
Eine Notaufnahme ist, wie in Kapitel 1.1. ausführlich dargestellt, aus mehreren Gründen ein Hochrisikobereich: Die Tätigkeit ist schwer planbar, die Fälle sind oft komplex und lebensbedrohlich, die zu bewältigenden Patientenströme stimmen oft nicht mit den vorhandenen Ressourcen überein, damit ist die Unsicherheit ein ständiger Begleiter.
Risiko ist definiert als Auswirkung von Unsicherheit auf Ziele, Tätigkeiten und Anforderungen. Das sind potentielle Gefährdungen und Bedrohungen, die mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit eintreten und schwerwiegende Auswirkungen auf die Ziele und Finanzen, auf die Sicherheit und Gesundheit der Menschen sowie auf die technische Funktions- und Leistungsfähigkeit einer Organisation haben.
Risikomanagement als Führungsaufgabe muss zuerst die voraussehbaren Risiken identifizieren und beurteilen. Daraus lassen sich präventive Maßnahmen ableiten, um Fehler in der Tätigkeit von Notaufnahmen rechtzeitig zu erkennen und ihnen vorzubeugen. Damit verbunden ist auch die Einhaltung von gesetzlichen, untergesetzlichen und medizinisch-pflegerischen Anforderungen. So gesehen verbergen sich im Risikomanagement immer auch viele Chancen.
Wenn eine Notaufnahme das Risikomanagement hingegen nicht mit der ausreichenden Sorgfalt betreibt, gibt es sehr unangenehme Nebenwirkungen: Patientenschäden, Haftpflichtfälle, strafrechtliche Verfolgung, Reputationsschäden in der Öffentlichkeit und schwere Führungskrisen.
Risikomanagement besteht nicht nur in der Risikobeurteilung, sondern auch in den organisatorischen und führungsmäßigen Voraussetzungen und Dispositionen. Diese werden auch als Risikomanagementsystem oder Risikomanagementkonzept bezeichnet. In Anlehnung an die ISO Management-Systeme, wie Sie z. B. in ISO 9001 für das Qualitätsmanagementsystem enthalten sind, kann man die Systemelemente mit dem Deming-Kreis Plan-Do-Check-Act beschreiben und mit weiteren Elementen ergänzen. Neben dem Geltungsbereich und der Organisation mit ihrem Kontext werden dem Führungsauftrag und der Verpflichtung der obersten Leitung eine impulsgebende Funktion zugeordnet.
Bestandteil dieser Systemelemente ist der Risikomanagement-Prozess, der mit vielen Methoden der Risikoanalyse umgesetzt werden kann ( Kap. 1.3). Insgesamt ergibt sich das in Abbildung 1.2 dargestellte Bild über das Risikomanagement, das seinen Ursprung in der ISO 31000:2009 hat und in der ONR 49001 spezifiziert worden ist ( Kap. 3.1).
Abb. 1.2: Risikomanagement-System mit dem Risikomanagement-Prozess (aus ONR 49001:2014)
Grundlage für Management und Risikomanagement sind »Leadership and Commitment«, wie es so schön in der englischen Sprache heißt bzw. etwas nüchterner auf Deutsch »Führung und Verpflichtung«. Die ISO FDIS 31000:2017 Risk management – Guidelines (ISO 31000:2017) beschreibt die Aufgaben des Top Managements dahingehend, dass das Risikomanagement in alle Tätigkeiten der Organisation integriert werden sollen, indem:
• die Elemente des Risikomanagement-Frameworks (Plan-Do-Check-Act) maßgeschneidert umgesetzt werden,
• eine Absichtserklärung zum Risikomanagementkonzept oder -Plan mit entsprechenden Aktionen besteht,
• Aufgaben, Verantwortlichkeiten und Kompetenzen für die relevanten Stufen in der Organisation festgelegt und
• die erforderlichen Ressourcen für das Management der Patientensicherheitsrisiken sichergestellt werden.
Dies unterstützt die Organisation, um
• das Risikomanagement an den Zielen, der Strategie und Kultur auszurichten,
• die gesetzlichen Verpflichtungen und freiwilligen Bekenntnisse anzuerkennen und einzuhalten,
• die zu tolerierende Risikohöhe und Risikoart festzulegen und Risikokriterien zu entwickeln sowie diese der Organisation und den Stakeholdern zu kommunizieren,
• den Nutzen des Risikomanagements der Organisation und den Stakeholdern darzulegen,
• die systematische Risikoüberwachung zu fördern und
• sicherzustellen, dass das Risikomanagement-System angemessen bleibt.
Was bedeutet das nun konkret für den Leiter der Notaufnahme und für sein Führungsteam, das mit ihm zusammen die Gesamtverantwortung trägt?
• Risikomanagement ist nicht eine einmalige Aktion, die sich in einer Risikoanalyse oder in einem Audit erschöpft. Vielmehr geht es darum zu überlegen, welche Risiken in einer Notaufnahme überhaupt vorkommen, welche Risikomanagement Aktivitäten für die Patienten- und Mitarbeitersicherheit erforderlich sind und wie diese in der Organisation stabil verankert und kommuniziert werden können.
• Zu klären sind das Verhältnis des Risikomanagements zu anderen Teilbereichen der Führung, z. B. zum Qualitätsmanagement, zum rechtlichen Compliancemanagement oder zum betrieblichen Notfall-, Krisen- und Kontinuitätsmanagement. Dies ist erforderlich, um Doppelspurigkeiten zu vermeiden und die vorhandenen knappen Ressourcen bestmöglich zu nutzen.
• Rollen und Verantwortlichkeiten müssen eindeutig festlegen, wer was zu tun hat und wer wofür verantwortlich ist.
• Risikomanagement bedient sich verschiedener Methoden, z. B. der Szenarioanalyse, der Prozessanalyse oder eines Fehlermelde- und Beschwerdesystems ( Kap. 1.6). Es ist zu klären, wie diese Instrumente eingesetzt werden sollen und wie sie zusammenwirken. Ganz wichtig: keine Bürokratie – weniger ist mehr!
Zu beachten ist, dass Notaufnahmen zahlreichen gesetzlichen Bestimmungen ( Kap. 1.5) unterliegen, die teilweise sogar direkten Einfluss auf das Risikomanagement ausüben. So bestimmt der Gemeinsame Bundesausschuss gem. § 136a SGB V beispielsweise über »[…] wesentliche Maßnahmen zur Verbesserung der Patientensicherheit und legt insbesondere Mindeststandards für Risikomanagement- und Fehlermeldesysteme fest«.
Im Risikomanagement wird auf verschiedenen hierarchischen Ebenen gearbeitet und kommuniziert: Die oberste Leitung befasst sich vorwiegend mit der Risikomanagement-Politik und mit den »bestandsgefährdenden Risiken« der Organisation. Auf der Prozessebene, wo sich das Tagesgeschäft abspielt, werden hingegen sehr viele Risiken und Fehlermöglichkeiten identifiziert und weiter bearbeitet. Es erweist sich im Risikomanagement als außerordentlich zweckmäßig, wenn bei jeder Tätigkeit die Frage gestellt wird, auf welcher »Flughöhe« man sich gerade befindet. Die Vermischung von unzähligen Prozessdetails mit den grundlegenden Risikomanagement-Fragen führt zu Verwirrungen und zu unklaren Aufgaben und Verantwortungen.
Der Top-Down Ansatz betrachtet die gesamte Organisation mit ihren strategischen Zielen, an denen sich auch das Risikomanagement in der Notaufnahme ausrichtet. Das ist die Aufgabe der obersten Leitung. Der Bottom-Up Ansatz befasst sich hingegen mit der Gestaltung und Beherrschung der Leistungsprozesse. Hier übernehmen die Eigner der operativen Prozesse das Risikomanagement.
Abb. 1.3: Top-Down und Bottom-Up Ansätze im Risikomanagement (nach ONR 49001:2014)
Top-Down und Bottom-Up Ansätze müssen im Risikomanagement jedoch miteinander kommunizieren. Aus den vielen kleinteiligen Fehlermöglichkeiten ergeben sich Hinweise auf bestandsgefährdende Risiken, die Beherrschung von bestandsgefährdenden Risiken erfolgt oft über die Beherrschung von operativen Prozessen.
Das Risikomanagement ist über Schnittstellen mit anderen Teilbereichen der Führung vernetzt. Dies gilt für alle Organisationen, auch für Einrichtungen der Notaufnahme in einem Krankenhaus:
Die erste und wichtigste Schnittstelle bildet diejenige zum Qualitätsmanagement. Es ist in vielen Fällen nach der Vorgabe der ISO 9001 Qualitätsmanagementsystem gestaltet. Die Version 9001:2015 spricht ausdrücklich vom risikobasierten Denken. Damit wird die Frage aufgeworfen, was zum Risikomanagement und was zum Qualitätsmanagement gehören soll, ob das Eine Teil des Anderen sei oder ob sich nun Risikomanagement und Qualitätsmanagement gänzlich verschmelzen würden.
Im klinischen Risikomanagement hat die Qualitätsrichtlinie des G-BA hier eine klare Aussage formuliert, die allerdings noch interpretiert werden muss: »Doppelstrukturen sind zu vermeiden«. Also eine Fusion – nein, eine Arbeitsteilung!
Das Qualitätsmanagement legt den Schwerpunkt auf die Normalsituation, auf das Tagesgeschäft, auf kleine Abweichungen und Störungen in den operationellen Prozessen. Demgegenüber fokussiert das Risikomanagement Ausnahmesituationen, Unsicherheiten (falsche Annahmen), große Abweichungen, den »Credible Worst Case« (schlimmst-möglicher, aber dennoch glaubwürdiger Fall) bei der Erreichung von Zielen, Durchführung von Tätigkeiten und Erfüllung von Anforderungen. Dem Risikomanagement stehen mit dem Risikomanagement-Prozess und mit den Methoden, diesen umzusetzen, spezielle Instrumente zur Verfügung, die das Qualitätsmanagement nicht nutzt. Es konzentriert sich nur auf ein undefiniertes risikobasiertes Denken.
Eine weitere Schnittstelle, die auch in der Notaufnahme eines Krankenhauses eine Rolle spielt, ist das rechtliche Compliancemanagement. Es geht dabei um die Sicherstellung der Kenntnis und Einhaltung von rechtlichen Verpflichtungen, die durch das Gesetz allgemein oder spezifisch vorgegeben sind. Dazu gehören auch Anforderungen, die den Stand der medizinischen-pflegerischen Wissenschaft und Erfahrung vorgeben oder die eine Organisation sich selbst auferlegt hat.
Compliancemanagement ist eine andere Sichtweise der gleichen Themen, welche das Qualitäts- und Risikomanagement schon bearbeiten. Eine andere Sichtweise hat möglicherweise den Vorteil, dass sie fachlich geschärft und präzisiert ist und damit die Abwicklung des Tagesgeschäfts in den Prozessabläufen erleichtert. Inhaltlich sollte aber streng darauf geachtet werden, dass auch hier keine kostspieligen Doppelspurigkeiten entstehen.
Eine weitere Schnittstelle im Risikomanagement entsteht zwischen dem Risikomanagement und dem Notfall-, Krisen- und Kontinuitätsmanagement ( Kap. 2.3). Das Verhältnis dieser beiden Disziplinen in den Normen ist unterschiedlich, in der ONR 49001 wird das Notfall-, Krisen- und Kontinuitätsmanagement als Teil des Risikomanagements angesehen (ONR 49002-3:2014).
Wenn nun aber eine Notaufnahme über die Funktion des Notfall-, Krisen- und Kontinuitätsmanagement nachdenkt, sollte sie sich im Klaren sein, dass es ein medizinisches Notfallmanagement gibt, welches das Kerngeschäft der Notaufnahme darstellt und das betriebliche Notfallmanagement, das sich mit Notfällen im Bereich der Organisation befasst. Dabei ist der Massenanfall von Patienten eine Situation, welche das medizinische und betriebliche Notfallmanagement zusammenführt.
Die oberste Leitung in einem Krankenhaus trägt die Gesamtverantwortung für die Gestaltung des Risikomanagementsystems. Dazu gehören der Einsatz der Instrumente des Risikomanagements in Abstimmung mit dem Qualitäts-, Compliance- und Notfallmanagement. Die oberste Leitung des Krankenhauses muss somit das Konzept entwickeln, genehmigen, kommunizieren, umsetzen, bewerten und verbessern. Dies kann jedoch nur in Abstimmung mit den verantwortlichen Führungskräften der patientenversorgenden Hochrisikobereiche, insbesondere der Notaufnahmen, erfolgen.
Als Risikoeigner werden die Personen bezeichnet, die die Risiken systemisch beeinflussen können. Das sind im Bereich der Patientensicherheit insbesondere Führungskräfte aus Ärzteschaft und Pflege. Aber auch Personen im Bereich der betrieblichen Leitung und Organisation sind Risikoeigner, denn sie gestalten die Prozesse und halten die Ressourcen vor. Risikoeigner können ihre Verantwortung für die Risiken niemals delegieren. Sie stehen in der rechtlichen Pflicht.
Risiko- und Qualitätsmanager sind Fachpersonen, die die Anforderungen der entsprechenden Systeme kennen und in der Organisation und ihren Prozessen umsetzen. Im Bereich des klinischen Risikomanagements zeichnet sich – zumindest in Deutschland – ab, dass es sich nicht um zwei verschiedene, sondern um eine Funktion handelt, die beide Bereiche fachlich bedienen kann: Qualitätsmanagement für das Tagesgeschäft, Risikomanagement für die Ausnahmensituationen.
Risikomanager brauchen eine fundierte Ausbildung, die sie befähigt, mit den Risiken der Patientensicherheit umzugehen. Die Anforderungen an einen qualifizierten (klinischen) Risikomanager sind auch normativ in der ONR 49003:2014 festgehalten (ONR 49003:2014).
Kap. 3.6