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Michael Schöpf: „Ham & Axe“
1. Auflage, September 2019, Periplaneta Berlin, Edition Totengräber

© 2019 Periplaneta - Verlag und Mediengruppe
Inh. Marion Alexa Müller, Bornholmer Str. 81a, 10439 Berlin
www.periplaneta.com

Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck, Übersetzung, Vortrag und Übertragung, Vertonung, Verfilmung, Vervielfältigung, Digitalisierung, kommerzielle Verwertung des Inhaltes, gleich welcher Art, auch auszugsweise, nur mit schriftlicher Genehmigung des Verlags.

Die Handlung und alle handelnden Personen sind erfunden. Jegliche Ähnlichkeit mit realen Personen oder Ereignissen wäre rein zufällig.

Lektorat & Projektleitung: Laura Alt
Titel-Logo: Walter Ziegler
Satz & Layout: Thomas Manegold

print ISBN: 978-3-95996-130-1
epub ISBN: 978-3-95996-131-8

Michael Schöpf


„HAM & AXE“




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Prolog

Wenn du deine Schwiegermutter in Säure aufgelöst hast. Wenn du gern mit den Köpfen der Nachbarskinder spielst. Wenn deine Kettensäge Friedrich Nietzsche zitiert. Oder wenn du lieber Veganer statt Gemüse isst. Dann gibt es den perfekten Ort für dich, um eine Weile zu verschwinden. Ein Hotel am sprichwörtlichen Arsch der Welt. Es gibt nur eine Regel: Frag als Allererstes nach einem abgeschiedenen Zimmer.

Wenn du lieber ein Zimmer mit Aussicht willst. Eines mit Badewanne oder gar mit einem Kinderbett. Oder wenn du einfach nur wissen willst, wie viel Uhr es ist. Tja … dein Pech!

001

Das Vorstellungsgespräch

Grant Benders Kopf dröhnte. Nicht schmerzhaft, aber unangenehm. Erst vor ein paar Stunden hatte er sein letztes Geld zusammengekratzt und sich eine große Portion Haggis mit Rüben und Kartoffelbrei gegönnt. Plus 13 Pints Tennent’s Lager. Das Bier stieß ihm noch immer auf … und vom Haggis kam jedes Mal ein bisschen metallisch schmeckende Leber mit hoch.

Jetzt stand er hier am nordwestlichsten Festlandzipfel von Schottland und fragte sich, ob er auch wirklich genug getrunken hatte. So ein Bewerbungsgespräch war schließlich nicht ohne. Da durfte man nicht zu verkrampft auftreten. Und schon gar nicht zu nüchtern. Zumindest nicht, wenn man sich in einem Hotel bewarb. Auf eine Stelle, die einem der Barmann im „Cock ’n Bull“ gesteckt hatte …

„Im ‚Ham & Axe‘ suchen sie ’nen Koch“, hatte er ihm bei Pint Nummer fünf beiläufig zugeraunt. „Das ist das alte Hotel am Cape Wrath. Ein paar Meilen weiter die Straße hoch. Wäre das nicht was für dich? Nichts für ungut, aber du siehst so aus, als ob du schon seit ’ner ganzen Weile mehr Durst als Geld hast …“ Der rothaarige Barmann spuckte geräuschvoll in ein Whiskyglas und polierte es mit Daumen und Zeigefinger. Als er Grants starren Blick bemerkte, zuckte er mit den Schultern und sammelte Speichel fürs nächste Glas.

Grant verarbeitete die Information zusammen mit zwei weiteren Pints. Klar gab es einiges, das ihn als Koch qualifizierte. Zum Beispiel konnte er gut mit Messern hantieren. Das war schon mal ein Pluspunkt. Also schob er seine rechte Hand in die Gesäßtasche, zog ein schlankes Springmesser hervor und ließ die doppelseitig geschliffene Klinge aufschnappen. Mit ein paar raschen Bewegungen ritzte er eine ordentliche Tabelle ins vernarbte Holz der Theke. Links war die Plus-Spalte, rechts daneben die Minus-Spalte. „Gut mit Messern!“ Ein Schnitt auf der Plus-Seite. Dann fiel ihm ein, dass er sich ja auch ganz gut mit Essen auskannte. Schließlich aß er schon sein ganzes Leben lang. Quasi 28 Jahre Berufserfahrung. Also noch ein Schnitt auf der linken Seite. Zwei zu null. Und wenn es um alkoholische Getränke ging, dann konnte ihm eh keiner etwas vormachen. Drei zu null. Außerdem war er schon mal in Spanien gewesen. Auslandserfahrung nannte man sowas doch, oder? Vier zu null!

„Du kannst doch kochen, oder?“, unterbrach der Barmann Grants Schnitzwerk, während er ihm ein frisches Pint zapfte.

Vier zu eins.

„Na ja, macht nichts“, versicherte der Barmann hastig. „Die haben eh kaum Gäste! Sag der alten Vogelscheuche am Empfang einen schönen Gruß von mir. Und ich hätte gern mein Pökelfass zurück! Atticus hätte gern sein Pökelfass wieder, hörst du?“

Fünf weitere Pints und vier Meilen Fußmarsch später, stand Grant am Ende eines holprigen Feldweges und starrte auf einen gewaltigen Torbogen aus verwitterten Granitquadern. Keine Hausnummer. Kein Adressschild. Keine Klingel und schon gar keine Gegensprechanlage. Dafür zwei vier Meter hohe Torflügel aus geschwärztem Schmiedeeisen, fest verschlossen durch eine armdicke Kette und ein faustgroßes Schloss.

Grant kniff die verquollenen Augen zusammen, reckte das Kinn vor und kratzte seine stoppeligen Wangen. Eine sehr maskuline Geste, die in der Regel dafür sorgte, dass man ihm augenblicklich mit Respekt begegnete. Nicht jedoch in diesem Fall. Denn weit und breit war niemand da, der ihm hätte begegnen können. Geschweige denn mit Respekt. Also zwang Grant die Augen wieder auf, strich sich die strähnigen blonden Haare aus der Stirn und spähte zwischen den Gitterstäben durchs Tor hindurch. Doch so sehr er sich bemühte – es gab nichts zu sehen. Hinter dem Torbogen führte der Weg in einer sanften Linkskurve den Hügel hinauf und verschwand auf Nimmerwiedersehen hinter der Kuppe. Das war schon alles.

Dafür nahm Grant etwas anderes wahr. Nämlich das Meer. Ungefähr eine halbe Meile vor ihm musste die Küste sein. Grant konnte deutlich hören, wie der raue Nordatlantik voller Wut gegen das zerklüftete Festland donnerte. Immer und immer wieder. Voll urgewaltiger Kraft. Irgendwie naheliegend, diese Landzunge Cape Wrath zu taufen.

Nachdem Grant prüfend an dem schweren Vorhängeschloss gerüttelt hatte, trat er einen Schritt zurück und spuckte auf den Boden. Anschließend wandte er sich nach rechts, umrundete den Torbogen mit wenigen Schritten und setzte seinen Weg fort. Das Tor mochte vielleicht massiv und fest verschlossen sein – doch von der dazugehörigen Mauer fehlte jede Spur.

Fünf Minuten später war Grant schweißgebadet. Und das, obwohl sich die Sonne seit Stunden hartnäckig versteckte und ihm obendrein ein salzig-frostiger Wind direkt ins Gesicht wehte. Doch der Hügel zog sich sehr viel länger, als Grant zunächst angenommen hatte. Fast 500 Meter. Schließlich erreichte er schnaufend die Kuppe und tastete automatisch seine speckige Öljacke nach Zigaretten ab. Als er dabei hinunter zur Felsküste blickte, vergaß er sein Vorhaben augenblicklich. Und er fragte sich instinktiv, ob er genug getrunken hatte.

In der Ferne schmiegte sich ein gewaltiges Bollwerk aus verwittertem Granit dicht an die gezackte Küstenlinie. Anders konnte man es gar nicht nennen: ein Bollwerk. Ein schmuckloses und einschüchterndes Stück Architektur in Form eines gewaltigen, spiegelverkehrten L. Der lange Teil des L maß bestimmt 300 Meter und verlief parallel zur Küste. Vermutlich war dieser Trakt sogar bis direkt ans Wasser gebaut. Doch das konnte Grant von seinem Hügel aus nicht sehen. Der kurze Teil des L ragte als Seitenflügel ins Landesinnere. Wobei kurz relativ war, denn Grant schätzte die Länge des Seitenflügels immer noch auf 120 Meter und die Breite auf mindestens 40 Meter. Erdgeschoss plus fünf Etagen plus Dachgeschoss … das „Ham & Axe“ musste über eine gewaltige Anzahl von Zimmern verfügen. Über eine gewaltige Anzahl an leeren Zimmern, wenn man dem Barmann im „Cock ’n Bull“ Glauben schenken konnte.

Auf den ersten Blick sprach einiges dafür. Von den gut 30 Schornsteinen auf dem Dach rauchten lediglich zwei. Und auf dem großen Hof, der sich als Schotterfläche zwischen den beiden Gebäudeflügeln aufspannte, stand kein einziges Auto. Überhaupt herrschte nirgendwo Betrieb. Hinter keinem der hohen, schmalen Fenster war Licht zu sehen. Nirgendwo schnippelte ein Gärtner an einem verkrüppelten Nadelgestrüpp herum oder fegte ein Laufbursche die breiten Stufen zum Haupteingang hinauf. Man konnte nicht mal Möwen entdecken. Sehr ungewöhnlich für die Küste.

Grant zog seine Jacke fest unterm Kinn zusammen, denn plötzlich fröstelte er am ganzen Körper. Für einen Moment war er nahe daran umzudrehen und nach Hause zu gehen – bis ihm einfiel, dass er ja gar kein Zuhause hatte. Und Zigaretten hatte er auch keine mehr. Also spuckte Grant seine Zweifel auf den Boden, drückte seinen Rücken durch und versuchte, den Rest des Weges möglichst imposant zurückzulegen. Er hatte definitiv nicht genug getrunken!

Je näher Grant dem „Ham & Axe“ kam, desto kleiner fühlte er sich. Das Meer toste immer ohrenbetäubender, während der massive Steinkoloss mit jedem Schritt höher in den schiefergrauen Himmel wuchs. Als Grant über den leergefegten Schotterhof stapfte, bemerkte er verwundert, dass jedes einzelne Fenster im Erdgeschoss vergittert war. Und zwar durch schmiedeeiserne Stäbe, die mit nadelspitzen Metalldornen besetzt waren. Die Gitter an sich überraschten Grant wenig. Was ihn jedoch verwirrte, war die Tatsache, dass die Metallspitzen nach innen zeigten. Und nicht nach außen.

Aber schließlich war Grant kein Architekt, sondern Koch. Oder was auch immer. Deshalb wischte er seine Verwunderung über die Gitter beiseite, blieb am Fuß der Haupttreppe stehen und legte den Kopf in den Nacken. 14 ausgetretene Steinstufen über ihm versperrte eine schwarz gebeizte Holztür mit schweren Eisenbeschlägen den Weg. Grant ließ den Blick weiter nach oben wandern und blieb an einem verwaschenen Relief hängen, das in die raue Granitfassade gemeißelt war. Mit etwas Phantasie konnte man durchaus eine langstielige Axt erkennen, die einen gewaltigen Schinken kreuzte. Nur, dass der Schinken irgendwie wie ein menschliches Bein aussah. Ordentliche Steinmetze waren anscheinend nicht leicht zu finden.

Grant atmete tief ein und dann in die hohle Hand wieder aus. Zufrieden stellte er fest, dass er noch immer eine leichte Fahne hatte. Also setzte er sein gewinnendstes Lächeln auf, straffte die Schultern und stiegt die 14 Stufen bis zum Haupteingang hinauf. Da er weder eine Klingel noch einen Türklopfer entdecken konnte, packte Grant den gewaltigen Türknauf, der ebenfalls wie eine Axt mit Schinkenbein aussah, und zog mit aller Kraft daran. Doch die Tür knarzte nur empört und rührte sich kein Stück. Verärgert spuckte Grant in die Hände und zog erneut. Fester diesmal, aber noch immer ohne Erfolg.

Wütend verpasste er der Tür eine rechte Gerade, worauf das antike Stück widerstandslos ein paar Zentimeter nach innen schwang. „Geht doch!“, zischte Grant und wischte sich eine Haarsträhne aus der Stirn. Dann schob er das schwere Türblatt behutsam nach vorn. So, als erwartete er ein markerschütterndes Quietschen. Doch die Angeln waren gut geölt.

„Herzlich Willkommen im ‚Ham & Axe Hotel und Spa‘. Mein Name ist Dietrich-Wilhelm III. – wie kann ich Ihnen helfen?“

Grant kniff die Augen zusammen und versuchte vergeblich, etwas in der Dunkelheit zu erkennen. Also brüllte er der dünnen Stimme mit dem schamlosen deutschen Akzent entgegen: „Hallo! Ich heiße Grant Bender! Ich bin hier, weil ich den Job als Koch will! Ich kann sofort anfangen!“

„Kommen Sie herein, Herr Bender. Und schließen Sie die Tür hinter sich, dann gewöhnen Sie sich schneller an die neuen Lichtverhältnisse!“, befahl die Stimme mit dem rollenden R.

Also trat Grant einen Schritt in die Dunkelheit und schob die Eingangstür mit der rechten Hacke wieder zu. Schon nach wenigen Sekunden formten sich erste Umrisse aus der Finsternis. Anscheinend befand er sich in einer großen Eingangshalle. Rechter Hand konnte Grant ein Sessel-Arrangement erahnen, das um einen großen Kamin gruppiert war. Über der kalten Feuerstelle hing der Kopf eines majestätischen Hirsches und behielt die verwaiste Sesselgruppe im Auge.

Zur Linken führten zwei hohe Türen in benachbarte Räumlichkeiten. Beide waren jedoch geschlossen. Zwischen den Türen hing das überlebensgroße Porträt eines weißhaarigen, grimmigen Mannes – eingefasst in einen mattgoldenen Rahmen. Was jedoch in der hinteren Hälfte des Raumes lag, konnte Grant nicht erkennen.

„Bitte entschuldigen Sie die Dunkelheit, Herr Bender. Wie Sie vielleicht bemerkt haben, sind wir nicht an das staatliche Versorgungsnetz angeschlossen. Wir beziehen unseren Strom aus dem hauseigenen Biomasse-Kraftwerk.“ Dietrich-Wilhelm III. hüstelte verlegen. „Anscheinend leiden wir gerade unter einem kleinen technischen Defekt. Aber ich bin sicher unser Hausmeister hat den Schaden jeden Moment behoben. Bitte kommen Sie doch näher. Folgen Sie einfach meiner Stimme. Dann erreichen Sie nach etwa 20 Metern die Empfangstheke.“

„Ich könnte auch die Vorhänge öffnen“, schlug Grant vor, während er die schweren Stoffbahnen musterte, die links und rechts neben der Eingangstür die Wände und Fenster verhängten.

„Bitte nicht, Herr Bender“, durchschnitt die deutsche Stimme die Dunkelheit. „Wir haben einige Gäste, die … wie soll ich sagen … die es gerne abgeschieden haben. Wenn Sie verstehen, was ich meine?“

Es gab also doch Gäste. „Ah, Sie meinen Filmstars!“

„Ja … so in der Art. Aber bitte, kommen Sie näher. Am besten treten Sie fest auf. Dann kann ich hören, ob Sie auf dem richtigen Weg sind.“

Da sich Grant kein drittes Mal bitten lassen wollte, löste er sich vorsichtig von der Tür und tastete sich mit hallenden Schritten in die Dunkelheit vor.

„Gut so, Herr Bender! Kommen Sie nur weiter! Immer geradeaus!“

Nach genau 54 vorsichtigen, aber lauten Schritten stieß Grant mit der linken Fußspitze auf ein Hindernis.

„Herzlichen Glückwunsch, Herr Bender! Sie haben die Empfangstheke erreicht!“, kam die Stimme unmittelbar vor Grant aus der Dunkelheit. Und das konnte Grant nicht nur hören, sondern auch riechen.

„Jetzt kann ich Ihnen ja auch von Angesicht zu Angesicht sagen, dass die Stelle des Chefkochs nicht mehr vakant ist. Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Tag.“

Grant überlegte kurz, ob er einfach aufs Geratewohl in die Dunkelheit schlagen sollte. Dahin, wo der üble Atem und die arrogante Stimme herkamen. Doch dann beugte er sich stattdessen lautlos nach vorn und brüllte, so laut er konnte: „Was heißt nicht mehr vakant?!“

In diesem Moment geschahen zwei Dinge gleichzeitig. Das Licht ging wieder an. Und Grant bereute seinen Ausbruch. Zweiteres hing mit Ersterem unmittelbar zusammen. Denn der gewaltige Kronleuchter erhellte nicht nur die prunkvolle Empfangshalle des „Ham & Axe“ – sondern auch Dietrich-Wilhelm III., der mit gebleckten Zähnen wenige Zentimeter vor Grants Gesicht verharrte.

Dietrich-Wilhelm III. war knapp über 50 Jahre alt und ebenso lange ein fester Bestandteil des „Ham & Axe“. Sein Vater Dietrich-Wilhelm II. sowie seine Mutter Leni-Marlen hatten als untergetauchte Nationalsozialisten ihr Heil im schottischen Exil gesucht. Und es auch gefunden. Und zwar als hoch geschätzte Gäste beziehungsweise als kompetente Angestellte im traditionsreichen „Ham & Axe Hotel“. Damals noch ohne „Spa“. Hier hatten sie ihren einzigen Sohn gezeugt, hier wurde er geboren und bis zuletzt in ihrer ganz eigenen arischen Seifenblase großgezogen.

Bis Leni-Marlen bei einem tragischen Haushaltsunfall starb – und Dietrich-Wilhelm II. wenige Wochen später beim Reinigen seiner Luger. Nach dem abrupten Dahinscheiden der Eltern hatte Dietrich-Wilhelm III. das Hotelhandwerk von der Pike auf gelernt und es schließlich aus eigener Kraft vom Hilfstellerwäscher zum Wäschereiassistenten, zum Pagen, zum Einparker, zum Nachtportier bis hin zum Empfangschef gebracht. Darauf war er stolz.

Und das zeigte er auch. Zum Beispiel mit einem makellosen Seitenscheitel, der wie mit dem Lineal durch sein kräftiges, weißblondes Haar gezogen schien. Oder mit dem sorgfältig gewachsten Schnurrbart, dessen Enden sich kunstvoll zwirbelten. Oder mit den akkurat gezupften Augenbrauen, die seine stechend-blauen Augen betonten. Oder mit der alten SS-Uniform seines Vaters, die er zu einer prunkvollen Hoteluniform umgenäht hatte. Oder mit den schneeweißen, sorgsam spitz zugefeilten Zähnen, die zu hunderten aus seinem Mund zu quellen schienen.

Dietrich-Wilhelm III. knallte besagte Zähne aufeinander und Grant brachte seine Nase durch einen beherzten Satz nach hinten in Sicherheit. Etwas höflicher fragte er nochmals: „Was meinen Sie mit ‚nicht mehr vakant‘?“

Der Empfangschef knirschte nachdenklich mit den Reißzähnen, dann richtete er seine spindeldürre Gestalt zu voller Größe auf und schlug hinter dem Tresen zackig die Hacken zusammen. „Das bedeutet, dass sich soeben ein vielversprechender Kandidat im Vorstellungsgespräch befindet.“

„Wie jetzt? Jetzt gerade?“

„Jetzt gerade! In diesem Moment! Ganz aktuell!“

„Na ja, aber das heißt ja dann, dass die Stelle noch nicht vergeben ist, oder?“

„Der ehrenwerte Hoteldirektor, Dr. Kilroy, ist da anderer Meinung, fürchte ich. Er unterhält sich gerade mit dem Kandidaten. Einem Franzosen. Der war schon ‚Maître de Cuisine‘ auf einem Kreuzfahrtschiff.“ Missmutig zwirbelte der Empfangschef seinen Schnurrbart. „Na ja, zumindest kochen können sie ja, die Franzosen …“

„Hören Sie, ich kann auch kochen! Und ich bin Schotte!“, warf sich Grant in die Brust. Nach einem kurzen Blick auf die SS-Runen am Kragen seines Gegenübers fügte er hinzu: „Und meine Großeltern waren Deutsche. Die Benders aus dem Harz!“

Das entsprach zwar keineswegs der Wahrheit, doch die Lüge erfüllte ihren Zweck.

Der Empfangschef richtete sich noch eine Spur mehr auf und Grant wartete nur darauf, dass der Dürre jeden Moment den rechten Arm hochriss. Doch stattdessen griff Dietrich-Wilhelm III. unter den Tresen und förderte ein antikes Wählscheibentelefon zutage. Er kniff kurz die Augen zusammen und ratschte dann blitzschnell drei Ziffern herunter. Fünf – Null – Null. Prüfend legte er den schweren Hörer ans Ohr und entblößte schließlich den Strauß nadelspitzer Reißzähne. „Verzeihen Sie die Störung, Herr Direktor Dr. Kilroy. Aber soeben ist noch ein weiterer Bewerber für die Stelle als Chefkoch eingetroffen. Ja, genau. Ein Schotte. Ein gewisser Herr Bender. Aha … ja, einen Moment bitte!“ Der Empfangschef hielt mit der Linken die Sprechmuschel zu und wandte sich an Grant: „Der Herr Direktor möchte wissen, welche Qualifikationen Sie vorzuweisen haben, Herr Bender.“

„Also erstens … ich hab’ schon mein ganzes Leben lang mit Essen zu tun!“

„Über zwei Jahrzehnte praktische Berufserfahrung!“, übersetzte der Empfangschef ins Telefon.

„Und dann … also, ich war auch schon im Ausland …“

„Beherrscht einheimische und internationale Küche!“

Grant kratzte sich die Wange, weil er vergessen hatte, was er noch sagen wollte. Also fragte ihn der Empfangschef: „Probieren Sie gerne mal was Neues, Herr Bender?“ Als Grant zaghaft nickte, erklärte der Dürre ins Telefon: „Herr Bender bezeichnet sich als kreativen Koch der ‚Nouvelle Cuisine‘, der auch vor exotischen Zutaten nicht zurückschreckt!“

Zustimmend reckte Grant den rechten Daumen empor, während er mit der Linken erneut auf die Suche nach Zigaretten ging.

„Ganz Ihrer Meinung, Herr Direktor!“, bellte der Empfangschef ins Telefon und nickte zustimmend. „Ein Wettstreit ist eine ausgezeichnete Idee, Herr Direktor! Ich werde sofort alles veranlassen, Herr Direktor!“ Mit einer zackigen Bewegung schmetterte der Dürre den Hörer auf die Gabel und ließ das Telefon wieder verschwinden. Anschließend kam er energisch hinter dem Tresen hervor und marschierte im Stechschritt an Grant vorbei auf eine große Treppe zu, die sich im hinteren linken Eck des Raumes um den schmiedeeisernen Gitterschacht eines Fahrstuhls wand. „Folgen Sie mir bitte in die Küche, Herr Bender! Es geht um die Wurst!“

Worum auch sonst? Grant warf einen letzten Blick in die große, holzgetäfelte Empfangshalle und folgte dann dem Rezeptionisten die Treppe hinab in den Keller. „Atticus hätte gerne sein Pökelfass zurück“, ließ er den knochigen Mann wissen. Doch der schnaubte nur verärgert und wischte die Nachricht mit einer Handbewegung beiseite.

Zwei Stockwerke tiefer war die Luft kühl und feucht. Ganz offensichtlich waren die unteren Geschosse direkt in die Klippen gehauen worden. Denn von der niedrigen Felsdecke tropfte überall das Seewasser – und an den Wänden hatte sich im Laufe der Zeit eine dicke Salzkruste gebildet. Grant musste seinen Kopf einziehen, um nicht gegen eine der nackten Glühbirnen zu stoßen, die an brüchigen Kabeln von der Decke baumelten. Immer wieder flackerte eine der Lampen auf und warf zuckende Schatten an die weißen Wände.

„Die Hauptküche befindet sich natürlich nicht hier unten, sondern im Erdgeschoss des Seitentraktes“, erläuterte Dietrich-Wilhelm III. knapp. „Doch da kocht gerade was Asiatisches vor sich hin. Und das kann dauern …“, fügte er mit rasiermesserscharfem Lächeln hinzu. Schließlich blieb er vor einer Metalltür stehen und kramte einen schweren Schlüsselbund aus seiner SS-Stiefelhose hervor. „Hier wären wir, Herr Bender. Die Küche für die Bediensteten.“ Der Dürre schloss die Tür auf und tastete nach dem Lichtschalter. Nach wenigen Sekunden sprangen im Inneren eine Reihe kalter Neonröhren an und eine Dunstabzugshaube begann zu rattern.

Alles in allem machte die Küche einen überraschend guten Eindruck. Sie war geräumige zwölf mal acht Meter groß, fensterlos und bis zur Decke weiß gefliest. Im Zentrum befand sich eine praktische Kochinsel mit acht gasbetriebenen Feuerstellen, zwei bauchigen Fritteusen und einer zwei Quadratmeter großen Bratplatte. An die Rückwand des Raumes schmiegten sich nebeneinander eine fünf Meter breite Arbeitsplatte aus Edelstahl, eine Industrie-Spülmaschine sowie zwei große Waschbecken und eine vier Meter breite Kühl-Gefrierkombination. Über der Arbeitsplatte war ein breites Magnetband angebracht, an dem mehr als 100 verschiedene Küchenwerkzeuge hingen. Tranchiermesser, Fleischmesser, Filetiermesser, Fischmesser, Obstmesser, Gemüsemesser, Knochenmesser, Wiegemesser, Hackmesser, Sushimesser, Brotmesser, winzige Messer, riesige Messer, gezackte Messer, Messer mit Wellenschliff, dünne Messer, lange Messer, gedrungene Messer, gekrümmte Messer. Und dazu Hackbeile, Fleischerbeile, Knochensägen, Fleischhämmer, Bratenthermometer, Sparschäler und Schalenzangen. Außerdem lag auf der Arbeitsfläche noch ein ganzer Stapel Hack- und Schneidebretter aus geöltem Hartholz mit Metallgriffen. Auf einem Edelstahl-Board in Kopfhöhe stapelten sich diverse Töpfe, Pfannen, Kasserollen, Schalen, Thermoboxen und Bräter in den unterschiedlichsten Größen.

Die rechte Wand war komplett von glänzenden Edelstahlregalen bedeckt, in denen allerlei schwer verderbliches Gemüse lagerte. Kartoffeln, Zwiebeln, Knoblauchzöpfe, Rüben, Kürbisse, Rettiche, Sellerie, Pastinaken sowie diverse weitere schrumpelige Wurzelknollen. Hinzu kamen ganze Regalböden voll sauer Eingemachtem. Gurken, hartgekochte Eier, Bohnen, Erbsen, Mais, Zucchini, Weißkraut, Rotkraut, Schwarzwurzeln, Silberzwiebeln und vieles mehr. Ein ausladendes Regalfach war restlos mit Gewürzen befüllt. Hier fanden sich säckeweise Salz, Zucker und Pfefferkörner. Hinzu kamen sorgsam beschriftete Blechbüchsen mit Wacholder, Lorbeer, Rosmarin, Thymian, Nelken, Zimt, Zitronenschale, Orangenblüten, Kardamom, Piment, Chili mild, Chili feurig, Paprikapulver, Curry, Safran, Muskat, Oregano, Petersilie, Schnittlauch, Bohnenkraut sowie drei Dutzend weitere Kräuter, Granulate und Pulver.

Ein anderes Regalfach war reserviert für verschiedene Kräuteröle und -essige sowie für Zwei-Kilogramm-Packungen Pasta und Fünf-Kilogramm-Säcke Reis und Mehl. Die Wand auf der linken Seite war – bis auf eine quer verlaufende Wasserleitung – kahl.

Kurzum: Grant blickte in eine Küche, die keinerlei Wünsche offenließ. Außer man wollte beim Kochen nach draußen gucken. Aber die fehlende Aussicht war Grant vollkommen egal. Denn er hatte weder Ahnung vom Kochen, noch von Architektur. Also zwängte er sich an dem dürren Empfangschef vorbei in die Küche hinein und trommelte verlegen mit den Fingerspitzen auf der Bratplatte herum.

„Vermissen Sie etwas, Herr Bender?“

„Sie hätten nicht zufällig Zigaretten?“

Dietrich-Wilhelm III. ignorierte die Gegenfrage routiniert und breitete die Arme aus. „Am besten machen Sie sich ein bisschen mit der Küche vertraut, Herr Bender. Ich werde jetzt kurz verschwinden, um den anderen Kandidaten zu holen. Den ‚Maître de Cuisine‘. Sobald wir zurück sind, haben Sie und der Franzose 30 Minuten Zeit, um mir eine ausgefallene Gemüsesuppe zu kreieren. Das sollte für einen welterfahrenen Koch wie Sie ja kein Problem sein. Wie auch immer. Ich werde die beiden Suppen blind verkosten … und das bessere Gericht bekommt den Job. Alles klar so weit?“

„Jawoll!“, brüllte Grant, woraufhin der Empfangschef automatisch die Hacken zusammenschlug und ein klitzekleines bisschen mit dem rechten Arm zuckte. Dann machte der Dürre auf dem Absatz kehrt und verschwand mit klackerndem Gebiss. „Verlassen Sie nicht diese Küche, Herr Bender. Egal was Sie hören!“

Grant zuckte mit den Schultern, ignorierte die kreischenden Schmerzensschreie der Dunstabzugshaube und ließ den Blick in Richtung Industriekühlschrank wandern. Doch die Suche nach einem eiskalten Bier war schon zu Ende, ehe sie wirklich begonnen hatte. Denn der stählerne Kühlkoloss war mit einem nagelneuen Vorhängeschloss gesichert. Wenn schon kein Bier, dann wenigstens ein Schluck Wein. Oder Whisky. So viel zumindest wusste Grant vom Kochen. Eine Soße war keine Soße ohne einen ordentlichen Schluck Alkohol. Keine Whiskysoße ohne Whisky. Keine Tomatensoße ohne Rotwein. Keine Barbecuesoße ohne Rum. Keine Sherrysoße ohne Sherry. Keine rote Buttersoße ohne Port. Und so weiter und so fort.

Mit dem geübten Blick eines routinierten Trinkers unterteilte er sein Umfeld blitzschnell in drei Bereiche: trocken, halbtrocken und lieblich. Dummerweise war die gesamte Küche knochentrocken. Bis auf einen verbeulten Karton im linken hinteren Eck unter der Arbeitsfläche. Der schien zumindest nur halbtrocken zu sein. Prüfend stieß Grant den unbeschrifteten Karton mit der Fußspitze an und lauschte auf das vertraute Klirren. Volltreffer. Das klang nicht nur lieblich, sondern geradezu süffig. Rasch ließ Grant sein Klappmesser aufschnappen und durchtrennte mit wenigen Schnitten die Klebestreifen an der Oberseite des Kartons. Vorsichtig schob er mit der Klinge den Pappdeckel zur Seite und hielt den Atem an. Süffiger als süffig! Zwölf wundervolle bauchige Wodkaflaschen lachten Grant aus vollen Hälsen an. Ganz klar das gute Zeug! Bestimmt siebenfach gefiltert und dann irgendwo in Russland vom Laster gefallen. Behutsam löste Grant eine der Flaschen aus der zerbröselten Holzwolle und musterte das Etikett. Dann zuckte er nur mit den Schultern, da ihm die kyrillische Schrift ziemlich spanisch vorkam. Voller Vorfreude löste er den mit Wachs versiegelten Korken aus dem Flaschenhals und machte sich an die Feuerprobe. Und zwar sprichwörtlich. Denn der erste große Schluck brannte sich direkt eine Schneise hinunter in den Magen und verwandelte sich dort in einen Waldbrand. Also löschte Grant diesen schleunigst mit einem noch größeren Schluck. Anschließend stellte er die Flasche griffbereit auf die Arbeitsfläche und überlegte sich seine nächsten Schritte. Franzosen tranken doch auch ganz gerne mal einen Schluck. Und Seefahrer sowieso. Vielleicht sollte er den französischen Ex-Schiffskoch einfach zu einem kleinen Wetttrinken herausfordern. Mal sehen, wer dann das bessere Süppchen kochte!

Doch nach einem weiteren Schluck Wodka kam Grant eine noch viel bessere Idee. Besser, weil er dabei seinen Alkohol nicht teilen musste: Warum nicht einfach im Internet nach einem ausgefallenen Rezept für Gemüsesuppe suchen? So was ganz Verrücktes, aber trotzdem einfach.

Während sich Grant noch selbst auf die Schulter klopfte, zückte er bereits sein Smartphone. Nur um es gleich wieder fluchend wegzustecken. Kein Empfang. Kein Plan B. Letzten Endes blieb ihm nur übrig, sich auf sein Glück und seine Kreativität zu verlassen. Und zumindest letztere konnte er beeinflussen. Was er dann auch die nächsten zehn Minuten lang tat. Schluck für Schluck.

Als ihn seine Kreativität langsam zu überwältigen drohte, hörte er endlich Schritte näherkommen. Die klackenden Stechschritte des dünnen Empfangschefs – begleitet von einem übergewichtigen Stampfen. Logisch. Die meisten Köche waren nicht gerade Hungerhaken.

Der schnaufende Franzose, der mit Dietrich-Wilhelm III. die Küche betrat, widerlegte diese These nicht. Vielleicht war er früher einmal ein athletischer Mann von 1,80 Meter Körpergröße und 90 Kilogramm Gewicht gewesen. Doch heute hing über dem Traumkörper ein 40 Kilogramm schwerer Sack aus Fett, der in einer gemächlichen Frequenz vibrierte. Das einzig Dünne an dem Mann war sein Schnauzbart, der sich in einem sorgsam ausrasierten Bogen über der fleischigen Oberlippe krümmte. Weitere Haare gab es auf seinem Kopf nur noch in den Nasenlöchern. Seine Augen verschwanden fast völlig unter schweren Schlupflidern und die Nase war rot geädert und von purpurnen Geschwülsten übersät.

„Bonjour!“, flötete der Dicke mit einer überraschend hohen Stimme.

„Aye“, grunzte Grant zurück und hakte das Wetttrinken innerlich ab.

„Herr Bender, darf ich vorstellen … das ist Herr Cèntine-Gauillard“, mischte sich der Empfangschef ein und warf einen kritischen Seitenblick auf die halbleere Wodkaflasche. „Und das ist Herr Bender. Ein Meister der schottischen Küche. Und ein Koch mit internationaler Erfahrung.“ Dietrich-Wilhelm III. breitete theatralisch die Arme aus. „Meine Herren, die Küche gehört Ihnen. Es gibt keine Regeln … halt doch! Es gibt nur eine Regel. Kochen Sie mir in der nächsten halben Stunde die weltbeste Gemüsesuppe … oder von mir aus auch Gemüsebouillon … und Sie haben den Job.“

Mit einem geübten Griff zog der Empfangschef eine silberne Taschenuhr aus der Innentasche seiner Uniform, warf einen kurzen Blick auf das Ziffernblatt und deutete dann eine knappe Verbeugung an. „Die Zeit läuft, meine Herren!“ Ohne ein weiteres Wort ließ der Dünne die beiden Kontrahenten in der Küche zurück.

Als Dietrich-Wilhelm III. exakt 29 Minuten und 52 Sekunden später wieder die Küche betrat, stand Grant noch immer an derselben Stelle und liebkoste gedankenverloren die fast leere Wodkaflasche. Zu Grants Füßen lag Herr Cèntine-Gauillard und rührte sich kein Stück. Schuld daran war das große Fleischerbeil, das in seinem Kopf steckte. Die rasiermesserscharfe Klinge hatte den kahlen Schädel des Franzosen genau in der Mitte gespalten. Dabei hatte sie nicht nur sauber die beiden Gehirnhälften voneinander getrennt, sondern auch den linken vom rechten Nasenflügel. Erst zwischen den Schneidezähnen war das Beil steckengeblieben. Außerdem hatte der anscheinend recht kräftige Schlag das linke Auge des Franzosen aus der Höhle gesprengt. Es hing noch immer an seinem knubbeligen Sehnerv und ruhte friedlich in einer Blutlache, die langsam, aber sicher auf dem Fliesenboden eindickte.

„Arbeitsunfall?“

„Beim Karottenschneiden abgerutscht“, bestätigte Grant geistesgegenwärtig.

Der Empfangschef nickte verständnisvoll und klopfte ihm aufmunternd auf die Schulter. „Willkommen an Bord.“ Dann drückte er Grant eine Knochensäge in die Hand und krempelte sich die Ärmel hoch. „Du kannst übrigens gleich anfangen. Und jetzt, wo wir Kollegen sind … nenn mich einfach ‚Dick‘.“