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Der Autor

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Prof. Dr. Rolf-Ulrich Kunze, geb. 1968 in Osnabrück, lehrt Neuere und Neueste Geschichte am Karlsruher Institut für Technologie (KIT).

Studium in Frankfurt am Main und Würzburg, 1989–1994; Stipendiat der Studienstiftung des deutschen Volkes; Promotion zum Dr. phil. 1995 in Würzburg, Habilitation für Neuere und Neueste Geschichte 1999 in Mainz; 1998 Tätigkeit im Planungsstab des Bundespräsidenten im Bundespräsidialamt; 2000/01 Wiss. Mitarbeiter am Max-Planck-Institut für europäische Rechtsgeschichte in Frankfurt am Main; 2001 Vertretung des Lehrstuhls für Neuere und Neueste Geschichte am Institut für Geschichte der Universität Karlsruhe (TH); 2001/02 Heisenberg-Stipendiat der DFG; 2004–2011 DFG-Projekt zur evang. kirchl. Zeitgeschichte; seit 2010 Professor für Neuere und Neueste Geschichte in Karlsruhe.

Rolf-Ulrich Kunze

Nationalismus: Illusionen und Realitäten

Eine kritische Bestandsaufnahme

1. Auflage

Verlag W. Kohlhammer

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Umschlagbild: Marcel Stahn

1. Auflage 2019

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-036090-7

E-Book-Formate:

pdf:         ISBN 978-3-17-036091-4

epub:      ISBN 978-3-17-036092-1

mobi:      ISBN 978-3-17-036093-8

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Inhalt

 

 

 

  1. Vorwort
  2. 1 Einleitung: Was ist Nationalismus?
  3. 1.1 Aktualität des Themas
  4. 1.2 Von der Realität gedachter Ordnungen
  5. 1.3 Kleine historische Funktionsgeschichte des Nationalismus
  6. 1.4 Gliederung, Quellen, Perspektiven, Forschungsstand
  7. 1.5 Hidden agenda: Beispiele aus der Historiographie
  8. 1.6 Nationalismus in dekonstruktivistischer Perspektive
  9. 1.7 Nationalismus und die Linke
  10. 2 Typen von Nationalismustheorien
  11. 2.1 Klassen von Typologien und die nationalismusgeschichtliche Forschung
  12. 2.2 Voluntaristischer Typ: Ernest Renan
  13. 2.3 Essentialistischer Typ: Friedrich Meinecke
  14. 2.4 Marxistisch-leninistischer Typ
  15. 2.5 Räumlicher Typ: Theodor Schieder
  16. 2.6 Kommunikationstheoretischer Typ: Karl Wolfgang Deutsch
  17. 2.7 Modernisierungsgeschichtlicher Typ: Hans-Ulrich Wehler
  18. 2.8 Modern-konstruktivistischer Typ: Benedict Anderson
  19. 2.9 Anthropologischer Typ: Ernest Gellner
  20. 2.10 Strukturvergleichender Typ: John Breuilly
  21. 2.11 Universalhistorischer Typ: Imanuel Geiss
  22. 2.12 Transnationaler und globaler Typ: Jürgen Osterhammel
  23. 3 Nationalismus und Religion. Über Nähe und Distanz
  24. 3.1 Religion, Geschichte, Säkularisierung
  25. 3.2 Religion und Moderne
  26. 3.3 Traditionen der kulturwissenschaftlichen Religionsdeutung
  27. 3.4 Religion aus globalgeschichtlicher Perspektive
  28. 3.5 Nationalisierung von Religion
  29. 3.6 Grenzen der religionsgeschichtlichen Perspektive
  30. 3.7 Säkularität der gesellschaftlichen Subsysteme
  31. 3.8 Die Kolonisierungsfrage und Religion
  32. 3.9 Die Erfahrung des evangelischen Kirchenkampfs im Dritten Reich
  33. 3.10 Keine politische Religion
  34. 3.11 Deutschchristliche Theologie: evangelische Nationalsozialisten
  35. 4 Kontinuität oder Renaissance der Nationalismen?
  36. 4.1 Wellenkurvenmodell
  37. 4.2 Arena
  38. 4.3 Alternativen
  39. 5 Ausblick auf die Gegenwart
  40. Anhang
  41. Quellen- und Literaturverzeichnis
  42. Register
  43. Abbildungsverzeichnis

Vorwort

 

 

 

Nicht nur diese Studie hat vom intensiven und kritischen Dialog mit meinem Lektor beim Kohlhammer-Verlag, Dr. Peter Kritzinger, erheblich profitiert, sondern ich selbst habe es auch. Der Lektoratsassistentin Charlotte Kempf, M.A. danke ich für ihre genaue Textarbeit.

In diesem Text wird die männliche Form lediglich der Kürze wegen gewählt, aber natürlich sind auch weibliche Personen gemeint und sollen nicht diskriminiert werden. Aus Gründen besserer Lesbarkeit durch Vermeidung ständiger Zeitenwechsel ist die Darstellung im Präsens gehalten. Internetbelege wurden sparsam und nur dort verwendet, wo die dahinterstehenden Institutionen bzw. Publikationen längere Erreichbarkeit erwarten lassen.

So etwas wie die erkenntnisleitende These dieses Überblicks hat Franz Grillparzer 1849 formuliert: »Der Weg der neuern Bildung geht/Von Humanität/Durch Nationalität/Zur Bestialität« (Grillparzer 1960, Bd. 1, 500). Das Epigramm zielt auf die Dekonstruktion der Unterscheidung von gutem und schlechtem Nationalismus. Diese erfolgt hier durch die konsequente Anwendung des sozialkommunikativen Instrumentariums von Karl Wolfgang Deutsch.

Karlsruhe, im April 2019

1          Einleitung: Was ist Nationalismus?

 

1.1       Aktualität des Themas

Der populistische Nationalismus gehört derzeit zu den am meisten diskutierten historisch-politischen Phänomenen, und zwar weltweit.1 Der 45. Präsident der USA, Donald J. Trump, bekennt sich zum Prinzip von »America first«.2 Seine ruppige Körpersprache gibt diesem Politikverständnis auch körperlich Ausdruck, wenn er sich wortwörtlich in den Fotovordergrund eines Staatsführertreffens rempelt. Der nationalistische Slogan »Making America great again!« bleibt auch mitten in der Amtszeit des Präsidenten die Kernbotschaft seines populistischen Dauerwahlkampfs. Nationalistische Botschaften finden keineswegs nur in den USA Akzeptanz. Rechtspopulistische Parteien sind gegenwärtig in fast allen politischen Kulturen der EU präsent. Sie stellen nicht nur die supranationale Kooperation in Frage, sondern den westeuropäisch-atlantischen Wertekonsens der Nachkriegszeit. Auch im globalen Süden ist der Nationalismus allgegenwärtig. In Asien, Afrika, Lateinamerika und im Nahen Osten eskalieren Konflikte nach wie vor und mehr denn je entlang nationalistischer Muster. Von den menschengemachten globalen Katastrophen ringen Klimawandel und Nationalismus um Platz Eins.

In Europa ist der Nationalismus das beherrschende politische Thema. Ungarn, Polen und Großbritannien liefern Anschauungsmaterial für die eskalationsfördernde, konsens- und kooperationszerstörende Wirkung nationalistischer Kommunikation. Sie beruht meist auf einer scharfen Freund-Feind-Unterscheidung und gibt vor, auf diese Weise politische Probleme lösen und eine einfache Alternative zur komplizierten Gegenwart bieten zu können. Im populistisch polarisierten Schlagabtausch gerät jeder Versuch rationaler Diskursführung schnell unter den Generalverdacht, auf der falschen Seite zu stehen.

In keinem einzigen gegenwärtigen Fall von Nationalismus folgt dieser einem Drehbuch historischer Notwendigkeit. Die ethnisch und kulturell vergleichsweise homogene ungarische Gesellschaft, die selbst von Emigration betroffen ist, lässt sich im Frühjahr 2018, nach rund dreißig Jahren postdiktatorischer Entwicklung, durch abendländische Abgrenzungs- und Überfremdungsängste gegenüber allem ethnisch Anderen und einem dämonisierten Islam mobilisieren.3 Eine parlamentarische Zweidrittelmehrheit der regierenden Orban-Nationalpopulisten scheint gewillt zu sein, dem eingeschlagenen Pfad hin zu einem autoritären Staatsmodell weiter zu folgen. Der ungarische Fall zeigt exemplarisch den Verbundeffekt fremdenfeindlicher nationalistischer Kommunikation, die immer ein Set von Anti-Haltungen befördert, u. a. Antipluralismus, Antiliberalismus, Antiparlamentarismus, Anti-Elitarismus, Antisemitismus. Diese ›Anti-Haltungen‹ verstärken sich wechselseitig und bestätigen die über die Staatsmedien verbreiteten und angeheizten nationalistischen Phobien. Im Ergebnis passt ein ostmitteleuropäisches Land, vor dreißig Jahren Pionier der Diktaturüberwindung und Transitraum für DDR-Bürger auf dem Weg über die offene Systemgrenze und seit 2004 Mitglied der EU, seine politische Geographie nationalistischen Ängsten an und wird zu einer von mentalen Gräben und realen Zäunen geschützten Festung. Das hat erneut Pionierqualität in der Konfrontation mit diffusen Feindbildern, wie dem Islam oder Brüssel, während Russland, die östliche Interventions- und Besatzungsmacht von gestern, inzwischen als freundlicher Feind und postdemokratisches Vorbild erscheint.

Im Frühjahr 2018 fordert die Republik Polen, ebenfalls seit 2004 Mitgliedsstaat der EU, ihre in der EU lebenden Staatsangehörigen dazu auf, vermeintlich antinationale auslandspolnische Kritiker bei den Botschaften und Konsulaten im Fall des Verdachts auf Defätismus zu denunzieren. Das Bedürfnis nach Schutz des heiligen Körpers der Nation vor inneren Feinden ist größer als das nach Erinnerung an den gemeinsamen Sieg über die Unfreiheit unter dem Kommunismus.4 Der autoritäre Umbau des Rechtsstaats zeigt die Spaltung der polnischen Gesellschaft nach Bildungsstand, Generation und Wohnort. Auf diese Weise wird eine historische Ressource aufgebraucht, die sich über alle polnischen Teilungen und die Zeit im sowjetischen Imperium hinweg erhalten und sogar verstärkt hat: der legendäre Zusammenhalt aller Polen im Mutterland wie in der Diaspora, idealtypisch verkörpert durch die moralische Supermacht eines polnischen Papstes, Karol Józef Wojtyła, Johannes Paul II.

Der nationalistische »splendid isolation-Exzess« des Brexit artikuliert verschiedene nationalistische Motivationen wie die Ablehnung einer überkomplex empfundenen, aushandlungsreichen Gegenwart, die Kompensation von imperialem Statusverlust und harter sozialer, aber auch generationeller Spaltung. Die vielgerühmte, alte parlamentarische Kultur Großbritanniens führt vor, wo die Grenzen von government by discussion and tradition verlaufen, indem sie durch den Brexit von einer Regierungskrise zur nächsten eilt. So wird die art of governance zerstört, zu deren Voraussetzungen die einmal als eigentümlich britisch angesehenen Tugenden des Kompromisses, der Fairness und des understatement gehören.

Auch die politische Kultur in der Bundesrepublik ist derzeit durch eine tiefe gesellschaftliche Kluft zwischen der Mehrheit der gesellschaftlich-politischen Mitte und dem rechtspopulistischen Spektrum gekennzeichnet. Während Letzteres seine politische Akzeptanz praktisch vollständig aus dem Thema Migration bezieht und völkisch-nationalistische Rhetorik immer weiter normalisiert, lässt sich eine agonale Beziehung zwischen den Rechtsextremisten und den Islamisten beobachten. Diese Abhängigkeit der Weltanschauungsgegensätze voneinander ist ein bekanntes Phänomen aus der Endphase der Weimarer Republik. Die Extreme, damals Nationalsozialisten und Kommunisten, sind sich einig in ihrem grenzenlosen Hass auf das bestehende liberaldemokratische System.5 Diese ›Weltbürgerkriegs-Analogie‹ ist ein Alarmsignal für den Zustand der politischen Kultur, auch wenn pauschale Gleichsetzungen der AfD mit der NSDAP historisch nicht gedeckt sind. Gleichwohl muss sich auch der Bundestag mit dem rechtspopulistischen Stil der Empörungssemantik, Schwarz-Weiß-Moral, »fake News» und Verschwörungstheorien auseinandersetzen. Das politische Monothema Migration wird in einer globalisierten Welt nicht verschwinden, doch wo Rechtspopulisten den politischen Diskurs polarisieren, ist kein Platz für multilaterale, faktenorientierte Standpunkte. Die auf das rechtsradikale US-Internetmedium Breitbart zurückgehende rechtspopulistische Hetze gegen den UN-Migrationspakt im Herbst 2018 hat das einmal mehr unter Beweis gestellt – und zugleich die keineswegs nur kommunikative Nähe von Rechtsradikalismus und Rechtspopulismus dokumentiert.

Die Wiederkehr des Nationalismus erfolgt in der Bundesrepublik aufgrund der spezifischen zeitgeschichtlichen Vergangenheit und ihres Mentalitätsschattens später als in anderen europäischen Gesellschaften. Im überwiegenden Teil der meinungsbildenden Eliten der Bundesrepublik, etwa in Wissenschaft, Wirtschaft, Kunst, Kultur oder Medien, hat noch über 1989/90 hinaus ein weniger moralischer als vielmehr lebensweltlicher ›cultural code‹ der Postnationalstaatlichkeit vorgeherrscht. Nach Österreich, Italien, Belgien, Frankreich, Skandinavien, den Niederlanden sowie Osteuropa hat der rechtspopulistische Nationalismus über den thematischen Umweg nationalökonomischer Euro- und EU-Schuldenhaftungskritik in der Bundesrepublik an Boden und parlamentarisch Gestalt gewonnen. Das wirft Fragen zum Verhältnis von Nationalismus und Populismus auf, die sich mitnichten mit dem Hinweis, dass Populisten sich nicht als Populisten bezeichnen, beantworten lassen. Das gilt auch für Nationalisten, ohne dass daraus geschlossen werden kann, es gibt keinen Nationalismus.6 Donald J. Trump bekennt sich sogar offensiv dazu, Nationalist zu sein.

1.2       Von der Realität gedachter Ordnungen

Obwohl wir die Nation als eine gedachte Ordnung und vorgestellte Gemeinschaft nicht sehen und nicht konkret als Ganzes erfahren können, erweckt das Alltagsverständnis genau diese Vorstellung. Hierin wird eine lange, mentalitätsprägende Konditionierung auf bestimmte Narrative und Symbole seit dem nationalistischen 19. Jahrhundert wirksam. Sie kann bis zu der Fiktion führen, Nationen seien eine notwendige Vereinigung von Ethnos und Demos, ein gleichsam natürliches, schon immer vorhandenes Strukturelement der Geschichte, wenn nicht sogar Teil der Schöpfungsordnung Gottes. Dieser essentialistische Mythos ist bereits selbst ein typischer Ausdruck nationalistischen Denkens. Die Nation wird wie eine Gattungsbezeichnung der Zoologie und nationale Gattungszugehörigkeit naheliegender Weise ethnisch und exklusiv abstammungsvermittelt verstanden. Zoologisch aufgefasste Geschichte als Überlebenskampf ist der letzte Schritt in den Sozialdarwinismus und Rassismus. Diese konsekutiven Narrative bieten das Potential zur politischen Selbstermächtigung, gewalttätigen Identifikation und totalitären Spielraum. Für Konservative ist die politische Entplausibilisierung und wissenschaftliche Dekonstruktion der Begriffe Volk und Nation intellektuell und emotional schmerzhaft, weil sich darin der Abschied von Gemeinschaftsutopien artikuliert, die das moderne konservative Denken konstituieren.7

Das essentialistische, zoologische Narrativ der Nation ist schlicht, suggestiv, emotional und deshalb immer noch und immer wieder populär. Deshalb stellt es die mächtigste Ressource der politischen Akzeptanzerzeugung in der Geschichte der Neuzeit dar. Zu dieser Erzählung gehören die folgenden Leitmotive: Die Nation ist alt. Sie steht schon in der Bibel und im Pass. Die Nation ist das wichtigste politische Ordnungsprinzip überhaupt. Sie stellt die Grundlage der Weltorganisation in den United Nations dar. Allen Menschen ist gemeinsam, in eine Nation hineingeboren zu werden, ein Vaterland und deshalb eine Heimat zu haben. Die Nation hat zentrale Bedeutung für das Verständnis von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft: Sie ist eine nicht hinterfragbare Sinn-Klammer von Individuum, Familie, Volk und Welt, manchmal auch Rasse. Die Nation steht für die Grenzen des politischen und sozialen Teilhaberaums. In ihrem Wohlstand und Waffenruhm drückt sich der ihrem Wesen gemäße und gerechte Erfolg und der verdiente Unterschied zu nicht grundlos weniger erfolgreichen Nationen aus. Die Nation stiftet Identität und Solidarität. Nationalstolz ist so natürlich wie Vaterglück und Mutterliebe. Gefühle der Verbundenheit und Zugehörigkeit sind durch den Landkartenumriss des Nationalstaats, die Nationalflagge und die Nationalhymne aufrufbar; schmerzliche Gefühle des Zusammenstehens, wenn in Nachrichtenberichten davon die Rede ist, dass bei einem Unglück auch Angehörige der eigenen Nation ums Leben gekommen sind. Daher sollen gerechte Empörung und Strafe denjenigen treffen, der die Nation, ihren Namen, ihre Geschichte und ihr Ansehen verächtlich macht und damit verrät. Helden vieler Kriege, die eigenen Großväter und Väter, sind für die ehrenvolle Sache der Nation und die Bekämpfung des von außen kommenden Bösen gefallen. Die Nation besteht aus geteilten Erinnerungs- und Gedenkorten einer langen Geschichte. Kriegerdenkmäler und Soldatenfriedhöfe erinnern daran. Sie erfährt sich in den Siegen der Nationalmannschaften im Sport, in ihren Wirtschaftsführern, Medienikonen und Nobelpreisträgern. Das Kollektiv der Nation kennt ein individuelles Schicksal. Sie ist in ihrer Kultur überpersönlich und zeitlos, einzigartig unter den Kulturen der Welt. Ihr Entstehen und ihr imperiales Ausgreifen zu bestimmten Zeiten sind vorgezeichnete historische Notwendigkeiten. Die Nation ist unsterblich, auch bzw. weil sie leiden, dulden und wieder zu alter Größe erweckt werden kann. Licht und Schatten sind Teil jeder ruhmreichen Nationalgeschichte, aber weder nur das eine, noch nur das andere. Die Nation als Inbegriff des Guten hat mit Nationalismus nichts zu tun. Nationalisten sind diejenigen, die sich übertrieben für den Vorrang einer Nation gegenüber anderen Nationen einsetzen.

Dass es sich bei diesen typischen Motiven der Erzählung von der Nation um Nationalismus handelt, der es erst ermöglicht, die Nation überhaupt zu denken und als vorgestellte Gemeinschaft zu erhalten, lässt sich leicht verdrängen.8 Im Zweifelsfall wird das populistische Argument vorgetragen: tu quoque – die anderen sehen es auch so. Nationalismus – bereits an seiner begrifflichen Endung ›-ismus‹ als Abstraktum erkennbar – meinen wir häufig im Aufstieg des europäisch-atlantischen Rechtspopulismus deutlich vor Augen zu haben. Kaum ein Problem der globalen Agenda und der Konflikte zwischen Nord und Süd, Ost und West hat gegenwärtig nicht auch mit Nationalismus zu tun. Aber wir behandeln das Thema als ein Phänomen der anderen und stellen kaum strukturelle Verbindungen zwischen Nation und Nationalismus fest, vor allem nicht zwischen der eigenen Nation und ihren (also: unseren) Formen des Nationalismus. Wahrscheinlich gibt es neben dem Begriff ›Nation‹ nur einen weiteren, der so sehr Teil unserer Alltagssprache und -wahrnehmung geworden ist, dass wir ihn nicht mehr als gedankliche Konstruktion verstehen: Darwins Begriff der Entwicklung.

Auf den ersten Blick scheinen viele Schwierigkeiten eines historischen Versuchs zur Erklärung von Nation und Nationalismus in der Vielfalt von Begriffen zu ihrer Charakterisierung und Abgrenzung zu liegen. Diese Verwirrung klärt sich – jedenfalls oberflächlich – schnell auf. Denn den positiv besetzten Begriffen, wie Nation, Vaterlandsliebe und Patriotismus, stehen die negativen Antagonismen gegenüber: Nationalismus, Chauvinismus und Fremdenhass. Das Problem liegt weniger in den Begriffen als in der wertenden Unterscheidung. Die Substantive Nation und Nationalismus wirken wie Magnetpole, die latent vorhandene Vorstellungen anziehen und zu einem bestimmten Muster arrangieren. Übersehen wird dabei meist, dass beide Pole Teile desselben Magneten sind. Dabei erzeugen die Kräfte des Nationalismus überhaupt erst das Magnetfeld der Nation.

Die aktuellen Schwierigkeiten mit der historischen, aber auch politischen Einordnung des Nationalismus haben vor allem mit der Einseitigkeit und Parteilichkeit der Betrachtung zu tun, die sich an der positiven Nation und dem negativen Nationalismus ausrichten. Das ist nicht neu. Vielmehr beherrscht diese Sichtweise die gesamte Auseinandersetzung mit dem Nationalismus seit der ›politisch-industriellen Doppelrevolution‹. Sie hat einen blinden Fleck bei der Analyse des Nationalismus erzeugt, der bewirkt, dass jede Erklärung der Wirkungsweise des Nationalismus sich zunächst gegen die prägende Botschaft der Nation durchsetzen muss.

Eine um Objektivität bemühte Interpretation von Nationalismus muss die Relevanz dieses Problems berücksichtigen. Andernfalls mangelt es an wissenschaftlicher Distanz gegenüber Nation und Nationalismus. Rechtfertigungen, dass ein bisschen Nationalismus gut sein kann, wenn man ihn Patriotismus nennt und inklusiv, nicht exklusiv versteht; oder dass Integration in einer Migrationsgesellschaft nur durch die Förderung von patriotischer Identifikation möglich sei, sind die Folge. Die einzige Unterscheidung von Nationalismus und Patriotismus liegt dabei jedoch darin, wem was wozu zugestanden wird. So wird weder die Wirkungsweise von Nationalismus noch die von Patriotismus erklärt, allerdings die Attraktivität nationalistischen Denkens belegt. Die Anziehungskraft von Nation und Nationalismus führt und verführt zu essentialistischen Aussagen. Die Rahmenerzählung von der Vitalität der Nation entfaltet selbst in der Nationalismuskritik eine enorme suggestive Wirkung. So ist es letztlich möglich, dass patriotische Historiker Umvolkungspläne entwerfen und politkberatend Genozide rechtfertigen.

Die positionelle Betrachtung von Nation und Nationalismus färbt die Nationalismusforschung. In den meisten Nationalismusdarstellungen gibt es einen stillschweigenden, meist sogar ausdrücklichen konservativen Konsens: Die historisch-politischen Konstruktionen von Nation und Nationalstaat werden selbst in dekonstruktivistischer Perspektive als die normale Organisation eines Gemeinwesens angesehen. Und dieser Norm steht der Nationalismus als die Ausnahme und gefährliche Übersteigerung entgegen.9 Daher scheinen Nation und Nationalstaat die wünschenswerte, natürlich scheinende Regel politischer Organisation und Teilhabe. Der Nationalismus hingegen ist hiervon die negative aber kontrollierbare Ausnahme.

Die Definition von Nationalismus aus einem von der Bundeszentrale für politische Bildung herausgegebenen weltgeschichtlichen Nachschlagewerk reflektiert diese Wertung:

»›Nationalismus‹ (lat. natio,das Geborenwerden‹, das Geschlecht, der Stamm) bezeichnet eine verstärkte, meist übersteigerte Betonung des Nationalgedankens.«10

Der Übersteigerung entspricht die scheinbar außer Frage stehende Selbstverständlichkeit der Nation und eines gemäßigten, gesunden Nationalgedankens, der nichts mit Nationalismus zu tun hat. Bezeichnenderweise verwechselt der Artikel lat. natio mit gens, Geschlecht, und definiert auf diese Weise die Abstammung als Normalfall der Entstehung der Nation.

Diese Unterscheidung ist auf eine spezifische, positionelle Weise einseitig und im Blick auf die Funktionsweise von Nationalismus schlicht falsch. Sie gehört zu den großen politischen Mythen der Neuzeitgeschichte und macht deutlich, in welchem Ausmaß nationalistische Muster unsere Alltagswahrnehmung nach rund 250 Jahren Nationalismusgeschichte imprägniert haben.

Nationalismus ist eine Form sozialer Kommunikation. Sie erhöht meta-ideologisch die Geltung anderer Weltanschauungen wie Liberalismus, Konservatismus und Sozialismus. Eine eigene Ideologie stellt der Nationalismus indes nicht dar. Deshalb kann er mit Blick auf seine Struktur und Wirkungsweise nicht inhaltlich, sondern nur sozialkommunikativ und relational interpretiert werden. Die Frage an den Nationalismus muss lauten, wie er die Kommunikation von Sendern und Empfängern verändert. Die Nation ist kein Gegensatz zum Nationalismus, sondern lediglich sein Thema. Nationalismus ist daher mehr als eine übersteigerte Beschäftigung mit der Nation. Er geht auch nicht in der anthropologischen Trivialität auf, dass jede soziale Gruppe Grenzen, Strategien zur Grenzbehauptung sowie zur Regulierung des Grenzübertritts und Gruppenzugangs braucht. Nationalismus verwandelt als extrem reduktionistische und unterkomplexe Weltsicht die immer wieder neu auszuhandelnde Relationalität von eigenem und anderem in ein polarisierendes Prinzip. Nationalismus verändert die Wahrnehmung der Welt.

Nationalismus als In- und Exklusionsinstrument

Der Nationalismus ist als sozialkommunikative Struktur die Identitätsbildungsform moderner, medialer Massen- und Migrationsgesellschaften. Karl Wolfgang Deutsch hat im Nationalstaat das mächtigste politische Instrument der Neuzeitgeschichte erkannt. Der Nationalstaat entsteht als die politische Form der Nation durch Nationalismus. Die notwendigerweise auf Ausschluss klar definierter Gruppen beruhende, enorme Mobilisierungs-, Inklusions- und Integrationsleistung des Nationalismus zielt auf Vollständigkeit: Sieg über alle äußeren und Exklusion aller inneren Feinde, Inklusion aller im ethnischen Nationsverständnis durch Abstammung, im politischen Nationsverständnis durch Willensentschluss Zugehörigen.

Deshalb werden im Deutschen Kaiserreich nach den (lange Zeit so bezeichneten) Reichseinigungskriegen von 1864, 1866 und 1870/71 Angehörige der katholischen Weltkirche als Ultramontane und Sozialisten als Reichsfeinde ausgegrenzt. Sie sollen und können wegen ihrer un- und außernationalen Loyalitätsbindungen nicht zum politischen Körper der neuen Nation gehören. Diese beiden sozialmoralischen Säulen der deutschen Gesellschaft vor 1914, die katholische und die sozialdemokratische, entwickeln in Reaktion auf diese Diskriminierung im politischen Katholizismus und in der Sozialdemokratie wirksame Strategien eines kompensatorischen Nationalismus zur Durchsetzung der zunächst verweigerten politischen Partizipation. In ihrer politischen Semantik neigen sie dazu, ihre nationale Zuverlässigkeit wider Erwarten immer wieder unter Beweis zu stellen: durch die Unterstützung der Reichsregierung im Reichstag nach dem Kulturkampf oder die Bewilligung von Kriegskrediten.

Dieses Muster ist nicht auf die deutsche Geschichte beschränkt, es wird durch die Massenmigration unter Modernisierungsbedingungen ab 1875 noch verstärkt. Der zunächst auf die Selbstbehauptung der eigenen ethnischen Gruppe, dann auf die politische Integration gerichtete chinesische Nationalismus der Chinese Americans bis in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts ist ebenfalls ein Produkt harter, in diesem Fall rassistischer Diskriminierung in der amerikanischen Einwanderergesellschaft. Je sichtbarer die ethnische oder kulturelle Fremdheit einer diskriminierten Gruppe von Anderen, desto höher ihre Neigung zu nationalistischer Selbstintegration als erster Schritt im Kampf um politische Anerkennung als politisch – nicht kulturell – Gleiche.

Ein in diesen Zusammenhang der Identitätsbildung gehörendes allgemeines Muster ist das Weiterreichen der Diskriminierung entsprechend des Fortschritts in der Integration: Strukturell gleiche Ausgrenzungserfahrungen bedingen keineswegs eine Solidarität von Ausgegrenzten. Erfolgreiche Inklusion und Integration bestätigt sich durch die Verlagerung der Exklusion an eine andere Stelle. Der Schriftsteller und Nobelpreisträger John Steinbeck hat in diesem sozialen Mechanismus sogar die wichtigste Erklärung des nationalistischen Identitäts-Paradoxes der amerikanischen Einwanderungsgesellschaft gesehen. Die sich integrierenden Migranten von gestern wandeln sich zu Migrationsgegnern: »It is possible that the first colonist on these shores, as soon as he got the seaweed out of his shoes, turned and shouted toward the old country, ›No more, now – that’s enough!‹«11

Das wirft die Frage auf, wie ein derart simples und radikales Freund-Feind-Denken in modernen Massengesellschaften so populär werden und sie mobilsieren konnte. Die Suche nach einer Antwort beschäftigte nicht zuerst die Geschichtswissenschaft, sondern darüber hinaus gerade auch die Psychologie.

Der Sozialpsychologe Gustave Le Bon (1841–1931) hat in seiner »Psychologie der Massen« 1895 als einer der ersten die psychologischen der Massenbeeinflussbarkeit in der Sprache seiner Zeit charakterisiert: Je einfacher die Botschaft der Unterscheidung von ›us and them‹, desto größer der Effekt.12 Brüder und Schwestern stehen Feinden und Verrätern so scheinbar klar gegenüber wie Gut und Böse, Auserwählte und Verworfene. Je erkennbarer und bekannter der Feind, desto größer der Zusammenhalt und die sich selbst bestätigende Identifikation mit dem Guten: Auf der einen Seite die USA, the land of the free and the home of the brave, auf der anderen die UdSSR, das evil empire (Ronald Reagan, 1983). Es ist die Star Wars-Emotionalität des ewigen Kampfes zwischen Gut und Böse. Die Teilhabe am höchsten innerweltlichen Gut der Nation wird nicht zufällig in sakralisierenden religiösen Bildern von Erweckung, Opfer und Erlösung beschrieben, während die Feindschaft ihr gegenüber in solchen von Verworfenheit, Abfall vom Glauben und Gotteslästerung.

Der Nationalismus ist als eine sozialpsychologische, massenmedial vermittelte Mobilisierungsform die erste genuin populistische Ressource der modernen Politik.13 Es gibt keinen Nationalismus ohne das populäre Versprechen, alle in seiner Zielgruppe zu Gewinnern und alle Nichtzugehörigen zu Verlierern zu machen. Weil ersteres schwerer zu realisieren ist als letzteres, braucht der Nationalismus Feinde und exterminatorische Utopien, wie mit ihnen umzugehen sei. Die Verbindung zwischen den Kulturkämpfen des 19. Jahrhunderts gegen die katholische Kirche in zahlreichen Ländern Europas14 und den ethnischen Säuberungen im Jugoslawienkrieg der 1990er Jahre ist die voluntaristische nationalistische Vorstellung und Praxis der Homogenisierung. Der eine heilige Körper der Nation soll ganz, unteilbar und frei von Feinden sein.

»Im Freisetzen solcher Energien liegt der Wert und zugleich die Gefährlichkeit solcher Ideologien begründet. Zerstörerisch wirkt sich die Hingabe an die ideologisch begründete Gemeinschaft aus, wenn das Hingabeobjekt […] absolut gesetzt wird und alle ihr übergeordneten Werte und Normen ausgeschaltet werden […].«15

Die neovölkische Utopie der Volksgemeinschaft des 21. Jahrhunderts im Unterschied zu einer funktional differenzierten, globalisierten Gesellschaft verspricht die Aufhebung der Klassen- und Rassengegensätze durch die Herstellung strenger Abstammungshomogenität und Abschottung des Nationalstaats gegenüber jedweder Migration. Die Durchsetzung dieser Utopie wird durch den Kommunikationserfolg populistischer Politik möglich. An die Stelle repräsentativ-demokratischer Prozesse mit entschleunigender Wirkung bei der Machtausübung tritt die ungebremste, dynamische Durchschlagskraft des Schwarmwillens. Vermittelt und verstärkt durch die Internetmedien, kann auf diese Weise praktisch unbegrenzte Macht ohne Mandat gegen Individuen, aber auch die Institutionen des Rechts- und Verfassungsstaats mobilisiert werden, und das effektiver als mit den totalitären Massenparteien des 20. Jahrhunderts. Am Anfang stehen Shitstorms, am Ende Herausforderungen des staatlichen Gewaltmonopols.

Die Nationalismusforschung hat seit der dekonstruktivistisch-voluntaristischen Formel Ernest Renans von der Nation als einem täglichen Plebiszit an der auch unter Historikern verbreiteten Unterscheidung zwischen der Normalität der Nation und dem Exzess des Nationalismus nichts ändern können – oder wollen. Daher hat sich sich diese positionelle Differenzierung zu einer der konstitutiven Legenden der politischen Neuzeitgeschichte entwickeln können. Auch transnationale16 und globalhistorische17 Perspektiverweiterungen scheinen das Bedürfnis nach patriotischer Positionalität keineswegs grundsätzlich zu schwächen, eher im Gegenteil. Auf manche Historiker hat Renans Definition von 1882 stets wie eine Provokation gewirkt. Das gilt erst recht für die Bezeichnung des essentialistischen Normalitätsempfindens selbstverständlicher Zugehörigkeit zu einer Nation als Nationalismus. Insofern kann die essentialistische Substanz-Behauptung von Volk und Nation als Teil des rechtselitär-identitären Versuchs der Wiederbelebung völkischer Mythen in der politischen Gegenwart nicht vollkommen überraschen.18 Von einer Überwindung des Nationalismus kann weder in der Wissenschaft noch in der politischen Praxis bislang die Rede sein.

Es mag trivial klingen, aber die bekennende politische oder kulturelle Positionalität in einer Aussage mit wissenschaftlichem Geltungsanspruch ist wissenschaftstheoretisch disqualifiziert und wird auch durch weite Verbreitung nicht legitimiert. Das gilt auch bzw. gerade, wenn sie sich als Ausdruck eines liberalen Patriotismus oder einer vernünftigen Vaterlandsliebe versteht. Die schnell aufflammende Entrüstung darüber, wenn die Betonung einer doch selbstverständlichen und normalen emotionalen Bindung an die eigene Nation als positionell dekonstruiert wird, markiert das Problem. Distanz gegenüber dem Nationalismus scheint für Historiker oft in der Annahme zu bestehen, selbst über jeden diesbezüglichen Verdacht erhaben zu sein.19 Nationalisten sind im Zweifel immer die anderen.

Diese Selbsttäuschung beruht nicht etwa auf methodischen oder begrifflichen Problemen, sondern auf der Bereitschaft vieler Historiker zu einer politisch-voluntaristischen Unterscheidung. Diese ist ganz im Sinne Renans ein tägliches Plebiszit, die Äußerung eines politischen Willens, nicht einer zwingenden historischen Expertise. Es gibt weder ein historisch nachweisbares Wesen noch eine Substanz irgendeiner Nation oder Rasse außerhalb der Projektionen der Nationalisten und Rassisten. Nationen sind Erfindungen. Nationalisten sind Realität.

Gute Nation – schlechter Nationalismus

Die wertende Unterscheidung zwischen guter Nation und schlechtem Nationalismus wird in Typologien häufig durch die adjektivischen Attribute angezeigt. Selbst die paradoxe Abgrenzung von gutem und schlechtem Nationalismus kommt vor. In pejorativer Kennzeichnungsabsicht finden vor allem die Begriffe ›radikal‹ und ›integral‹ Verwendung. Wenn es einen radikalen bzw. integralen Nationalismus gibt, muss es auch zumindest rein logisch eine andere nicht radikale Form des Nationalismus geben. Dieser gute Nationalismus wird entweder nicht qualifiziert, was ihn gleichsam als den wahren Nationalismus erscheinen lässt – das ist in der Regel der eigene –, oder sogar ausdrücklich positiv, z. B. als inklusiver oder liberaler Nationalismus im Unterschied zum konservativen, faschistischen und sozialistischen.20 Und gelegentlich geht es in typlogischer Hinsicht auch noch einfacher. So stellt die in den USA lehrende Soziologin Liah Greenfeld 1992 den moralischen englischen und amerikanischen dem unmoralischen deutschen Nationalismus gegenüber.21

Die angebliche Unterscheidbarkeit von inklusivem und exklusivem Nationalismus liegt einer politologischen Nationalismus-Definition im Kleinen Lexikon der Politik 2016 zugrunde:22

»Zu unterscheiden sind ein inklusiver und ein exklusiver Nationalismus. (1) Inklusiver Nationalismus bezeichnet jene moderate Form von Nationalbewusstsein oder Patriotismus, die alle polit.-kulturellen Gruppen einschließt und damit für das Politische System eine in hohem Maße integrierende und legitimierende Wirkung entfaltet. […] (2) Exklusiver Nationalismus ist gekennzeichnet durch ein übersteigertes Wertgefühl, das in Abgrenzung zu anderen Staaten oder Nationen die eigenen nat. Eigenschaften überhöht bzw. sie anderen gegenüber als höherrangig ansieht.«

Dieser Unterscheidung ist historisch-empirisch wie aber auch argumentativ widerlegbar. Nationalismus ist in seiner argumentativen Struktur ein Abgrenzungsbegriff, der darauf zielt, Zugehörigkeit von Nichtzugehörigkeit eindeutiger zu unterscheiden als das in der Lebenswelt mit ihrer grauen, nicht schwarz-weißen Realität möglich ist. Die postulierte Eindeutigkeit behält also immer eine utopische und kontingente Seite. Die Zugehörigkeit zu einer Nation lässt sich nur definieren, wenn erklärt wird, wer dazugehört und wer nicht. Ob die Zugehörigkeitsgrenze am Prinzip der Abstammung, der Geburt, des Willens zur Zugehörigkeit oder irgendeinem anderen bei Renan 1883 genannten Kriterium festgemacht wird, ist zwar jeweils historisch bedingt und erklärbar, für den Nationalismus aber völlig beliebig, solange die Unterscheidung trennscharf ist. Auch und insbesondere Einwanderungsgesellschaften wie die USA, die jedenfalls in Phasen von höherer Immigrationstoleranz grundsätzlich auf dem politisch-voluntaristischen Nationsbegriff von E pluribus unum beruhen müssen, durchlaufen Phasen des exklusiven und xenophobischen Nationalismus.

Rein inklusiver Nationalismus stellt ähnlich wie eine nichtbegrenzende Definition einen Widerspruch in sich dar. Auch wenn die Inklusion nur definiert, wer dazugehört, wird damit im Umkehrschluss auch implizit festgelegt, wer nicht dazugehört. Diese Interdependenz von zugleich inklusiver und exklusiver Struktur des Nationalismus zeigt sich in der politischen Realität von Vergangenheit und Gegenwart immer wieder, z. B. wenn nationalistische Multiplikatoren je nach Bedarf sowohl als auch bzw. nacheinander inklusiv und exklusiv argumentieren. Als Feindbildkommunikation braucht der Nationalismus Feinde.

Es handelt sich bei der Unterscheidung von inklusivem und exklusivem Nationalismus nicht um eine psychologische Einschätzungsfrage, die darauf hinausliefe, eher optimistisch die inklusive und integrative oder eher pessimistisch die exklusive und aggressive Seite von Nationalismus zu betonen. Jede nationalistische Integration ist nur auf Kosten einer Exklusion möglich. Zugehörigkeit verlangt nach Grenzen. Jede ›In-group‹ definiert eine ›Out-group‹. Nationalistische Politik nach innen ist Grenzsetzungspolitik.

Nationalistisch motivierter Expansionismus und Imperialismus nach außen artikulieren angewandtes Exzeptionalitätsdenken mit Anteilen von implizitem und explizitem Rassismus. Wer darin lediglich historisch angelegte Formen berechtigter nationalstaatlicher bzw. imperialer Entfaltung sieht, stellt sich auf die Seite derjenigen, die aus Überzeugung Rule, Britannia! singen. Auch die verharmlosende Bezeichnung solchen Einstellungsverhaltens als patriotisch ändert nichts an dem nationalistischen Charakter. Das psychologische Muster ist dabei stets das einer aggressiv gewendeten Defensive wie das Beispiel des britischen Nationalismus gut zeigt: »Britons never, never, never shall be slaves.« Die nationalistisch überhöhte insulare Zusammengehörigkeit gegen von außen kommende reale oder eingebildete Bedrohungen wie Napoleon Bonaparte, Hitler, der Kommunismus oder die EU erfährt so eine imperiale Wendung nach außen: »Rule, Britannia!« Der Brexit ist, so gesehen, als Wiederherstellung eines Normalzustands historisch zwingend.

Der Zusammenhang von Inklusion und Exklusion lässt sich u. a. vor und nach dem italienischen Risorgimento 1861 beobachten, vor und nach der großpreußisch-kleindeutschen Reichsgründung 1871, vor und nach der Gründung Indonesiens 1945, vor und nach der Herstellung des neuen deutschen Nationalstaats von 1990, in der Flüchtlingskrise seit 2015, vor und nach dem Sezessionsversuch Kataloniens von Spanien 2017 und während der gesamten Dauer der Brexit-Verhandlungen. Nochmals: Es gibt keinen Nationalismus ohne Feinde und Feindbilder. Einige seiner verschwörungstheoretischen Vorzugsfeinde, vor allem Juden, Linke, die katholische Weltkirche und die Freimaurer, haben in der Geschichte des Nationalismus Tradition.

Die scheinbar differenzierende Unterscheidung von grundverschiedenen Phasen, Formen oder Stufen von Nationalismus lenkt nur davon ab, dass die Phasen und Erscheinungsformen durch Argumente und Akteure zusammenhängen und nicht voneinander getrennt werden können. Am deutlichsten zeigt sich das an den Feindbildern.23 Die konstitutiven Feindbilder in Gestalt von Fremdenfeindlichkeit und regelmäßig Antisemitismus, vor allem aber deren Träger, die Nationalisten, sind beim ›nation-building‹ vor und nach der Nationalstaatsgründung die gleichen, manchmal sogar: dieselben. Innerhalb ein- und derselben Biographie kann ein Nationalist zuerst für nationale Emanzipation, dann für ethnische Homogenisierung und schließlich für nationalistische Eroberungen auf rassistischer Grundlage eintreten. Bereits die Gründung des Nationalstaats kann, wie das Beispiel des Risorgimento in Italien zeigt, vom politischen Integrationscharakter sehr unterschiedliche Phasen umschließen: sozialrevolutionäre, realpolitische und irredentistische.24

Für die vermeintlich legitimen, weil allgemein akzeptierten Erscheinungsformen von Nationalismus z. B. zur Legitimation der Gründung und Verteidigung des Nationalstaats nach innen und außen wird der Nationalismusbegriff meist gemieden und durch positiv besetzte Begriffe wie Patriotismus und Vaterlandsliebe ersetzt. Idealtypisch tritt das in der Einleitung einer kleinen Monographie des historisch arbeitenden Politikwissenschaftlers und Publizisten Christian Graf von Krockow (1927–2002) über Nationalismus als deutsches Problem aus dem Jahr 1970 hervor:

»Diese Schrift plädiert für ein kritisches, den Zukunftsaufgaben zugewandtes Nationalbewußtsein – in einem altmodischen Begriff: für Patriotismus. Freilich handelt es sich […] um einen Patriotismus in weltbürgerlicher Absicht.«25 Wenige Sätze weiter räumt von Krockow ein, dass bei einer politikwissenschaftlichen Funktionsanalyse des Nationalismus »nicht vorweg zwischen ›gutem, gemäßigtem‹ Nationalbewußtsein und ›bösem, radikalem‹ Nationalismus unterschieden werden [kann], und auch die Abgrenzung im Felde verwandter Begriffe, wie Vaterland oder Patriotismus, […] problematisch [bleibt].«26

In der Nationalismusforschung ist es heute allgemein akzeptiert, von der Konstruiertheit alles Nationalen auszugehen. »Für Vertreter konstruktivistischer Ansätze findet Organisation […] vor allem in den Köpfen der Organisationsmitglieder statt.«27 Der nationalismusgeschichtliche, aus der Kulturgeschichte stammende Dekonstruktivismus stößt beim Thema der Nation verbreitet auf Skepsis. Schon die Feststellung des als gesichert anzusehenden nationalismusgeschichtlichen Befunds der Konstruiertheit der Nation erzeugt in Diskussionen auch mit Historikern seit dem Aufstieg des europäischen und amerikanischen Rechtspopulismus die Reflexabwehrreaktion eines »Ja, aber …« mit zwei Hauptargumenten: (1) Jedes Gemeinwesen brauche aus rein pragmatischen Gründen ein Minumum an Identifikationsbereitschaft und Loyalität seiner Mitglieder, um zu funktionieren. Das gelte erst recht für Intellektuelle. Sie sollen die Nation nicht analytisch zergliedern, sondern zusammenhalten. (2) Das Thema Nation dürfe strategisch nicht der Internationalen der Rechtspopulisten und Rechtsradikalen überlassen werden. Diese Anschauung ist mittlerweile in einen populären Buchtitel übersetzt: »Lob der Nation. Warum wir den Nationalstaat nicht den Rechten überlassen dürfen«.28 Mit Geschichtswissenschaft haben beide Argumente wenig gemein. Das eine stammt aus der politischen Moral, das andere aus der politischen Strategie. Beide sind präskriptiv und zivilreligiös.

An die Unterscheidung zwischen Zivilreligion und Wissenschaft zu erinnern, bedeutet nicht, für eine wertindifferente, verfassungsneutrale, unpolitische Wissenschaft zu plädieren – im Gegenteil. Es geht bei einer so mobilisierungsstarken Meta-Ideologie wie dem Nationalismus lediglich um Rollentransparenz und die Frage wissenschaftlicher Distanz bzw. demokratischer Kontrollmöglichkeit. Eine politische Aussage wird anhand anderer Kriterien und in anderen Foren bewertet als eine wissenschaftliche. Ein Politiker ist anders legitimiert als ein Wissenschaftler.

Neben der zivilreligiösen Anschauung einer Zähmung des Nationalismus finden sich immer wieder appellhafte Bewertungen über sein Absterben, so u. a. bei Christan Graf von Krockow in seinem Nationalismus-Essay von 1970:

»der Nationalismus [kann] als historisches Phänomen auch wieder absterben […]. Dies würde möglich, wenn sich die geschichtliche Konstellation in dem Sinne entscheidend wandelt, daß sie den Nationalismus funktionell überflüssig werden lässt.«29

Der Bielefelder Neuzeithistoriker Hans-Ulrich Wehler (1931–2014) drückt am Ende seines Überblicks zum Nationalismus aus dem Jahr 2001 eine entsprechende Hoffnung aus:

»Man darf deshalb hoffen, dass auf die neuere Nationalismusforschung, die den Nationalismus prinzipiell infrage stellt, tatsächlich das Bild von der Eule der Minerva zutrifft: Vor ihrem Flug hat die letzte Dämmerung des Nationalismus eingesetzt.«30

Die Empirie des Nationalismus seit 1970 und 2001 deckt diese Einschätzungen keineswegs. Krockow und Wehler setzen rationalistisch auf eine Entplausibilisierung von Nationalismus durch Erkenntnis und Schwächung seiner Randbedingungen. In der bisherigen Geschichte des Nationalismus ist dieser Fall noch nicht eingetreten.

1.3       Kleine historische Funktionsgeschichte des Nationalismus

Der Nationalismus hat als Form sozialer Kommunikation zugleich eine strukturelle Funktion in der jeweiligen Gegenwart und eine Geschichte als politische Bewegung. Wo der Blick nur auf das eine oder das andere fällt, lässt er sich weder strukturell noch als historischer Fall im Einzelnen verstehen. Die meisten Probleme der Nationalismusforschung – von politischer Teilhabe am Nationalismus einmal abgesehen – resultieren daraus, dass die strukturelle gegen die historische Dimension ausgespielt wird. Dann steht einer homogen wirkenden Idee eine Anzahl heterogener Fälle gegenüber, der funktionsgeschichtliche Zusammenhang von Nationalismus und Nation bleibt unverständlich.

Die Wandlungsfähigkeit des Nationalismus hat die Historiographie seit Renan immer wieder herausgefordert. Der Sozialhistoriker Jürgen Kocka räumt in der zehnten Auflage von »Gebhardts Handbuch der deutschen Geschichte« 2001 mit Blick auf die konstruktivistische Wende in der Geschichtswissenschaft ein, »daß die Nationsbildung durch den modernen Nationalismus erheblich vertieft und beschleunigt wurde« und sich u. a. auf »ältere ethnische Herrschaftsverbände, an die Sprache und die sich daraus ergebende Kommunikationsgemeinschaft« stützte.31 Tatsächlich ist die staatliche Umformung älterer Herrschaftsverbände als Signatur der politisch-industriellen Doppelrevolution überhaupt nur durch den modernen Nationalismus möglich.

Dieser nationalismusgeschichtliche Umformungsprozess läuft idealtypischerweise in zwei Stufen oder Phasen ab. Der elitäre Intellektuellen-Nationalismus von Jacob Grimm (1785–1863) und Wilhelm Grimm (1785–1859) oder František Palacky (1798–1876) stellt eine hochdeutsche bzw. hochtschechische Allgemeinsprache zur Verfügung und beginnt mit der Nationalisierung eines literarischen Kanons.32 Dies ist die Agenda eines kleinen Kommunikationskreises von Schriftstellern und Gelehrten. Weder die Sprache der Bibelübersetzung Martin Luthers noch die der Texte von Jan Hus kann unter vormodernen Bedingungen Nationalismus erzeugen.

Nationalismus ist ein Phänomen der Modernisierung. Erst mit der politisch-industriellen Doppelrevolution und ihrer strukturellen Erfahrung von Massenmobilisierung und -passung für die Kasernen und Fabriken entstehen die mobilitäts- und medieninfrastrukturellen Rahmenbedingungen für nationalistische Integration: Wehrpflicht, Verkehrsnetze, Zeitungen, staatliche Pflichtschulen. Sie schaffen zugleich die Möglichkeit und den Handlungsdruck hin zu einer herrschaftsstrategischen Funktionalisierung ethnischer und kultureller Identität. Diese Identitätspolitik zielt auf die Erzeugung politischer Akzeptanz für die Großprojekte des modernen Interventionsstaats. Hochsprachen werden so zum Medium der Massen-Nationalisierung. Ein literarisch vermittelter Kanon von Narrativen, zu dem auch die Grimmsche Sammlung von Kinder- und Hausmärchen gehört, kann nationalistisch integrierende Funktion bekommen. Die von Presse, Schule, Kanzeln, Universitäten und Vereinen erzeugten und von Generation zu Generation angereicherten Identitätsressourcen ergeben ein politisches ›Super-Potential‹, das der Größe der Modernisierungsaufgaben in Frieden und Krieg entspricht. Nationalismus hebelt Identität wie die modernen Industriefinanzierungsmodelle den Kapitalismus. Diesem homogenisierenden Druck kann sich kein Bereich der Lebenswelt dauerhaft entziehen, auch wenn sich durchaus unterschiedliche Geschwindigkeiten der Nationalisierung ergeben. Ein Königshaus nationalisiert sich langsamer als für den modernen Nationalstaat unverzichtbare zukunftszugewandte Berufsgruppen wie Volksschullehrer und Ingenieure.

Erzählungen zur Funktion von Nationalstaat und Nation

Die Geschichte des Nationalismus folgt keinem Drehbuch von der Pränationalität der Vormoderne über das moderne Zeitalter der Nationalstaaten zur postmodernen Postnationalität. Die Nationalstaaten sind nicht das Ziel der Geschichte, sondern ein Merkmal der historisch-politischen Moderne seit der politisch-industriellen Doppelrevolution. Sie stellen auch keinen alternativlosen Sachzwang politischer Organisation und Partizipation dar.33 Nach wie vor gibt es andere historisch-politisch relevante Organisationsformen von Weltstädten bis zu Imperien und supranationalen militärischen, politischen und ökonomischen Verbünden.34

Aus einer präsentistischen, modernisierungsfixierten und teleologischen Sicht einer westlichen und weißen Europäisierungsgeschichte der Welt lässt sich leicht übersehen – und globalgeschichtlich zu recht kritisieren –, dass die vornationale immer noch die mit Abstand längste Phase der Universalgeschichte wie auch der Geschichte Europas ist.353637