JEFF SUTTON

 

 

Der verwirrte Mann

 

 

 

Roman

 

Apex Science-Fiction-Klassiker, Band 53

 

 

 

 

Apex-Verlag

Inhaltsverzeichnis

Das Buch 

 

DER VERWIRRTE MANN 

Erstes Kapitel 

Zweites Kapitel 

Drittes Kapitel 

Viertes Kapitel 

Fünftes Kapitel 

Sechstes Kapitel 

Siebtes Kapitel 

Achtes Kapitel 

Neuntes Kapitel 

Zehntes Kapitel 

Elftes Kapitel 

Zwölftes Kapitel 

Dreizehntes Kapitel 

Vierzehntes Kapitel 

 

Das Buch

 

Gerald Sundberg ist verzweifelt. Aus seiner Satelliten-Klinik, die sich auf einer festen Umlaufbahn um die Erde bewegt, ist der wichtigste Patient verschwunden. Der Patient 17 L. Niemand ahnt, wer sich hinter dieser Code-Nummer verbirgt. Nur Sundberg weiß, dass es sich um Craxton Wehl handelt, den Premier des Imperiums, der sich einer komplizierten Gehirn-Operation unterziehen musste. Und jetzt liegt er nicht mehr in seinem Krankenbett. Er scheint sich in Luft aufgelöst zu haben. Eines jedoch weiß man mit Sicherheit – er kann die Klinik nicht auf normalem Weg verlassen haben.

Doch wohin ist er »gesprungen«? Er leidet unter Amnesie, die ihm jede Erinnerung an seine Vergangenheit raubt. 

Eine fieberhafte Suche beginnt. Denn er ist der einzige, der das Imperium vor einer Katastrophe bewahren kann... 

 

Der Roman Der verwirrte Mann von Jeff Sutton (* 25. Juli 1913 in Los Angeles, Kalifornien; † 31. Januar 1979 in La Mesa, Kalifornien) erschien erstmals im Jahr 1972.

 

Der Apex-Verlag veröffentlicht die deutsche Übersetzung von Horst Pukallus als durchgesehene Neuausgabe in der Reihe APEX SCIENCE-FICTION-KLASSIKER. 

 

DER VERWIRRTE MANN

 

 

 

 

  Erstes Kapitel

 

 

»Aaaugh!«

Er erwachte bebend, den erstickten Schrei auf den Lippen.

Das Fischauge! Der verzerrte Himmel! Die dunkle Masse, welche die Sterne schluckte! Er zuckte heftig, während die alptraumhafte Vision aus den oberen Schichten seines Bewusstseins wich. Die Angst schüttelte ihn, und er fühlte sich plötzlich kalt und leer.

Als seine Gedankengänge an Klarheit gewannen, bemerkte er, dass er mit dem Gesicht nach unten auf einem abgenutzten Teppich hingestreckt lag. Erschrocken richtete er sich in eine sitzende Haltung auf und blickte sich um. Eine durchgesessene Couch, ein Tisch mit künstlichen Blumen darauf, eine Anzahl altmodischer Einrichtungsgegenstände - ein fremder, seltsamer Raum.

Wo bin ich? Er unterdrückte sein Unwohlsein und betrachtete die Umgebung näher. Gelbes Licht drang durch ein Fenster, das von einem blauen Faltenvorhang umrahmt wurde, der in kuriosem Kontrast zu der allgemeinen Eintönigkeit des Zimmers zu stehen schien. Mehrere Türen führten... wohin? Mit einem Schwindelgefühl bemühte er sich auf die Füße.

Wo bin ich? Die Frage bewegte ihn erneut, dann, noch drängender: Wer bin ich? Wie rasend in seinem Gedächtnis wühlend, fand er nichts außer den flüchtigen Alpträumen, die ihn geweckt hatten. Der verzerrte Himmel - die Erinnerung machte ihn schaudern.

Gott, wie sein Kopf schmerzte! Mit zitternden Fingerspitzen rieb er sich die Schläfen. Seine Augen betrachteten den mageren, mit einem Pyjama bekleideten Körper - die bloßen, knochigen Füße. Er streckte eine Hand aus und erschrak über den Anblick der blauen, hervorquellenden Adern auf dem Handrücken und der dürren, fleischlosen, klauenartigen Finger.

Er trat zur nächsten Tür. Sie stand einen Spalt breit offen, dahinter lag ein Badezimmer. Ohne zu wissen, was er eigentlich beabsichtigte, ging er hinein und blickte in den Spiegel über dem Waschbecken.

»Nein!«, schrie er auf. Er wich einen Schritt zurück. Das Gesicht, das ihn anstarrte, hager, eingefallen, mit tiefen Linien um die blassen blauen Augen, war das Gesicht eines Fremden.

Er zwang sich dazu, die schmalrückige Nase, den dünnen, strengen Mund mit den herabgezogenen Winkeln und das gelichtete braune Haar, das den unnatürlichen Glanz einer Färbung zeigte, zu mustern. Die Haut war pigmentiert und vom Alter gezeichnet. Eine dünne, weiße Narbe verlief unter dem Haaransatz, kreuzte die Schläfen und folgte der Wölbung des ganzen Schädels. Aber es war das Gesicht selbst, das ihn entsetzte; er sah aus, als sei er weit über siebzig Jahre alt.

»Mein Gott«, flüsterte er. Vorsichtig berührte er die Narbe und spürte ein Kribbeln. Hastig öffnete er die Jacke des Pyjamas und stöhnte auf, als er seinen abgezehrten Körper erblickte. Seine Rippen traten so deutlich aus der Haut hervor, dass die Zwischenräume dunkle Höhlen bildeten; sie erschienen wie sonnengebleichte Knochen. Langsam schloss er die Jacke wieder und kehrte in den anderen Raum zurück.

Er ging zum Fenster und konnte auf eine enge Straße hinabsehen, in der sich zahlreiche kleine Geschäfte befanden. Wetterzermürbte Balkone, ein paar künstliche Blumen und Pflanzen deuteten auf eine ärmliche Gegend hin.

Einige Lufttaxis summten um einen hohen grauen Turmbau in der Ferne. Dahinter erhob sich lautlos ein riesiger Raumfrachter mit Hilfe seiner Antigrav-Triebwerke. Der Turm wies auf einen Raumflughafen hin. Raumflughafen! Er kämpfte wild um diesen einen Anhaltspunkt. Für einen kurzen Augenblick hatte er das Gefühl, als wolle sein Bewusstsein sich öffnen, aber dann erblassten die schwachen Blitze der Erinnerung, als hätte eine Hand eingegriffen, um sie vor ihm abzuschirmen.

Er vernahm ein Geräusch an der Tür und wirbelte herum, als eine junge Frau eintrat. Sie erblickte ihn im selben Augenblick und verharrte mit dem Ausdruck von Furcht auf dem Gesicht. »Was tun Sie hier?«, forschte sie.

»Ich weiß... weiß es nicht.« Er starrte sie an. Jung, Mitte Zwanzig, schätzte er, dunkle Haare, ein offenes Gesicht. Ihre billige Kleidung ließ auf eine Arbeiterin schließen.

»Sie wissen es nicht?«, fragte sie nervös.

»Ich wachte gerade auf und fand mich in diesem Zimmer wieder.«

»In meinem Vorzimmer?«

Er nickte, weil er nicht zu sprechen vermochte.

»Hat Sie jemand hierhergebracht?«

»Ich weiß nicht«, wiederholte er steif. »Ich bin eben aufgewacht.«

»Wer sind Sie?« Ihren Mut sammelnd, trat sie einen Schritt näher.

»Ich kann mich nicht erinnern.« Seine Augen flehten. »Wo bin ich?«

»Wenn Sie die Anschrift meinen, es ist Drei-Zwei-Fünf-Strich- Vier Glade Avenue. Apartment Zwei-Strich-Zwölf«, meinte sie.

»Welche Stadt?«, murmelte er.

»Sie entsinnen sich nicht einmal daran?«, fragte sie ungläubig. »Sie sind in Los Angeles.«

»In der Hauptstadt?«

»Genau - also wissen Sie es?«

»Eigentlich nicht«, meinte er. »Es fiel mir nur so ein.«

»Sie sind krank«, stellte sie fest. »Wo sind Ihre Kleider?«

Er lächelte verschämt. »Ich vermute, dass ich keine besitze.«

»Man hat Sie in diesem Zustand hier zurückgelassen?« Ihr Gesicht wurde mitleidig.

»Ich weiß es nicht.« Er bekämpfte den Drang, in Tränen auszubrechen. »Ich möchte Sie nicht belästigen. Ich gehe schon.«

»In dieser Aufmachung?«, erkundigte sie sich zweifelnd.

Er sah herab auf seinen Pyjama. »Ich habe nichts anderes.«

»Warten Sie, ich werde Ihnen etwas besorgen.« Sie eilte hinaus. Er ging nochmals in das Badezimmer und blickte erneut in den Spiegel.

Wer bin ich? Er strich über sein Gesicht. Seltsam, aber er kannte die Namen der Gegenstände ringsum; er konnte sprechen, denken, seine Lage beurteilen, erinnerte sich an alles vom Augenblick seines Erwachens an. Aber was die Zeit vorher betraf, wusste er nichts. Bis auf das Fischauge. Er hatte diesen wüsten Traum von einem verzerrten Universum vor dem Erwachen gehabt - von hellen Sternen, die von einer rotierenden, riesigen Masse verschluckt wurden.

Amnesie? Natürlich, was sonst? Aber wie war er in dieses Apartment gelangt? Jemand hatte ihn hierher gebracht; so glaubte sie. Aber wer? Und warum hierher?

Er hörte sie kommen und kehrte in das Zimmer zurück. Sie brachte ein kurzärmeliges braunes Hemd und ein Paar knielanger Hosen von der Art, wie sie noch in Handarbeit hergestellt wurden.

»Ich habe sie von einem Mann hier im Haus bekommen«, erklärte sie. »Die Sachen sind alt, aber die besten, die ich auftreiben konnte.«

»Es wird reichen«, antwortete er eifrig.

»Oh, ich habe Schuhe vergessen. Welche Größe tragen Sie?«

»Ich weiß es nicht.« Er betrachtete seine knochigen Füße mit den hervortretenden Adern.

»Mehr als mittelgroß«, vermutete sie. »Ich werde sehen, was sich finden lässt.«

»Es ist mir peinlich, Sie belästigen zu müssen«, entschuldigte er sich.

Sie trat näher. »Sie sprechen ein wenig Akzent.«

»Akzent?«

»Ich kann ihn nicht einordnen. Stammen Sie von den Außenwelten?«

»Ich weiß es nicht.« Er lächelte sehnsüchtig. »Ich wollte, ich wüsste es, aber keine Spur.«

»Gedächtnisschwund widerfährt alten Leuten recht oft«, sagte sie, »sogar den aufgeputschten.« Sie bemerkte den Ausdruck in seinem Gesicht und fügte hinzu: »Oh, ich habe es nicht so gemeint.«

Sie bemühte sich um ein Lächeln und trat noch näher. »Ihr Gesicht kommt mir bekannt vor.«

»Tatsächlich?«, erkundigte er sich hoffnungsvoll.

»Ich weiß genau, dass ich Sie schon einmal gesehen habe.«

»Das macht mir Mut«, erklärte er. »Ich fühle mich nicht mehr so allein.«

»Ihre Erinnerung wird schon wiederkehren.« Sie lächelte zuversichtlich. »Ich kümmere mich um die Schuhe.«

Als sie fort war, streifte er den Pyjama ab und zog die Kleider an, die sie ihm besorgt hatte. Sie waren viel zu groß, und er wirkte darin noch ausgemergelter, als er wirklich war. Er trat zum Fenster und bemerkte erneut das Kribbeln in seinem Nacken, als er den Turm des fernen Raumhafens sah. Wann hatte er ihn zuvor gesehen?

Er lächelte erinnerungsschwer über den flüchtigen Eindruck des déjà vu - die Gewissheit, dass er diesen Anblick kannte. Irgendwie hatte der Turm des Raumhafens in seinem Bewusstsein Vorstellungen geweckt, die seine Gedächtniszellen hochgradig anregten und die Gegenwart mit der Vergangenheit konfrontierten.

Wer bin ich? Mein Gott, wer bin ich? Würde er es je erfahren? Außenweltler, hatte sie vermutet. Mars? Oder hatte sie einen der äußeren Planeten gemeint? Sein Kopf begann zu schmerzen, und der Schmerz durchdrang seinen ganzen Körper bis in die letzte Zelle. Seine Beine waren schwach und zittrig. Schritte vor der Tür weckten seine Aufmerksamkeit. Sie kam herein und hatte ein Paar alter Sandalen bei sich.

»Sie sind ziemlich groß«, meinte sie entschuldigend.

»Sie sind brauchbar.« Er zog sie über die Füße und schloss die Schnallen. Er richtete sich auf und sah sie an. »Ich weiß nicht, wie ich Ihnen danken soll.«

»Schon recht«, antwortete sie tonlos.

»Wie ist Ihr Name?«

»Mura... Mura Breen.«

»Ein hübscher Name. Ziemlich ungewöhnlich.«

»Marsianisch.« Ihre Augen blitzten abwehrend.

»Sie stammen vom Mars?«

»Aus Noachis, nahe dem toten Meer namens Serpentis.«

»Warum sind Sie zur Erde gekommen?«

»Bitte«, flehte sie.

»Es tut mir leid, ich gehe jetzt wohl besser«, sagte er, während er sich zur Tür bewegte.

»Wohin?«

»Ich weiß es nicht.«

»Besitzen Sie eine Kreditfolie? Nein, natürlich nicht. Wie wollen Sie denn leben?«

»Ich werde es schon schaffen«, antwortete er unsicher.

»Ohne Kreditfolie?« Sie schüttelte den Kopf. »Warum lassen Sie mich nicht die Polizei verständigen? Man wird Sie ins Krankenhaus bringen.«

»Nein«, wehrte er ab. Er spürte eine Welle von Furcht.

»Warum nicht? Haben Sie etwas angestellt?«

»Das nehme ich nicht an.«

»Sie können so nicht in den Straßen herumlaufen«, wandte sie ein.

»Ich muss herausfinden, wer ich bin«, erklärte er.

»Sicher kann das die Polizei für Sie erledigen.«

»Nein, darum muss ich mich selbst kümmern.« Er trat in eine schmutzige Halle, sah die Treppe und ging darauf zu.

»Warten Sie«, rief die Frau. »Wenn Sie keine Unterkunft finden, dann kommen Sie nur zurück. Sie dürfen auf der Couch schlafen.«

»Es geht mir gut.« Er wandte sich um und stieg die Stufen hinab. Als er auf die Straße trat und sich umblickte, fühlte er erneut den quälenden Eindruck der Vertrautheit. Wer bin ich?

Er straffte die schmalen Schultern und schritt die Straße entlang.

17 L war verschwunden!

Der weißgekleidete Pfleger stierte blöde auf das verlassene Krankenbett. Wie konnte ein besinnungsloser Patient verschwinden? Eilig warf er einen Blick in die übrigen Krankenzimmer, von denen es ein halbes Dutzend gab; alle waren leer. Ebenfalls der Operationssaal. Er platzte in die Küche. Der Koch fuhr überrascht auf.

»Haben Sie den Patienten gesehen?«

»Den Patienten? Mein Gott, ist er...«

»Haben Sie ihn gesehen?«, brüllte der Pfleger.

»Nein.«

»Ist jemand in den Mittelbezirk gegangen?«

»Nein... nein«, stotterte der Koch. Der Pfleger lief zurück auf den Gang und klopfte an die Tür der Schwester.

»Was gibt es?«, rief sie.

»Patient 17 L ist verschwunden«, flüsterte er heiser.

»Verschwunden?« Mit aschfahlem Gesicht öffnete sie die Tür. »Ausgeschlossen!«

»Aber es stimmt«, platzte er heraus.

»Haben Sie in der Küche nachgesehen?«

»In der Küche, im Innenbezirk - er ist nicht da!« berichtete er.

»Die Landeboote?«

»Die Landeboote, natürlich!« Er schnippte mit den Fingern und lief nach Außenbord. Beide Landeboote waren vorhanden, beide leer.

»Vielleicht ist er bei Dr. Sundberg«, versuchte sie ihn zu trösten.

»Wie sollte er? Er ist bis über die Ohren mit Drogen vollgepumpt.«

»Sehen Sie lieber doch nach«, empfahl die Schwester.

»Überflüssig.« Dennoch ging er zu einer Tür am Ende des Korridors und drückte einen Knopf. Auf der anderen Seite der Tür ertönte ein leises Summen.

»Was ist los?«, rief eine gereizte Stimme.

»Hier ist Kelsey. Ich muss Sie sprechen.«

»Treten Sie ein.« Dr. Sundberg, ein hochgewachsener Mann um die vierzig Jahre mit einer hohen, glänzenden Stirn, sah ihm ungeduldig entgegen. »Nun...?«

Kelsey schluckte und sagte: »17 L ist verschwunden.«

»Verschwunden?«, forschte Sundberg ungläubig. Er erhob sich aus dem Sessel. »Das ist unmöglich!«

»Er ist fort!«

»Haben Sie in allen Räumen nachgesehen, auch in der Küche?«

»Ich habe jeden Winkel durchsucht.«

»Unmöglich, sage ich!« Sundberg schmetterte die Faust auf den Tisch. »Suchen Sie nochmals alles durch.«

»Jawohl, Sir.« Der Pfleger verließ das Büro, und Sundberg trat an ein Fenster und blickte hinaus; die Orbital-Klinik überquerte den Äquator der Erde. Unter ihm schimmerten die Eisfelder. Im linken Teil des Blickfelds sah er die purpurnen Flecken der Berge, die sich aus den Polargebieten erhoben.

Er kehrte zum Schreibtisch zurück, um sich in den Sessel zu werfen. Jede Flucht von der Klinik war ausgeschlossen! Kein Landungsboot konnte ablegen, ohne die Aufmerksamkeit der ganzen Klinik zu erregen; eine Entführung war unmöglich. Sundberg betrachtete seine weißen Hände; er konnte sich nicht erinnern, wann sie zuletzt so gebebt hatten.

»Craxton Wehl!« Mit einem unterdrückten Krächzen stieß er den Namen des verschwundenen Mannes hervor. Sowohl die Schwester als auch Kelsey wussten um die tatsächliche Identität des Patienten; ebenfalls der Koch und der Techniker; aber niemand sonst hatte davon erfahren. Es handelte sich, schlicht gesagt, um 17 L, eine Code-Nummer, wie sie andere Personen erhielten, die von Zeit zu Zeit Sundbergs Dienste in Anspruch nahmen.

Aber der Fall von Craxton Wehl lag anders. Craxton Wehl hatte mehr als dreißig Jahre als nicht eben umgänglicher Premier des Solaren Imperiums geherrscht.

Im Alter von sechsundsiebzig Jahren, paranoide und in rapid abfallendem Gesundheitszustand, hatte Craxton Wehl seinen

Beistand gesucht - hatte sein Leben in Sundbergs Hand gelegt. Es war eine große Überraschung gewesen, als bekannt wurde, dass er die Macht abgeben wollte. Bernard Rayburn, sein persönlich ausgesuchter Nachfolger, war vorher eine politische Null gewesen; er stammte von der unbedeutenden Außenwelt Europas, dem dritten Mond des Jupiter.

Die Ernennungszeremonie, die in der Satellitenklinik abgehalten wurde, bedeutete Wehls Abstieg und Rayburns Aufstieg. Was nunmehr den alten Mann anging, angeblich ein Patient, hatte man ihn wie einen Gefangenen gehalten. Jetzt war er verschwunden.

Und der neue Premier würde bald sterben!

Die Götter waren gegen ihn, dachte Sundberg. Der neue Premier, vom Tode überschattet, musste die Macht wieder in die Hände seines Vorgängers legen. Aber wie sollte er sie diesem Mann zurückgeben, wenn der Mann nicht zur Stelle war?

Wie war er in eine so missliche Lage geraten? Sundberg lächelte bitter. Er hatte keine Wahl gehabt. Jede Weigerung hätte ihn seinen Kopf gekostet. Eine Arztpraxis auf dem Pluto war nicht eben die rosigste Aussicht. Der bloße Gedanke erfüllte ihn mit Schrecken.

Erneut fragte er sich, ob er fliehen sollte.

Der Türsummer ertönte. »Herein«, rief er hoffnungsvoll. Kelsey trat ein, das Gesicht fahlweiß im matten Glühen der Leuchtröhren.

»Er ist fort«, berichtete er mit rauer Stimme.

»Für wie lange war er allein?«, schnappte Sundberg. Kelsey wand sich bekümmert. Er hatte unter strengem Befehl gestanden, den Patienten nicht allein zu lassen. »Also?«, forschte Sundberg.

»Ich wollte nur einen Kaffee holen«, protestierte Kelsey.

»Ihre Hand.« Sundberg nahm eine Elektrode, klammerte sie an die Hand des Pflegers und fragte: »Was wissen Sie über das Verschwinden von 17 L?«

»Nichts«, sagte Kelsey schlicht.

Sundberg beobachtete eine Nadel, die auf einer Skala tanzte, bevor er die Elektrode löste. »Schicken Sie Schwester Caldwell herein«, schnauzte er.

Zehn Minuten später, nachdem alle Mitglieder des Personals ergebnislos unter dem Lügendetektor ausgesagt hatten, lehnte er sich zurück und schloss die Augen. Guter Gott, der Mann war ein Teleporter! Konnte die Gehirnoperation verborgene Anlagen geweckt haben? So unbegreiflich das schien, es ließ sich jedoch keine andere Erklärung finden. Er fluchte leise. Im ganzen System gab es keine zwanzig Teleporter, und nun gehörte 17 L dazu!

»Verdammter Wehl«, knurrte er. Was konnte er tun? Der Premier würde seinen Kopf verlangen. Derlei Dinge geschahen oft genug. Doch war es dem Premier möglich, sich zu rächen? Nicht, wenn er im Sterben lag. Seine Zuversicht wuchs wieder. Nicht, während Franckel auf die Macht lauerte! Trotz der schlechten Verfassung des alten Mannes benötigte der Premier ihn dringend. Der verschwundene Patient musste sehr bald wieder auf die Beine gebracht werden. Schaffte er es nicht, bevor der Premier starb...

Er rang sich durch, an die Konsequenzen zu denken. Es gab Leute genug, die sich um das Imperium reißen würden. Franckel, Montre, Gullen - alle schielten sie gierig nach dem Thron. Franckel war der Stärkste von ihnen. Der Machtkampf konnte das Imperium spalten.

Langsam faltete und öffnete er die Hände, während er mögliche Maßnahmen überdachte. Sich verstecken. Der Gedanke kehrte zurück. Würde er sich vor Jing Lee Hom verstecken können?

Hom war ein Bluthund.

Und er konnte sich nicht verbergen! Das wusste er genau. Jing Lee Hom würde ihn finden, und wenn er jedes einzelne Atom des Universums umdrehen musste. Er würde ihn finden und ihn zum Pluto schicken. Es war ausgeschlossen. Was sonst? Nervös überlegte er.

Felix Quigg. Der Name ging ihm durch den Kopf. Quigg war bei weitem der beste Privatdetektiv im politischen Bereich.

Und teuer. Dicke Honorare - entsprechende Leistungen - das war Quiggs Motto.

Wenn er Quigg engagieren konnte! Quigg stand in dem Ruf, sehr wählerisch zu sein. Ein hohes Honorar - das war der einzig nennenswerte Weg, den es gab. Er hatte den Geldbaum zu schütteln, kräftig zu schütteln. Quigg liebte es, die goldenen Äpfel fallen zu hören.

Er nahm das Lasertelefon und bekam die Schwester an den Apparat. »Geben Sie mir Felix Quigg«, ordnete er an. »Sollten Sie irgendwelche Schwierigkeiten haben, sagen Sie ihm, es betrifft den Sitz des Premiers.« Das musste Quiggs Interesse wecken.

Das Telefon erwachte nach überraschend kurzer Zeit wieder zu neuem Leben. Er drückte einen Knopf und sah den kleinen Bildschirm aufflackern. Der raue Gesang marsianischer Kehlen drang aus dem Gerät, und der Bildschirm wurde von einem Text in grünen und orangenen Farben ausgefüllt:

 

FELIX QUIGG & CO.

WIR SCHÜTZEN DAS SOLARSYSTEM

KEIN AUFTRAG UNTER 50.000 E

 

Als die Werbung beendet war, erschien Quiggs mildes, glänzendes Gesicht auf dem Bildschirm. Sundberg bellte: »Quigg, ich brauche Sie unverzüglich.«

»Ich bedauere, Sundberg, ich bin für drei Monate ausgebucht.«

»Es ist eine Frage der Sicherheit des Imperiums, Quigg.«

»Es gibt keine Sicherheit außer jener, die man kaufen kann.«

»Ich bin bereit, zu zahlen«, versicherte Sundberg heiser.

»Steht es so schlimm? Nennen Sie Zahlen.«

»Fünfundsiebzigtausend Einheiten.«

»Fünfundsiebzigtausend?« Quigg lachte abstoßend.

»Einhunderttausend bei erfolgreicher Ausführung«, erwiderte Sundberg.

»Ich mag keine Bedingungen finanzieller Art«, konterte Quigg.

»Einhunderttausend Einheiten fixes Honorar plus fünfzig Prozent für erfolgreiche Ausführung, Quigg.«

»Die Vorauszahlung?«

»Fünfzigtausend für Ihre Kreditfolie. Ich werde die Gutschrift augenblicklich veranlassen.«

»Wer bürgt für Sie?«

Sundberg zögerte. »Craxton Wehl«, sagte er schließlich.

»Der ist nicht mehr an der Macht, Sundberg.«

Sundberg senkte die Stimme. »Premier Rayburn ist eingeschaltet.«

»Als Bürge?«

»Natürlich.« Er dachte angestrengt nach. »Aber es ist ihm verwehrt, sich unmittelbar darum zu kümmern. Sie verstehen.«

»Ich verstehe. Welcher Art ist der Auftrag?«

»Eine verschwundene Person muss gefunden werden.«

»Der Name?«

»Craxton Wehl.«

 

 

 

 

  Zweites Kapitel

 

 

Quigg war dunkel, eine hagere Gestalt mit flinken schwarzen Augen und galt als der beste Privatdetektiv des Imperiums. Er lauschte aufmerksam, als Sundberg sein Problem darlegte.

Als der Arzt seinen Bericht beendet hatte, fragte Quigg: »So einfach ist Wehl verschwunden, wie?«

»Genau so.« Sundberg schnippte mit den Fingern.

»Jemand muss ihm geholfen haben.«

»Ich glaube nicht.«

»Wir werden es herausfinden.« Quigg lächelte kalt. »Lassen Sie uns über die Hintergründe sprechen.«

»Hintergründe?»

»Sie haben mir einen Auftrag angeboten«, schnauzte Quigg. »Verschweigen Sie nichts. Warum hat Wehl Sie aufgesucht?«

»Ich unterliege der ärztlichen Schweigepflicht, Quigg.«

»Na wird's bald!«

»Er befand sich in schlechtem Gesundheitszustand«, meinte Sundberg widerstrebend. Er stützte sich mit den Ellbogen auf den Tisch und presste die Fingerspitzen gegeneinander. »Er hatte Angst, dass er nicht mehr lange leben würde.«

»Warum sollte er zu Ihnen kommen? Um zu sterben?«

»Die Orbital-Klinik ist ein Ort der Hoffnung, Quigg.«

»Versuchen Sie nicht, mich übers Ohr zu hauen, Sundberg. Warum wandte er sich an Sie?«

Der Arzt wurde rot und sagte: »Er erlitt einen Nervenzusammenbruch. Er war paranoide, er litt unter der Wahnvorstellung, jedermann sei bloß darauf aus, ihn zu ermorden.«

»Kein Wunder.«

»Gleichzeitig bemerkte er seinen instabilen Gesundheitszustand. Das hatte ihn bewegt, seinen Rücktritt zu erklären und die Macht an Rayburn abzutreten.«

»Das klingt nicht sehr glaubwürdig, Sundberg. Ich habe mich schon damals darüber gewundert. Wehl war mächtiger als je ein Mensch zuvor. Er hätte Rayburn zu seinem Nachfolger für den Fall seines Todes ernennen können. Das wäre weitaus logischer gewesen.«

»Seine Tochter überredete ihn zu diesem Schritt.«

»Madelyn?« Quigg kicherte. »Sie ist ebenso machthungrig wie er.«

»Ich bin Wehls Arzt, nicht wahr? Er vertraute mir. Es war paranoide Verblendung, Quigg. Er befürchtete, dass Rayburn, auf solche Weise vertröstet, seinen Todestag vorverlegen könnte. Er war der Meinung, Zeit gewinnen zu können, wenn er die Macht weitergab, um in Frieden zu sterben. Er wälzte alles auf Rayburn ab.«

»Sie gehen mit Ihren Märchen entschieden zu weit, Sundberg. Sie wollen einhunderttausend Einheiten plus fünfzig Prozent Erfolgshonorar aus dem Ärmel schütteln, um einen Mann zu bekommen, der so gut wie tot ist?«

Sundberg starrte ihn unschlüssig an. »Rayburn ist dem Tode geweiht«, bemerkte er schließlich.

Quigg hob heftig den Kopf. »Der Premier stirbt?«

»Europafieber.«

»Ihre Geschichte stinkt zum Himmel. Rayburn ist stark, jung und zäh. Als er aus Europa kam, konnte man ihn auf jedem 3-D-Schirm sehen. Und nun wollen Sie mir einreden, dass er im Sterben liegt. Sie wollen mich hereinlegen, Sundberg.«

»Es ist die Wahrheit«, schrie Sundberg verzweifelt. »Ich bin Arzt, Quigg. Ich kenne mich aus. Es ist das Europafieber. Die ersten Symptome traten auf, nachdem er vor wenigen Tagen den Thron bestiegen hatte.«

Quigg schüttelte den Kopf. »Das passt alles zu gut zusammen. Ich bin Experte für faule Angelegenheiten. Und in diesem Fall möchte ich meine Kreditfolie nur sehr ungern hervorholen. Man nennt das: Betrug. Übers Ohr hauen.«

»Irrtum.« Sundberg rang um seine Beherrschung. »Sie brachten ihn unter höchster Geheimhaltung hierher, und ich informierte ihn über die Diagnose. Seit die Europäer ihre Kolonien zu besiedeln beginnen, werden sie von dieser Seuche stark heimgesucht. Es ist Europafieber, und es gibt keine Heilung. Rayburn bleiben noch zwei Wochen, höchstens drei.«

»Wie nahm er es auf?«

»Es war ihm sofort klar, dass er entweder die Macht an Wehl zurückgeben oder Zusehen musste, wie einer der machthungrigen Gouverneure seinen Platz einnahm - oder dass er es Wehl überließ, selbst einen Nachfolger zu ernennen.«

»Warum erkundigte er sich nicht bei Wehl, als er zur Untersuchung bei Ihnen war? Wehl war anwesend; Sie haben es selbst gesagt.«

»So einfach war das nicht. Staatsgeheimnis, Quigg.«

»Spucken Sie alles aus«, kläffte Quigg. »Ich benötige Tatsachen.«

»Mein Gott, Quigg, diese Information hat die Geheimhaltungsstufe Q!«

»Es gibt keine Geheimnisse, Sundberg. Also reden Sie.«

»Ich musste zum Skalpell greifen, um aus Wehls Gehirn einen kleinen Tumor zu entfernen«, erklärte Sundberg. »Ich bin sicher, dass der Tumor der Grund für seine Wahnvorstellungen war. Jedenfalls, er erwachte nach der Operation mit einem vorübergehenden Gedächtnisschwund.«

»Amnesie?«, fragte Quigg scharf.

»Ein zeitweiliger Zustand, davon bin ich überzeugt.«

»Wie zeitweilig?«

»Schwer zu sagen, aber ich bin der festen Überzeugung, dass er ihn überwinden kann, wenn auch mit Schwierigkeiten.« Sundberg wand sich fast. »Es darf nicht einmal ein Wort davon an die Öffentlichkeit gelangen, Quigg.«

»Eine Operation an einem Ex-Premier? Was ist so heiß daran?«

»Wenn bekannt wird, dass er, äh, nicht ganz zurechnungsfähig war, wäre das ein Argument, um Rayburn zu hindern, ihm die Macht wieder abzutreten oder auch jede Nachfolgerschaft anzufechten, die Wehl ernennt. Begreifen Sie nicht, was Franckel oder einer der anderen Gouverneure mit diesem Wissen anstellen könnte?«

»Und was geschieht, falls Rayburn stirbt, ohne seine Macht weiterzugeben?«

»Sie kennen die Antwort.« Sundberg machte eine hilflose Geste. »Franckel aus Eurasien, Montre aus Lateinamerika, Gullen vom Mars - in ihrem Machtkampf würden sie das Imperium in Stücke reißen.«