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Über dieses E-Book

Während einer Expedition erkundet die Archäologin Catherine Evans die Höhle des Ajios Prodhromos Klosters in Gortis. Als inmitten der Höhle ein mysteriöser Sturm wütet, gerät sie in höchste Gefahr. Nur knapp entrinnt sie dem Tod. Um eine Erklärung für die seltsamen Ereignisse zu finden, sucht Catherine eine alte Frau im Dorf Gortis auf. Diese erzählt ihr von den sagenumwobenen Perlen der Winde, die immer nach einem Sturm in der Höhle auftauchen.
Von ihrer Neugier getrieben betritt Catherine die Eremitenhöhle ein zweites Mal und findet nicht nur besagte Perlen vor, sondern trifft dort auch auf einen rätselhaften Mann, der behauptet, aus dem Jahr 1821 zu kommen. Und urplötzlich befindet sich die Archäologin mitten in einem Geflecht Verderben und Unheil, dem sie nicht mehr entkommen kann ...

Impressum

dp Verlag

Überarbeitete Neuausgabe September 2019

Copyright © 2022 dp Verlag, ein Imprint der dp DIGITAL PUBLISHERS GmbH
Made in Stuttgart with ♥
Alle Rechte vorbehalten

E-Book-ISBN: 978-3-96087-788-2
Taschenbuch-ISBN: 978-3-96087-790-5

Copyright © Mai 2018, Books on Demand
Dies ist eine überarbeitete Neuausgabe des bereits Mai 2018 bei Books on Demand erschienenen Titels Perlen der Winde: Gefährliche Liebe (ISBN: 978-375281-628-0).

Covergestaltung: Buchgewand
unter Verwendung von Motiven von
© Sven Hansche/shutterstock.com, © Kanchana P/shutterstock.com und © AnnaFinist/shutterstock.com und © Maryia Bahutskaya/stock.adobe.com
Korrektorat: Katrin Gönnewig

Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Sämtliche Personen und Ereignisse dieses Werks sind frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten mit real existierenden Personen, ob lebend oder tot, wären rein zufällig.

Abhängig vom verwendeten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

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dp Verlag

Prolog

Hamburg, Januar 2011

Am Morgen haucht eine zarte Brise den Duft von Poleiminze in mein Schlafzimmer. Sonnenstrahlen liebkosen meine Haut. Ein perfekter Tag kündigt sich an, denn selbst die Perlen schimmern sanft in der Muschelschale auf meinem Nachtschränkchen und sind zum Greifen nah. Ich strecke verträumt die Hand nach ihnen aus und … wache auf, öffne die Augen.

Mein Blick fällt durch die große Fensterfront auf meinen Garten. Kein griechisches Gortis, kein Peloponnes. Kein Crescendo der Farben. Keine Berge und Täler, keine Blumen, kein Thymian, Salbei und Minze. Keine Perlen. Nur das Spiel der winterlichen Morgensonne, die durch die seidenen Vorhänge in mein Schlafzimmer dringt.

Eine kurze Nacht liegt hinter mir, in der ich wieder einmal von Griechenland und von Konstantin geträumt habe. Im Traum hält er meine Hand und schlendert mit mir durch die lichtdurchflutete Landschaft Peloponnes. Ein schöner Traum, meine ich. Ein Traum, in dem der Geschmack und der Duft der Liebe und die Farben lebendig werden.

Aber nicht immer enden meine Träume so wundervoll. In manchen Nächten höre ich die Winde geheimnisvoll flüstern und Wolken verfinstern den strahlend blauen Himmel. Alles ist dunkel und trist. Dann wache ich auf und frage mich, warum die Natur sich mit aller Kraft gegen mich aufbäumt, warum ihre Farben verblassen, warum der Himmel über Peloponnes ergraut und die Luft bitter schmeckt.

Ich stehe auf und schiebe meine Erinnerungen beiseite. Los! Duschen, Anziehen!, meldet sich meine innere Stimme.

Ich gehorche diesem schlecht gelaunten Etwas in meinem Kopf.

 

In der Küche öffne ich das Fenster, lehne mich hinaus und bestaune die weiße Landschaft. Mein Atem verliert sich weiß in der klaren Winterluft. Es hat die ganze Nacht geschneit und der Schnee liegt zentimeterdick auf der Fensterbank wie ein riesiger Wattebausch.

Mein Blick erfasst das Panorama vor dem Fenster: den wunderbaren Segelboothafen und die Landschaft entlang der Außenalster. Die Äste der Tannen im Garten biegen sich unter der Last des Schnees, den das Sonnenlicht wie Diamantsplitter glitzern lässt. Es ist ein berauschendes und erholsames Bild. Ist es immer gewesen, würde mein verstorbener Vater sagen.

Meine Gedanken schweifen einen Moment ab. Während meiner Kindheit war mein Vater immer für mich da. Er wollte mit seiner kleinen Tochter sehen, fühlen und spüren, wie sie die Welt entdeckt. Ich bin bedürfnisorientiert aufgewachsen. Mein Bedürfnis nach Zeit und Nähe haben meine Eltern stets erfüllt und deshalb vermisse ich sie sehr, selbst heute, zehn Jahre nach ihrem tödlichen Unfall.

Der glitzernde Schnee weckt auch Erinnerungen an eine Vergangenheit voller Geheimnisse, Unheil und Schmerz, aber auch an die sprudelnde Vielfalt des Glücks und den Zauber der Liebe.

Ich fürchte mich nicht vor dieser Vergangenheit. Sie war und ist Liebe und deshalb ewig. Ein gesagtes Wort ist gesagt, ein geschriebenes Wort geschrieben. Und die Zukunft? „Ich weiß nicht, was die Zukunft bringen wird, denn sie offenbart sich mir erst jetzt in der Gegenwart.“

Ich war an einem Ort, in einer Höhle, in der Vergangenheit und Gegenwart an wenigen Tagen im Jahr für einen flüchtigen Moment als leuchtendes Chaos verschmelzen, sobald die Stürme aufkamen. Alles schimmerte dann dort wie der glitzernde Schnee vor meinem Fenster.

Niemand weiß, warum das so ist, und niemand kann sich selbst heute dort der Magie entziehen. Manche Menschen glauben, die Höhle sei verzaubert, andere wiederum behaupten, sie sei verflucht. Zauber und Fluch liegen nun mal in der Welt der Gefühle dicht beieinander.

Obwohl es nicht ungefährlich ist, die Höhle an trüben Tagen zu betreten, verspüre ich den Wunsch, in diesem Moment, beim Betrachten des funkelnden Spektakels vor meinem Fenster. Vielleicht, weil ich noch immer auf der Suche bin - nach dem wahren Gefühl, das ich zum ersten Mal in der Höhle erfahren habe. Ich werde mich immer nach dieser Liebe sehnen – solange ich atme.

Das Klingeln an der Haustür holt mich aus meiner Gedankenwelt. Mir ist kalt. Ich hole tief Luft, schließe das Fenster und werfe einen Blick auf meine Armbanduhr: Neun Uhr. Nanu! Pauline kann das nicht sein. Meine Tochter bewohnt in der Nähe ein kleines Appartement. Wir haben uns erst für den Abend verabredet. Vielleicht will sie ja doch mit mir frühstücken. Auf dem Weg zur Tür werfe ich einen prüfenden Blick in den Spiegel und sehe eine Frau Mitte 40, schlank, mit sportlicher Figur. Ich lege schnell ein wenig Lippenstift auf, fahre mir durch die schulterlangen, blonden Locken und zwinkere mir mit meinen blauen Augen zu, als erwarte ich einen Liebhaber.

Ich öffne die Tür und mustere den gut aussehenden Mann, der mir gegenübersteht. „Ja, bitte?“

„Catherine Evans?“

Ich nicke.

Der Mann zeigt mir seinen Ausweis mit Dienstmarke und Passbild. „Mein Name ist Noel Bretagne. Ich arbeite als Ermittler für das Ägyptische Museum in Kairo und …“, er lächelt freundlich. Ein schönes Lächeln. „…ich bin Hannahs Ehemann. Ich würde mich gern mal mit Ihnen unterhalten, Frau Evans.“

Hannahs Ehemann? Das ist eine Überraschung. Ich gehe einen Schritt zur Seite. „Kommen Sie doch bitte herein!“

Er folgt meiner Aufforderung.

Ich gehe voraus in die Bibliothek und deute auf vier Ledersessel, die in dezentem Blau, Rot, Weiß und Gold schimmern und um einen Glastisch vor dem hohen Fenster, das fast von der Decke bis zum Boden reicht, gruppiert sind. „Nehmen Sie doch bitte Platz, Herr Bretagne!“

Noel Bretagne setzt sich und schlägt seine langen Beine übereinander. Seine Augen streifen kurz die zarten Aquarelle an den Wänden, ein Mitbringsel aus Griechenland.

Rasch lege ich ein paar Scheite im Kamin nach, dessen Feuer ich bereits nach dem Aufstehen entfacht habe und setze mich ebenfalls.

Bretagne wirft einen kurzen Blick nach draußen. „Schön haben Sie es hier, Frau Evans. Alles ist so hell, so freundlich.“

„Finde ich auch. Sie sind also Hannahs Ehemann. Als wir uns das letzte Mal in Kairo gesehen haben, war Hannah noch eine Winter. Aber das ist viele Jahre her. Arbeitet sie immer noch als Paläografin im Ägyptischen Museum?“

„Ja, und zwar mit zunehmender Begeisterung. Wir haben uns auch dort kennengelernt und vor einigen Jahren geheiratet. Und wir sind Eltern einer bezaubernden, zweiundzwanzigjährigen Adoptivtochter. Nadja macht uns viel Freude.“

„Das freut mich sehr. Hannah und ich haben oft über Kinder gesprochen. Wie geht es ihr denn? Ich kann es immer noch nicht fassen. Hannah, verheiratet und Mutter. Sie war eine absolute Verfechterin der Ehegemeinschaft!“

Noel Bretagne lacht laut auf. „Sie müssten sie heute noch manchmal hören.“

Ich grinse. „Kann ich mir gut vorstellen.“

Das Feuer im Kamin flackert und strahlt eine behagliche Wärme aus. Holzscheite knistern und der Duft von Harz erfüllt den Raum.

„Hannah weiß von meinem Besuch bei Ihnen“, fährt Bretagne fort. „Sie hätte mich gerne begleitet, schon allein, um mal wieder mit Ihnen zu plaudern und über die Arbeit zu diskutieren.“

„Das wäre schön. Hannahs Berufswahl nach dem Studium war allerdings nichts für mich. Brrr … Paläografin – alte staubige Papiere und Schriften entziffern.“

Er lächelt. „Das hat Hannah erwähnt.“

Ich mustere den gut aussehenden Mann mit dem schwarzen Haar. Er ist groß und schlank. Vermutlich weiß er um seine Wirkung auf Frauen. Seine Augen schimmern golden und seine olivfarbene Haut betont die ebenmäßigen Züge. Sein sinnlicher Mund zieht meinen Blick magisch an und seine leicht geschwungene Nase verrät seine französische Abstammung.

„Ich wollte gerade frühstücken. Darf ich Sie dazu einladen?“

„Gern, wenn es Ihnen nicht zu viele Umstände macht. Und nennen Sie mich bitte Noel.“

„Gern. Und Sie mich bitte Catherine.“ Rasch lege ich ein zweites Gedeck auf und gehe in die Küche, wo ich das Frühstück vorbereite und alles auf ein Tablett stelle.

Wieder in der Bibliothek serviere ich meinem Gast Brötchen, Butter, Schinken und Käse und gieße ihm eine Tasse Tee ein. „Möchten Sie Milch in Ihren Tee?“

„Nein, danke. Ich nehme nur ein Stück Zucker.“

Ich schenke mir ebenfalls ein und setze mich Noel Bretagne gegenüber. „Ich habe mit meinem Ex-Mann viele Jahre in England gelebt und konnte mich bis heute nicht daran gewöhnen, den Tee mit Milch zu trinken. Was kann ich denn für Sie tun, Noel? Ich gehe davon aus, dass Sie mich nicht zum Teetrinken aufgesucht haben. Wenn ich Ihren Beruf richtig interpretiere, ermitteln Sie gegen Kunstdiebe, Hehler oder sagt man Schmuggler?“

Noel beugt sich ein wenig vor. „Stimmt. Ich bin Kunstdetektiv. In der Regel fahnde ich weltweit nach Leuten, die Kunstgegenstände aus dem Land stehlen, damit handeln oder sie schmuggeln.“ Bretagne neigt leicht den Kopf. „Ich brauche Ihre Hilfe, Catherine. Wir sind immer noch hinter ihm her!“

Ich sehe Noel irritiert an. „Ihm? Sie sprechen in Rätseln. Wen meinen Sie mit ihm? Vielleicht kann ich Ihnen ja bei der Verbrecherjagd helfen.“

Er rührt ein wenig gedankenverloren in seiner Tasse, dann blickt er auf und sieht mir direkt in die Augen. „Edwin Cousteau.“

Stille. Ich wende kurz den Blick ab. Mir wird leicht übel. Mein Herzschlag verdoppelt sich. Mein Blutdruck steigt. Starre. Entsetzen. Ich wollte diesen Mann und seinen Namen für immer aus meinem Leben verbannen, ihm, Edwin Cousteau, entkommen. Ich will aufstehen, aber ein Schmerz beherrscht meinen ganzen Körper. Mein Herz flattert in meiner Brust.

Noel bricht das Schweigen. „Es tut mir leid, dass ich Sie damit behelligen muss. Ich weiß, was Cousteau Ihnen und meiner Hannah angetan hat.“

Ich löse mich aus meiner Starre. „Ich … Dann … Dann wissen Sie auch, dass dieser Mann die Bezeichnung Mensch gar nicht verdient. Er ist eine Bestie.“

Wieder ein Nicken. „Ich habe Ihre Akte und das Protokoll Ihrer Aussage gelesen, Catherine.“

Ich spüre, wie mir die Röte ins Gesicht steigt, weil ein mir wildfremder Mann mir gegenübersitzt und die Einzelheiten einer fragwürdigen Akte kennt. Egal, ich muss mich nicht schämen! „Richtig. Ich habe alle Einzelheiten bei der griechischen Polizei schon hundertmal zu Protokoll gegeben.“

„Das weiß ich, Catherine. Ich bin Ihre Aussage immer wieder durchgegangen und habe dabei den Eindruck gewonnen, dass da ein wichtiges Puzzleteil fehlt.“

Ich kräusele meine Stirn. „Warum glauben Sie das?“

„Wir beide kennen Edwin Cousteau. Er ist ein vermögender Ägypter, der sich aufgrund seines Reichtums und seiner Macht alles kaufen kann, was seine schwarze Seele begehrt. Ich muss im Auftrag des Museums bezüglich seiner Person einem Verdacht nachgehen.“

Ich schließe kurz die Augen. „Hat dieser Mistkerl wieder wertvolle Kunstgegenstände außer Landes geschmuggelt?“

„Nicht außer Landes, Catherine. Ich würde eher sagen hinein.“ Bretagne verzieht die Lippen zu einem spöttischen Lächeln.

„Wie … hineingeschmuggelt?“ Ich überlege kurz. „Nein, das ist nicht sein Stil.“

„Was ist denn sein Stil, Catherine?“

Ich räuspere mich. „Ach, ich habe nur laut gedacht. Mit solchen Kleinigkeiten gibt Edwin Cousteau sich nicht zufrieden. Ihn interessiert nur der illegale Handel mit außergewöhnlichen Raritäten. Das füllt seine Kassen.“

„Ich habe erfahren, dass Cousteau Ihren Ex-Mann, John Evans, kannte. Woher eigentlich?“

„Keine Ahnung!“, erwidere ich leicht genervt. „Cousteau hat sich mal mit John in seinem Büro in London getroffen. Was hat denn mein Ex-Mann mit Cousteaus krummen Geschäften zu tun?“

Noel Bretagne legt seinen Zeigefinger an die Lippen. „Ihr Mann arbeitet für die britische Regierung. In der Regel unterliegen seine Projekte der höchsten Geheimhaltungsstufe. Aber vielleicht gibt es da ja eine Verbindung, von der wir nichts wissen. Cousteaus Kontakte reichen bis zu dem mächtigen arabischen Königshaus. Mit König Salman ibn Abd al-Aziz und seinen Söhnen ist er sogar eng befreundet. Wer weiß, wo er überall seine Finger drin hat. Ich kann das zumindest nicht ausschließen.“

Ich nippe an meinem Tee. „Ich habe John während des Studiums kennengelernt, als er sich anlässlich einer Studie über die Militärforschung zu friedlichen Zwecken in Hamburg aufhielt, und verliebte mich Hals über Kopf in ihn. Da er einen Lehrstuhl an der Metropolitan University in London innehatte, ging ich mit ihm nach unserer Heirat nach England. Es wurde eine glückliche Ehe. Pauline kam zur Welt und ich habe damals immer geglaubt, dass nichts unsere kleine Familie zerstören könnte. Als Pauline den Kindergarten besuchte, nahm ich meine Arbeit als Archäologin wieder auf. Erst im Institut, später an den Ausgrabungsstätten. Ich war damals oft für längere Zeit unterwegs, und das ist unserer Ehe nicht bekommen. Als John eine Freundin hatte, trennten sich unsere Wege. Wir gingen als Freunde auseinander und trafen uns manchmal noch in London, wenn ich mich dort beruflich aufhielt.“

Bretagne räuspert sich. Vermutlich hat er nicht mit meiner Offenheit gerechnet.

Ich zucke mit den Schultern. „Über Johns Arbeit bin und war ich niemals informiert. John war immer der Meinung, je weniger ich darüber wüsste, desto besser wäre es für mich. Also, glauben Sie immer noch, dass ich Ihnen helfen kann, Noel?“

„Ich würde gern mehr über Ihre Geschichte erfahren, Catherine. Und zwar von Anfang an. Vielleicht gibt es darin einen versteckten Hinweis, etwas, das Ihnen nicht bewusst ist. Ihr erster Kontakt mit Edwin Cousteau fand ja in Israel statt, der zweite in Griechenland.“ Bretagne seufzt. „Darf ich offen sein, Catherine?“

Ich nicke, blicke in seine goldenen Augen.

„Sie sind unser einziger Anhaltspunkt, unsere einzige Spur. Deshalb bitte ich Sie …, erzählen Sie mir, was in Griechenland vorgefallen ist. Sie waren plötzlich wie vom Erdboden verschwunden und die Behörden haben seinerzeit sehr lange und intensiv nach Ihnen gesucht. Selbst Ihre Tochter wusste nicht, wo Sie sich aufgehalten haben.“ Er schüttelt den Kopf. „Wo haben Sie bloß die ganze Zeit gesteckt?“

Pauline hat gewusst, wo ich war. Ich überlege kurz und treffe eine Entscheidung. Ich möchte Hannahs Ehemann von Konstantin und mir erzählen, auch wenn das Aufleben meiner Erinnerung alte Wunden aufreißt. Ich habe bis heute mit niemandem über meine Erlebnisse gesprochen. Nicht einmal meine Tochter kennt die ganze Wahrheit. Aber einiges werde ich für mich behalten.

„Haben Sie Zeit mitgebracht, Noel?“

„So viel Sie wollen, Catherine.“

Wieder blicke ich in den Garten. Die Sonnenstrahlen lassen den Schnee funkeln. Ich hole meine Erinnerung in meine Gegenwart. Seit meiner Rückkehr ist viel Zeit vergangen und doch erfüllt mich der Gedanke an Konstantin heute noch mit Trauer und unendlicher Sehnsucht. Manchmal gelingt es mir tatsächlich, zu vergessen. Wenn ich aber an dem Werbeplakat des Reisebüros vorbeigehe, sind die Geister der Vergangenheit wieder da. Genießen Sie Ihren Urlaub in Griechenland auf dem schönen Peloponnes, steht in großen Lettern auf dem Foto. Die Sonne scheint vom azurblauen Himmel auf das Dorf Gortis und lässt die weißen Häuser erstrahlen, im Hintergrund das berühmte Asklepios Heiligtum und hoch in den Bergen, umrahmt von hohen Zypressen und Tannen, das Prodhromos Kloster mit seiner sagenumwitterten Gebetshöhle. Keiner von uns hatte eine Ahnung davon, was in dieser Höhle vor sich ging. Niemand, außer mir.

Ich lehne mich in dem Ledersessel zurück und sehe Noel Bretagne an.

„Alles begann, als ich nach vielen Wochen des Wartens die Erlaubnis zu den Ausgrabungsarbeiten am Asklepios Heiligtum in Gortis erhielt …“

Kapitel 1

Hamburg, Februar 2005

„Mom! Es hat geklingelt“, ruft Pauline. Sie öffnet die Badezimmertür und streckt ihren nassen Strubbelkopf durch den schmalen Spalt. „Machst du bitte auf?“

Schon ist meine Tochter wieder verschwunden.

„Mach ich!“ Ich gehe rasch die Treppe hinunter und spähe durch das Guckloch. Der Postbote. Schnell öffne ich die Tür.

„Guten Morgen, Frau Evans.“

„Hallo Thomas! Schon so früh heute?“

Thomas ist seit Jahren der Briefträger in diesem Bezirk. Er reicht mir einen großen Umschlag. „Aus Griechenland, die Marken hab ich noch nicht.“

Ich betrachte das Kuvert mit gemischten Gefühlen – freudige Erwartung und ein wenig Angst, dass es eine Ablehnung sein wird. „Keine Sorge, Thomas. Ich hebe die Briefmarken wieder für Sie auf“, sage ich geistesabwesend und schließe die Tür.

In der Küche lege ich den großen braunen Umschlag auf die Tischplatte und bemühe mich, meine Gefühle so lange zu verbergen. Mit den Fingerspitzen streiche ich über den Umschlag, starre ihn an, als könnte ich die Worte darin verändern. Ich wünsche mir ein Ja und keine Enttäuschung. Mit zitternden Fingern und klopfendem Herzen öffne ich schließlich den Umschlag.

Pauline kommt die Treppe herunter und betritt die Küche. „War das der Postbote, Mom? Mannomann, ich platze vor Neugier.“

Ich halte das Kuvert hoch. „Gleich werden wir es wissen. Das ist bestimmt die Antwort auf unsere Anfrage in Griechenland.“ Ich nehme den weißen Briefbogen heraus.

„Und? Was steht drin?“, fragt Pauline ungeduldig. „Hat es geklappt, Mom?“

„Grabungserlaubnis am Asklepios Heiligtum in Gortis“, lese ich vor und dann fällt mir ein Stein vom Herzen. Monatelang habe ich um diese Zusage gekämpft. Jetzt ist es endlich so weit.

„Super!“ Pauline tanzt wie eine wild gewordene Hummel um den Küchentisch. „Also, wann geht’s los?“

„Moment … hier ist noch eine Notiz von Mark Phidias. Er schreibt, dass wir uns am 18. März in Stemnitsa treffen, in Dimitris´ Taverne auf dem Platz des peloponnesischen Rates. Doktor Lukas Andronikos, ein junger Kollege, den ich von früheren Ausgrabungen wohl noch kennen würde, gehört ebenfalls zum Team. Er schreibt weiter, dass Dimitri ein hervorragender Koch ist, und während der Ausgrabungszeit im Camp zur Verfügung steht.“

„Mark Phidias, ist das nicht der dünne, schlaksige Typ, der immer den Eindruck eines zerstreuten Professors macht?“, fragt Pauline und beißt in ihr Frühstücksbrötchen.

„Genau!“

„Lukas Andronikos ist der supercoole Typ mit dem wirren Lockenkopf? Wow! Ich kann es kaum noch abwarten“, grinst Pauline, rückt ihren Stuhl vom Tisch und stürmt wie ein Wirbelwind aus der Küche.

„Hey, Pauline! Willst du nicht zu Ende frühstücken?“

„Nein, keine Zeit“, ruft sie. „Ich muss sofort zu Britta und ihr die Neuigkeit mitteilen. Sie wird enttäuscht sein, dass in diesem Jahr unser gemeinsamer Urlaub ins Wasser fällt. Ich fliege mit dir nach Griechenland, Mom!“

Ich nehme den Umschlag noch einmal zur Hand und kann es noch immer nicht glauben, aber da steht tatsächlich Catherine Evans. Ich seufze zufrieden, lehne mich in dem Stuhl zurück, trinke meinen Tee und erinnere mich an meine erste Expedition. Damals war ich genauso aufgeregt, wie Pauline heute.

Mein Vater war es, der mich seit frühester Kindheit für die Archäologie begeistern konnte. Er erzählte mir von Pausanias, einem antiken Historiker, schrieb, dass der Göttervater Zeus nach seiner Geburt in Lykeon im Lousiostal, gebadet wurde. Da das Wasser Zeus guttat, musste es auch für die Sterblichen gut sein. In Gortis wurde ein Heilbad errichtet und Asklepios, dem Heilgott, gewidmet.

Mein erster Urlaub hat mich vor vielen Jahren zu dem Heiligtum geführt und später habe ich dort zum ersten Mal meine Arbeit als Archäologin aufgenommen. Das Wasser des Lousios ist noch heute so kalt wie zu Pausanias Zeiten. Von den antiken Gebäuden sind nur noch die Fundamente des großen Tempels und die Badeanlage des unteren Asklepios-Heiligtums erhalten und fast freigelegt worden. Dort wollen meine Kollegen und ich nun viele Jahre später die Grabungen wieder aufnehmen.

Meine Freude auf ein Wiedersehen mit Mark Phidias und Lukas Andronikos wird nur durch eine seltsame Empfindung getrübt. Ich kann sie kaum in Worte fassen. Es ist eine Angst, die ich seit meiner Kindheit verspüre: die Angst vor der Zukunft. Ich bin fest davon überzeugt, dass wir in Griechenland nicht nur auf bedeutungsvolle archäologische Funde stoßen werden, sondern dass uns dort viel mehr erwartet. Ich wittere seit meiner Kindheit gewisse Strömungen wie drohende Gefahren, Unheil, Leben und Tod, aber ich erkenne auch das herbeieilende Glück und die Sehnsüchte der Menschen nach Liebe. Mein Vater hat diese Gabe immer als Hirngespinst von sich gewiesen und dem keine Bedeutung beigemessen.

Ich hingegen nicht. Meine Vorahnungen haben sich in der Vergangenheit immer als wahr erwiesen.

Kapitel 2

Ich erwache am nächsten Morgen mit wahnsinnigen Kopfschmerzen, schrecklichem Durst und dem unerklärlichen Gefühl, dass es da etwas gibt, an das ich mich erinnern möchte. An einen Traum, in dem mich ein Mann geküsst, neben mir gelegen und mich berührt hat.

Ich schließe meine Augen und genieße den sinnlichen Augenblick meines Traums noch einmal …

 

Ein Zimmer.

Keine Decke.

Über uns ist der sternenklare Himmel.

Die Luft ist erfüllt von fremden Düften. Ein mir fremder Mann nimmt mich zögernd in seine Arme. Ich lasse meinen Kopf an seine Brust sinken und schmiege mich an das Revers seiner Jacke. Der Mann streicht mir sanft und mit gleichförmigen Bewegungen über den Rücken. „Morgen früh sieht alles schon viel besser aus“, flüstert er sanft, „deine Ängste sind dann verflogen, das verspreche ich dir, Catherine.“

Ich nicke, vergrabe meinen Kopf an seiner Schulter, aber mache keinerlei Anstalten, mich zu bewegen oder mich auszuziehen. „Wer bist du? Ich kenne dich nicht.“

„Doch, Catherine, du kennst mich. Du weißt schon sehr lange, wer ich bin.“

Meine Augen hängen gebannt an seinen Lippen.

Er fasst mir unters Kinn und hebt mein Gesicht zu dem seinen hoch. Sein Mund berührt den meinen, doch es ist nicht dieses besitzergreifende Drängen, das ich erwartet habe, sondern süß und zärtlich. Jeglicher Protest erstirbt auf meinen Lippen, und es gibt nur noch die Glut seines Kusses. Und wenn er beabsichtigt hat, meine Angst aus meinen Gedanken zu vertreiben, so ist ihm das über alle Maßen gelungen.

Noch nie hat mich jemand so geküsst, denke ich schwach, immer wieder, bis meine Sinne so verwirrt sind, dass ich nicht mehr denken kann. Ich nehme nur noch unbewusst wahr, wie seine Fingerspitzen sacht den Gürtel meines Morgenmantels öffnen und sich weiter vortasten. Mein Körper scheint zu verglühen. Ich genieße insgeheim diesen Schmerz – insbesondere, als meine Brustwarzen fest und hart werden. Und tief in meinem Inneren spüre ich ein glühendes Verlangen nach dem Fremden.

Immer wieder küsst er mich. Vor nie gekannter Wollust erzittere ich am ganzen Körper. Er liebkost mich immer wieder mit seinen forschenden Lippen. Ich bin machtlos gegen diese Kunst der Verführung.

Seine Zunge spielt vorwitzig mit meiner. Mir entfährt ein Seufzer des Verlangens. Ich kann mich nur noch stöhnend und mit weichen Knien an ihn klammern, bin innerlich vollkommen aufgewühlt.

Nachthemd und Morgenmantel liegen jetzt in einem einzigen Knäuel zu meinen Füßen. Ich bin nackt und spüre eine warme Brise, die mich von oben umweht. Still stehe ich da.

Der Fremde ist einen Schritt zurückgetreten. Seine braunen Augen gleiten über meinen nackten Körper und lassen dabei keinen Zentimeter aus. Wellen der Lust durchzucken mich. Ich erzittere unter seinem forschenden Blick, erröte. Impulsiv will ich meine Arme schützend vor meinen Busen legen. Eine uralte Geste, die ich nicht unterdrücken kann.

Der Fremde lässt es nicht zu. Mit eisernem Griff umklammern seine Hände meine Armgelenke und schieben sie wieder nach unten. Zärtliches männliches Lachen dringt an mein Ohr. „Deine Brüste sind so perfekt und die Farbe deiner Brustwarzen … wie reife Beeren“, flüstert er, während seine Zunge sie umkreist, um dann weiter zu meinem Bauchnabel zu wandern. Er seufzt. „Und da …“, er zeigt auf meinen Venushügel, „… bewacht ein dreieckiges goldblondes Vlies den Eingang zum Paradies.“

Ich sehe, dass glühend heiß das Blut in seinen Adern pocht, in seine Lenden schießt und seine Männlichkeit in Erregung bringt. Der Mond über mir lässt meine Haut wie die Perlen schimmern, schöner als jene, die der Fremde mir geschenkt hat. Kein anderer Mann hat mich je so erregt. Voller unstillbarem Verlangen hebt er mich hoch und trägt mich auf das Bett.

Als er sich neben mich legt, strafft sich jeder Muskel meines Körpers. Er schlingt seine Arme um mich und zieht mich fest an sich heran. Heiß und leidenschaftlich pressen sich seine Lippen erneut auf meinen Mund. Nur diesmal gibt er sich nicht allein mit meinen Lippen zufrieden …

Sein Daumen kreist langsam um meine Brustwarzen, eine wollüstige, beinahe qualvolle Liebkosung. Sie werden jetzt hart wie Stein und schmerzhaft prall.

Ich unterdrücke einen Schrei. Meine Finger graben sich in das feste Fleisch seiner Schultern. Ich vergesse die Welt um mich herum. Es gibt nichts mehr außer den wollüstigen Qualen, die der Fremde meinem Körper bereitet, so verrückt es auch sein mag.

Ich bin wie von Sinnen und will ihn nur noch tief in mir spüren. Wie Feuer pulsiert das Blut unter meiner Haut, während seine Hand tiefer gleitet.

Seine Hände tasten sich zu meinen intimsten Zonen vor. Ich schreie auf, sehe das entschlossene Lächeln, das seinen Mund umspielt, und betrachte ihn: Sein Brustkorb ist breit und mit dunklen Locken behaart. Seine Hüften sind schmal, sein Bauch flach wie ein Brett. Dann gleitet mein Blick tiefer. Sein Glied ragt steif aufgerichtet aus einem dunklen gelockten Dschungel hervor. Ich öffne meine Lippen, aber diese werden sogleich von seinem Mund versiegelt.

Dann spreizt die Kraft seiner muskulösen Schenkel meine Beine weit …

 

Ich wache stöhnend auf.

Kein Sternenhimmel über mir.

Dessen ungeachtet ist dieser Traum wie eine Vorahnung. Jetzt bin ich mir sicher, dass mich in Griechenland nicht nur archäologische Fundstücke von großer Bedeutung erwarten, sondern auch eine folgenschwere Liebe.

Kapitel 3

Peloponnes, März 2005

Ich verlasse mit Pauline den Flughafen in Patras. Es nieselt leicht. Die Temperaturen sind an diesem Morgen eher herbstlich statt frühlingshaft, und ich ziehe mein Schultertuch fester um mich. Die weiche Cashmere-Wolle berührt meinen empfindlichen Nacken wie der zärtliche Kuss eines Liebhabers.

Vage keimt eine Erinnerung in mir auf. Auf einmal denke ich wieder an den Kuss, den Druck seines Mundes auf dem meinem Es war nur ein Traum, sage ich mir. Nur ein atemberaubender Traum einer längst vergangenen Nacht.

Vergiss den Traum, vergiss den Mann, und vergiss deine Ängste, Catherine!

Pauline schiebt den großen Gepäckwagen vor sich her, während ich ein Taxi herbeiwinke, das uns nach Stemnitsa bringen soll. Die Fahrt kommt mir wie eine Ewigkeit vor, obwohl uns eine wunderbare Landschaft erwartet. Der kleine Ort liegt auf knapp 1100 Meter, umgeben von höheren Bergen und tiefen Tälern, durchzogen von dem Lousios-Fluss. Wir fahren durch dicht bewaldete Täler und Ebenen, entlang fließenden Quellen und Bächen. Im Sommer ist es hier immer ein paar Grad kühler als in tiefer gelegenen Orten.

Es hat mittlerweile aufgehört zu nieseln und die Sonne lugt vorsichtig zwischen den Kumuluswolken hindurch.

Pauline rümpft die Nase. „Bist du sicher, dass wir hier Doktor Phidias treffen werden?“, fragt sie, als wir Stemnitsa erreichen.

Ich zeige auf einen großen Platz. „Ja, wenn das der Platz des peloponnesischen Rates und das dort Dimitris Taverne ist.“

Der Fahrer brummelt ebenfalls ein paar unverständliche Worte und nickt eifrig.

Ich bedeute ihm anzuhalten und begleiche den Fahrpreis. Wir steigen aus.

Auf dem Parkplatz erspähe ich Mark Phidias neben seinem grünen Ford. „Schau mal, Pauline! Er hat noch immer sein altes, unwiderstehliches Vehikel.“

Der Taxifahrer öffnet den Kofferraum, hievt unser Gepäck heraus und stellt es auf die staubige Straße. Er nickt kurz, steigt wieder ein und braust mit knatterndem Motor und einer Staubwolke am Heck davon.

„Hallo, Mark!“

Mark Phidias dreht sich um und kommt mit einem freudigen Lächeln auf uns zu. „Hallo, Frau Evans! Wir haben Sie nicht so früh erwartet.“ Er hält mir freudestrahlend seine Hand hin.

„Wie schön, Sie wiederzusehen, Catherine!“ Ich ergreife seine Hand. „Die Freude ist ganz auf unserer Seite. Ist Lukas Andronikos auch schon eingetroffen?“

„Ja, er erwartet Sie im Gasthaus.“

„Mark, das ist meine Tochter Pauline. Sie ist zum ersten Mal vor Ort dabei und wird uns bei den Ausgrabungen kräftig unterstützen.“

Mark schüttelt Pauline herzlich die Hand. „Ich freue mich, Sie kennenzulernen. Zu dieser Ausgrabungsstätte kann ich Ihnen nur gratulieren.“

„Danke. Das ist alles wahnsinnig aufregend für mich.“

Ich stelle belustigt fest, dass Marks Wangen erröten. Aha … Ich bin stolz auf meine attraktive Tochter, die ihr Examen als Archäologin mit Bravour bestanden hat. Und ich weiß, wie sie auf Männer wirkt. Pauline ist groß und schlank. Ihr langes Haar glänzt golden wie alte spanische Dublonen und ihr Teint schimmert wie satter Honig. Sie ist eine junge Frau, die von innen leuchtet. Selbst in dunkler Kleidung wirkt sie, als würde sie die Sonne reflektieren. Pauline hat die Fähigkeit, ihre Umgebung in gute Laune zu versetzen oder mit ihrem Mundwerk verzweifeln zu lassen.

Die Sonne kommt hinter den Wolken hervor. Meine Tochter blinzelt und beschirmt mit der Hand ihre Stirn. „Nennen Sie mich doch bitte Pauline. Das ist einfacher“, sagt sie zu Mark.

Mark Phidias nickt ihr lächelnd zu. „Sehr gern, Pauline.“

Über uns erstreckt sich mittlerweile blauer Himmel und die Sonne scheint durch die Äste der Ebereschen, die das Lokal umsäumen. Der leichte Wind trägt goldenen Pollenstaub mit sich.

Ich werfe einen sehnsüchtigen Blick auf die zusammengeklappten Holzstühle, die in einer Ecke der kleinen Terrasse stehen, und stoße einen Seufzer aus. Liebend gerne würde ich draußen bleiben, stattdessen folge ich Pauline und Mark in den Schankraum.

Nachdem meine Augen sich dort an das dämmrige Licht gewöhnt haben, fällt mir auf, dass der Gastraum erstaunlich voll ist. Sie heben die Köpfe und mustern Pauline und mich kurz.

Auf einer Bank neben dem Tresen sitzen zwei junge Mädchen, mit pechschwarzen, langen Haaren, die der dritten, sehr viel älteren Frau, wie aus dem Gesicht geschnitten sind. Ein Tablett mit Aufschnitt, Käse, Tomaten, Fladenbrot und Butter steht auf dem Tisch vor ihnen. In einer Schale dampft eine Suppe.

Ältere Männer sitzen, die Arme auf dem Tisch abgestützt, vor ihren Gläsern. Wanderer haben ihre Rucksäcke neben den Tischen abgestellt und einige Gäste zeichnen sich mit ihren Fotoapparaten als typische Touristen aus.

Ein Mann winkt uns herbei. Es ist Lukas Andronikos, der auf uns zukommt, uns herzlich begrüßt und uns an einen langen Tisch führt.

Ich setze mich neben Lukas. „Ich habe gehört, dass du dein Medizinstudium erfolgreich abgeschlossen hast, Lukas? Da kann uns ja gar nichts mehr passieren.“

„Hoffentlich nicht. Als Mediziner habe ich kaum Erfahrung.“

„Nur nicht so bescheiden, Lukas. Ich kenne deine Fähigkeiten sehr wohl und weiß sie zu schätzen“, wirft Mark ein und zwinkert mir belustigt zu. „Er hat mich vor einer schweren Infektion bewahrt.“

Pauline schüttelt Lukas ebenfalls die Hand, lässt sich auf den nächsten freien Stuhl fallen und streckt die Beine aus. „Mein Gott, puh, ganz schön heiß hier“, sagt sie und hebt ihren langen Zopf aus ihrem verschwitzten Nacken. „Wie halten die Leute das bloß aus?“

Mark winkt einem Mann zu, von dem allerdings nur ein kugelrunder Kopf auf einem viel zu dünnen Hals zu sehen ist, der sich mit einem breiten Lächeln hinter der Theke zu schaffen macht. Mit einer Schnelligkeit, die ich ihm nicht zugetraut hätte, eilt der Kugelkopf mit dem schwarzen Haar wie die Stacheln eines Igels, zu unserem Tisch und stellt vier Glaskaraffen mit Wasser und eine Flasche Wein auf den Tisch: kein hauseigener Wein, sondern ein Sigalas aus Santorini, eine volle, kraftvolle Barrique-Version mit feinen Eichen- und Vanillenoten im Bouquet. Der Wirt wuselt zwischen Küche und Tisch hin und her und tischt uns wohlriechende Köstlichkeiten auf. Dann verbeugt er sich so tief, dass ich befürchte, sein Hals könne den Kopf nicht mehr tragen und wird in der nächsten Sekunde auf meinen Schoß purzeln. Sein buschiger Vollbart berührt fast meine Hose. „Meine Damen, herzlich willkommen. Ich bin Dimitri, der Besitzer dieser bescheidenen Taverne. Ich darf Sie zu meiner Freude während Ihrer Ausgrabungen mit den wunderbarsten Speisen aus meiner Küche verwöhnen.“

Pauline und ich lächeln erfreut.

„Doktor Phidias hat Ihre Küche bereits sehr gelobt, Dimitri. Wir freuen uns darauf“, antworte ich.

Der Gastwirt grinst breit. „Wassili, mein Sohn, wird uns übrigens ebenfalls begleiten.“ Er dreht sich um seine eigene Achse. „Wo steckt der Bengel bloß schon wieder?“ Er spitzt die Lippen und schnalzt mit der Zunge. „Wassili wird …“, er wedelt mit den Armen in der Luft herum, „… sagen wir mal so, einige Aufgaben, die Sie ihm auftragen, erledigen. Wo bleibt der Bengel?“ Dimitri beugt sich zu mir herunter. „Ich bin sehr, sehr stolz auf meinen Sohn. Mein Wassili ist ein kluger Junge. Er studiert an der Universität in Athen.“ Seine kleinen Augen sprühen Funken und sein Gesicht strahlt vor Stolz, während er heftig nickt.

„Dann hoffe ich, dass Ihr Sohn noch vor unserer Weiterfahrt hier auftaucht.“

„Keine Angst, meine Dame, er wird schon noch kommen.“

Der Wirt dreht sich um und bringt kurz darauf eine herrlich duftende Suppe an unseren Tisch.

 

Wir haben gerade unsere Ausrüstung für die Ausgrabung, sowie unser Gepäck in Phidias altem Ford und dem großen Geländewagen von Lukas verteilt, als plötzlich ein junger Mann mit hochroten Wangen um die Ecke des Wirtshauses gestürmt kommt.

Dimitri wirft in gespielter Verzweiflung die Arme in die Höhe. „Du Streuner, wo bist du denn gewesen? Wir wollen los! Kannst du nicht einmal pünktlich sein? Los, gib deiner Mutter noch einen Abschiedskuss!“

Wassili läuft sichtlich unbeeindruckt vom Wortschwall seines Vaters zu seiner Mutter, umarmt sie und drückt ihr auf jede Wange einen Kuss. Dann nimmt er seinem Vater die letzten Taschen ab, verstaut sie in dem alten Ford und lässt sich keuchend auf den Beifahrersitz des Wagens fallen, in dem Pauline und ich bereits auf der Rückbank Platz genommen haben. Er dreht sich um und hält uns seine Hand hin. „Entschuldigung. Ich bin Wassili.“

Ich grinse. „Freut mich, dass Sie es doch noch geschafft haben, Wassili.“

„Mama!“ Pauline wirft mir einen scharfen Blick zu. „Ich freue mich, Sie kennenzulernen, Wassili. Ich bin Pauline“, sagt sie zuckersüß und lächelt charmant.

Jetzt verstehe ich ihre Reaktion. Meine Tochter ist hin und weg von Dimitris Sohn. Das kann ja noch heiter werden.

Wassili funkelt Pauline mit leuchtenden Augen an. „Ganz meinerseits, Pauline.“

Ich drehe mich kurz zur Seite, damit der junge Mann mein amüsiertes Grinsen nicht bemerkt. Als ich mein Gesicht wieder unter Kontrolle habe, wende ich mich ihm zu. „Ich bin Catherine Evans, Paulines Mutter.“

Er nimmt meine Hand und schüttelt diese kräftig.

Dimitri setzt sich schnaufend in dem Geländewagen von Lukas nieder, nachdem er seine letzten Kochutensilien darin verstaut und sich mit einem Kuss von seiner Frau verabschiedet hat.

„Alles klar? Können wir los?“, fragt Mark und lenkt wenig später den Ford auf die breite Asphaltstraße.

Ich beobachte meine Tochter, die Wassili immer wieder heimlich ansieht. Sie mag den Jungen, das ist mir klar. Ich habe sie noch nie so erlebt und hoffe, dass wir keine Komplikationen bekommen. Liebe kann schön, aber auch zerstörerisch sein.

Kapitel 4

Schon bald wird aus dem Asphalt Schotter. Wir fahren an Pinienwäldern, Olivenhainen und Pfirsichplantagen vorbei. Die Straßen werden allmählich leerer und die Landschaft wilder. Die Rutensträucher, die hier wuchern, duften nach Honig. Wir passieren eine vielfältige Landschaft, kommen an üppigen Blumenwiesen, auf denen bunte Schmetterlinge im Wind flattern, vorbei. Weiter geht es über winzige Straßen, die sich bald in Kehren zum Grund der zerrissenen Schluchten, durch die der Lousios fließt, schlängeln. Das Ufer säumen wuchtige Laubbäume, die Wanderern im Sommer Schatten spenden. Bald geht es wieder hinauf auf die überhängenden Trassen. Über uns erstreckt sich der tiefblaue Himmel, neben uns fallen die Felswände steil in die Tiefe und unter uns schlängelt sich das silberne Band des Flusses.

Bald sehen wir das kleine Dorf Gortis, das sich an die Ufer des Lousios schmiegt.

Mark zeigt auf die Felsen. „Schau mal, Pauline! Hoch in den Bergen befindet sich ein Kloster, das über dem Dorf erbaut wurde und zu dem auch eine alte Gebetsstätte gehört. Manchmal begeben sich die Mönche auf den gefährlichen Weg durch die Felsen, um dort zu beten. Da kannst du jede Sünde loswerden.“

„Dafür muss ich dann einen ganzen Tag einplanen, Mark!“

„So schlimm, Pauline?“

„Schlimmer, Mark.“

Ich grinse und freue mich, dass Pauline Mark mag. Er ist ein wunderbarer Kollege und guter Freund. Ich wische mir mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn. Auch ich werde mal herausfinden, wie schwer sie zu erreichen ist.

In der Nähe des Dorfes erreichen wir eine mit Ölbäumen und wilden Kräutern bewachsene Grasebene, die uns als Lagerplatz dienen wird. Hier schützen uns die umliegenden Felsen und urwaldartigen Bäume, die die Lichtung umschließen, vor dem Meltine, einem unangenehmen starken Wind, der oft stundenlang wehen kann. Jetzt aber trägt uns der Wind nur den Duft von Rosmarin, Thymian und Salbei zu. Ich lege den Kopf in den Nacken und drehe mich einmal langsam um meine eigene Achse. Ich genieße es, endlich das Ziel in dieser wunderschönen Landschaft erreicht zu haben.

Pauline kümmert sich um den Zeltaufbau und ist bereits dabei, die Heringe in den Boden zu stecken.

„Dieser Duft ist unbeschreiblich!“, rufe ich.

Pauline schlägt sich mit der flachen Hand auf den Unterarm. „Ja, aber ich glaube, dass die Mücken und Fliegen bald in Myriaden über uns herfallen werden.“

„Keine Sorge, mein Schatz, wir haben genug Moskitonetze dabei.“

Die Schlafzelte werden in einem Kreis aufgestellt, das große Küchenzelt liegt in der Mitte.

Dimitri verstaut seine Kochutensilien und baut vor dem Zelt einen Grill auf. Er ist nicht nur stolzer Besitzer der Taverne, sondern auch eines kleinen Lebensmittelladens in Stemnitsa, dem wohl einzigen Umschlagplatz für Neuigkeiten aller Art. Er trägt jetzt eine dunkle Pumphose, die seine kurzen, krummen Beine wie eine Fahne umflattert, und deren ursprüngliche Farbe nicht mehr zu erkennen ist. Die Zipfel seines Hemdes hat er vor seinem runden Bauch verknotet und seine nackten Füße stecken in Holzpantinen. Es duftet schon bald so würzig aromatisch, dass mir das Wasser im Mund zusammenläuft.

Nicht weit von den Zelten entfernt schlängelt sich ein steiler, unbefestigter Weg in Serpentinen an den Felsen entlang hinauf zum Kloster Ajios Prodhromos, dessen Gebäude von der Lichtung aus nicht zu sehen sind. Der Weg beginnt an einer Holzbrücke, die den Fluss überquert.

Ich gerate sofort ins Schwärmen, als die untergehende Sonne die Wipfel der Zypressen und Laubbäume in ein goldenes Licht taucht.

 

In der Abenddämmerung versammeln wir uns um das Lagerfeuer beim Küchenzelt. Die Zikaden lärmen und die Insekten beginnen sich zu versammeln und wären zur Plage geworden, hätte Dimitri nicht ein riesiges Moskitonetz um die Kochstelle gespannt.

Es gibt gegrillte Spießchen mit Lammfleisch, Zwiebeln, Tomaten und Paprika. „Es schmeckt fantastisch, Dimitri“, lobe ich den Koch. „Und dann der Fetakäse und das selbstgebackene Brot. Ich werde hier noch kugelrund.“

Dimitri strahlt über das ganze Gesicht, als meine Kollegen ihn ebenfalls mit Lob überschütten und sich für das wunderbare Mahl bei ihm bedanken. Selbst Pauline, die sonst kaum etwas isst, ist begeistert. Wieder schmunzle ich innerlich. Ich weiß nur allzu gut, dass Liebe hungrig macht.

Die Männer wünschen uns eine Stunde später eine gute Nacht und ziehen sich in ihre Zelte zurück. Pauline und ich bleiben am Feuer sitzen.

„Bist du müde, oder leistest du mir noch ein wenig Gesellschaft?“, frage ich und verscheuche einen Nachtfalter, der den Flammen etwas zu nahe gekommen war.

„Ich bleibe gern noch ein wenig bei dir sitzen, Mom.“

Die Luft wird langsam kühl und ich hülle Pauline und mich in eine Decke. Sie kuschelt sich an mich und knabbert Haselnusskerne. Schweigend lauschen wir den Klängen der Natur. Das Plätschern der hochspringenden Fische verrät uns, dass die Mücken sich über dem Fluss versammelt haben. Wir sind sicher.

„Wie findest du unsere Truppe, Pauline?“

„Mom, du hast doch längst bemerkt, dass ich ein Auge auf Wassili geworfen habe. Er ist sehr nett.“

„Wir müssen hier eine Aufgabe erfüllen, Pauline. Manchmal ist die Liebe dabei nicht besonders förderlich.“

„Mom, was redest du denn da. Ich kenne Wassili kaum. Ich finde ihn einfach nur nett.“

„Sehr nett?“

Pauline lacht laut auf. „Ja, Mom, sehr nett. Und jetzt Schluss damit!“

Inzwischen ist der Mond aufgegangen und die Sterne strahlen in überirdischer Pracht. Jupiter und Venus scheinen zum Greifen nah. Das Mondlicht lässt die Konturen der Felsen weich erscheinen.

Ich drücke meine Tochter eng an mich. „Ich freue mich besonders, diese wunderschöne Landschaft noch einmal erleben zu dürfen“, sage ich und streiche Pauline zärtlich übers Haar. „Doch am meisten freut es mich, dass du bei diesen Grabungsarbeiten an meiner Seite bist.“

Pauline nickt und kann ein Gähnen nicht unterdrücken.

„Lass uns schlafen gehen, Liebes, die nächsten Tage werden mühsam werden! Die Vergangenheit zum Sprechen zu bringen, ist anstrengend.“

Pauline steht auf und streckt sich.

Ich falte die Decke zusammen und lege Steine auf die noch glimmende Glut. „Geh schon vor, ich komme gleich nach!“

Als ich kurz darauf das Zelt betrete, schläft Pauline bereits tief und fest.

Ich beuge mich zu ihr hinunter, ziehe ihr die warme Felldecke noch etwas höher und schließe sorgfältig das Moskitonetz über ihrem Feldbett.

In der Nacht kann es empfindlich kalt werden.

Ich werde das Gefühl nicht los, dass auf dieser Reise etwas geschehen wird, das ich nicht unter Kontrolle haben werde. Niemand von uns.