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Moritz Holfelder

UNSER RAUBGUT

Eine Streitschrift zur kolonialen Debatte

Ch. Links Verlag

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet
diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;
detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über
www.dnb.de abrufbar.

1. Auflage, September 2019
entspricht der 1. Druckauflage von September 2019
© Christoph Links Verlag GmbH, 2019
Schönhauser Allee 36, 10435 Berlin, Tel.: (030) 44 02 32-0
www.christoph-links-verlag.de; mail@christoph-links-verlag.de
Umschlaggestaltung: Ch. Links Verlag unter Verwendung von Fotos der
Benin-Bronzen in der Ausstellung »Raubkunst?« im Hamburger Museum
für Kunst und Gewerbe im Februar 2018 (Vorderseite) und
vom Umzug des Südseebootes von den Luf-Inseln aus dem
Ethnologischen Museum in Berlin-Dahlem ins Humboldt Forum
im Mai 2018 (Rückseite, beide von Moritz Holfelder)
Frontispiz: Hyänenmaske der Gemeinschaft der Korè aus der Sahelzone
in Mali, Holz, Anfang 20. Jahrhundert, Musée du Quai Branly, Paris

ISBN 978-3-96289-058-2

Inhalt

Geraubt und gut? Die Gier nach dem Besitz des Fremden

Koloniale »Amnesie« oder bewusste Verleugnung?

In alle Welt verscherbelt: Die legendären Bronzen aus Benin

Kann Restitution funktionieren? Na klar!

Grabbeigaben aus Alaska

Der Königsthron Mandu Yenu aus dem Grasland von Kamerun

Die Gebeine des australischen Yidinji Ancestral King

Bisher nicht restituiert: Der Schiffsschnabel Tange aus Kamerun

Was wollen »die Afrikaner«? Zwischen Postkolonialismus und Afrofuturismus

Ich bin’s mal wieder, euer Humboldt Forum!

Ausstellungskonzepte der Zukunft: Eine Reise zu Museen, die es hinbekommen

Sieben Vorschläge zum Umgang mit der kolonialen Vergangenheit

Epilog

Anhang

Anmerkungen

Literaturliste

Abbildungsverzeichnis

Dank

Angaben zum Autor

Für Katja

Geraubt und gut? Die Gier nach dem Besitz des Fremden

Die ganze Welt wurde unversehens zum Rohstoff.

Das war die letzte Verzückung,

die Befriedigung all unserer Dürste.

Éric Vuillard, aus der Erzählung »Kongo« (2015)

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Endlos gesammelt – das Schaumagazin ÜbermaxX des Übersee-Museums Bremen beherbergt fast 1,2 Millionen Objekte der Bereiche Völker-, Natur- und Handelskunde

Der französische Regisseur Alain Resnais empfand es 1952 als Skandal, dass die in Paris befindlichen Masken und Skulpturen aus Afrika nicht im weltbekannten Pariser Louvre ausgestellt wurden, sondern in einem anderen Gebäude: im Musée de l’Homme, dem zur Weltausstellung gegründeten Museum mit seinen großen vorgeschichtlichen und völkerkundlichen Sammlungen.1 Er fragte sich: Warum werden die Objekte aus dem »dunklen Kontinent« nicht im eigentlichen Kunstmuseum gezeigt, wie die Kunst aus Griechenland oder Ägypten, sondern in einem nur anthropologischen Kontext? Er vermutete nicht zu Unrecht Vorbehalte gegenüber außereuropäischer Kunst.2

Im selben Jahr begannen Resnais und sein Kollege Chris Marker mit den Dreharbeiten zu »Les Statues meurent aussi – Auch Statuen sterben«. Gegenstand ihres essayistischen Dokumentarfilms sind die afrikanische Kunst und der Kolonialismus.

Beide Filmemacher standen am Anfang ihrer Karriere: Resnais wurde bald berühmt für Spielfilme wie »Hiroshima, mon amour« (1959) und »Letztes Jahr in Marienbad« (1961). Marker hatte Philosophie bei Jean-Paul Sartre studiert, beteiligte sich während des Zweiten Weltkriegs am französischen Widerstand und begann in den fünfziger Jahren als Drehbuchautor und Regisseur zu arbeiten, mit großer Vorliebe für die experimentellen Erzählformen des Kinos. Bekannt ist vor allem sein Reise-Essay »Sans soleil« (1983), voller philosophischer Exkurse, eine Abfolge aus dokumentarischen Aufnahmen von Japan und Afrika verbunden mit Überlegungen zum Medium selbst.

Auch in »Les Statues meurent aussi« überzeugt die Mischung aus Analyse und detailverliebter Neugier. In Frankreich ist der Film eines der ersten antikolonialistischen Werke überhaupt und war deshalb – man glaubt es kaum – lange Zeit verboten. Mit ihrer nur 30 Minuten langen Anklage hatten Marker und Resnais 1953 den Nerv der kolonial verstrickten Grande Nation getroffen. Sie schufen mit dem eigens von Guy Bernard komponierten Soundtrack ein symphonisches Pamphlet und ließen keinen Zweifel: Die Werke der »Negerkünstler« wurden zuerst von Weißen entwendet und dann im Kontext der Kolonialisierung unter Wert ausgestellt, als exotische Artefakte einer vermeintlich unterlegenen Kultur. »Dabei haben die Künstler Afrikas«, wie es im Kommentar des Films heißt, »Werke geschaffen, die im Sinne des Einvernehmens zwischen Mensch und Schöpfung ein Erleben der Welt in tiefster Gemeinschaft ermöglichen.«

Was nach der Exposition von »Les Statues meurent aussi« folgt, ist ein zügig montierter, faszinierender Bilderrausch: Ausgehend von sich gegenüber postierten Löwen- oder Leoparden-Statuen, auf die die Kamera zufährt, als wären es die Wächter, an denen man vorbeimuss, wird der Reichtum afrikanischer Kunst zelebriert. Im Mittelpunkt des Films stehen die Darstellung von Menschen und Kriegern innerhalb der Werkgruppe der berühmten Benin-Bronzen.

Die Kamera streichelt Wangen, schaut auf hervorquellende Augen, blickt auf geöffnete Münder, die wirken, als wollten sie etwas sagen. Porträt. Profil. Halbprofil. Ein Ohr im Halbschatten. Direkt auf die Kopfhaut geflochtene kleine Zöpfchen. Eine makellose Zahnreihe. Dann das Bild einer Langschlitz-Trommel und eines von sechs Händepaaren festgehaltenen gefangenen Tieres. Dies alles ist im harten Licht-Schatten-Spiel des Schwarz-Weiß-Materials ungemein sinnlich inszeniert. Fünf Minuten lang und ohne jeglichen Kommentar. Es ist eine begeisternde Liebeserklärung an afrikanische Kunstwerke.

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Faszinierender Bilderrausch – Szenen aus »Les Statues meurent aussi« von Alain Resnais und Chris Marker

»Wir hatten, als wir anfingen zu drehen, keine Ahnung davon«, sagt Resnais im Interview, »es war dann Charles Ratton3, der berühmte Experte, der unsere künstlerische Ausbildung übernahm. Uns wurde schnell klar, dass es unter den Ethnologen sehr viele unterschiedliche Ansätze der Interpretation gibt. Marker und ich entschieden uns, den Film ein wenig auf die mystisch geheimnisvolle Seite des afrikanischen Denkens zu konzentrieren.«4

Finanziert wurde »Les Statues meurent aussi« jeweils zur Hälfte von »Présence Africaine«, dem Pariser Zeitschriften-Verlag des Senegalesen Alioune Diop5, und von der Kurzfilm-Produktionsfirma Cinéma Tadié. Ausgehend von unserer heutigen, mit teils hypersensiblen Diskursen überfrachteten Zeit lässt sich an »Les Statues meurent aussi« einiges kritisieren: Der Afrikaner per se wird in seiner Schönheit und Anmut idealisiert; die Artefakte aus der Hand afrikanischer Handwerker und Künstler werden unabhängig von geographischer und zeitlicher Herkunft wild hintereinander montiert; und letzten Endes sind es weiße Regisseure, die ihre Stimme erheben, um Schwarze zu »retten« und deren Ausbeutung anzuprangern.

Alain Resnais war sich darüber bereits ein paar Jahre nach der Entstehung des Films bewusst – 1969 erklärte er in einem Radiointerview, dass die Darstellung teilweise plakativ sei. Er hoffe, dass Menschen in Afrika sich »Les Statues meurent aussi« trotzdem ansehen und die Vereinfachungen nicht als Zumutung empfinden würden.6

Der Film wurde sofort nach seiner Fertigstellung vollständig zensiert, aufgrund seines subversiven Charakters – und durfte von März 1953 bis Januar 1957 nicht gezeigt werden. Er lief nur auf Festivals, unter anderem in Cannes, und gewann 1954 den wichtigen Prix Jean-Vigo. Ab 1957 gab es die Freigabe zur kommerziellen Auswertung für eine etwa um ein Drittel gekürzte Fassung, die aber erst Ende 1960 in die französischen Kinos kam. Sie lief als Vorprogramm in Kombination mit Spielfilmen – 1961 und 1962 wurden 92 000 Zuschauer registriert. Danach sanken die Zahlen jährlich auf einige Hundert Zuschauer, nur im studentischen Revolutionsjahr 1968 gab es vor dem Hintergrund kolonialer Debatten großes Interesse, allein in Paris wurden noch mal 14 500 Karten verkauft.7

Das Jahr 1953 war in vielerlei Hinsicht ein Wendepunkt. Sowohl in Algerien als auch in Marokko, das 1912 als Protektorat zwischen Spanien und Frankreich aufgeteilt worden war, galt die französische Politik der assimilation coloniale, eine Form der Einbindung anderer Kulturen in die eigene, als gescheitert. Nach den epochalen Umbrüchen des Zweiten Weltkriegs wuchs in den afrikanischen Kolonien und Schutzgebieten der Wille nach Unabhängigkeit. In diese Atmosphäre gerieten Resnais und Marker mit »Les Statues meurent aussi«. In Marokko kam es – ein halbes Jahr nach dem Verbot des Films – zu schweren Zerwürfnissen zwischen Mohammed V. (1927 bis 1961), der im Zweiten Weltkrieg auf Seiten Frankreichs gestanden hatte, und der französischen Protektoratsverwaltung. Der Sultan sympathisierte schon seit Längerem mit der 1944 gegründeten »Partei der Unabhängigkeit« (Al-hizb al-istiqlal) und musste am 20. August 1953 auf Drängen der Franzosen abdanken. Sie verbannten ihn nach Korsika, dann weiter nach Madagaskar und setzten seinen Onkel Muhammad Mulay ibn Arafah als Nachfolger ein. Marokko wurde aufgrund der nicht nachlassenden Unabhängigkeitsbestrebungen von heftigen Ausschreitungen und Angriffen gegen die französische Fremdherrschaft erfasst, Mohammed V. konnte aus dem Exil zurückkehren, wurde reinthronisiert und erklärte am 2. März 1956 die Unabhängigkeit von Frankreich. Die Loslösung von Spanien folgte noch im selben Jahr.

In Algerien lagen die Dinge anders. Das Land war seit 1830 in mehreren Kriegen erobert worden. Die Franzosen annektierten es schließlich und erklärten die drei von ihnen gebildeten Departements zum Bestandteil der Grande Nation. Die Regionen galten ab 1881 nicht als Kolonien, sondern waren französisches Staatsgebiet, nicht anders als Burgund, Provence oder Île-de-France. Es gab algerische Bürger erster und zweiter Klasse – und über ihnen stehend die französischen Staatsbürger. Wie in Marokko erstarkten nach dem Zweiten Weltkrieg die zuvor schon entstandenen Unabhängigkeitsbewegungen. Die Franzosen reagierten so panisch wie ambivalent – zuerst tötete die Armee bei der Niederschlagung von Unruhen Zehntausende Aufständische, und zwei Jahre später, im September 1947, versuchte man, das Land zu befrieden, indem man denjenigen Algeriern die französische Staatsbürgerschaft gab, die sie bis dahin noch nicht besessen hatten. Doch ohne Erfolg. Die algerischen Separatisten begannen am 1. November 1954 ihren Aufstand gegen die Franzosen, es kam zu einem langen Krieg, der schließlich dazu führte, dass Algerien am 5. Juli 1962 seine Unabhängigkeit erklären konnte.

In diesem Moment war das französische Kolonialreich Geschichte, befand sich in den letzten Zuckungen seiner Auflösung. Die Nation, die im 19. Jahrhundert die zweitgrößte Besatzungsmacht der Welt gestellt hatte (nach Großbritannien), zog sich allein im Jahr 1960 aus 14 Ländern zurück und entließ sie in die Selbstständigkeit. Daraus entstanden die Staaten Kamerun, Togo, Madagaskar, Benin, Niger, Burkina Faso, Republik Côte d’Ivoire, Tschad, Zentralafrikanische Republik, Republik Kongo, Gabun, Senegal, Mali und Mauretanien.8

Rund sechzig Jahre später ist es nicht mehr vorstellbar, mit welcher Brutalität die französische Regierung in manchen Kolonien oder den ihnen als Protektorat unterstellten Ländern vorging, am schlimmsten in Algerien. Dort wurde im Kampf gegen Oppositionelle und Widerstandsgruppen die »französische Doktrin« angewendet, vom Militär und vom Geheimdienst entwickelte Methoden systematischer Menschenrechtsverletzungen, die Massen-Hinrichtungen, Folter, das Auslöschen ganzer Dörfer und die illegale Tötung von verdächtigen Personen umfassten.9

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Französische Soldaten und gefallene Kämpfer der Nationalen Befreiungsarmee kurz nach Beginn des Algerienkriegs im Dezember 1954

Quasi nebenbei hatte Frankreich auch noch große Teile der Inselwelt des Indischen Ozeans und Ozeaniens beherrscht. Dort war das Kolonialreich bereits in den fünfziger Jahren zu seinem nominellen Ende gekommen.10

In vielen der ehemaligen Kolonien und Protektorate besitzt Frankreich bis heute großen Einfluss, in einigen dieser Länder finanzierte man lange Zeit noch Teile der Staatshaushalte. Aus global wirtschaftlichen Gründen liegt es auf der Hand, dass man diese bevorzugte Stellung nicht verlieren möchte. Diesem Auftrag fühlt sich jeder französische Präsident verpflichtet – so auch der im Mai 2017 zum Staatsoberhaupt gewählte Emmanuel Macron. Trotzdem liegen bei ihm die Dinge ein wenig anders – er ist kulturell offener und begreift Kunst, anders als seine Vorgänger, nicht nur als Symbol der Macht (Neu- und Umbauten von Museen), sondern auch als Medium des Dialogs. Es ist durchaus vorstellbar, dass er »Les Statues meurent aussi« gesehen hat. Vielleicht wurde seine bahnbrechende Rede im Auditorium Maximum der Universität von Ouagadougou am 28. November 2017 sogar davon inspiriert.

Der seit einem halben Jahr amtierende Macron (weißes Hemd, dunkelblauer Anzug, dunkelblaue Krawatte) steht an einem Pult, vor sich ein kleines Schild mit der Aufschrift »Discours de Ouagadougou«. Der Saal mit den hellgelben Wänden ist überfüllt, im Publikum sitzen Studentinnen und Studenten sowie zahlreiche Journalisten, dazu auf der linken Seite von Macron der Staatspräsident von Burkina Faso, Roch Marc Kaboré, und rechts die Universitätspräsidentin Odile Germaine Nacoulma. Macron begrüßt die Anwesenden ernst und staatsmännisch. Nach knapp zwei Minuten erwähnt er den 1987 ermordeten Ex-Präsidenten Thomas Sankara11, der sich während seiner fünfjährigen Amtszeit ab 1983 einer leidenschaftlich panafrikanistischen und antipatriarchalischen Politik verschrieb, gegen die Korruption vorging sowie eine fortschrittliche Gesundheits- und Frauenpolitik in Gang brachte. Der Saal jubelt, als Macron dessen Leitsatz »Die Zukunft zu entdecken wagen« zitiert. Laute Bravorufe durchziehen den Applaus. Der Präsident lächelt jungenhaft und zwinkert seinem Publikum zweimal zu. Das Eis ist gebrochen. Auf seine unnachahmlich charismatische Art jongliert Macron geschickt zwischen einem lässig selbstgewissen Ton, der die Studenten im Handstreich erobert, und einer Haltung der Demut, um die wesentliche Botschaft seiner Rede zu unterstreichen. Nach einer Stunde und 40 Minuten erscheint die Welt als eine andere, manche Kommentatoren sprechen seitdem von einer »Post-Ouagadougou-Zeit«.12 Bejubelt werden Sätze wie diese:

»Ich gehöre einer Generation von Franzosen an, für die die Verbrechen der europäischen Kolonialisierung unbestreitbar und Teil unserer Geschichte sind. Daher weigere ich mich, immer wieder auf dieselben Darstellungen der Vergangenheit zurückzukommen. Es gab Kämpfe, es gab Fehler und Verbrechen, es gab große Dinge und glückliche Geschichten. Aber ich bin zutiefst überzeugt: Unsere Verantwortung liegt nicht darin, uns an diesen Geschichten festzubeißen und in der Vergangenheit zu verharren, sondern das Abenteuer der heutigen Generation voll und ganz zu leben. (…) Diesen Paradigmenwechsel werde ich morgen auf dem Gipfel zwischen Europa und Afrika in Abidjan jedem Teilnehmer unterbreiten. Wir haben mit dieser Neuausrichtung begonnen, jetzt müssen wir sie auch auf unumkehrbare Weise fortsetzen, wobei wir noch lernen sollten, effektiver zu sein, noch mehr auf die wirklichen Bedürfnisse vor Ort zu schauen, und manchmal auch jenseits der Bürokratie eine kritische Kultur des Austauschs zu etablieren.«13

Emmanuel Macron spricht über neue Formen der Zusammenarbeit, über Terrorismus und religiösen Extremismus, über eine Veränderung der Entwicklungszusammenarbeit, über Bildung und Jugend, über die Bekämpfung von Korruption – und gegen Ende seines Vortrags über die Restitution des künstlerischen Erbes an Afrika:

»Das wichtigste Heilmittel ist die Kultur – und in diesem Zusammenhang kann ich nicht mehr länger akzeptieren, dass ein großer Teil des kulturellen Erbes mehrerer afrikanischer Länder in Frankreich verwahrt wird. (…) Das afrikanische Erbe darf sich nicht länger zu großen Teilen in privaten Sammlungen und europäischen Museen befinden. Das afrikanische Erbe sollte in Paris angemessen wertgeschätzt werden, aber auch in Dakar, Lagos und Cotonou, und das sehe ich als eine meiner Hauptaufgaben. Ich möchte, dass innerhalb der nächsten fünf Jahre die Voraussetzungen für eine vorübergehende oder endgültige Rückgabe des künstlerischen Erbes an Afrika geschaffen werden.«14

Emmanuel Macron fügt noch an, wenn man Afrika kennenlernen wolle, reiche es nicht, ins Museum zu gehen und dort afrikanische Artefakte zu betrachten, die 500 oder 1000 Jahre alt seien, sondern man müsse auch die zeitgenössische Kunstszene einbeziehen und mit auf den Weg nehmen, den man jetzt gehe: »Am Ende dieser Straße haben wir die Wahl zwischen der Möglichkeit, uns gemeinsam neu zu erfinden, und der Tragödie, uns zu ignorieren. Mein Vorschlag ist, auf die erste Weise nicht nur zusammenzufinden, sondern sich auch nicht mehr voneinander zu trennen.«15

An dem Tag, an dem ich über Emmanuel Macrons Rede in Ouagadougou schreibe, befinde ich mich zwei Autostunden von Paris entfernt in der französischen Provinz, in der Nähe von Auxerre. Abends treffe ich eine Freundin, eine ältere Französin und Künstlerin, politisch interessiert und ästhetisch gebildet. Sie lebt in einem kleinen Ort im Burgund. Ich erzähle ihr von dem Buch, an dem ich arbeite, ja, es gehe auch um Macron und dessen Haltung gegenüber Raubkunst aus Afrika (art spolié de l’Afrique). Ach, meint die Dame, die sich vor allem mit einheimischen Künstlern und stilistischen Traditionen gut auskennt – die Afrikaner hätten doch gar keine Orte, um die Sachen aufzubewahren. Und diese Gegenstände seien doch sowieso in Zusammenhang mit Ritualen entstanden und gar nicht dafür gedacht, erhalten zu werden.

Meine Entgegnung, es gebe sehr wohl Museen in Afrika, auch viele neue, und die dort entstandenen Artefakte seien es auf alle Fälle wert, als kulturelles Erbe bewahrt zu werden, quittiert sie mit einem fragenden Schulterzucken.

Unser Gespräch beschäftigt mich noch Tage danach. Was kommt da zusammen? Vielleicht eine Mischung aus Naivität, Ignoranz, Vorurteilen, unbewusstem Nationalismus sowie wenig entwickelter Empathie.

Ich frage mich: Finden die Bemühungen Emmanuel Macrons um koloniale Schuldanerkennung sowie um die Restitution von Raubgut, die inzwischen auch von der deutschen Bundesregierung aufgegriffen wurden, keinen Widerhall in der Bevölkerung? Handelt es sich um einen diplomatischen Austausch auf Staatsebene, der abgekoppelt ist vom Empfinden und Wissensstand der jeweiligen Nationen und Gesellschaften? Kann man von einem breiten Interesse an Fragen zur Zukunft des Kulturerbes sprechen? Oder, anders gesagt: Werden diese Fragen entsprechend vermittelt?

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Emmanuel Macron bei seiner Rede am 28. November 2017 in der Universität von Ouagadougou/Burkina Faso

Auf der Website der Französischen Botschaft in Berlin gibt es einen am 27. April 2018 veröffentlichten umfangreichen Artikel über die Rede Macrons in Ouagadougou.16 Ich bin überrascht, denn die afrikanischen Kulturgüter und deren angekündigte Restitution werden mit keinem einzigen Wort erwähnt. Warum? Geht es doch, wie es am Anfang des Artikels heißt, um »die Herausforderungen, vor denen Afrika, Frankreich und Europa in ihren Beziehungen stehen«.

Wie können koloniale Verstrickungen aufgearbeitet werden, wenn man den wesentlichen Punkt der Rede ausspart? Darin geht es ja nicht nebenbei um ein paar Objekte, die ehedem nach Europa gelangt sind, auch nach Deutschland, sondern um die oft rücksichtslosen Taten von Kolonisatoren, Missionaren, Händlern, Militärs, Verwaltungsbeamten, auch von Ethnologen und Abenteurern, die Raubgut mit nach Hause brachten. Kunst, Alltags- und Ritualgegenstände sowie menschliche Gebeine (Human Remains) lagern zu Millionen in europäischen wissenschaftlichen Einrichtungen, in Archiven und Privatsammlungen, und in Museen.

Wer trägt die die Verantwortung dafür, wie heute mit diesen Artefakten umgegangen wird? Natürlich die damit beschäftigten Ethnologen, Sammler, Kuratoren und Politiker, aber, etwas weitergedacht: wir alle. Wir sind Bürger von Demokratien, wir zahlen Steuern, wir bezahlen Eintritt, wenn wir ein Museum mit Sammlungen aus Afrika oder Ozeanien besuchen.

Wir sollten uns Fragen stellen: Wie sind diese Objekte in unseren Besitz gelangt? Handelt es sich tatsächlich um Raubgut oder ist der Begriff fragwürdig? Und wenn ja, warum? Wo, wann und wie ist Unrecht geschehen? Kann man es wieder gut machen? Wie finden Beraubte und Räuber zusammen?

In deutschen Medien gibt es kaum Reaktionen auf Macrons Rede in Ouagadougou. Erst Wochen später, am 11. Januar 2018, erscheint parallel in »Le Monde« und der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung« ein Artikel der französischen Kunsthistorikerin Bénédicte Savoy, die bis 2017 im wissenschaftlichen Beirat des Berliner Humboldt Forums17 saß, dort aber wegen fachlicher Differenzen austrat.18 Unter der Überschrift »Umgang mit afrikanischem Erbe. Die Zukunft des Kulturbesitzes« erklärt sie zur deutschen Seite: »In Berlin löst Emmanuel Macrons Rede einen heftigen Streit über die koloniale Amnesie aus, von der die Gestalter des zukünftigen Humboldt Forums befallen zu sein scheinen, das von 2019 an die ethnologischen Sammlungen des einstigen preußischen Staates aufnehmen soll. In einem offenen Brief an Angela Merkel fordern vierzig in der Arbeit für Afrika engagierte Organisationen die Bundeskanzlerin auf, ›sich zur historischen Initiative des französischen Präsidenten zu positionieren‹.«19

Savoy führt aus, dass in Frankreich wie auch anderswo in Europa allein schon das Wort Restitution einen Abschottungs- und Abwehrreflex auslöse: »Die Geschichte der Afrikasammlungen ist eine gemeinsame europäische Geschichte, eine Familienangelegenheit, wenn man so will, in der ästhetische Neugier, wissenschaftliches Interesse, militärische Expeditionen, Handelsnetze und ›Gelegenheiten‹ jeglicher Art dazu beigetragen haben, Logiken der Herrschaft, der Selbstbestätigung und der nationalen Rivalität zu nähren.«20

Die deutsche Bundeskanzlerin meldet sich nicht zu Wort, dafür aber ein paar Tage später ein direkt Betroffener: Herman Parzinger, Präsident der Stiftung Preußischer Kulturbesitz (SPK) sowie einer der drei Gründungsintendanten des Humboldt Forums. Der Artikel, der am 25. Januar 2018 in der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung« erscheint, trägt die Überschrift »Bauen wir Museen in Afrika!« und wird von einem Ton der pragmatischen Beschwichtigung getragen: »Auch wenn man sich fragen muss, ob Afrika heute nicht dringendere Probleme hat, zu deren Lösung wir Europäer erheblich mehr beitragen müssten, so wirft dieser erstaunliche Vorstoß des französischen Präsidenten doch die richtigen Fragen auf. Gleichzeitig sind damit viele Erwartungen geweckt worden. Aber wie geht es nun weiter?«21, fragt Parzinger, und hält als Antwort einen zeitlich offenen, ziemlich diffusen Vorschlag parat. Man kann auch sagen: Er spielt auf Zeit, und versucht, die Unbedingtheit der Rede von Macron abzuschwächen: »Wir müssen zunächst einmal den hohen Forschungsbedarf akzeptieren und gemeinsam mit Wissenschaftlern der Herkunftsländer daran arbeiten, die historischen Umstände und die Wege der Objekte nach Europa aufzuklären. Forschungen zur Provenienz völkerkundlicher Sammlungen sind hierzulande bislang noch nicht in der nötigen Intensität und Breite durchgeführt worden, was aber auch eine Frage der Ressourcen ist.«22

Parzinger schiebt den Schwarzen Kolonialismus-Peter diffus an die Politik weiter, weil die es bisher versäumt habe, solche Forschungen entsprechend zu finanzieren. Genau die seien aber die Voraussetzung dafür, um auch auf politischer Ebene einen angemessenen Umgang mit den Objekten zu finden. Die Katze beißt sich in den Schwanz. Eigene Forderungen stellt Parzinger nicht. Er lobt vielmehr die ihm unterstehende Institution der SPK, wenn er sagt, Projekte wie die kürzlich bewilligte Digitalisierung und Erschließung der Erwerbungsakten des Ethnologischen Museums würden Maßstäbe setzen. Er regt eine europäische Initiative an, spricht von Leitlinien, die gemeinsam mit Herkunftsländern erarbeitet werden sollen, schlägt vor, einen anerkannten Handlungsrahmen zu definieren. Damit müsse sich eine internationale Konferenz beschäftigen, »mit dem klaren Willen, zu verpflichtenden Ergebnissen zu gelangen, weshalb diese von den beteiligten Regierungen mitgetragen werden müssten«.23

Es ist ein Nachdenken über den Kulturbesitz im Verlautbarungskonjunktiv. Man könnte, man sollte, man müsste. Parzinger erscheint als bürokratischer Bedenkenträger, der suggeriert, dass alles nicht so einfach sei, dass es Zeit brauche, dass man erst einmal seine Hausaufgaben machen müsse. Ein Aufbruchssignal klingt anders. Dennoch hat sich seitdem etwas in Deutschland bewegt, auch, weil Emmanuel Macron in Frankreich seine Vorhaben erst einmal unbeirrt fortsetzt.

Ein Jahr nach seiner Rede in Ouagadougou konkretisiert er am 22. November 2018 seinen radikalen Plan zur Rückerstattung kolonialen Raubguts. Er stellte den von ihm in Auftrag gegebenen Bericht vor – mit den Empfehlungen der französischen Kunsthistorikerin Bénédicte Savoy und des senegalesischen Ökonomen Felwine Sarr. Deren zweihundertseitiger Restitutionsreport lässt keine Zweifel daran, dass ein großer Teil der afrikanischen Sammlungen in den ethnologischen Museen Europas im Zuge des Kolonialismus gewaltvoll oder durch Übervorteilung von Einheimischen angeeignet wurde. Der Bericht besitzt Sprengkraft.24

Rund drei Wochen später, am 15. Dezember 2018, melden sich Kulturstaatsministerin Monika Grütters (CDU) sowie Michelle Müntefering (SPD), Staatsministerin für Internationale Kulturpolitik im Auswärtigen Amt, in einem Gastbeitrag für die »Frankfurter Allgemeine Zeitung« zu Wort und fordern dazu auf, sich verstärkt der eigenen Kolonialgeschichte zu stellen: »Notwendig ist maximale Transparenz. Für Museen und Sammlungen führt kein Weg mehr daran vorbei, bei der Ausstellung von Kulturgütern aus kolonialen Kontexten deren Herkunftsgeschichte darzustellen. (…) Die Debatte über die historische Aufarbeitung der Kolonialvergangenheit muss schließlich über die Museen hinausgehen; sie muss weiterreichen als die Diskussionen in den deutschen Feuilletons. Sie gehört in die Hörsäle, in die Schulbücher und ins Fernsehprogramm. Es geht um nicht weniger als darum, eine erinnerungs- und kulturpolitische Gedächtnislücke zu schließen. Auch deshalb ist es wichtig, die Zivilgesellschaft in diesen Diskurs einzubeziehen.«25

Neben der Aufarbeitung der Kolonialgeschichte verlangen die beiden Politikerinnen: die absolute Bereitschaft zur Rückgabe, internationale Zusammenarbeit, einen Prozess auf Augenhöhe im Dialog mit afrikanischen Partnerinnen und Partnern, konkrete Kooperationen sowie Versöhnung im Sinne einer gemeinsamen besseren Zukunft. »Wie können es Museen und Sammlungen rechtfertigen, Objekte aus kolonialen Kontexten in ihren Sammlungen zu haben, deren Verbringung nach Deutschland unserem heutigen Wertesystem widerspricht? Was sagt es über uns aus, wenn zuweilen pauschal unterstellt wird, Kulturgüter würden in ihren Herkunftsländern nicht den Schutz erfahren, der ihnen gebührt? Wir meinen: Es gilt aus der Falle einer allein eurozentrischen Perspektive herauszukommen.«26

Bei mir zu Hause stapeln sich von mir gesammelte Zeitungsartikel, sortiert nach einzelnen Schlagworten. In den Verlautbarungen von Politikern ist vor allem der Wunsch nach der Abkehr von der eurozentristischen Perspektive immer wieder enthalten. Deren Forderungen, an denen im Prinzip alles richtig ist, verlieren, so scheint es mir, durch die inflationäre Wiederholung an Bedeutung, sie degenerieren zu Formulierungshülsen, wenn keine praktischen Schritte der Umsetzung folgen.

Interessant erscheint, wie einzelne Protagonisten im Laufe der Zeit ihre Sicht verändert oder weiterentwickelt haben. Wie unterschiedlich die Rhetorik sein kann – mal beschwichtigend (man bemühe sich doch schon seit langer Zeit um Aufklärung) und dann plötzlich wieder nachdrücklich (das sei zu wenig, man müsse offensiver vorgehen).

Eines wird deutlich: Die ethnologischen Museen in Deutschland sind 2018 aus ihrem Dornröschenschlaf erwacht. Sie müssen und wollen sich jetzt auch öffentlich hinterfragen: für unzeitgemäße Ausstellungskonzepte in der Darstellung außereuropäischer Kulturen, für den erwähnten, noch lange nicht überwundenen Eurozentrismus – und in Bezug auf diejenigen Gegenstände in ihren Sammlungen, die von zweifelhafter Herkunft sind, die also geraubt, unter Wert gekauft oder in kolonialer Abhängigkeit als »Geschenk« erhalten wurden.

Emmanuel Macron hatte 2017 in Ouagadougou einen ziemlich flotten Takt vorgegeben, die deutschen Politikerinnen und Politiker hecheln hinterher und entwickeln nun einen ausgeprägten Aktionismus. Offenbar geht es darum, nur ja nichts falsch zu machen. Im Mai 2018 lädt die Kulturstaatsministerin Monika Grütters in Berlin recht spontan zu einer Veranstaltung des deutschen Museumsbundes ein. Vorgestellt wird der »Leitfaden zum Umgang mit Sammlungsgut aus kolonialen Kontexten«, ein 130-seitiges Kompendium, mit dem man die aktuellen Kolonialismus-Debatten und das Dilemma fehlender Antworten in den Griff bekommen will.27 Eindeutige Antworten gibt das Handbuch nicht. Verfasst wurde es von unterschiedlichen, teilweise auch sehr kritischen Autorinnen und Autoren. Der Leitfaden ist eher kontroverse Auseinandersetzung als konkrete Handlungsanweisung. Was nicht weiter erstaunt. Außereuropäische Fachleute wurden nicht beteiligt, und sei es nur im Sinne von Gastbeiträgen. Der Dialog mit den Herkunftsgesellschaften und mit Experten aus den jeweiligen Ländern wird zwar beschworen (auch dazu liegt ein hoher Stapel in meinem Wohnzimmer), gestaltet sich aber verhalten – beim Leitfaden auch deshalb, weil manche Autorinnen und Autoren kaum auf eigene Erfahrungen und Kontakte in den betroffenen Regionen zurückgreifen können.

Mit dem Museumsbund-Leitfaden musste es einfach schnell gehen. Einige der Autorinnen und Autoren sind durchaus überrascht, dass er schon im Mai 2018 präsentiert wird. Ihnen war gesagt worden, bei den in Auftrag gegebenen Texten handle es sich in einer ersten Stufe um ein vorläufiges Konvolut, das erst anderthalb Jahre später im Rahmen einer Konferenz mit den Communities aus den ehemaligen deutschen Kolonien ergänzt und überarbeitet würde. Erst dann sei die Veröffentlichung geplant. Es kam anders.

Was im Jahr 2018 angestoßen wird, setzt sich 2019 fort. Ein wichtiges Signal geht von der neu gegründeten Kultusministerkonferenz aus, die im März in Berlin zu ihrer ersten Sitzung zusammenkommt. Ein Thema ist, angeregt von Grütters und Müntefering, der künftige Umgang mit Sammlungsgut aus kolonialen Kontexten. Es gelingt, eine gemeinsame Erklärung zu verabschieden, ein Eckpunktepapier, was nicht unbedingt zu erwarten war. So kann man mit Macron, der zu der Zeit eher mit den Protesten der Gelbwesten beschäftigt ist als mit Restitutionen, überraschend gleichziehen. Bei dem achtseitigen Papier der Kultusministerkonferenz handelt es sich, anders als im zentralistischen Frankreich, nicht um die entschlossene Order des Präsidenten, also einer einzelnen Person, sondern um einen föderal verbindlichen Beschluss, dem alle Bundesländer zustimmen. Es umfasst zwölf Punkte und formuliert Handlungsfelder und Ziele, darunter auch die verpflichtende »generelle Bereitschaft zur Rückführung von Sammlungsgut«28. Dennoch bleibt vieles noch vage und bedarf der Konkretisierung. Ernüchternd erscheint auch hier die Tatsache, dass zwar ein Arbeitsprozess mit Experten aus dem In- und Ausland sowie mit Vertretern der Herkunftsländer angekündigt wird, es aber keinen Zeitrahmen gibt. Viel Rhetorik steckt in diesem Papier – begeisternde Entschlossenheit ist nur selten zu spüren. Ist die vielleicht doch eher in Frankreich zu finden?

April 2019. Seit der Rede Macrons in Ouagadougou sind 17 Monate vergangen. Ich mache mich auf ins Musée du Quai Branly in Paris, das nationale französische Museum für außereuropäische Kunst gleich neben dem Eiffelturm. Der 200 Meter lange Bau von Architekt Jean Nouvel mit seinen bunten rechteckigen Ausstülpungen in der Fassade (hier sind einzelne Ausstellungskabinette untergebracht) steht direkt am Ufer der Seine. Staatspräsident Jacques Chirac hat sich 2006 damit ein Denkmal gesetzt, seitdem zählt das Gebäude zu den meistbesuchten Kunstsammlungen in Paris.

Eine Frau und ein Mann sitzen an der Informationstheke und sind offenbar überrascht von meiner Frage nach Raubgut und Restitution. Sie verstehen nicht richtig und fragen, ob mir etwas geklaut worden sei? Als der Name Macron fällt, erfasst sie eine gewisse Aufgeregtheit – ihnen sei es verboten, darüber zu reden. Von wem? Keine Antwort. Dann die Rückfrage, ob es mir um die angekündigte Rückgabe der 26 Kunstwerke an die République du Benin gehe, von der Macron gesprochen habe? Ja, auch um die, sage ich, und frage weiter, ob es denn dazu irgendwelche Informationen im Museum gebe?

Nein, gebe es nicht, und dem Personal sei eben nicht erlaubt, darüber zu sprechen. Warum nicht? Auch darüber dürfe man keine Auskunft geben. Alle Informationen stünden auf der Website des Museums. Die anschließende Recherche an einem der Computer in der angrenzenden Bibliothek ergibt kein Ergebnis. Nach einer halben Stunde Suche gebe ich auf – und gehe hinauf in die Afrika-Sammlung, dort in den Bereich mit den Kunstwerken aus der République du Benin. Auch hier keine Erläuterungen zur Provenienz oder zu geplanter Restitution. Bei meinem letzten Besuch ein paar Monate zuvor waren noch andere Objekte zu sehen gewesen, etwa die königlichen Statuen des Königreichs Dahomey, die nun zurückgegeben werden sollen. Wieder hinunter an die Informationstheke und noch einmal nachgehakt. Nein, man habe keine erläuternden Texte, Schrifttafeln oder gar Sammlungsinterventionen.

Die Frage bleibt: Wie kann eine vom Staatspräsidenten angezettelte Revolution stattfinden und an dem Ort, der das sichtbare und öffentliche Zentrum dieses Umbruchs sein müsste, unsichtbar bleiben? Warum wirkt dieses Museum, als hätte es sich seit der Eröffnung 2006 in seinem Selbstverständnis nicht verändert, und das, obwohl der Direktor Stéphane Martin in einer ersten Reaktion auf Macrons Rede dem Präsidenten in Sachen Restitution prinzipiell recht gab? Vergleichbar seinem deutschen Kollegen Parzinger mahnt er in Interviews an, dass die Rückgabe von Werken nach Afrika Zeit brauche und einen internationalen Austausch von Sichtweisen und Erfahrungen voraussetze. Inzwischen liest man in Interviews mit Martin, dass er gar nicht mehr so begeistert sei von Macrons Plänen. Da das Museum Quai Branly aber dem Präsidenten unterstehe, müsse er sich den Weisungen fügen.

Zu dem Savoy/Sarr-Bericht sagt er im Februar 2019: »Für diesen Bericht gibt es in Frankreich keine klare juristische Situation, er ist für die französischen Museen nicht bindend. Er enthält eine Serie von Vorschlägen, zu denen sich die Regierung noch nicht geäußert hat.«29

Die Stellungnahme der Regierung ließ rund fünf Monate auf sich warten. Auf einem Symposium in Paris ist es der französische Kulturminister Franck Riester, der am 4. Juli 2019 eine abenteuerliche Kehrtwende in Sachen Restitutionspolitik hinlegt. Eloquent und elegant spricht er im Institut de France vor rund zweihundert Ethnologen, Historikern und Kunsthistorikern: Natürlich bekenne er sich zum von Emmanuel Macron versprochenen Prinzip der Restitution! Doch Riesters eigentliche Botschaft ist eine andere, versteckt in blumigen Sätzen über Zusammenarbeit, Austausch und Universalismus: »Die neue Politik der Kooperation, die wir gemeinsam betreiben wollen, darf sich nicht allein auf die Frage der Rückgaben beschränken.«30

Schon da wird man stutzig. Wie zuvor Museumsdirektor Stéphane Martin erklärt auch der Kulturminister, dass für Restitutionen erst noch die Gesetzeslage angepasst werden müsse. Leider habe das Parlament aber im Moment viele andere Vorhaben auf der Agenda, da könne man gar keinen Zeitplan festlegen. In der Zwischenzeit schlage er vor, die 26 Kunstwerke, die aus dem Musée du Quai Branly an die République du Benin zurückgegeben werden sollen, dort als Leihgaben auszustellen. Abgesehen davon hätten es aber alle Kunstwerke aus Afrika in den französischen Museen sowieso recht gut – und es sei eine Ehre, sie dort zu bewahren: »Unser Land ist der Verwahrer eines großen Erbes von Meisterwerken mit unschätzbarem Wert. Viele dieser Meisterwerke wurden in Afrika geschaffen.«31

So rechnet Riester auch ehedem in Afrika entwendete Objekte einfach dem französischen Kulturerbe zu, ganz nach dem Motto: Wir sind doch eine große Familie! Der renommierte französische Museumswissenschaftler Hugues de Varine schreibt dazu in seinem interaktiven Blog »world interactions« beispielhaft: »Ein nigerianisches oder koreanisches Objekt gehört zum nigerianischen oder koreanischen Erbe, auch wenn es sich in einem Museum oder einer Sammlung in Frankreich befindet.«32