Der geheimnisumwobene Millionär Jay Gatsby pflegt einen mondänen Lebensstil. Seine Villa auf Long Island und seine Partys sind legendär. Hunderte von Gästen tanzen in seinem Garten – und doch ist er einsam und sehnt sich nach seiner verlorenen Liebe. Als Daisy ihm endlich wiederbegegnet, scheinen sich alle seine Wünsche zu erfüllen. Fitzgeralds poetisches Meisterwerk aus den »Goldenen Zwanzigern« ist durchdrungen vom Optimismus des amerikanischen Traums, von Jazzmusik, Flitter und demonstrativer Verschwendung – und doch zählen auch in dieser verrückten Welt letztlich nur die Qualitäten des Herzens.

F. Scott Fitzgerald

Der große Gatsby

Roman

Neu übersetzt, mit einem Nachwort und Anmerkungen von Lutz-W. Wolff

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Noch einmal für Zelda

Wenn sie das rührt, dann trag den gold’nen Hut;

Und spring für sie, wenn du hoch springen kannst,

Bis sie »Geliebter« ruft, »hoch springender Geliebter mit dem gold’nen Hut, dich muss ich haben!«

Thomas Parke d’Invilliers

Kapitel 1

In meinen jüngeren und verletzlicheren Jahren hat mein Vater mir einen Rat gegeben, der mir seither nicht mehr aus dem Kopf geht.

»Jedes Mal, wenn du glaubst, jemanden kritisieren zu müssen«, sagte er, »dann erinnere dich daran, dass nicht alle Menschen auf der Welt solche Privilegien wie du gehabt haben.«

Mehr sagte er nicht, aber wir haben uns schon immer auf sehr zurückhaltende Weise verstanden, und ich begriff, dass er noch viel mehr meinte. Ich halte mich deshalb stets mit jeglichem Urteil zurück, eine Gewohnheit, die mir viele eigentümliche Naturen erschlossen hat, mich aber auch häufig zum Opfer von altgedienten Langweilern machte. Das gestörte Gemüt erkennt nämlich diese Eigenschaft bei normalen Menschen sofort und schließt sich ihnen gern an, sodass ich im College völlig zu Unrecht beschuldigt wurde, ich sei ein Politiker, bloß weil mir wildfremde Leute ihren geheimsten Kummer anvertraut hatten. Die meisten dieser vertraulichen Mitteilungen wurden mir gänzlich unaufgefordert gemacht, und oft genug habe ich Schlaf, anderweitige Beschäftigung oder eine abwehrende Heiterkeit vorgetäuscht, wenn ich Anzeichen dafür bemerkte, dass eine intime Enthüllung zitternd am Horizont stand. Denn die intimen Geständnisse junger Männer – oder zumindest die Begriffe, die sie dabei verwenden, sind in der Regel Plagiate und durch offensichtliche Verdrängung verunstaltet. Der Verzicht auf kritische Urteile enthält eine unendliche Hoffnung. Trotzdem habe ich immer noch Angst, ich könnte etwas versäumen, wenn ich einmal nicht daran denke, dass – wie mein Vater arroganterweise unterstellte und ich ebenso arrogant wiederhole – das Gefühl für Anstand schon bei der Geburt ganz ungleich verteilt wird.

Nachdem ich mich solcherart meiner Toleranz gerühmt habe, muss ich wohl zugeben, dass sie auch eine Grenze hat. Das Benehmen eines Menschen mag auf hartem Fels oder in sumpfigen Niederungen gegründet sein, aber von einem bestimmten Punkt an ist es mir egal, worauf es beruht. Als ich letzten Herbst aus dem Osten zurückkam, wünschte ich mir jedenfalls, die ganze Welt wäre noch in Uniform und würde moralisch weiterhin strammstehen; ich wollte keine zügellosen Exkurse und allzu vertraulichen Einblicke in das menschliche Herz mehr. Nur Gatsby, der Mann, der diesem Buch den Namen gibt, war davon ausgenommen – ausgerechnet Gatsby, der alles repräsentierte, was ich ehrlich verachte. Wenn Persönlichkeit eine ununterbrochene Folge von gelungenen Gesten ist, dann hatte er etwas Großartiges, man spürte eine gesteigerte Empfindlichkeit gegenüber den Versprechungen des Lebens bei ihm, so, als wäre er ein Verwandter jener komplizierten Maschinen, die ein Erdbeben aus zehntausend Meilen Entfernung wahrnehmen. Diese Sensibilität hatte mit der schlaffen Wehleidigkeit, die gern als »künstlerisches Temperament« auftritt, nichts zu tun – sie war vielmehr eine außergewöhnliche Begabung zur Hoffnung, eine romantische Bereitschaft, wie ich sie noch bei keinem anderen Menschen gefunden habe und wohl auch nie wieder finden werde. Nein – Gatsby war letztlich in Ordnung; was mein Interesse an den vergeblichen Sorgen und kurzlebigen Hochgefühlen der Menschheit für eine Zeit lang erstickte, waren vielmehr diejenigen, die ihn zu ihrer Beute machten – der faule Staub, der im Kielwasser seiner Träume dahintrieb.

Meine Familie brachte seit drei Generationen hervorragende und tüchtige Leute in dieser Stadt hier im Mittleren Westen hervor. Die Carraways sind ein richtiger Klan, und die Legende besagt, dass wir von den Herzögen von Buccleuch abstammen, aber der tatsächliche Gründer unserer Familie war der Bruder meines Großvaters, der 1851 hier herkam, einen Ersatzmann in den Bürgerkrieg schickte und einen Eisenwarengroßhandel anfing, den mein Vater noch heute betreibt.

Ich habe diesen Großonkel nie kennengelernt, aber ich soll ihm angeblich ähnlich sehen – was sich vor allem auf das ziemlich hartgesottene Porträt im Büro meines Vaters bezieht. Meinen Abschluss in Yale habe ich 1915 gemacht, nur ein Vierteljahrhundert nach meinem Vater, aber kurz danach wurde ich in jene verspätete Völkerwanderung der Germanen verwickelt, die als der Große Weltkrieg bekannt ist. Der Gegenstoß machte mir so viel Spaß, dass ich keine Ruhe mehr fand, als ich zurückkam. Der Mittlere Westen erschien mir nicht länger als der warme Mittelpunkt der Welt, sondern als abgerissene Abbruchkante des Universums – und so beschloss ich, nach Osten zu gehen und das Wertpapiergeschäft zu erlernen. Alle, die ich kannte, waren in diesem Geschäft, und deshalb nahm ich an, es würde auch noch einen weiteren einzelnen Menschen ernähren. Alle meine Tanten und Onkel sprachen darüber, als gelte es, eine Schule für mich auszusuchen, und sagten schließlich mit zögernden, ernsten Gesichtern: »Na – jaa!« Mein Vater war bereit, mich ein Jahr lang zu finanzieren, und nach verschiedenen Verzögerungen kam ich schließlich im Frühjahr 1922 nach New York, auf Dauer, wie ich damals dachte.

Praktisch wäre es gewesen, sich eine Wohnung in der Stadt zu suchen, aber die warme Jahreszeit stand bevor und ich hatte gerade erst ein Land der weiten Rasenflächen und freundlichen Bäume verlassen, deshalb klang es wie eine gute Idee, als ein junger Mann aus dem Büro den Vorschlag machte, wir könnten uns doch ein Haus in den Pendler-Vororten suchen. Er fand tatsächlich einen wettergegerbten Pappkarton-Bungalow für achtzig Dollar im Monat, aber in letzter Minute schickte ihn die Firma nach Washington und deshalb zog ich allein aufs Land. Ich hatte einen Hund –, jedenfalls ein paar Tage, ehe er wegrannte – einen alten Dodge und eine finnische Haushälterin, die mir das Bett machte, das Frühstück hinstellte und über dem Elektroherd finnische Weisheiten murmelte.

Ein oder zwei Tage lang war es einsam, bis mich eines Morgens ein Mann auf der Straße anhielt, der offenbar noch später als ich in die Gegend gekommen war.

»Wie kommt man von hier aus nach West Egg?«, fragte er hilflos.

Ich sagte es ihm und als ich weiterging, war ich nicht länger einsam. Ich war jetzt ein Wegbereiter, ein Siedler, ein Führer. Er hatte mir gewissermaßen das Aufenthaltsrecht in der Gegend erteilt.

Und so wuchs mit dem ganzen Sonnenschein und den Blättern, die in großen Schüben wie im Zeitraffer aus den Bäumen hervorbrachen, bei mir das vertraute Gefühl, dass mit dem Sommer auch das Leben überall neu beginnen würde.

Einerseits musste ich sehr viel lesen, zum anderen galt es, all die schöne Gesundheit aus der jungen, belebenden Luft einzusaugen. Ich kaufte mir ein Dutzend Bücher über das Bank- und Kreditwesen, über Sicherheiten und Investitionen. Sie standen mit ihren rot-goldenen Rücken wie frisch geprägtes Geld auf meinem Regal und versprachen, mir die strahlenden Geheimnisse zu enthüllen, die nur Midas, Mäzenas und Morgan bekannt waren. Und ich hatte den noblen Vorsatz, auch noch viele andere Bücher zu lesen. Ich war im College ziemlich literarisch gewesen – ein Jahr lang hatte ich lauter sehr feierliche und banale Leitartikel für die Yale News geschrieben – und jetzt wollte ich all diese Dinge in mein Leben zurückholen und wieder jener speziellste aller Fachleute werden, der »rundum gebildete Mensch«. Das ist keineswegs nur ein Paradox – schließlich lässt sich das Leben immer noch am einfachsten aus einem einzigen Fenster betrachten.

Es war reiner Zufall, dass ich ein Haus in einer der seltsamsten Gemeinden von Nordamerika gemietet hatte. Es stand auf jener schlanken, wilden Insel im Osten New Yorks, an der es neben anderen Besonderheiten der Natur zwei ganz ungewöhnliche Auswüchse gibt. Zwanzig Meilen entfernt von der Stadt ragen nämlich zwei gewaltige Eier, die in ihren Umrissen beinahe identisch und nur von einer Art Anstands-Bucht voneinander getrennt sind, in den vielleicht bestgezähmten Salzwassertümpel der westlichen Hemisphäre hinaus, den großen, nassen Hinterhof des Long-Island-Sunds. Sie sind nicht vollkommen oval, sondern wie das Ei des Kolumbus am Ansatzstark eingedrückt, aber die Ähnlichkeit ihrer Gestalt muss bei den Möwen, die darüber hinwegfliegen, doch immer wieder Erstaunen auslösen. Für Flügellose ist dagegen ihre Verschiedenheit in jeder anderen Hinsicht als Form und Größe das weitaus interessantere Phänomen.

Ich wohnte in West Egg, der – nun ja – weniger schicken der beiden Halbinseln, obwohl das nur eine sehr oberflächliche Beschreibung für den bizarren und beinahe unheimlichen Gegensatz zwischen den beiden ist. Mein Haus stand direkt an der Spitze des Eis, nur fünfzig Meter vom Wasser entfernt, aber eingequetscht zwischen zwei riesigen Kästen, die wahrscheinlich zwölf- oder fünfzehntausend Dollar in der Saison kosteten. Der zu meiner Rechten war eine in jeder Hinsicht kolossale Angelegenheit – es war die Kopie eines Hôtel de Ville in der Normandie, mit einem brandneuen, mit schütterem Efeu bewachsenen Turm an der Seite, einem Marmor-Swimmingpool und mehr als vierzig Morgen Rasen und Gärten. Das war Gatsbys Herrenhaus. Oder eigentlich, da ich Gatsby nicht kannte, ein Herrenhaus, das ein Gentleman dieses Namens bewohnte. Mein eigenes Haus war ein Schandfleck, aber es war nur ein kleiner Schandfleck und man hatte ihn übersehen; ich hatte also einen Blick auf den Sund, einen partiellen Blick auf den Rasen meines Nachbarn, das tröstliche Gefühl, in der Nähe von Millionären zu wohnen – und das alles für achtzig Dollar im Monat.

Auf der anderen Seite der Bucht glitzerten die weißen Paläste am schicken Ufer von East Egg, und eigentlich beginnt die Geschichte dieses Sommers an jenem Tag, als ich dort hinüberfuhr, um bei den Buchanans zu Abend zu essen. Daisy Buchanan war eine Cousine zweiten Grades von mir und Tom kannte ich von der Uni. Nach dem Krieg hatte ich einmal zwei Tage in Chicago bei ihnen verbracht.

Abgesehen von anderen körperlichen Qualitäten war Tom einer der stärksten Flügelstürmer, der je in Yale Football gespielt hat – in gewisser Weise eine nationale Berühmtheit, einer jener Menschen, die mit einundzwanzig solche herausragenden Leistungen auf einem bestimmten Gebiet erreichen, dass alles danach wie ein Abstieg aussieht. Seine Familie war enorm reich. Schon an der Uni war sein freizügiger Umgang mit dem Geld Gegenstand der Kritik, aber die Art und Weise, wie er jetzt von Chicago nach Osten gekommen war, war schlechterdings atemberaubend: So hatte er zum Beispiel eine ganze Auswahl von Polo-Pferden aus Lake Forest mitgebracht. Es fiel einem schwer, sich vorzustellen, dass ein Mann meiner eigenen Generation reich genug war, um so etwas zu tun.

Warum sie an die Ostküste kamen, kann ich nicht sagen. Sie hatten ohne besonderen Anlass ein Jahr in Frankreich verbracht und waren dann ruhelos überall hierhin und dorthin gezogen, wo Leute Polo spielten und zusammen reich waren. Das sei jetzt ein dauerhafter Umzug, sagte Daisy am Telefon, aber ich glaubte es nicht. Ich hatte zwar keinen Einblick in Daisys Herz, aber ich hatte das Gefühl, dass Tom immer weiter dahintreiben würde, voller Sehnsucht nach dem dramatischen Ungestüm einer Football-Saison, die nie mehr zurückkehren würde.

So kam es, dass ich an einem warmen, windigen Abend nach East Egg hinüberfuhr, um zwei alte Freunde zu besuchen, die ich kaum kannte. Ihr Haus war sogar noch aufwendiger, als ich es mir vorgestellt hatte, ein fröhliches, ziegelrotes und weißes Herrenhaus im Kolonialstil von König George, das über die Bucht hinaussah. Der Park fing gleich unten am Strand an und stürmte über Rasenflächen, Sonnenuhren, kleine Backsteinmauern und flammende Blumenbeete eine Viertelmeile so schwungvoll zum Haus hoch, dass er schließlich mit leuchtenden Blütenranken an der Seitenfront hochbrandete. Die Fassade war durch eine Reihe französischer Türen gegliedert, die im gespiegelten Sonnengold strahlten und sich dem warmen, windigen Nachmittag öffneten, während Tom Buchanan im Reitanzug breitbeinig auf den Stufen unter dem Vorbau stand.

Er hatte sich seit seiner Zeit in New Haven verändert. Er war inzwischen ein bulliger Mann von dreißig Jahren mit strohigem Haar, einem recht harten Mund und überheblichem Auftreten. Zwei blanke, arrogante Augen beherrschten jetzt sein Gesicht und vermittelten den Eindruck, als ob er sich ständig aggressiv vorbeugte. Nicht einmal der weibische Prunk seines Reitanzugs konnte die enorme Kraft dieses Körpers verhüllen – er schien die blitzenden Stiefel zu füllen, dass die Riemen am oberen Ende sich spannten, und wenn er unter der dünnen Jacke die Schultern bewegte, sah man, wie sich die Muskelpakete darunter bewegten. Es war ein Körper mit gewaltiger Hebelkraft – ein grausamer Körper.

Seine Stimme, ein ruppiger, rauer Tenor, trug noch zum Eindruck der Reizbarkeit bei, den er vermittelte. Sie enthielt einen Hauch von feudaler Verachtung, sogar Leuten gegenüber, die er eigentlich mochte – und in Yale hatte es genügend Leute gegeben, die ihn nicht ausstehen konnten.

›Also, glaub bitte nicht, dass nur meine Meinung zählt, bloß weil ich stärker als du und ein richtiger Mann bin‹, schien er zu sagen. In Yale waren wir in derselben Senior Society und obwohl wir nie eng befreundet gewesen waren, hatte ich immer den Eindruck gehabt, dass er mich in seiner groben, herausfordernden Art akzeptierte und wollte, dass ich ihn mochte.

Wir unterhielten uns ein paar Minuten lang vor dem sonnigen Eingang.

»Nettes Haus hab ich hier«, sagte er, während seine Augen ruhelos hin und her zuckten.

Er drehte mich am Arm herum und zeigte mit einer breiten, flachen Hand auf den Ausblick, der einen abgesenkten italienischen Garten, einen halben Morgen tiefroter, stark duftender Rosen und ein stumpfnasiges Motorboot umfasste, das in der Flut dümpelte.

»Das hat früher Demeine, dem Öl-Mann, gehört.« Er drehte mich wieder zurück, zugleich höflich und schroff. »Gehen wir rein.«

Wir marschierten durch eine hohe Halle in einen hellen, rosenfarbigen Raum, der nur durch Terrassentüren mit dem Gebäude verbunden schien. Die Türen standen weit offen und glänzten weiß vor dem frischen Gras, das aussah, als ob es ein Stück weit ins Haus hineinwüchse. Eine Brise wehte durch diesen Raum und blies die Vorhänge wie blasse Fahnen auf der einen Seite herein und auf der anderen Seite heraus. Sie wirbelten fast bis zum Hochzeitstortenzuckerguss an der Decke hinauf, kräuselten sich über dem weinroten Teppich und warfen dabei leichte Schatten, wie eine Windbö aufs Meer.

Das einzige gänzlich unbewegte Objekt im Raum war eine gewaltige Couch, auf der zwei junge Frauen schwebten wie auf einem Fesselballon. Sie waren beide in Weiß und ihre Kleider flatterten und kräuselten sich, als wären sie nach einem kurzen Flug durchs Haus gerade erst wieder hereingeweht worden. Ich muss wohl ein paar Sekunden lang stehen geblieben sein und den peitschenden, knallenden Vorhängen und dem Ächzen eines Gemäldes an der Wand zugehört haben. Dann tat es einen Schlag, als Tom Buchanan die hinteren Türen schloss. Der im Zimmer gefangene Wind erstarb und die Vorhänge und Teppiche senkten sich zusammen mit den zwei jungen Frauen sanft auf den Boden.

Die Jüngere der beiden war eine Fremde für mich. Sie lag vollkommen reglos in voller Länge auf ihrer Seite des Diwans und hatte ihr Kinn gehoben, als ob sie etwas darauf balancierte, das leicht herunterfallen konnte. Falls sie mich aus den Augenwinkeln entdeckt haben sollte, ließ sie sich das nicht anmerken – stattdessen hätte ich in meiner Verblüffung fast eine Entschuldigung dafür gestammelt, dass ich sie durch mein Eintreten störte.

Das andere Mädchen – Daisy – nahm einen Anlauf, sich zu erheben, beugte sich aber letztlich nur etwas vor und machte ein schuldbewusstes Gesicht. Dann lachte sie ein absurdes kleines und sehr bezauberndes Lachen, und ich lachte auch und trat in den Raum.

»Ich bin g-gelähmt vor Glück.«

Wieder lachte sie, als ob sie etwas sehr Geistreiches gesagt hätte, hielt einen Augenblick meine Hand, sah mir von unten her ins Gesicht und versprach, es gebe niemanden auf der Welt, den sie so unbedingt sehen wollte wie mich. Das war so ihre Art. Mit einem Wispern ließ sie mich wissen, der Name des balancierenden Mädchens sei Baker. (Ich habe schon gehört, Daisys Wispern sei nur ein Trick, damit die Leute sich zu ihr hinbeugen; aber diese unbedeutende Kritik machte es nicht weniger reizend.)

Wie auch immer, Miss Bakers Lippen begannen zu zucken, sie nickte mir unmerklich zu und ließ dann rasch den Kopf wieder zurücksinken – der Gegenstand, den sie auf ihrem Kinn balancierte, hatte wohl etwas gewackelt und sie damit ein wenig erschreckt. Erneut wollten meine Lippen eine Art Entschuldigung hervorbringen. Fast jede Demonstration von völliger Selbstgenügsamkeit löst solche staunende Hochachtung bei mir aus.

Ich sah wieder meine Cousine an, die mir mit ihrer leisen, erregenden Stimme Fragen zu stellen begann. Sie hatte eine jener Stimmen, denen das Ohr so aufmerksam folgt, als wäre jeder Satz eine Melodie, die nie wieder gespielt werden wird. Ihr Gesicht war traurig und schön mit hell strahlenden Dingen darin, hellen Augen und einem hellen, leidenschaftlichen Mund – aber in ihrer Stimme schwang eine Erregung, die Männer, die sie einmal gehört hatten, nicht mehr vergaßen: ein bezwingender Singsang, ein geflüstertes »Hör mir zu«, eine Andeutung, dass sie gerade erst aufregende, lustige Dinge getan hatte und aufregende, lustige Dinge auch in der nächsten Stunde bevorstanden.

Ich sagte ihr, dass ich auf dem Weg nach Osten einen Tag in Chicago gewesen sei und Dutzende Leute sie grüßen ließen.

»Vermissen sie mich?«, rief sie voller Entzücken.

»Die ganze Stadt ist verzweifelt. Alle Autos haben das rechte Hinterrad als Trauerkranz schwarz gestrichen und an der North Shore hört man die ganze Nacht Klagelieder.«

»Wie herrlich! Lass uns wieder zurückgehen, Tom. Gleich morgen!« Dann sagte sie etwas beziehungslos: »Du musst dir das Baby ansehen.«

»Das würde ich gerne.«

»Sie schläft jetzt. Sie ist ja erst zwei Jahre alt. Hast du sie noch gar nicht gesehen?«

»Nein, noch nie.«

»Ja, du solltest sie wirklich mal sehen. Sie ist –«

Tom Buchanan, der ruhelos im Zimmer herumgeirrt war, blieb stehen und legte mir die Hand auf die Schulter.

»Was machst du immer so, Nick?«

»Ich bin im Wertpapiergeschäft.«

»Bei wem?«

Ich sagte es ihm.

»Nie gehört«, sagte er mit Entschiedenheit.

Das ärgerte mich.

»Das wirst du noch«, sagte ich. »Wenn du an der Ostküste bleibst.«

»Oh, sei ganz unbesorgt, ich werde hierbleiben«, sagte er und warf erst Daisy und dann mir einen Blick zu, als warte er noch auf etwas. »Ich wäre ein gottverdammter Narr, wenn ich irgendwo anders leben würde.«

An dieser Stelle sagte Miss Baker: »Genau!« – mit solcher Plötzlichkeit, dass ich zusammenfuhr. Es war das erste Wort von ihr, seit ich im Raum war. Offenbar überraschte es sie genauso wie mich, denn sie gähnte und stand mit einer Reihe von schnellen, geschickten Bewegungen auf und stellte sich in den Raum.

»Ich bin völlig steif«, klagte sie. »Ich habe auf diesem Sofa gelegen, solange ich denken kann.«

»Du brauchst mich gar nicht so anzuschauen«, erwiderte Daisy. »Ich habe dich den ganzen Nachmittag nach New York zu kriegen versucht.«

»Nein, danke«, sagte Miss Baker zu den vier Cocktails, die gerade aus der Bar gebracht worden waren. »Ich bin absolut im Training.«

Ihr Gastgeber sah sie ungläubig an.

»Tatsächlich?« Er kippte seinen Drink, als wäre es nur der letzte Tropfen im Glas. »Wie du jemals etwas fertigkriegst, ist mir ein Rätsel.«

Ich betrachtete Miss Baker und fragte mich, was es wohl sein könnte, das sie »fertigkriegte«. Ich genoss es, sie anzusehen. Sie war ein schlankes, kleinbrüstiges Mädchen mit aufrechter Haltung, die sie noch dadurch betonte, dass sie ihre Schultern zurückwarf wie ein junger Kadett. Ihre grauen, sonnengequälten Augen erwiderten meine höfliche Neugier und musterten mich aus einem charmanten, aber unzufriedenen blassen Gesicht. Mir fiel plötzlich auf, dass ich sie oder ein Bild von ihr schon irgendwo gesehen hatte.

»Sie wohnen in West Egg«, stellte sie abfällig fest. »Da kenne ich jemanden.«

»Ich kenne keinen einzigen –«

»Aber Gatsby müssen Sie kennen.«

»Gatsby?«, fragte Daisy. »Welchen Gatsby?«

Noch ehe ich sagen konnte, dass er mein Nachbar war, wurde zum Abendessen gerufen. Energisch klemmte Tom Buchanan seinen straffen Arm unter meinen und schob mich aus dem Zimmer, als müsse er einen Damestein auf ein anderes Feld setzen.

Schlank und träge, eine Hand leicht auf die Hüfte gelegt, traten die beiden jungen Frauen vor uns auf die dem Sonnenuntergang zugewandte, rosenfarbene Veranda hinaus, wo vier Kerzen im abflauenden Wind auf dem Tisch flackerten.

»Wozu denn Kerzen?«, beschwerte Daisy sich stirnrunzelnd und schnippte sie mit den Fingern aus. »In zwei Wochen ist der längste Tag des Jahres.« Sie sah uns alle strahlend an. »Wartet ihr auch immer auf den längsten Tag des Jahres und verpasst ihn dann doch? Ich warte immer auf den längsten Tag des Jahres und verpasse ihn dann.«

»Wir sollten einen Plan machen«, gähnte Miss Baker und setzte sich an den Tisch, als ob sie ins Bett ginge.

»Ja, fein«, sagte Daisy. »Was sollen wir planen?« Sie wandte sich hilflos an mich: »Was machen denn Leute für Pläne?«

Ehe ich antworten konnte, richtete ihr Blick sich plötzlich voller Ehrfurcht auf ihren kleinen Finger.

»Schaut mal!«, jammerte sie. »Ich hab mir wehgetan.«

Wir schauten alle – der Fingerknöchel war blauschwarz geschwollen.

»Das bist du gewesen, Tom«, sagte sie anklagend. »Ich weiß, dass du’s nicht gewollt hast, aber getan hast du’s doch. Das hab ich nun davon, dass ich so einen Rohling geheiratet habe, so einen Muskelprotz, so ein großes, brutales Mannsbild –«

»Ich hasse das Wort Muskelprotz«, sagte Tom ärgerlich, »auch im Spaß.«

»Muskelprotz«, beharrte Daisy.

Sie und Miss Baker redeten manchmal gleichzeitig, unaufdringlich und mit jener scherzhaften Leichtigkeit am Rande des Plapperns, die in Abwesenheit allen Begehrens so gelassen und kühl schien wie ihre weißen Kleider und ihre unpersönlichen Augen. Sie waren da und duldeten Tom und mich, machten aber nur aus Höflichkeit schwache Versuche, zu unterhalten und sich unterhalten zu lassen. Sie wussten, dass dieses Essen bald vorüber sein würde, und der Abend selbst ein wenig später ebenfalls, und beides dann abgehakt werden konnte. Es war ganz anders als im Mittleren Westen, wo so ein Abend in ständig enttäuschter Erwartung oder nervöser Furcht vor dem Augenblick von einer Phase zur nächsten getrieben wurde, bis er dann schließlich vorbei war.

»Daisy, du gibst mir das Gefühl, ich wäre unzivilisiert«, gestand ich beim zweiten Glas Bordeaux, der ziemlich eindrucksvoll war, aber ein wenig nach Kork schmeckte. »Kannst du nicht über Ernteerträge oder so etwas reden?«

Ich meinte gar nichts Besonderes mit dieser Bemerkung, aber sie wurde mit unerwarteter Heftigkeit aufgegriffen.

»Die Zivilisation geht den Bach runter«, platzte Tom laut heraus. »Ich bin inzwischen in dieser Hinsicht ein richtiger Pessimist. Hast du ›The Rise of the Coloured Empires‹ von Goddard gelesen?«

«Nein, wieso?«, erwiderte ich, einigermaßen verblüfft von seinem Ton.

»Na ja, es ist ein ausgezeichnetes Buch und jeder sollte es lesen. Die Grundidee ist die, dass, wenn wir nicht aufpassen, wird die weiße Rasse – sie wird absolut überflutet. Es ist reine Wissenschaft, alles bewiesen.«

»Tom ist neuerdings sehr profund«, sagte Daisy und ihr Gesichtsausdruck war gedankenlos traurig. »Er liest diese tiefsinnigen Bücher mit langen Wörtern. Was war das neulich noch für ein Wort, das wir –«

»Nun ja, das sind alles wissenschaftliche Bücher«, beharrte Tom und warf ihr einen ungeduldigen Blick zu. »Der Bursche hat alles genau berechnet. Es liegt an uns, an der herrschenden Rasse, dass wir aufpassen, sonst übernehmen die anderen Rassen die Herrschaft.«

»Wir müssen sie niederschlagen«, wisperte Daisy und blinzelte wild in die sinkende Sonne.

»Ihr solltet in Kalifornien leben –«, sagte Miss Baker, aber Tom stoppte sie, indem er sich heftig auf seinem Stuhl herumwälzte.

»Das Konzept besteht darin, das wir alle nordische Menschen sind. Ich bin nordisch, du bist nordisch und du und –« Nach einem winzigen Zögern schloss er auch Daisy mit einem Nicken ein. Sie blinzelte mir erneut zu. »Und wir haben all die Dinge geschaffen, die die Zivilisation ausmachen – also, äh, Wissenschaft, Kunst und all das. Verstehst du?«

Es lag etwas Mitleiderregendes in dieser Fixierung, so, als ob ihm seine Selbstgefälligkeit, die im Vergleich zu früher noch stärker geworden war, nicht mehr genügte. Als kurzdarauf das Telefon im Haus klingelte und der Butler die Veranda verließ, nutzte Daisy die Unterbrechung und beugte sich zu mir herüber.

»Ich werde dir ein Familiengeheimnis erzählen«, flüsterte sie aufgeregt. »Es hat mit der Nase des Butlers zu tun. Willst du hören, was mit der Nase des Butlers los ist?«

»Deswegen bin ich heute Abend gekommen.«

»Also, er war nicht immer ein Butler. Früher hat er das Silber für irgendwelche Leute in New York poliert, die ein Besteck für zweihundert Personen besaßen. Von morgens bis abends musste er Silber putzen, bis schließlich seine Nase darunter gelitten hat –«

»Es wurde immer schlimmer«, ergänzte Miss Baker.

»Ja, es wurde schlimmer und schlimmer, bis er schließlich seine Stelle aufgeben musste.«

Einen Augenblick lang fielen die letzten Sonnenstrahlen mit sehr romantischer Wirkung auf Daisys erhitztes Gesicht und ihre Stimme zwang mich, ihr atemlos zuzuhören – dann verblasste das Licht. Jeder einzelne Strahl verließ sie mit bedauerndem Zögern, wie Kinder beim Einbruch der Dämmerung von einer schönen Straße weggehen.

Der Butler kehrte zurück und flüsterte dem Hausherrn etwas ins Ohr, woraufhin Tom die Stirn runzelte, seinen Stuhl zurückschob und wortlos ins Haus ging. Als ob seine Abwesenheit etwas in ihr in Bewegung gesetzt hätte, beugte Daisy sich wieder vor und ihre Stimme glühte und sang.

»Ich sehe dich gern an meinem Tisch, Nick. Du erinnerst mich an – eine Rose, eine absolute Rose. Nicht wahr?« Sie drehte sich um und suchte Bestätigung bei Miss Baker. »Eine absolute Rose?«

Das war unzutreffend. Ich bin nicht im Mindesten wie eine Rose. Sie redete nur so ins Unreine, aber eine belebende Wärme ging von ihr aus, so, als ob in einem dieser atemlosen, aufgeregten Wörter ihr Herz verborgen wäre und herauszukommen versuchte. Dann warf sie plötzlich ihre Serviette auf den Tisch, entschuldigte sich und rannte ins Haus.

Miss Baker und ich tauschten einen kurzen, bewusst von jeder Bedeutung entleerten Blick. Ich wollte schon etwas sagen, als sie sich aufmerksam aufsetzte und mit warnender Stimme »Psst!« machte. Ein unterdrücktes, leidenschaftliches Geflüster war aus dem Inneren des Hauses zu hören und Miss Baker beugte sich ungeniert vor, um zu lauschen. Das Gemurmel zitterte am Rand der Verständlichkeit, fiel ab, stieg erregt wieder an und hörte dann ganz auf.

»Dieser Mr Gatsby, den Sie erwähnt haben«, sagte ich, »das ist mein Nachbar –«

»Nicht reden. Ich will hören, was passiert.«

»Passiert etwas?«, fragte ich unschuldig.

»Soll das heißen, Sie wissen es nicht?«, sagte Miss Baker ehrlich überrascht. »Ich dachte, es wüssten alle.«

»Ich nicht.«

»Ach –«, sagte sie zögernd. »Tom hat so eine Frau in New York.«

»Eine Frau?«, wiederholte ich verständnislos.

Miss Baker nickte.

»Sie könnte ja den Anstand haben, ihn nicht beim Abendessen anzurufen. Finden Sie nicht?«

Fast noch ehe ich ganz begriffen hatte, waren das Rauschen eines Kleides und das Knirschen von Lederstiefeln zu hören. Tom und Daisy waren wieder am Tisch.

»Ließ sich nicht vermeiden!«, rief Daisy mit angespannter Fröhlichkeit.

Sie setzte sich, sah Miss Baker und mich prüfend an, dann sagte sie plötzlich: »Ich hab mal nach draußen geschaut, es ist sehr romantisch da draußen. Auf dem Rasen sitzt ein Vogel, eine Nachtigall, glaube ich. Muss wohl mit der ›Cunard‹ oder ›White Star Line‹ herübergekommen sein. Er singt so schön vor sich hin –« Und ihre Stimme sang: »Ist es nicht romantisch, Tom?«

»Sehr romantisch«, sagte er – und dann etwas kläglich zu mir: »Wenn es nach dem Essen noch hell genug ist, werde ich dir die Stallungen zeigen.«

Wieder schreckte uns das Telefon auf, das im Haus klingelte, und während Daisy in Richtung Tom entschieden den Kopf schüttelte, lösten sich die Frage der Pferdeställe und eigentlich auch alle anderen Fragen in Luft auf. Von den letzten chaotischen fünf Minuten am Tisch ist mir nur noch erinnerlich, dass grundlos die Kerzen wieder entzündet wurden und dass ich gleichzeitig allen fest ins Auge schauen und niemanden ansehen wollte. Ich hatte keine Ahnung, was Daisy und Tom denken mochten, aber ich glaube, dass auch Miss Baker mit ihrer erprobten Skepsis nicht in der Lage war, die schrille metallische Dringlichkeit der fünften Person zu verdrängen. Bestimmten Charakteren wäre die Situation vielleicht reizvoll erschienen – mein eigener Instinkt ging eher dahin, augenblicklich die Polizei anzurufen.

Die Pferde wurden natürlich nicht mehr erwähnt. Tom und Miss Baker schlenderten mit einigen Metern Zwielicht zwischen sich in die Bibliothek, als ob sie eine sehr konkrete Leiche bewachen müssten, während ich Daisy ein wenig benommen, aber mit interessiertem Gesichtsausdruck über eine Reihe von Terrassen zum Vorbau am Haupteingang folgte. Im tiefen Schatten setzten wir uns auf ein Korbsofa.

Daisy nahm ihr Gesicht in die Hände, als ob sie seine schöne Form spüren wolle, und ihre Augen wanderten in das samtene Abenddunkel hinaus. Ich sah, dass heftige Gefühle von ihr Besitz ergriffen hatten, deshalb stellte ich ein paar Fragen nach ihrer kleinen Tochter, weil ich dachte, dass sie das beruhigen würde.

»Wir kennen uns gar nicht besonders gut, Nick«, stellte sie plötzlich fest. »Obwohl du mein Cousin bist. Du warst auch nicht bei meiner Hochzeit.«

»Ich war noch nicht aus dem Krieg zurück.«

»Das ist wahr.« Sie zögerte. »Nun ja, es ist mir nicht gut ergangen, Nick, und ich bin ganz schön zynisch geworden.«

Offensichtlich hatte sie ja gute Gründe dafür. Ich wartete, aber sie sagte nichts weiter, und nach einer kurzen Pause kehrte ich etwas unbeholfen zur Frage nach ihrer Tochter zurück: »Ich nehme an, sie spricht und – isst und all so was?«

»Oh, ja.« Sie sah mich geistesabwesend an. »Hör mal, Nick, ich würde dir gern erzählen, was ich gesagt habe, als sie geboren wurde. Willst du es hören?«

»Ja, gern.«

»Das wird dir zeigen, was ich jetzt so denke über – die Dinge. Also, sie war kaum eine Stunde alt und Tom war Gott weiß wo. Ich wachte aus der Narkose auf und fühlte mich völlig verlassen. Ich fragte die Schwester sofort, ob es ein Junge sei oder ein Mädchen. Sie sagte mir, dass es ein Mädchen war, und ich drehte den Kopf weg und weinte. ›Na, gut‹, sagte ich. ›Ich freue mich, dass es ein Mädchen ist. Und ich hoffe, sie wird ein ganz dummes Ding – das ist noch das Beste, was ein Mädchen in dieser Welt werden kann, ein schönes, albernes kleines Ding.‹«

»Weißt du«, sagte sie sehr überzeugt, »ich glaube, es ist sowieso alles schrecklich. Alle sagen das, auch die fortschrittlichsten Leute. Aber ich weiß es. Ich war überall, habe alles gesehen und alles getan.« Ihre Augen zuckten fast so herausfordernd umher wie Toms und sie lachte höhnisch und durchdringend. »Modern – mein Gott, ich bin so modern!«

Als ihre Stimme abbrach und meine Aufmerksamkeit und mein Vertrauen nicht mehr von ihr gefesselt waren, spürte ich die grundlegende Unehrlichkeit dessen, was sie gesagt hatte. Ich hatte den unbehaglichen Eindruck, dass der ganze Abend womöglich eine Art Trick gewesen sein könnte, mit dem mir ein emotionaler Beitrag abgepresst werden sollte. Ich wartete, und tatsächlich: Im nächsten Moment sah sie mich mit einem abgehobenen Grinsen auf ihrem hübschen Gesicht an, als habe sich wieder einmal bestätigt, dass sie und Tom zu einer besonders exklusiven Geheimgesellschaft gehörten.

Der karmesinrote Raum im Inneren war hell erleuchtet. Tom und Miss Baker saßen an verschiedenen Enden der langen Couch und sie las ihm aus der ›Saturday Evening Post‹ vor. Die gemurmelten, schwach betonten Wörter liefen zu einem tröstlichen Liedchen zusammen. Das Licht der Lampe, das grell auf seinen Stiefeln glänzte, aber auf ihrem herbstgelben Haar eher matt schimmerte, flackerte kurz über die Zeitung, als sie mit einem Flattern der schlanken Muskeln in ihren Armen die Seite umblätterte.

Als wir hereinkamen, hielt sie uns einen Moment lang zurück, indem sie die Hand hob.

»Fortsetzung folgt in der nächsten Ausgabe«, sagte sie und warf das Blatt auf den Tisch.

Ihr Körper sortierte sich mit einem nervösen Zucken der Knie und sie stand auf.

»Zehn Uhr«, sagte sie und schien die Zeit an der Decke abgelesen zu haben. »Zeit, ins Bett zu gehen, für ein braves Mädchen wie mich.«

»Jordan spielt morgen im Turnier drüben in Westchester«, erläuterte Daisy.

»Ach! Sie sind Jordan Baker?«

Jetzt wusste ich, warum ihr Gesicht mir vertraut war – seine angenehmen, verächtlichen Züge hatten mich aus zahllosen Tiefdruckfotos der Sportwelt in Asheville, Hot Springs und Palm Beach angeschaut. Auch eine irgendwie kritische, unangenehme Geschichte über sie hatte ich mal gehört, inzwischen aber längst vergessen, worum es dabei gegangen war.

»Gute Nacht«, sagte sie leise. »Weckt mich um acht, ja?«

»Wenn du dann auch aufstehst …«

»Das werde ich. Gute Nacht, Mr Carraway. Wir sehen uns bald wieder.«