Roy Rockwood

Bomba der Dschungelboy

Band 1

 

 

 

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2 Die Männer mit dem eisernen Stock

Bomba war behende und leichtfüßig. Er eilte den Tretpfad entlang, bückte sich, um tiefhängenden Ästen und spitzen Palmblättern auszuweichen, streifte an wegsperrenden Lianen entlang und spürte in seiner Erregung nicht das scharfe Reißen von Dornenzweigen an seinen Beinen. Er brauchte sich nicht umzuschauen – er wusste, dass die Schlange ihn verfolgte. In Gedanken sah er das wellenartige Gleiten des vierzehn Fuß langen Körpers hinter sich – sah den schmalen, flachen Kopf – sah das angriffslustig geöffnete Maul und glaubte das Zischen zu hören: böse, drohend und todverkündend.

Bomba lief um sein Leben. Die Füße bewegten sich mit wunderbarer Schnelligkeit. Gleichzeitig arbeitete der Verstand des Jungen mit ebensolcher Eile. Jede Einzelheit der Umgebung nahmen die braunen Augen wahr. Er kannte den Pfad genau und erinnerte sich an jede Biegung und an die Besonderheiten – an niedrighängende Äste, an Baumhöhlen und an die Verstecke zwischen Riesenblättern und üppigem Farnkraut.

Bomba hätte versuchen können, auf einen Baum zu klimmen. Ehe er jedoch die ersten Meter überwunden hätte, wäre die furchtbare Schlange bei ihm gewesen.

Außerdem war die Schlange ein besserer Kletterer als er selbst.

Auch ein Flussarm hätte keine Rettung bedeutet. Dem einen Ungeheuer wäre er vielleicht entgangen, um einem anderen zum Opfer zu fallen. Da lauerten die Kaimane im Uferschlamm, und Piranhas, diese gierigen kleinen Fische mit den nadelspitzen, rasiermesserscharfen Zähnen, glitten durch das Wasser. Ein Schwarm von ihnen könnte seinen Körper in wenigen Minuten in ein Skelett verwandeln. Immerhin hätte er im Wasser eine Chance des Entkommens gehabt, doch der Fluss war weit entfernt.

Eine kleine Lichtung öffnete sich vor ihm. Bomba führte einen geschmeidigen, verwirrenden Sprungtanz aus, um seine Verfolgerin in die Irre zu führen. Sein Körper schnellte nach links und rechts, ehe er wieder in einen Dschungelpfad eintauchte. Das gab einen Vorsprung von einigen Yards – einen winzig kleinen Vorsprung, der aber die Rettung bedeuten konnte.

Allmählich wurde Bombas Atem schwerer. Er rannte und keuchte dabei. Seine Füße waren noch schnell und beweglich, aber er spürte, dass seine Kräfte nachließen. Mut und Tatbereitschaft verließen ihn nicht. Plötzlich sah er etwas, das ihm neue Hoffnung gab. Vor ihm hing eine dick verfilzte Masse von Schlingpflanzen an einem Baum. Es war wie ein riesiger Fächer von Gewächsen, nur mit kleinen Zwischenräumen. Bomba sprang hinter diesen natürlichen Schutzschirm. Schnellatmend blieb er stehen und beobachtete seinen Feind durch eines der Löcher.

Nicht weiter als sechs Yards war die Coonaradi von ihm entfernt. In ihren Augen glaubte Bomba das Funkeln der Wut zu erkennen. Während sie schnell auf sein Versteck zuschoss, fasste Bomba einen tollkühnen Entschluss. Im Urwald siegte immer der, der schneller denken oder schneller handeln konnte. Bomba wusste es. Plötzlich steckte er seinen Kopf durch den Schirm von Schlinggewächsen. Er schrie laut auf und zog blitzschnell den Kopf zurück.

Seine Hoffnung erfüllte sich. Die Schlange bäumte sich hoch und stieß nach dem Gesicht des Feindes. Durch das enge Loch im Gewächsvorhang fuhr der Schlangenkopf, und der aufgerissene Rachen packte das filzige Pflanzengeflecht. Die Coonaradi bekam den Kopf nicht wieder frei. Der Leib wand sich und peitschte den Boden.

Bomba sprang aus seinem Versteck heraus. Er trat von hinten an die Schlange heran und begann mit fliegend-schnellen Fingerbewegungen aus den grünen Stricken der Schlinggewächse ein Netz zu flechten. Geschickt wand er die Gewächsschnüre um den unruhigen Schlangenleib, bis es kein Entkommen mehr gab.

Erst als er seiner Sache sicher war, hörte Bomba mit dem Netzknüpfen auf und senkte die Hände. Da war nun der Feind, der noch vor wenigen Minuten sein Leben bedroht hatte. Nichts mehr blieb übrig als eine hilflos zappelnde Masse in der unzerreißbaren Umschlingung der Pflanzenstricke. Bomba war erschöpft, und sein Herz klopfte dumpf gegen die Brust, aber er war auch ein wenig stolz über seinen Sieg. Seine Geschicklichkeit und List hatten einen schrecklichen Dschungelräuber überwunden. Nur seiner Schnellfüßigkeit und dem rasch arbeitenden Verstande hatte er diesen Sieg zu verdanken.

Bomba wollte seinen Sieg damit krönen, dass er die Schlange tötete. Seine Hand griff zur Machete, jenem zweischneidigen Buschmesser, das scharf wie eine Rasierklinge war und dessen Klinge mehr als dreißig Zentimeter maß. Nach einer kurzen Überlegung schob Bomba die Waffe in den Gürtel zurück. Wenn er nach dem Kopf der Schlange hieb, würde er vielleicht die Schlinggewächse zerschneiden. Es könnte sein, dass er die Coonaradi nur verwundete und zugleich befreite. Mochte also der Dschungel selbst die Rache vollenden.

Da gab es die Pekaris, die gefräßigen Wildschweine, für die Schlangenfleisch einen Leckerbissen bedeutete. Sicherlich würden sie bald vorüberkommen.

Als Bomba durch das Blattgewirr einen Blick nach oben warf, sah er am hellen Himmel einen Vogel kreisen. Die Geier waren schon zur Stelle. Ihr Instinkt lockte sie heran, noch ehe die Beute tot war. Das war auch nötig, denn wenn sie zu lange warteten, hatten Ameisenschwärme in kurzer Zeit das Reptil bis zum Skelett abgenagt.

In den Stolz und die augenblickliche Genugtuung über seinen Sieg mischte sich plötzlich ein Gefühl des Erschreckens. Einen Augenblick lang schaute sich Bomba hilflos um, als suchte er einen Ratgeber.

Der weiße Mann mit dem Eisenstock!

Würde er ihn jetzt noch finden? Er hatte viel Zeit versäumt. Bevor er weitereilte, vergewisserte er sich, dass die Coonaradi der Fesselung nicht entkommen konnte. Er wählte auch einen anderen Pfad, weil er wusste, dass diese Schlangen meist paarweise jagten.

Die Gesetze des Dschungels mussten eingehalten werden. Das hatte Bomba eben zu spüren bekommen. Trotzdem war er zornig, weil er einen weiten Umweg machen musste, um wieder in jene Richtung zu gelangen, aus der das Geräusch des Schusses gekommen war. Kummer und Angst trieben ihn zur Eile an. Es war schon spät am Nachmittag. Wenn er den Mann mit dem eisernen Stock bis zum Einbruch der Dunkelheit nicht fand, musste er alle Hoffnung aufgeben, ihn je zu sehen. Daran durfte er nicht denken. Er wollte an keinen Misserfolg glauben.

Bomba hätte nicht sagen können, warum das Auffinden des Mannes mit dem Eisenstock für ihn so wichtig war. Während er sich mit der Machete seinen Weg durch das Unterholz bahnte – während er keuchte und sich mühselig weiterarbeitete, spürte er unbestimmbar und beunruhigend das Vorgefühl einer wunderbaren Erkenntnis. Er wusste nicht, was es war: aber bald würde er etwas kennenlernen, von dem nur sein sehnsüchtiger Instinkt etwas ahnte.

*

Fast eine Stunde verging, ehe der Geruch von bratendem Fleisch in Bombas Nase drang. Menschen mussten also in der Nähe sein. Sehr vorsichtig schlich er näher heran. Noch wusste er nicht, wem er begegnen würde. Aus der Verborgenheit seines Dschungelverstecks wollte er die Fremden erst beobachten, ehe er sich ins Freie wagte.

Nach einigen Minuten verstohlenen Anschleichens vernahm Bomba Stimmen. Zuerst unterschied er die schnatternden kehligen Laute der Eingeborenensprache. Aber es waren noch andere Stimmen zu hören. Ein freudiger Schreck durchzuckte ihn. Er hörte Laute jener Sprache, die auch Casson und er redeten. Noch nie hatte er solche Worte von fremden Lippen vernommen. Nicht alles war ihm vertraut, aber er verstand vieles.

Bomba kauerte still hinter einem Baum. Er war also nicht zu spät gekommen. Die Fremden, die seine Sprache kannten, waren noch da. Vielleicht durfte er selbst mit einem von ihnen sprechen. Er durfte ihn anschauen und Fragen an ihn stellen.

Bomba wurde wieder unvorsichtiger und glitt näher an den Rand des Dschungels. Er ließ sich auf die Knie fallen, kroch nahe an den Baum heran und spähte durch das Unterholz.

Vor seinen Augen breitete sich eine Lichtung aus. Im Hintergrund war wie eine grüne Mauer der Urwald. Im hellen Sonnenschein lag die Lichtung mit ihrem üppigen Graswuchs da. Vögel und Schmetterlinge schwirrten farbenprächtig bunt durch die Luft. Es gab Blumen mit riesigen, feuerfarbigen Kelchen, Blüten, die himmelblau zwischen großen Blattpflanzen hervorschimmerten, und Büsche mit bernsteingelben Früchten.

Jetzt erschien es Bomba so, als läge eine Stimmung von Heiterkeit und Freude über der Landschaft. Er hatte noch nie bemerkt, wie schön es hier war. Alles war ihm gleichgültig und beinahe düster erschienen. Zum ersten Male nahm er mit Entzücken die Buntheit und Farbenpracht des Dschungels wahr. Die Hitze war nicht mehr so drückend wie im morastigen Urwalddunkel. Alle Aufregung und Gefahr der letzten Stunden waren vergessen, und Bomba lag da und schaute.

Es dauerte nicht lange, bis er zwischen den Eingeborenen zwei Männer entdeckte, deren Gesichtszüge ihm vertraut vorkamen, obwohl er sie noch nie gesehen hatte. Der eine Fremde war groß und hager, der andere untersetzt und muskulös. Die beiden saßen auf Baumstümpfen nebeneinander und unterhielten sich. Dabei beschäftigten sie sich mit verschiedenartigen Dingen. Bomba sah, wie der eine den geheimnisvollen eisernen Stock zerlegte. Es musste so etwas Ähnliches wie ein Blasrohr sein, denn der Mann hielt das Vorderteil davon ab und zu gegen das Auge und blickte hindurch. Dann zog er immer wieder eine merkwürdige Kette mit Stofffetzen durch das Rohr. Zu gleicher Zeit häutete der andere ein Tier von der Größe eines Kalbes ab. An dem rauhen Haar und der schwarzbraunen Haut erkannte Bomba, dass es ein Tapir sein musste.

Obwohl die Gesichtshaut der Fremden dunkel gebräunt war, entdeckte Bomba am Halsausschnitt der offenen Hemden die gleiche helle Haut wie bei Casson und sich selbst. Er erschauerte und unterdrückte nur mit Mühe einen Freudenschrei. Sein Weg war nicht umsonst gewesen: er hatte Wesen entdeckt, die ihm glichen. Wenn er die scharfgeschnittenen, klugen Gesichter mit den Zügen der Eingeborenen verglich, erschienen ihm die Fremden wirklich wie Gäste aus einer anderen Welt.

Bei alledem fühlte Bomba sofort Zuneigung und eine bezwingende Art von Neugierde. Die Fremden hatten freundliche Gesichter. Hier war nichts, was Furcht erregen konnte. Von seinem Gefühl der Verwandtschaft angetrieben, wollte Bomba sofort aufspringen und auf die Lichtung eilen. Doch er sank wieder zu Boden. Zu streng waren die Gesetze des Dschungels, und zu gefährlich war ihre Übertretung. Die beiden Empfindungen von Zuneigung und Vorsicht bekämpften einander in Bombas Herzen. Er brannte darauf, sich den Fremden zu zeigen, und er schrak davor zurück.

Es war nicht mehr nötig, dass er sich entschied. Im gleichen Augenblick, als er eine unvorsichtige Bewegung machte, wurde ihm die Entscheidung abgenommen. Das scharfe Auge eines Eingeborenen hatte ihn entdeckt, und der Mann stieß sofort einen schrillen Warnungsschrei aus. Die beiden Fremden griffen nach ihren Waffen und sprangen auf.

Nun gab es kein Zurück mehr für Bomba. Noch einmal atmete er tief ein, als müsste er seine ganze Kraft für die entscheidenden Schritte zusammenraffen. Dann stand er auf, strich mit einer schnellen Handbewegung das Haar aus der Stirn und trat durch den Farnvorhang auf die sonnenhelle Lichtung hinaus.

3 Ein verstohlener Feind

Mit erhobenen Handflächen trat Bomba aus dem Dschungel. Langsam kam er auf die Fremden zu, und sie erkannten, dass dies eine Geste der Freundschaft sein sollte. Die Gewehrläufe senkten sich. Zugleich ließ der eine von ihnen einen Ruf der Überraschung hören.

„Kein Grund zur Aufregung“, sagte der andere lächelnd. „Ein gewöhnlicher Indianerjunge, wenn mich nicht alles täuscht.“

„Solange man nicht genau hinschaut!“, unterbrach ihn der Größere. „Aber schau dir sein Haar an – diese hellbraunen Augen – die gerade Nase! Er ist so weiß wie du oder ich – oder ich heiße nicht Gillis! Habe ich recht?“

Jack Dorn war nicht streitsüchtig, und er musste dem anderen auch recht geben.

„Ich glaube, du hast dich nicht geirrt, Alter“, sagte er, indem er seinen Blick über das Gesicht des Jungen gleiten ließ. „Ein Wunder bleibt es trotzdem, wie er in diese verlassene Dschungelgegend kommt. Ich wusste nicht, wo es hier im Umkreis von tausend Meilen Weiße geben sollte.“

„Ich auch nicht“, gab Ralph Gillis zu. „Es scheint fast, wir hätten uns geirrt. Wahrscheinlich gehört er zu einem anderen Lager von Gummisuchern hier in der Nähe.“

„Dann würde er wohl nicht solche Kleidung tragen – wenn man das überhaupt so nennen kann.“ Dorn schüttelte verwirrt den Kopf. „Nur ein Tuch und ein Pumafell: wo hat ein weißer Junge jemals diese Art von Anzug getragen?“

„Wir wollen uns nicht den Kopf zerbrechen, sondern ihn fragen“, sagte Gillis entschlossen. Er machte eine Handbewegung, die freundlich und vertraulich auf Bomba wirkte. „Komm einmal her, Junge! Du brauchst dich nicht zu fürchten. Vor Gillis und Dorn muss niemand Angst haben, der ein gutes Gewissen hat.“

Bomba näherte sich scheu. Immer noch war der Widerstreit der Gefühle in seinem Innern, und er wusste nicht, welcher der Empfindungen er mehr vertrauen sollte: der Angst oder der Zuneigung.

„Wie heißt du?“, fragte Gillis.

„Bomba!“

Gillis runzelte erstaunt die Stirn.

„Bomba? Ein seltsamer Name für einen weißen Jungen. Oder bist du kein Weißer?“

„Doch“, erwiderte Bomba stolz. Er zog das Pumafell zurück und zeigte seine helle Körperhaut.

„Gut“, sagte Gillis. „Und du verstehst auch, was ich sage. Also bist du ein Engländer oder ein Amerikaner.“

Gillis überlegte einen Augenblick. Verschiedene Fragen zugleich schwebten ihm auf der Zunge. Was für ein Ereignis! Hier im Dschungel war plötzlich ein Junge aus dem Urwald getreten, der wie ein Eingeborener mit Pfeil und Bogen bewaffnet war, und der zugleich eine helle Haut hatte und Englisch verstand. Wie sollte er sich das erklären?

„Du musst noch einen anderen Namen haben“, forschte Gillis weiter. „Du kannst nicht nur Bomba heißen.“ Bomba schüttelte den Kopf, als betrübte ihn selbst das Fehlen eines weiteren Namens.

„Ich habe keinen anderen Namen. Ich bin Bomba.“

Die Männer wechselten erstaunte Blicke. Jetzt übernahm Dorn die Rolle des Fragenden.

„Wer sind deine Leute?“, fragte er.

Mit diesen Worten wusste Bomba nichts anzufangen. Er überlegte schnell, weil er sich keine Blöße vor den Männern geben wollte. Dann musste er aber zugeben, dass er den Sinn der Frage nicht verstanden hatte. Wieder schüttelte er betrübt den Kopf.

„Ich weiß nicht, was das Wort bedeutet“, murmelte er. „Was für eine merkwürdige Geschichte“, rief Gillis. „Manches versteht er und manches nicht.“ Er senkte die Stimme und wandte sich an Bomba mit freundlich fragendem Tonfall. Er wollte den Jungen nicht erschrecken. „Ich meine, du musst doch einen Vater und eine Mutter haben. Das ist es, was wir unter ‚deine Leute‘ verstehen.“

„Ich glaube, ich habe keinen Vater und keine Mutter“, gab Bomba Auskunft. „Nie habe ich von ihnen etwas gesehen oder gehört.“

Den unerschütterlichen, breitschulterigen Dorn packte eine Regung von Mitleid.

„Der arme Kerl“, murmelte er so leise, dass es Bomba nicht hören konnte. Gillis fragte weiter:

„Hast du niemand, bei dem du lebst? Irgendwer muss doch für dich sorgen. Es ist doch unmöglich, dass du allein im Dschungel umherirrst wie ein Wilder.“

Bombas Züge hellten sich auf. Er war froh, dass er eine befriedigende Auskunft geben konnte.

„Ich lebe bei Cody Casson“, sagte er.

Bomba konnte sich nicht vorstellen, dass jemand seinen Lehrer und Beschützer Casson nicht kannte – aber den beiden Männern war der Name unbekannt.

„Was ist das für ein Mann?“, erkundigte sich Gillis. „Wo wohnt er?“

Bomba wies nach Süden.

„Dort wohnen wir. Casson ist ein guter alter Mann. Wir leben in einer Hütte – es ist ziemlich weit von hier.“ „Und der alte Mann ist ein Verwandter von dir?“ Wieder überlegte Bomba. Auch dieses Wort war ihm fremd, und er musste es zugeben.

„Ich weiß nicht, was das bedeutet.“

In einer Geste komischer Verzweiflung warf Gillis die Hände in die Luft. Die Eingeborenen standen herum und unterhielten sich aufgeregt über das neuartige Dschungelereignis. Die Mahlzeit war vergessen. Das Fleisch brutzelte unbeachtet weiter, und Bomba war der Mittelpunkt der Aufmerksamkeit.

„Du liebe Güte –“, Gillis machte noch einmal seine drollige Handbewegung. „Du liebe Güte: jetzt weiß er wieder nicht, was ‚Verwandte‘ bedeutet. Ich werde gleich aus der Haut fahren.“

Bomba riss die Augen in ehrlichem Erstaunen weit auf. Jeden Augenblick erwartete er, das angekündigte Ereignis vor seinem Blick zu sehen.

„Das muss schwer sein“, meinte er ehrfurchtsvoll. „Ich habe noch niemand gesehen, der aus der Haut fahren konnte.“

Zum ersten Male seit ihrer Begegnung lachten die Männer herzlich und laut. Der untersetzte Dorn wurde rot im Gesicht bei seinem Heiterkeitsausbruch, und auch der schmächtige, große Gillis grinste so vergnügt wie selten. Etwas verwirrt beteiligte sich Bomba an dem Gelächter. Es freute ihn, dass er die Fremden zum Lachen gebracht hatte. Sie waren so freundlich zu ihm. Er fühlte, wie die Woge von Zuneigung und Vertrauen von neuem durch sein Inneres zog und alle Gefühle von Furcht und Misstrauen erlöschen ließ.

Nach einer Weile strich Gillis über sein Gesicht, als wollte er das Lächeln fortwischen. Es lag ihm nichts daran, sich über den Jungen zu belustigen. Wenn dieser landläufige Ausdrücke der Umgangssprache nicht kannte und sie wörtlich nahm, so war das bei seiner einsamen Lebensweise nicht weiter verwunderlich.

„Wann bist du in den Dschungel gekommen?“, forschte Gillis weiter.

„Ich bin schon immer hier gewesen.“

In die hellen Augen von Gillis trat ein Ausdruck von Grübelei. Diese Begegnung wurde immer verwunderlicher.

„Erinnerst du dich nicht?“, fragte er sanft. „Weißt du nicht mehr, ob du einmal woanders gelebt hast? Wahrscheinlich bist du über den Ozean gekommen?“

Bomba legte die Stirn in Falten. Er sah jetzt wie ein Junge in der Schule aus, dem ein gütiger Lehrer eine schwere Frage vorgelegt hat und der brennend gern die Frage beantworten möchte. Aber wieder mußte er seine Unwissenheit bekennen.

„Was ist das?“, fragte er leise. „Was bedeutet Ozean?“ Gillis lächelte geduldig.

„Es ist wie ein Strom, wie ein riesengroßer Strom, dessen Ufer du tagelang nicht zu sehen bekommst, wenn du darüberfährst.“

Bomba schüttelte den Kopf.

„Ich habe noch kein Wasser gesehen, das ich nicht durchschwimmen konnte.“

„Und du hast nie von England oder Amerika gehört?“ „Hier gibt es keine Tiere mit solchen Namen“, antwortete Bomba arglos.

Die Männer tauschten Blicke miteinander, aus denen Mitleid und Bestürzung zu erkennen war.

„Ein echtes Naturkind!“, sagte Gillis zu seinem Freund gewandt. „Keine Ahnung von irgend etwas außerhalb seiner Dschungelwelt. Wie erklärst du dir das?“

„Ich bin so schlau wie du“, murmelte Dorn. „Wir werden diesen Casson aufsuchen müssen, wenn wir mehr erfahren wollen. Das scheint die einzige Möglichkeit zu sein, um das Rätsel zu lösen.“ Dorn überlegte einen Augenblick. Dann schüttelte er in sanfter Empörung den Kopf. „Eine unmögliche Sache! Der Junge scheint gute Anlagen zu haben. Unbedingt sollte er in eine zivilisierte Gegend gebracht werden, damit man ihn zu einem vernünftigen Mann erziehen kann.“

„Das sollte er“, stimmte Gillis zu. „Allerdings weiß ich nicht, was wir dazu tun können. Unser Weg führt nach Norden, und wir sind schon mit der Zeit im Rückstand. Wenn wir nicht rechtzeitig an der Küste sind, versäumen wir unseren Dampfer. Wir können drüben den Behörden von der Begegnung berichten, und wir können uns bei unserer Rückkehr hierher selbst wieder mit der Sache befassen.“ Gillis schaute zur Seite und schnupperte in der Luft herum. „Übrigens dürften die Steaks fertig sein. Ich bin hungrig wie ein Wolf. Unser junger Gast mag mitessen, wenn er Geschmack an unserer Kochkunst findet.“

Die Einladung erfüllte Bomba mit neuer Hoffnung. Er fürchtete sich jetzt schon vor der Trennung, von der Gillis gesprochen hatte. Für jede Minute war er dankbar, die er in der Nähe der Fremden bleiben durfte. Außerdem machte auch ihm der Hunger zu schaffen, und er dankte freudig.

Als die Männer aus ihrem Gepäck Messer und Gabeln hervorholten, brachten sie Bomba von neuem in Verlegenheit. Solche Werkzeuge hatte er noch nie gesehen. Er begann das Fleisch zu essen, indem er es nach seiner Gewohnheit mit Zähnen und Fingern zerriss. Dabei beobachtete er verstohlen und mit Bewunderung, wie geschickt seine neuen Bekannten das Tischgerät benutzten.

Bald war er so weit, dass er sich seiner eigenen Ungeschicklichkeit schämte. Er gehörte zu diesen weißen Männern, und er wollte so essen wie sie. Heimlich griff er nach Messer und Gabel und begann damit zu hantieren. Zuerst sah es nicht sehr geschickt und erfolgreich aus. Die beiden Fremden taten jedoch so, als sähen sie nichts von Bombas unglücklichen Versuchen. Sie wollten ihm die ersten Schritte in die Zivilisation nicht unnötig erschweren.

Die Unterhaltung während des Essens wurde allmählich immer ungezwungener. Die Weißen fragten viel, und Bomba erzählte von seinen verschiedenen Dschungelabenteuern. Als er von der Gefangennahme der Coonaradi berichtete, warfen sie sich erstaunte Blicke zu. Wahrscheinlich hätten sie nicht die Hälfte von Bombas Erzählungen geglaubt, wenn seine schlichte Art des Berichtes nicht überzeugend geklungen hätte. Es war deutlich zu erkennen, dass Bomba nicht zur Prahlerei neigte. Er sprach von den Vorfällen, als wären es keine gefährlichen Abenteuer. Man konnte meinen, er berichte nur von seiner Tagesarbeit im Dschungel. Mehr und mehr wurde Gillis vom Wesen und von der freundlichen Natürlichkeit des Jungen bezwungen. Oft lag ihm schon ein Vorschlag auf den Lippen, und plötzlich musste er ihn doch aussprechen.

„Warum nehmen wir den Jungen nicht mit? Das wäre der einfachste Weg, ihn in die Zivilisation zu bringen. Für uns wäre die Begleitung bestimmt auch nicht schlecht. Er weiß mit allen Dingen des Dschungels besser Bescheid als du oder ich. Es wäre also für beide Teile ein Glück.“

Dorn schien sich mit der gleichen Möglichkeit schon in Gedanken beschäftigt zu haben. Er stimmte sofort zu und wandte sich an Bomba.

„Und was sagt unser junger Freund dazu? Möchtest du mit uns kommen?“

Einen Augenblick lang war Bomba nahe daran, aufzuspringen und einen verrückten Freudentanz zu beginnen. Seine Augen wurden groß und strahlend. Aber er hatte noch nichts von der Falschheit und Verstellungskunst der Zivilisation kennengelernt, und so war deutlich zu sehen, wie sich im nächsten Moment sein Gesichtsausdruck verdüsterte.

„Es ist nicht möglich“, flüsterte er leise und traurig. „Wenn ich Cody Casson in der Hütte allein lasse, muss er sterben. Er ist mein Beschützer gewesen. Ich darf ihm jetzt nicht davonlaufen.“

Gillis senkte den Kopf, und Dorn räusperte sich. Sie wollten nicht zeigen, wie sehr sie die Worte des Jungen bewegt hatten. Der größere beugte sich näher zu seinem Freund und sprach sehr leise zu ihm.

„Wir dürfen den Jungen nicht in Versuchung führen“, sagte er. „Das ist ein guter Kerl, und er soll so bleiben. Früher oder später werden wir die beiden aufsuchen. Dann können wir sie aus dem Dschungel holen.“

Die Mahlzeit war vorüber, und Gillis griff nach seiner Pfeife und nach den Streichhölzern. Als er ein Hölzchen entzündete, machte Bomba unwillkürlich eine erschreckte Bewegung zur Seite.

„Hast du das nie gesehen?“, fragte Dorn überrascht. „Nein“, gestand Bomba, „ich mache das Feuer anders.“ Er nahm einen Stock und eine zierliche Holzschüssel aus seinem Gürtel, ließ den Stock in dem Schüsselchen quirlen und erzeugte in wenigen Sekunden einen Funken. „Ausgezeichnet!“, rief Dorn bewundernd.

Obwohl Bomba stolz auf das Lob war, hatte er doch schnell erkannt, dass seine neuen Freunde rascher und besser Feuer zu machen verstanden. Er konnte nicht anders, immer wieder musste er mit verlangenden Augen auf die Streichholzschachtel schauen. Da sich in seinem Gesicht offen alle Regungen spiegelten, erkannte Gillis schnell, was er sich wünschte. Lächelnd suchte er aus seinem Gepäck eine neue Zündholzschachtel hervor und reichte sie Bomba. Der hätte vor Freude fast das Danken vergessen. Immer näher kam er seinen weißen Freunden. Jetzt konnte er schon auf ihre Art Feuer erzeugen.

Auf der Lichtung im Dschungel war Leben und Bewegung. Die Eingeborenen beschäftigten sich damit, Zelte aufzurichten und Brennholz für das Lagerfeuer herbeizuholen. Jenseits des grünen Baumwalles versank die Sonne als glühender Ball. Der Himmel, der am Tage metallisch-hell schimmerte, tönte sich dunkler in Rosa und Grün. Die Dämmerung im Dschungel brach schnell herein. Bald würde es so weit sein.

Aber dafür hatte Bomba jetzt keinen Blick. Endlich war es so weit, dass er in das Geheimnis des Eisenstockes eingeweiht wurde. Gillis zeigte ihm sein Gewehr. Es war viel schöner als der alte Eisenstock von Casson, der schließlich mit solchem großen Getöse zerplatzt war. Obwohl Bomba nicht wusste, auf welche Weise ein Gewehr seine tödliche Arbeit verrichtete, kannte er doch seine Kraft. Vor seinen Augen lag als Beweis dafür der tote Tapir, und dann gab es noch die beiden Erinnerungen: der Jaguar, der sich im Sprunge in der Luft überschlagen und dann tot vor ihm gelegen hatte, und die Anakonda, die erschreckt in das Urwalddickicht zurückgeflohen war.

„Möchtest du wissen, wie gut ein Gewehr jeden fernen Punkt trifft?“, fragte Gillis.