Roy Rockwood

Bomba im Berg der Feuerhöhlen

Band 2

 

 

 

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1 Das Zischen der Schlange

Als Bomba den Gipfel des Hügels erklommen hatte, blieb er am Fuße eines knorrigen Baumriesen stehen. Er beschattete die Augen mit der Hand und hielt vorsichtig Umschau. Vor ihm wogte der Dschungel wie ein grünes Meer — mit den Wolkenkämmen kleiner Hügel und mit Lichtungen, die wie helle Schaumspritzer zwischen den grünen Wellen aufleuchteten.

Die Landschaft senkte sich nach Norden zu, so dass Bomba eine der näheren Lichtungen deutlich sehen konnte. Dort quirlte Rauch auf. In der Einsamkeit des Urwaldes konnte Rauch immer Gefahr bedeuten. Für Cody Casson und Bomba war es besonders wichtig, eine Gefahr rechtzeitig zu erkennen.

Ohne zu zögern, begann Bomba den Doladobaum zu erklettern, der die Kuppe des Hügels mit seiner Krone weit überragte. Dieser alte Riese war voll spitzer Dornen, aber der Junge verstand es so geschickt, jede Unebenheit und jeden Riss im Stamm als Halt für Hände und Füße zu gebrauchen, dass er schnell vorankam.

Von seinen vierbeinigen Urwaldfreunden, den Affen Tatuc und Doto, hatte er gelernt, ohne Hilfe der Knie, nur mit den Fingern und den Füßen zu klettern, und deshalb sah es aus, als glitte ein pantherartig geschicktes Wesen den Stamm hinauf. Im Gewirr der Äste entschwand die Gestalt jedem Blick.

Der Junge, der im Wipfel des Baumes auf einem Ast kauerte und über das Blätterdach der Bäume hinwegblickte, bot ein Bild von Anmut und Harmonie. Es war so, als gehörte Bomba zum Dschungel, als wäre er die Verkörperung von wilder Schönheit, von Jugendkraft und Lebensfreude, von all jenen Elementen des blühenden Daseins, die im Dschungel so mannigfaltig und unverfälscht zur Gestaltung drängten.

Der Junge mochte etwa vierzehn Jahre alt sein. Für sein Alter war er ziemlich groß und kräftig. Er hatte braunes, lockiges Haar und Augen von rehbraunem Glanz. Jetzt hatte dieser Blick die Schärfe und Aufmerksamkeit eines Indianerauges. Die bronzefarbig getönte Haut und die Kleidung aus Pumafell, Lendentuch und selbstgeflochtenen Sandalen ließen leicht die Täuschung zu, dass man einen Indianer des Amazonasgebietes vor sich hatte.

Wie ein Eingeborener hatte Bomba als Waffe und Handwerkszeug ein langes Buschmesser — die Machete — im Gürtel stecken. Pfeile und Bogen hatte er am Fuße des Baumes zurückgelassen. Von den Wilden unterschied den Jungen neben der helleren Hautfarbe auf der Brust auch der Besitz eines Revolvers. Diese Waffe war ein Geschenk von Gummisuchern, die Bomba vor einiger Zeit im Urwald getroffen hatte. Bei einem nächtlichen Überfall von Jaguaren hatte er den Männern das Leben gerettet, und das Geschenk ihrer Dankbarkeit war der fünfschüssige Revolver gewesen.

Bombas Blick glitt dorthin, wo sich der Rauch von der Lichtung hochkräuselte. Von seiner luftigen Höhe aus konnte er fast das ganze, grasbewachsene Oval der Lichtung einsehen. Nur die Stelle, an der das Lagerfeuer brennen musste, war noch von den Bäumen verdeckt. Bomba musste deshalb noch höher in den schwankenden Baumwipfel hineinklettern.

Er fragte sich besorgt, ob es Kopfjäger waren, die dort Rast hielten. Schon früher am Tage hatte er eine Gruppe dieser blutgierigen Indianer gesichtet. Einige von ihnen trugen am Gürtel als Trophäen die zusammengeschrumpften und sorgfältig präparierten Menschenköpfe mit den echten, blauschwarzen Haarsträhnen, die von der Ermordung harmloser Eingeborener Kunde gaben.

Einmal hatte Bomba die Wildheit und Grausamkeit der Kopfjäger am eigenen Leibe spüren müssen. Sie hatten ihm und seinem alten Gefährten Cody Casson nach dem Leben getrachtet. Bei dem Kampf waren einige der Wilden getötet worden, und der Häuptling Nascanora hatte Verwundungen erlitten. Es war nicht ausgeschlossen, dass ihre Rachsucht die Kopfjäger dazu treiben würde, von neuem einen Angriff auf die beiden Weißen im Dschungel zu wagen.

Unter der Last des Menschengewichtes geriet der dünne Baumwipfel bedenklich ins Schwanken. Der Urwaldriese hatte eine Höhe von nahezu sechzig Yards, und ein Sturz in die Tiefe würde für den Jungen den Tod bedeuten. Sehr vorsichtig setzte er den Fuß noch ein wenig höher hinauf. Jetzt endlich sah er das, was ihm wichtig erschien.

Am Rande der Lichtung saßen Gruppen von Indianern im Gras. Über einem Feuer brieten lange Fleischstücke.

Einige der Eingeborenen aßen, während andere in lebhafter Unterhaltung beieinander hockten. Aus ihren heftigen Handbewegungen war zu erraten, dass es sich um hitzige Wortgefechte handeln musste.

Doch dann sah Bomba etwas, das ihn mehr fesselte als der Anblick der schmausenden und schwatzenden Indianer. Unwillkürlich beugte sich der Junge auf seinem luftigen Sitz weit vor. Sein Herzschlag beschleunigte sich. Er erspähte vier Gestalten, die an einen Baum gefesselt waren. Es waren keine Indianer — Bomba erkannte es sofort an der Kleidung. Wie die Gummisucher, denen er vor einiger Zeit begegnet war, trugen sie Tropentracht, die sie von den Wilden unterschied. Dort waren Menschen von seiner Art!

Aber sie waren Gefangene der Kopfjäger, und Bomba wusste, was es bedeutete, Gefangener dieser mordgierigen Wilden zu sein. Menschen von seiner Art! Bomba atmete erregt und starrte angestrengt auf die Lichtung hinunter. Aus dieser Entfernung waren die Gesichter nicht deutlich zu erkennen. Eine Gestalt fiel ihm jedoch auf. Sie war schlanker und nicht so groß wie die anderen Gefangenen. Golden schimmerndes Haar fiel ihr über die Schultern.

Das war ein Anblick, der Bomba mit einer unbekannten, süßen Sehnsucht erfüllte. Noch nie hatte er eine weiße Frau gesehen, und nun wusste er, dass dort eine in der Gefangenschaft der Kopfjäger war. Ob seine Mutter auch solche wunderbaren, goldenen Haare gehabt hatte?

Die Vorstellung, dass es ebenso gut seine Mutter sein könnte, die in der Gewalt der grausamen Wilden schmachtete, erfüllte ihn mit wildem Zorn. Das durfte nicht sein! Er musste sie retten! Er musste diese Weißen retten! Der Wille war so stark und impulsiv, dass Bomba sich keine Gedanken um die Ausführung der Tat machte. Nur erst an Ort und Stelle sein, dachte er. Er verließ sich auf seinen Mut und auf seine Dschungelerfahrung. Im rechten Augenblick würde ihm schon der beste Plan einfallen.

Schnell und gewandt begann Bomba seinen Abstieg vom Doladobaum. Er ließ sich hinabgleiten, schwebte mitunter, nur von seinen Händen gehalten, hoch zwischen Himmel und Erde und fand dann mit den Füßen wieder Halt auf einem Ast.

Plötzlich hielt er inne. Ein Laut hatte sein Ohr berührt, und er erstarrte mitten in der Bewegung. Es war das böse, angriffslustige Zischen einer Schlange gewesen. Zwischen ihm und dem Boden verbarg sich das Tier irgendwo im Geäst. Das war das schlimmste dabei: der Fluchtweg nach unten war ihm abgeschnitten.

3 Der Zauber des weißen Mannes

Bomba sprang zur Tür, warf sie zu und schob den Riegel aus dem Holz des Lebensbaumes vor. Keinen Augenblick zu früh! In der nächsten Sekunde dröhnten schwere Körper gegen das Holz. Es krachte, und der Riegel bog sich — aber er hielt stand.

Es war merkwürdig genug, dass sich die Angreifer nach diesem kurzen Versuch sofort zurückzogen, denn bei anderen Angriffen wären sie kaum von der Stelle gewichen. Aber nach ihrer abergläubischen Meinung war in dieser Hütte ein Zauber. Sie wollten kein unnötiges Risiko eingehen und stürmten so schnell zurück, dass Bomba bei einem Blick durch die Schießscharten der Hüttenwand keine Gestalt mehr am Rande des Dschungels erblicken konnte.

Für die Kopfjäger saßen Bomba und Casson natürlich in einer Falle. Sobald sich einer von beiden zeigte, würde ein Hagel von Pfeilen seinen Leib durchbohren. Dieser unerfreuliche Gedanke huschte durch Bombas Sinn, während er eilig Vorbereitungen zur Verteidigung traf. Die fünf Kammern seines Revolvers waren geladen, und er hatte einen Vorrat von Patronen neben sich aufgestapelt. Er saß an einer der Schießscharten, und ein Bündel neuer Pfeile lag neben seinem Bogen griffbereit. Doch der Urwald war wie eine grüne Wand: undurchdringlich und finster. Dahinter verbarg sich irgendwo der Feind. Dort standen die dunklen Männer und warteten vielleicht auf das Kommen der Nacht.

Wie lange mochte diese Ruhe vor dem Kampf — dieses trügerische Schweigen jenseits der Farnbüsche und wiegenden Palmgipfel dauern? Bomba ermaß nach dem Sonnenstand, dass es um die Mitte des Nachmittags sein musste. Vielleicht warteten die Kopfjäger auch auf weitere Angehörige ihres Stammes. Jene Krieger, die die Weißen in ihrer Gewalt hatten, würden vielleicht noch zu dem Trupp stoßen, der die Hütte soeben bestürmt hatte. Sie wollten sich so stark wie möglich machen, um die vermeintlichen Zauberer in der Hütte bestimmt überwältigen zu können.

Während diese Überlegungen durch Bombas Sinn huschten, bemerkte er, dass Casson sich von seinem Schreck und seiner Unschlüssigkeit erholt hatte. Er half bei den Verteidigungsvorbereitungen und zeigte eine Beweglichkeit und Lebendigkeit, die Bomba sonst an ihm vermisste. „Sind es Nascanoras Leute?“, fragte Casson im Flüsterton. „Er ist nicht dabei“, gab Bomba Auskunft. „Vielleicht macht ihm seine Verwundung noch zu schaffen.“ Er lachte grimmig. „Ich wünsche ihm alles Gute.“ Mit seiner brüchigen Stimme lachte Casson mit.

„Auch von mir das Beste für den Herrn mit den schönen Narben im Gesicht! Er sieht aus wie ein zur Erdoberfläche zurückgeschickter Teufel.“

„Und er ist es auch“, ergänzte Bomba leise. „Ich sah von einem Baumwipfel aus vier Gefangene bei einem Trupp der Kopfjäger.“

„Weiße?“, rief der Alte mit einem Ton von Erregung in der fragenden Stimme.

„Weiße“, bestätigte Bomba mit dumpfer Stimme. Der alte Naturforscher seufzte schwer.

„Möge der Himmel den armen Menschen helfen! Ich möchte nicht, dass einer von uns beiden lebend in die Hände dieser Unmenschen fällt.“ Casson versank in Nachdenken. Erst nach einer Weile richtete er von neuem eine Frage an Bomba.

„Hast du den Führer der Gruppe erkannt?“, fragte er. „Den Häuptling dieser Leute, die eben unsere Hütte erstürmen wollten?“ Bomba nickte.

„Der Mann sah wie Tocarora aus. Du weißt, das ist der Halbbruder dieses narbigen Teufels. Er soll nicht ganz richtig im Kopf sein.“

Ein Geschrei vom Dschungelrand her unterbrach das Gespräch der beiden in der Hütte. Diesmal war es jedoch kein Kampfruf — nicht das wüste Geheul des Angriffs oder der ohnmächtigen Wut. Es war ein langgezogener Signalruf, der anscheinend die Aufmerksamkeit der Weißen in der Hütte erregen sollte. Noch einmal wurde der gedehnte Schrei wiederholt, und dann rief ein unsichtbarer Sprecher:

„Hört ihr Tocarora? Tocarora will mit dem weißen Mann sprechen!“

Unschlüssig und verblüfft sahen sich die beiden an. In Bombas Augen glimmte Misstrauen auf.

„Eine Kriegslist! Sie wollen uns herauslocken, um dann leichtes Spiel zu haben“, vermutete er. Doch Casson war diesmal nicht seiner Meinung.

„Wir sollten ihn anhören“, rief er. „Früher habe ich oft mit Eingeborenen unterhandelt, die sich zuerst recht wild und angriffslustig gebärdeten. Manchmal ist dies besser als die Sprache der Feuerwaffe.“

Casson wurde lebhaft, wie ihn Bomba selten gesehen hatte. Irgendeine Erinnerung schien in seinen verdüsterten Geist zurückgekehrt zu sein.

„Deine Stimme ist stärker“, fuhr Casson fort. „Sprich du mit ihm. Rufe ihm zu, dass wir ihn reden hören wollen. Er soll sich zeigen, wenn er Mut hat. Er soll zeigen, dass er ein Häuptling ist und kein Feigling. Wir müssen wissen, ob er auch über die Macht verfügt, seinen Willen bei den Kriegern durchzusetzen.“

Die Eingeborenensprache des Amazonasgebietes war Bomba bekannt. Die meisten Stämme benutzten diesen Dialekt, mit geringfügigen Abweichungen. Getreulich übersetzte der Junge die Worte des alten Naturforschers. Obwohl seine Stimme noch hell war, klang sie volltönend und schallte weit über die Lichtung bis in den Urwald hinein. Drüben hinter dem Vorhang von üppig wucherndem Gestrüpp und Buschwerk blieb es eine Weile still. Wahrscheinlich wurde beraten. Endlich kam die Antwort.

„Der weiße Mann hat einen Stock, der Feuer speit!“, rief die Stimme. „Der Häuptling fürchtet sich nicht, aber er muss wissen, dass der weiße Mann keine List gebraucht. Auch mit Pfeilen darf der weiße Mann nicht schießen. Er muss selbst herauskommen. Dann wird auch Tocarora ihm entgegengehen, und sie werden die Zeichen der Freundschaft und des Friedens austauschen.“

Das war ein vernünftiger Vorschlag, wenn er keine verborgene List enthielt. Bomba hatte sein Misstrauen immer noch nicht überwunden. Zögernd blickte er Casson an. Doch die Wandlung im Benehmen des Alten blieb bestehen. Er war wie von neuem Lebensmut beseelt. Jetzt war er wieder der kühne Mann der Wissenschaft, der früher einmal in die gefahrvolle Dschungelwelt gezogen war, um ein Leben zu führen, das weit von dem der Menschen in der Zivilisation abwich. Es war der Cody Casson, an den Bomba sich noch erinnerte. Ein Mann im Vollbesitz seiner Geisteskräfte — bevor die Explosion eines Gewehres ihm die Gedächtniskraft geraubt hatte.

„Sage ihm, dass ich kommen werde“, befahl Casson. „Sage ihm aber auch, dass er sich vor Doppelzüngigkeit hüten möge. Der Feuerstock würde dann sprechen, und er müsste sterben. Der Häuptling soll ohne Waffen kommen. Er muss auch seinen Männern befehlen, nicht zu schießen. Du versprichst ihm von uns aus die gleiche Sicherheit. Wenn das Palaver vorüber ist, kann er unversehrt zu seinen Leuten zurückkehren, und ich gehe in unsere Hütte.“ Wieder übersetzte Bomba die Worte des Alten genau. In seinem Innern waren Freude und Verwunderung. Wie sollte er sich die Verwandlung des alten Gefährten erklären? Gewöhnlich saß er stundenlang stumm und brütend da. Fragen beantwortete er einsilbig oder überhaupt nicht. Nur wenn ihm irgendeine Erinnerung zu schaffen machte, wurde er etwas gesprächiger. Aber er wurde gereizt und brach in Tränen aus, sobald er merkte, dass das Gedächtnis ihn wieder im Stich ließ. Und nun diese Energie und Tatenlust!

Eigentlich hätte es Bomba vorgezogen, das Palaver selbst zu führen. Doch er machte sich klar, dass einer im Hintergrund sein musste, der wirklich genau und sicher mit Waffen umgehen konnte. Cassons Hand war nicht mehr so ruhig wie ehedem. Also musste Bomba mit dieser Regelung einverstanden sein.

Während der Junge die Meldung hinausrief, lief Casson in der Hütte hin und her und nahm Gegenstände an sich. Da der Raum kein Fenster hatte, vermochte Bomba im Halbdunkel nicht zu erkennen, welche Vorbereitungen der alte Naturforscher für das Zusammentreffen mit dem Häuptling der Kopfjäger traf.

Es dauerte nicht lange, bis Tocarora hinter einem Baum hervortrat. Von weitem war die Ähnlichkeit mit Nascanora verblüffend. Die gleiche riesige Gestalt und die Zeichen der Häuptlingswürde auf der Brust. Er war unbewaffnet und hielt die Hände hoch über dem Kopf. Als Zeichen der Freundschaft wiesen die Handflächen in Richtung der Hütte.

Jetzt öffnete auch Casson die Tür und trat ins Freie. In derselben freundschaftlichen Art näherte er sich der Mitte der Lichtung. Sie gingen aufeinander zu, bis sie sich fast berührten.

Mit bangem Herzklopfen sah Bomba den Unterschied im Kräfteverhältnis. Auf der einen Seite der große, kupferfarbige Indianer mit den muskulösen Armen und Beinen, und ihm gegenüber der schmächtige Gelehrte, den noch dazu Alter und Krankheit gebeugt hatten. Es sah so aus, als könnte der Kopfjäger sein Gegenüber mit einer Handbewegung auslöschen. Dennoch war etwas im Wesen Cassons, das ihm eine unsichtbare Überlegenheit gab. Was war das für eine Kraft?

Casson richtete die ersten Worte an seinen Gegner.

„Warum ist Tocarora gekommen? Warum hat Tocarora die guten Jagdgründe am Großen Katarakt verlassen?“ Tocarora lächelte schief.

„Viele und gute Jagd hier! Mehr Tiere als bei uns! Wir sind gekommen, um zu jagen.“

„Tocarora spricht mit doppelter Zunge“, tadelte ihn der Alte mit erhobener Stimme. „Wie sollen wir ein gutes Palaver halten, wenn Tocarora so die Wahrheit verbirgt? Nicht Tapire und nicht Schildkröten sind in der Hütte der weißen Männer verborgen. Ich habe jedenfalls dort noch keine gejagt. Warum also stürmt Tocarora mit seinen Leuten auf die Hütte los, wenn er doch nur Wild jagen will?“ Es schien für Tocarora unmöglich zu sein, den Blick des alten, schwächlichen Mannes auszuhalten. Er blickte ihn mit seinen schwärzlichen, weit auseinanderliegenden Augen nur immer verstohlen an und schielte dann zur Seite.

„Kein böser Gedanke gegen die Weißen ist in Tocaroras Herzen!“, beteuerte er scheinheilig. „Kein Leid wird dem weißen Mann zugefügt werden. Tocarora hat nur eine Bitte: der weiße Mann soll ihn zum Großen Katarakt begleiten.“

„Mein Jagdgebiet ist nicht beim Großen Katarakt“, sagte Casson. „Was sollte ich dort tun?“

„Es ist der Wille Nascanoras, dich dort zu sehen“, erwiderte Tocarora. „Häuptling Nascanora war krank und mit ihm viele seines Stammes. Alle haben sehr gelitten unter dieser Krankheit. Nascanora glaubt, dass der Zauber des weißen Mannes die Krankheit über den Stamm gebracht hat. Der weiße Mann kann auch den Zauber wieder entfernen, und deshalb soll er zum Großen Katarakt kommen.“

Casson machte eine langsame, abwehrende Geste.

„Kein böser Zauber geht von mir aus“, sagte er. „Mein Zauber ist gut. Auch Nascanora und seinem Volke habe ich nichts Böses zugefügt. Viel lieber würde ich ihnen Gutes tun.“

Tocaroras Bitte wurde dringender. Er beugte sich vor, und von der Hütte aus wirkte es so, als wollte er den Weißen mit seinen Händen packen. Bombas Hand presste sich fester um den Revolvergriff. Dann sah der Junge jedoch, dass der Indianer nur erregter sprach und dabei diese Gesten machte.

„Es ist Nascanoras Wille, dass du kommst“, wiederholte der Kopfjäger. „Du wirst es nicht bereuen. Geschenke werden dir zu Füßen gelegt werden, und du wirst kräftiges Vieh erhalten.“

„Der weiße Mann braucht keine Geschenke“, wies ihn Casson stolz zurück. „Wäre mein Zauber etwas wert, wenn er mir nicht brächte, was ich will? Niemand muss mir Geschenke machen. Ich rufe die Dinge, und sie kommen zu mir. Sieh her, Tocarora! Öffne deine Augen weit und schau!“

Aus der linken Hand ließ Casson Nägel und ein Stückchen von einer eisernen Pfeilspitze ins Gras fallen. Er hob beschwörend die Hand und blickte den Indianer durchdringend an.

„Die Dinge kommen zu mir, wenn ich sie rufe“, verkündete er noch einmal. Er bückte sich und streckte die Rechte aus, in deren Innenfläche er einen Magneten verborgen hielt.

„Kommt! Ihr toten Dinge, kommt zu mir!“, rief er.

Es sah so aus, als sprängen die Eisenstücke aus dem Gras empor in seine Hand. Der Alte richtete sich auf und steckte alles zusammen in die Tasche. Er machte dazu ein gleichmütiges Gesicht, als bemerkte er nicht die Verblüffung des Eingeborenen.

„Du siehst, Tocarora“, sagte er freundlich, „selbst das harte Eisen gehorcht mir. Weshalb sollte ich also Nascanoras Geschenke brauchen?“

Auf der Stirn des Eingeborenen standen Schweißtropfen. Seine Augen waren weit aufgerissen, und er schaute abwechselnd auf den Boden und in das Gesicht des Weißen. Anscheinend erwartete er, dass im nächsten Augenblick noch weitere Nägel und Eisenstücke wie Gras aus dem Boden sprießen würden.

„Der weiße Mann hat einen starken Zauber“, murmelte er. Seine Lippen zitterten. „Totes Eisen wandert in seine Hand!“

„Oh, das ist nicht viel“, meinte Casson lächelnd. „Es gibt noch mehr Zauber — guten Zauber! Oder ist das Feuer kein guter Zauber? Ich habe es an meinen Fingerspitzen! Schau!“

Mit einem Streichholz entzündete Casson eine kleine Fackel aus Pechfichte, die er mitgebracht hatte. Der Eingeborene sprang beim Anblick der plötzlich aufzischenden Flamme einen Schritt zurück. Er schaute furchtsam auf das abbrennende Hölzchen. Dann trat er vorsichtig wieder heran, als Casson den Rest des Streichholzes fortwarf. Tocarora wollte nicht zugeben, dass er sich gefürchtet hatte. Es erschien ihm auch nicht so übernatürlich, auf so schnelle Weise Feuer zu erzeugen.

„Auch Tocarora macht mit dem Holz Feuer“, brüstete er sich. Damit meinte er die Methode der Eingeborenen, ein hartes Hölzchen so lange in einer kleinen besonderen Schüssel zu wirbeln, bis ein Funke entstand. „Tocarora macht auch sehr schnell Feuer!“

Casson nickte zustimmend. Heimlich rieb er die Fingerspitzen aneinander.

„Gewiss“, sagte er besänftigend. „Auch Tocarora und seine Männer kennen den guten Zauber des Feuers. Aber keiner von ihnen wird es aus seinen Fingern holen können. Sieh es dir an!“

Der Alte blies die Fackel aus, von der noch eine schwache Rauchfahne hochstieg. Mit den durch die Reibung elektrisch geladenen Fingerspitzen berührte er das Rauchfähnchen, und die Fackel entzündete sich von neuem.

Das war zu viel für den primitiven Verstand des Häuptlings. Er stieß einen Ruf aus, der zwischen Erstaunen und Furcht alle möglichen Gefühle ausdrücken mochte. Seine Stirn war sorgenvoll gerunzelt, und vorsichtshalber hatte er einen Fuß zurückgesetzt. Es war nicht ausgeschlossen, dass der weiße Mann vielleicht auch plötzlich Feuer aus Mund und Nase spie. War nicht seinerzeit in der Nacht eine zweibeinige Schlange mit einer Feuerkrone in seine Hütte gelaufen? Bei diesem weißen Zauberer war alles möglich.

Casson wusste jetzt, dass seine Tricks Erfolg gehabt hatten. Er nutzte diesen Vorteil aus, um dem Wilden noch mehr Hochachtung vor seiner Zauberkunst beizubringen.

„Was sehe ich!“, rief er mit gut gespieltem Erstaunen. „Sehe ich recht? Tocarora trägt Betelnüsse in den Ohren?“

Unwillkürlich griffen die Hände des Eingeborenen zu den Ohren.

„Da sind keine Betelnüsse“, sagte er wütend. „Will der weiße Mann Tocarora verhöhnen?“ Casson machte eine begütigende Geste.

„Wie kann Tocarora an der guten Absicht des weißen Mannes zweifeln?“, fragte er scheinheilig. „Der weiße Mann sieht viele Betelnüsse in Tocaroras Gesicht — in seinen Ohren und überall. Er ist verwundert und hat es dem großen Häuptling nur sagen wollen.“

Casson griff an das Gesicht des Eingeborenen und pflückte anscheinend eine Betelnuss aus seinem rechten Ohr. Der Wilde betrachtete die Frucht verblüfft. Vorsichtig nahm er sie in die Hand. Dann betrachtete er Cassons Hand. Aber sie war leer. Und nun griff sie wieder in sein Gesicht und holte eine Betelnuss aus der Nase. Dann eine aus dem linken Ohr, eine wurde von seinen Lippen gepflückt und zwei aus den Augen. Tocaroras Mund stand weit offen vor Fassungslosigkeit.

4 Der drohende Sturm

Für den schwachen Verstand des Wilden gab es keine Erklärung für alle diese zauberhaften Vorgänge. Er starrte den weißen Mann an, und er fühlte, dass seine Knie zitterten.

Betelnüsse? Er wusste genau, dass er keine einzige dieser Früchte bei sich gehabt hatte. Und doch hatte sie ihm der weiße Zauberer aus dem Gesicht gepflückt, als wäre es die selbstverständlichste Sache von der Welt.

Kein Zweifel — der Weiße war mit Dämonen im Bunde. Dazu gehörte die zweibeinige, grässlich kreischende Schlange mit dem Feuerkopf und wer weiß was sonst noch für furchtbare Geister. Wenn man mit diesem Zauberer verhandelte, musste man sehr sanft und vorsichtig sein. Vielleicht verwandelte er einen sonst in einen Baum oder in eine Heuschrecke. Es war alles möglich. Tocarora seufzte hörbar und Casson musste bei diesem Zeichen von Verwirrtheit heimlich lächeln. Er steckte die letzte aus Tocaroras Gesicht gepflückte Betelnuss in die Tasche und nickte dem Wilden zu.

„Du siehst, Tocarora, der weiße Mann hat vielerlei Zauber. Es wird gut sein, dem weißen Mann mit Achtung und Freundschaft entgegenzukommen. Geh zu Nascanora zurück und berichte ihm, was du gesehen hast. Sage ihm auch, dass der weiße Mann nichts Böses gegen ihn im Sinne hat. Solange die Männer Nascanoras den weißen Mann in Frieden lassen, wird er sie nicht mit einem Zauberbann belegen. Sollten aber die Männer vom Großen Katarakt meinen Zorn erregen, so wird das für sie schlimme Folgen haben. Wirst du diese Botschaft überbringen?“

„Ich werde es tun“, murmelte Tocarora. Noch immer hatte er sich von dem Schrecken nicht erholt, als lebendiger Baum herumzulaufen, von dem der weiße Zauberer nach Belieben Betelnüsse abpflückte. Verstohlen tastete er noch einmal nach seinem Gesicht, ohne etwas Verdächtiges zu fühlen.