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Christian Walther

Ein Freund,
ein guter Freund

Robert Gilbert –
Lieddichter zwischen Schlager
und Weltrevolution
Eine Biographie

Mit einem Vorwort
von Max Raabe

Ch. Links Verlag

Das vorliegende Buch basiert auf der Dissertation des Autors »Robert Gilbert – Eine zeitgeschichtliche Biografie«, die 2016 im Verlag Peter Lang erschienen ist. Der Text wurde für die vorliegende Ausgabe gestrafft, überarbeitet und zugleich durch neue Informationen erweitert und aktualisiert.

Playlist mit Werken von Robert Gilbert bei image

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.

1. Auflage, Oktober 2019

ISBN 978-3-96289-056-8

Inhalt

Vorwort. Von Max Raabe

Vorspiel

Die Berliner Jahrzehnte

1899: Berlin, Warschauer Straße

Studien, Ehe und ein Kommunist als Freund

Meist populär, gelegentlich revolutionär: Schlager, Balladen, Operetten

Der Tonfilm und die Zusammenarbeit mit Werner Richard Heymann

Im Weißen Rössl, Der Kongress tanzt und andere Kassenschlager

»Die Nation ist aufgebrochen wie ein Pestgeschwür«

1933: Fluchtpunkt Wien

Tarner Brothers – und Schreiben unter Decknamen: »Ohle«

Wien – Berlin – Köln – Paris

»Ein verflucht hartes Land«

1939: Fluchtpunkt New York

Alte Bekannte

Schwere Zeiten, leichte Muse

Meine Reime, Deine Reime

Hin- und hergerissen

1949: Rückkehr nach Europa

Der Kampf um Entschädigung und Wiedergutmachung

Ein enormes Arbeitspensum

Meckern ist wichtig, nett sein kann jeder – Gilbert als Buchautor

Liebling, mein Herz lässt Dich grüßen: alte und neue Beziehungen

Die Kleine Freiheit – zurück im Kabarett

Abschiede

Eine Lady grünt so grün

Gilbert als Übersetzer in der Welt der Musicals

Das letzte Buch: Mich hat kein Esel im Galopp verloren

»Ruhe ist ein langweiliges Geschäft«

Familienbande

»Ihr seid die Letzten« – die Einsamkeit wächst

»Der Unjeist, der verjudete, in mir« – Abgesang

Anhang

Anmerkungen

Literaturverzeichnis

Dank

Personenregister

Der Autor

Vorwort
Von Max Raabe

Die Musik der späten Weimarer Republik, und damit auch die Liedtexte Robert Gilberts, begegneten mir schon im Alter von sechzehn oder siebzehn Jahren. Wie meine Liebe zu diesen Liedern entstand, kann ich heute nicht mehr genau sagen. Meine Eltern waren jedenfalls nicht schuld, die hörten ganz andere Musik. Vielleicht hatte aber doch die einzige Schellackplatte in der Sammlung meines Vaters etwas damit zu tun, eine Instrumentalversion des Schlagers »Ich bin verrückt nach Hilde« (1929, Musik: Otto Stransky, Text: Arthur Rebner), den Paul O’Montis in den Zwanzigern gesungen hat.

Natürlich lief die Musik aus dieser Zeit in meiner Jugend auch noch recht häufig im Radio oder im Fernsehen. Jeden Sonntag wurden nachmittags alte Schwarz-Weiß-Schinken gezeigt, darunter Tonfilmoperetten wie Die drei von der Tankstelle, woraus etwa Robert Gilberts »Liebling, mein Herz lässt dich grüßen« (1930, Musik: Werner Richard Heymann) stammt. Und der WDR strahlte eine Radiosendung nur mit Liedern aus der Schellackzeit aus, allerdings dienstagabends, wenn ich Turnen hatte. Deshalb musste ich meine Eltern oder meinen Bruder bitten, sie für mich aufzuzeichnen – mit dem Kassettenrekorder vor dem Radio. Wie frustrierend war es dann, wenn der Moderator wieder einmal zu lange anmoderiert hatte und die Aufnahme mitten im Lied abbrach, ich mich also mit einem Fragment begnügen musste, oder wenn meine Mutter in der Küche ein elektrisches Gerät anstellte und damit die Aufnahme ruinierte.

So lernte ich Künstler wie Robert Gilbert, Fritz Rotter, Friedrich Hollaender, Werner Richard Heymann oder Walter Jurmann kennen. Ein Freund hatte, wahrscheinlich von seinen Eltern, ein Notenheft mit dem Titel »Die wilden Zwanziger« oder so ähnlich. Auf dem Cover waren Revuetänzerinnen abgebildet. Es enthielt sämtliche Standardschlager der Zeit und half mir, meinem neu erwachten Interesse nachzugehen.

Ein Name, den ich mir damals als einen der ersten merkte, weil er so eindrücklich ist, war Fritz Löhner-Beda, der unter anderem das Libretto zu Das Land des Lächelns (1929, Musik: Franz Lehár) geschrieben hat. Seine Stücke gehörten zum Repertoire meiner ersten Auftritte, wenn es etwa bei den Messdienern oder den Pfadfindern lustige Abende mit Liedern und Sketchen zu gestalten gab. Dann setzte ich mir den Hochzeitszylinder meines Vaters auf und gab »In der Bar zum Krokodil« oder »Wo sind deine Haare, August?« zum Besten.

Die etwas diffizileren Wortschöpfungen begegneten mir vor allem mit Robert Gilbert und Fritz Rotter. Gilbert gehörte rasch zu jenen Namen, von denen ich fortan wusste, dass sie ein Qualitätssiegel waren, wenn ich sie auf einer Partitur entdeckte. Bis heute zählt er zu meinen Favoriten unter den Lieddichtern und ist fester Bestandteil meines Repertoires. Als ich Mitte der neunziger Jahre in der Inszenierung der Operette Im weißen Rößl (1930, Musik: Ralph Benatzky) in der Berliner Bar jeder Vernunft mitwirkte, hatte ich das Glück, dass alle Liedtexte, die ich in der Rolle des Dr. Siedler sang, von Robert Gilbert stammten.

Manche seiner Stücke, beispielsweise »Ich steh mit Ruth gut« (1928, Musik: Fred Raymond), lesen sich im Grunde wie ein Gedicht von Ringelnatz. Mich faszinieren daran die Ironie und der feinsinnige Humor. Die Pointen fallen in seinen Texten mit einer großartigen Beiläufigkeit. Man merkt ihnen an, dass der Autor sich selbst nicht zu ernst genommen hat. Das verbindet ihn mit den besten seiner Kollegen. Sie nehmen sich zurück, doch man erahnt die Klugheit hinter ihren Versen. Denn in dieser scheinbaren Mühelosigkeit steckt natürlich viel Arbeit. Aber Gilbert, Rotter und all die anderen dichteten im Grunde permanent, sie dachten gewissermaßen in Reimen. Ich weiß zum Beispiel von der Witwe Walter Jurmanns, dass Fritz Rotter manchmal am Tisch in Los Angeles plötzlich aufstand und aus dem Stegreif ein Gedicht auf die Gastgeber vortrug.

Geschrieben wurden diese Lieder – Gilberts politische Lyrik ist etwas anderes –, um die Menschen der Wirklichkeit zu entreißen. Es ging um Unterhaltung. Für die Dauer des Films, der Revue oder des Schlagers sollte man nicht daran denken, was zu Hause los ist, welche materiellen Sorgen die Weltwirtschaftskrise bereitete. Stattdessen wurde mit großer Leichtigkeit von der Liebe gesungen, ständig ging es ums Fremdgehen. Nachdem man das spießige Kaiserreich hinter sich gelassen hatte, probierte man sich aus, schaute auch sprachlich, wie weit man gehen konnte. Nie wieder wurden große Gefühle so flapsig behandelt wie in dieser Zeit.

Nach 1933 ging die Ironie in den Liedern verloren. Der schwarze Humor, diese ganze besondere Lied- und Textkultur verschwand aus Deutschland. Gilbert, Rotter, Jurmann, Heymann, Hollaender und viele andere waren Juden und mussten ins Exil gehen, Paul O’Montis wurde 1940 im KZ Sachsenhausen ermordet, Fritz Löhner-Beda 1942 in Auschwitz. Als Jugendlicher musste ich erst einmal begreifen lernen, welche Schicksale hinter der Musik stecken, die mich in ihren Bann zog. Warum all diese Namen in der deutschsprachigen Musik der dreißiger Jahre nicht mehr auftauchen. Nur wenigen gelang es, eine zweite Karriere in Los Angeles zu starten, wo sich viele Emigranten – nicht nur – aus der Berliner Musikszene trafen. Georg Kreisler hat beschrieben, wie er als junger Mann Zugang zu diesen Kreisen fand. Für ihn waren das ältere Herren, dabei dürften die meisten gerade einmal um die vierzig gewesen sein.

Im Lichte der Emigration wirkt ein Lied wie »Wenn der Wind weht über das Meer«, das Robert Gilbert 1931 zur Musik von Werner Richard Heymann getextet hat, auf geradezu beklemmende Weise prophetisch. Dass Gilbert auch solche melancholischen Texte geschrieben hat, ist in meinen Augen kein Widerspruch. Ganz im Gegenteil, Humor und Melancholie liegen nah beieinander. Humor zu haben, bedeutet ja nicht, immer lustig zu sein. Es ist ein besonderer Blick auf die Welt. Oft liegt in den komischen Dingen auch eine Wehmut, das geht Hand in Hand, und manchmal kippt es. Dieses Changieren wohnt den Texten inne. Bei der Gestaltung meiner Abende versuche ich das zu berücksichtigen, ich sehne mich geradezu nach den stillen Momenten, wenn zum Beispiel Gilberts traumhaftes »Irgendwo auf der Welt« erklingt.

Robert Gilbert gehörte zu denen, die nach dem Krieg an alte Erfolge anknüpfen konnten. Irgendwann wurde mir klar, dass er es war, der My Fair Lady so großartig ins Deutsche übertragen hat. Sein Wortwitz und sein Charme sind auch hier überall erkennbar. Allerdings bleibe ich in meinem Vortragsrepertoire doch auf die späte Weimarer Republik festgelegt. Das ist wie bei einem Sammler, der sein Spezialgebiet hat. Und meines habe ich eben früh gefunden.

Aufgezeichnet von Christof Blome

Vorspiel

Es »war ein Triumph«, der sich da am 25. Oktober 1961 an der West-Berliner Kantstraße zutrug. So jedenfalls sah es Hellmut Kotschenreuter in der Münchner Abendzeitung. Zwei Monate und zwölf Tage nach dem Bau der Berliner Mauer war Lucius D. Clay, Luftbrückenheld und jetzt Berlin-Beauftragter von Präsident Kennedy, ins Theater des Westens gekommen, der Regierende Bürgermeister Willy Brandt sowieso, ferner der britische Stadtkommandant und viel Prominenz von Bühne und Leinwand: Boleslav Barlog, Artur Brauner, Wolfgang Staudte, Anneliese Römer und Harry Meyen, Georg Thomalla, Senta Berger, O. E. Hasse in Begleitung von Johanna Matz, außerdem der Ski- und Leinwandstar Toni Sailer. Bild zählte 61 Nerze und drei Nutriamäntel. Nicht nur die Klatschpresse registrierte die in Samt gehüllte Ingrid Bergman an der Seite ihres Mannes, des schwedischen Produzenten Lars Schmidt. Er verfügte über die Aufführungsrechte von My Fair Lady im deutschsprachigen Raum. Und Heinz Ritter berichtete im Abend: »Die ersten Hände regten sich vor dem Portal des Theaters des Westens um 19 Uhr 55, als Ingrid Bergman wie eine Fürstin vorfuhr. Der letzte Beifall verklang um 23 Uhr 45. Was dazwischen lag, hatte wohl die Länge einer Wagner-Oper, war aber der moussierende Einzug des schon sagenhaften Musicals My Fair Lady

My Fair Lady in Berlin: Das war nicht allein ein Erfolg der Inszenierung oder der bereits in New York getesteten Musik Frederick Loewes, es war auch ein Erfolg der Übersetzung. Der Übersetzung vor allem des Cockney-Slangs einer Londoner Göre namens Eliza nicht einfach ins Deutsche, nein: ins Berlinische. Um jede Zeile hatte er gerungen, aber dann war er es, der’s geschafft hatte: Robert Gilbert, ein Freund Loewes aus jenen Berliner Kindertagen, als Frederick Loewe noch Friedrich – oder Fritz – Löwe hieß und Gilbert noch Robert Winterfeld.

Aus dem Cockney des Originals hatte Gilbert den Text in den Kodderschnauzenjargon Berliner Hinterhöfe übertragen. »Nur een Zimmerchen irjendwo, mit ’nem Sofa drin sowieso – und Gasbeleuchtung – oh! Oh, wäre det nich wundascheen?«, singt das Blumenmädchen, dem der Professor Higgins die Abkehr vom Gossenmundwerk in quälenden Sprechübungen abringen will: »Es jrient so jrien, wenn Spaniens Blieten blieh’n«. Aber wie hätte man die Vorlage besser und origineller übersetzen können, dieses »The rain in Spain stays mainly in the plain«?

Gilbert, der nach seiner Rückkehr aus der Emigration vorwiegend in der Schweiz wohnte, blieb der Premiere in Berlin fern. Er kränkelte, und Flugangst hatte er auch. Einem Freund verriet er aber noch ganz andere Bedenken: »Die Sache dort sieht so brenzlig aus, dass man eventuell einen ulbrichtschen Handstreich auf Westberlin für möglich hält. Warum soll ich mich in Gefahr begeben, der ich – in ähnlicher Weise – früher mal gerade knapp entronnen bin?«1

Früher – das war 1933, als Gilbert nach Wien ins Exil ging. Früher – das war 1938, als Österreich dem »Anschluss« an das Deutsche Reich anheimfiel und Gilbert weiter flüchtete nach Paris, nach New York. Früher – das war aber auch das Leben eines extrem erfolgreichen Tonfilm- und Schlagertexters. Und eines Kommunisten, der – unter Pseudonym – für den Komponisten Hanns Eisler revolutionäre Balladen dichtete und später Agit-Prop-Lyrik für die Exil-Presse.

Hannah Arendt, jahrzehntelang und bis zu ihrem Tod mit Gilbert befreundet, adelte den heute nahezu Vergessenen im Nachwort zu einer seiner politisch angehauchten Lyriksammlungen zum Großdichter von nationalem Rang: »Denjenigen, die um das Poetische der Kinderzeit als den Urquell aller Dichtung wissen und die Erinnerung an die lorbeerlose Urzeit sich nicht haben nehmen lassen von den Trubeln des Lebens und dem Unfug der Karrieren, wird es nicht schwer fallen, in Robert Gilbert jenen Nachfahr zu entdecken, den Heine nie gehabt hat.«2

Und der Verleger Helmut Kindler, der Gilbert schon aus den Berliner Kabaretts der Weimarer Republik kannte, setzte ihm in seinen Lebenserinnerungen ein kleines Denkmal: »Robert Gilbert gilt in der akademischen Literaturwissenschaft als Schriftsteller der leichten Muse, wobei man vergisst, dass Robert Gilbert sich nicht nur der leichten Muse verschrieben hat. Schon in der Weimarer Republik veröffentlichte er bemerkenswerte revolutionäre Chansons. Seine Gedichte berühren sich mit der Kunst von Heinrich Zille und George Grosz. Seine Wiener Gedichte aus dem Jahre 1933 bis zum ›Anschluss‹ Österreichs 1938 erinnern an Horvaths Theaterstücke, sie sind in ihrer hinterfotzigen Gemütlichkeit unverwechselbar und böse Zeiten vorausahnend.«3

Gilbert selbst, sonst ein glänzender Erzähler auch in eigener Sache, hat seine Geschichte nie aufgeschrieben, nur hier und da einen Lebenslauf und auch ein größeres Gedicht. Ausführlich immerhin hat er sich 1974 im Fernsehen zu seinem Leben geäußert: ein langes Interview mit Nick Wagner für den Bayerischen Rundfunk, aufgenommen in seiner Villa oberhalb des Lago Maggiore. Doch das war wohl mehr Selbstdarstellung vor großem Publikum – freundlich, milde, versöhnlich –, als dass es präzise Lebenserinnerungen gewesen wären. Die Worte Emigration oder Exil fallen jedenfalls nicht einmal. Gilbert umschreibt diese Zeit so: »Ich musste dann später nach Amerika auswandern.« Es bleibt auch unerwähnt, dass er Jude war, obwohl er sich dessen zuletzt wieder sehr bewusst gewesen ist.

Und so ist der Versuch, das Leben Gilberts nachzuzeichnen, das Bemühen, Mosaiksteinchen um Mosaiksteinchen zusammenzutragen, Archivstück um Archivstück. Es ist eine (Lebens-)Geschichte zwischen Berlin und New York, zwischen Karriere und Exil, zwischen Judentum und Atheismus, zwischen obenauf und abgrundtief, zwischen Politballade und eben Musical. Und bei alledem bleiben seine immergrünen Texte im Ohr: »Durch Berlin fließt immer noch die Spree«, »Wieso liebt der Vladimir grade mir?«, »Am Sonntag will mein Süßer mit mir segeln geh’n«, »Das gibt’s nur einmal«, »Die Ballade vom Nigger Jim«, »Das Stempellied«. »Was kann der Sigismund dafür, dass er so schön ist?« …

Die Berliner Jahrzehnte

1899: Berlin, Warschauer Straße

Am 29. September 1899 kommt »vormittags nach fünf«, also wohl am frühesten Morgen, in der Warschauer Str. 79 in Berlin-Friedrichshain ein Junge zur Welt. Der Vater, Max Winterfeld, lässt ihn am 3. Oktober beim Standesamt eintragen. Als Mutter wird dort Rosa Winterfeld, geborene Wagner, verzeichnet. Beide Elternteile stammen aus Hamburg und sind mosaischen Glaubens; am 10. April haben sie geheiratet. Ihrem Sohn geben sie die Vornamen David und Robert. Der Junge wird später behaupten, er sei »über’m Pferdestall« geboren und in proletarischen Verhältnissen aufgewachsen. Seine Mutter habe in dem Zimmer im Stralauer Viertel Hüte genäht; die seien dann verkauft worden, damit ein bisschen Geld da war. Und der Vater habe nachts in Kneipen Klavier gespielt, um Geld zu verdienen. Zu den Auftritten habe er zu Fuß gehen müssen, manchmal vier Stunden hin und zurück.

Wahrscheinlich ist das ein wenig ausgeschmückt, auch in Bezug auf den Pferdestall. Denn Vater Max, im Februar 1879 in Hamburg als Sohn des Geschäftsmanns David Winterfeld und seiner Frau Caroline, geborene Dessau, geboren, stand 1899 zwar noch weit vor seinem Durchbruch als Operettenkomponist. Aber immerhin hatte er schon mit 18 Jahren als Kapellmeister des Stadttheaters von Bremerhaven gearbeitet und ein Jahr später am Carl-Schultze-Theater in Hamburg. Als er mit seiner Frau in das Haus in der Warschauer Straße einzieht, gehören sie zu den ersten Mietern. Im Berliner Adressbuch bis 1897 gibt es das Grundstück noch gar nicht, im Adressbuch von 1898 wird es als Baustelle bezeichnet, 1899 ist dann ein Neubau darauf verzeichnet – noch ohne Bewohner. Erst 1900 sind dort ein Gastwirt, ein Kaufmann, ein Viehcommissionär, ein Schneidermeister und andere Handwerker verzeichnet, von denen der Schlosser vielleicht noch der proletarischste ist, und eben »Winterfeldt, M., Kapellmeister«.

Bald schon kehrt Winterfeld jedoch nach Hamburg zurück. Nach einem Sommer beim St.-Georgs-Tivoli wird er vom Centralhallen-Theater engagiert. Dort glaubt man nicht recht an die Zugkraft eines Kapellmeisters (und Komponisten) mit Namen Max Winterfeld. Etwas Flotteres soll her, und flott war damals, was französisch war. So erhält der Hamburger Jude Max Winterfeld den Künstlernamen Jean Gilbert. Und weil seine erste Hamburger Operetten-Produktion Das Jungfernstift ein Erfolg wird, bleibt es bei dem neuen Namen – vorerst zumindest. In der Spielzeit 1902/03 arbeitet Jean Gilbert unter Paul Lincke am Berliner Apollo-Theater. 1903 bringt er in Hamburg gleich zwei weitere Stücke heraus.

Sohn Robert wird später mit einem Gedicht an seine ersten musikpädagogischen Erfahrungen erinnern – als Kleinkind von drei bis vier Jahren:

MEIN ERSTER KLAVIERLEHRER1

Heurekaschnurrbart, Spitzen hochjezwirbelt,

Stehkragen Marke Aussichtsturm mit Schlips,

Brust raus, Bauch rein, als ob der janze Jrips

von Trommeln in det Rückgrat rinjewirbelt –

Det war er. Grunert, vormals Exerzierlehrer,

altausjedienter Unteroffizier;

in meiner Knirpsenzeit von drei bis vier

nachmittags im Zivilberuf Klavierlehrer. […]

Ein nachmittäglicher Klavierlehrer für einen drei- bis vierjährigen Knirps – das müssen dann schon ärmliche Verhältnisse auf höherem Niveau sein.

Die nächsten Jahre verbringt der Vater mit seiner Familie – 1901 ist in Hamburg der zweite Sohn Henry zur Welt gekommen – großenteils auf Wanderschaft: Engagements hier und da, aber auch Reisen als Chef der Zirkus-Kapelle Hagenbeck quer durch Europa. Robert erinnert sich: »Mein Vater war eine Zeit lang Zirkuskapellmeister, mit 40 Mann Musiker zu Pferde. […] Ich habe geboxt, ich konnte radfahren, ich konnte reiten, ich bin beim Circus aufgewachsen.« Wenn Gilbert in einem autobiographischen Gedicht später Mailand erwähnt, Raubtier- und Völkerschau »samt Nubiern und Arabern«, dann dürfte sich das auf eine Tournee mit den von Hagenbeck organisierten »Völkerschauen« beziehen. 1906 fand eine solche Schau als »villagio eritreo« in Mailand auf der Piazza di armi statt.

Ab 1908 nimmt Vater Gilberts Karriere als Operettenkomponist Fahrt auf – mit einem kleinen Erfolg von Onkel Casimir in Düsseldorf und einem großen Erfolg 1909 für die Polnische Wirtschaft in Cottbus, dem sich 1910 ein noch größerer Erfolg im Magdeburger Wilhelm-Theater mit Die keusche Susanne – darin der Schlager »Wenn der Vater mit dem Sohne« – anschließt. Bernhard Grun schreibt dazu in seiner Kulturgeschichte der Operette, was so oder ähnlich auch über andere Arbeiten des Komponisten gesagt werden kann: »Hinter der Opernball-Lustigkeit der Geschehnisse verbarg sich in der Keuschen Susanne mehr, als dem Zuschauer im ersten Augenblick klar wurde. Gilbert persiflierte nicht nur Hypokrisie und Spießermoral, er demaskierte sie in einer unheimlich dreisten, oft offenbachisch anmutenden Art.«2

Nun ist auch in der Hauptstadt Berlin kein Halten mehr. Gilbert kommt als komponierender Kapellmeister ans Thalia-Theater in der Dresdener Straße 72/73, wo seine Polnische Wirtschaft zum Kassenschlager wird. Zusammen mit Die Keusche Susanne legt sie den Grundstein zum plötzlichen Reichtum Jean Gilberts. Weitere Operetten mehren ihn, nicht zuletzt Puppchen, das am 19. Dezember 1912 Premiere am Thalia hat, mit der Titelmelodie »Puppchen, Du bist mein Augenstern«.

Wie karg Roberts Kindheit, wie bescheiden die Jahre des Aufstiegs auch immer gewesen sein mögen – jetzt herrscht Wohlstand: eine Villa am Großen Wannsee mit Park und Motorjacht, mit Auto samt Chauffeur.

Zeitgenossen heften Jean Gilbert bald Etiketten wie »König der modernen Operette«, »unumschränkter Herrscher der Berliner Posse« und »Napoleon der Grammophonplatte« an. Grun beschreibt ihn als »eine liebenswerte, freundliche Mischung aus Bohemien und Großindustriellem, temperamentvoll, leichtsinnig, gesellig, ein geborener Grandseigneur (…) Er reiste in Schlafwagen und Salonkabinen von Premiere zu Premiere und fand Zeit genug, in vier Jahren zehn Operetten zu vollenden, alle vom Publikum herzlich bewillkommnet, von Theaterdirektoren und Musikverlegern hoch bezahlt.«3 Zu den besseren dieser Operetten zählt Grun auch das in Vergessenheit geratene Stück Die moderne Eva, das er als Komödie um die Frauenemanzipation bezeichnet, »in der es nur so wimmelte von Rechtsanwältinnen, Ärztinnen und Malerinnen«.4

Gilberts Ruhm reicht weit über Berlin hinaus. Seine Stücke werden in Europa, in London, Paris, Wien und Prag, gespielt – Franz Kafka trägt den Besuch von Polnische Wirtschaft am 12. August 1912 in sein Tagebuch ein –, aber sie werden auch in den USA zur Kenntnis genommen: Die New York Times schreibt zur Premiere von Gilberts Tangoprinzessin und Kollos Wie einst im Mai: »Tango rules Berlin Stage – Two New Musical Comedies Have Modern Dance as Leit-Motif.«5

Jean Gilbert in Wien – das war schon etwas Besonderes, war doch die Berliner Operette durchaus anders als die Wiener Operette. Wurde die Wiener Operette vornehmlich von Adligen und anderen feinen Leuten aus k.u.k.-Gefilden bevölkert, so kamen in der Berliner Operette eher Bürger und Kleinbürger zum Zuge – da ist der Baron von Felseneck, genannt Puppchen, schon fast die Ausnahme. Und wo in Wien der Walzer den Rhythmus bestimmt, kann es in Berlin auch der Marsch sein.

Gilberts Kompositionen sind schon verkauft, bevor er auch nur eine Note geschrieben hat. Doch Sohn Robert gefällt das alles gar nicht. Das ist nicht seine Welt: »Ich habe diese Dinge von Anfang an in meiner Jugend gehasst wie die Sünde; wenn er mich in Premieren gebracht hat, habe ich gesagt, wozu soll ich mir diesen Blödsinn ansehen.« Obwohl er musikalisch ausgebildet wird und mit 13 bereits gut Klavier spielen kann, verliert er das Interesse an Musik. Als Erwachsener wird er einmal berichten, er habe »schon als Bub Romane und Dramen geschrieben. Und Gedichte natürlich«, und er habe als Elfjähriger einen 500-Seiten-Roman konzipiert mit dem Namen »Die Folgen der Seekrankheit«, der dann aber verloren ging. Er sucht geistige Anregung, stöbert in der riesigen Bibliothek, die der Vater für die Villa in Wannsee gekauft hat – nach Metern. Besonders stürzt Robert sich auf »diesen Nietzsche und auf diese Leute«6. Er habe, räumt er später ein, nicht viel davon verstanden, bis jemand kam, es ihm zu erklären.

1913 findet Roberts – wie er später sagt – »Einsegnung« statt; es wird die »Bar Mitzwa« gewesen sein, die Aufnahme des nun religionsmündigen Jungen in die jüdische Gemeinde. Man hat ihm zu diesem Zweck einen Smoking schneidern lassen – mit kurzen Hosen.

In den Jahren am Wannsee wird auch der zwei, nach anderen Angaben fünf Jahre jüngere Friedrich Löwe zu seinem Spielkameraden. Dessen Vater, Edmund Löwe, ist nicht nur ein gefragter Sänger, er ist auch Stellvertreter von Jean Gilbert in dessen Tourneetheaterunternehmen. Denn das Thalia reicht Gilbert schon lange nicht mehr; er bespielt in Berlin oft zwei Häuser gleichzeitig: Während im Thalia nach über 250 Aufführungen Puppchen durch die Tangoprinzessin ersetzt wird, laufen im Metropol Die Kinokönigin und Die Reise um die Welt in vierzig Tagen. In Bremen wird Gilbert auch noch Direktor des Tivoli-Theaters – und sein Cousin Paul Dessau Zweiter Kapellmeister. Gleich mehrere Tourneetruppen touren durch das Reich und spielen sein Autoliebchen.

1914 aber – in London steht Die Kinokönigin auf der Bühne, Puppchen und Tango-Prinzessin sind bereits gebucht, und Verhandlungen über ein Stück exklusiv für das Adelphi-Theatre laufen –, 1914 ist erst einmal Schluss mit lustig. Der Krieg dimmt kurzzeitig die Lichter in Gilberts Operetten-Imperium. Doch schnell meldet er sich mit zwei auf patriotisch getrimmten Produktionen – der Posse Kam’rad Männe und der Kriegsrevue Woran wir denken (»Und haben wir den Feind besiegt, so ist’s auch abends sehr vergnügt«7) – an die unterhaltsame Heimatfront zurück. Mochten die Menschen auch hungern, der Appetit auf Ablenkung blieb. Doch weil der französisierende Name Jean Gilbert nicht in die vaterländische Stimmung passt, kehrt er zu seinem Geburtsnamen Max Winterfeld zurück – einstweilen. Friedrich Hollaender zitiert in seinen Lebenserinnerungen eine dazu passende Spruchweisheit jener Tage: »Rendez-vous, das klingt gemein / Deutscher geht zum Stelldichein.«8

Die Anpassungen an den Zeitgeist aber rentieren sich nicht. Obwohl der Berliner Amüsierbetrieb – Theater, Kinos, Konzerte – in den Kriegsjahren bald wieder auf Hochtouren läuft, sind Winterfelds Hurra-Stücke nur mäßig erfolgreich, das Metropol-Theater wird sogar geschlossen. Doch die Produktivität verlässt ihn nicht. Kein Jahr ohne eine, zwei, vielleicht sogar drei neue Gilbert-Operetten, uraufgeführt meist in Berlin, aber auch in Breslau, Halle, Dresden oder sogar Wien und nachgespielt bis nach New York, wo Autoliebchen im November 1917 unter dem Titel Autolove auf die Bühne kam. Hier wie spätestens ab Kriegsende auch in Deutschland wieder unter dem Namen Gilbert. Vielleicht hat das ja auch die Premiere in New York erleichtert: dass man den Komponisten – wie die New York Times am 23. November 1917 – für einen Franzosen hielt, nicht für einen Kriegsgegner, einen Deutschen.

Die 20er Jahre in Berlin: Wer es sich leisten kann, vergnügt sich, und Gilbert schwingt dazu den Taktstock. 1921 feiert Prinzessin Olala, Fritzi Massary auf die Stimmbänder komponiert, Triumphe. Es ist fast wie zu Kaisers Zeiten, dabei haben der verlorene Krieg und die erfolgreiche Revolution vom 9. November 1918 Deutschland kräftig durchgerüttelt. Doch für Jean Gilbert ändert sich nicht viel. Er reiht weiterhin Operettenerfolg an Operettenerfolg. 1925 aber kündigt sich Überraschendes an: Als am Schiller-Theater die Operette Annemarie Premiere hat, taucht unter den Autoren erstmals der Name Robert Gilbert auf. Die Melodie zum Ohrwurm »Durch Berlin fließt immer noch die Spree« stammt vom Vater, der Text jedoch vom Sohn. Er bietet Trost für jene, die nicht auf der Sonnenseite der Boulevards stehen, für jene, denen es vor der großen Inflation besser gegangen war. Als 1958 die erste Sendung des Regionalfernsehmagazins »Berliner Abendschau« ausgestrahlt wird, ist dieses Lied, wenn auch ohne Text, die Titelmelodie und wird es jahrzehntelang bleiben – eine heimliche Nationalhymne Berlins:

DURCH BERLIN FLIESST IMMER NOCH DIE SPREE (1925)9

Früher da sagte man kreuzvergnügt im Sommer

der Heimatstadt ade

Heute hat leider so mancher brave Bürger ein Loch

im Portemonnaie

Soll man darüber verzweifelt sein?

Kinder, Berliner Luft ist auch ganz fein.

Und hat man bei Muttern

Noch irgendwas zu futtern

Dann seht doch endlich ein:

Durch Berlin fließt immer noch die Spree.

Dichte bei ist noch der Müggelsee.

Rings herum blüht noch der Grunewald,

wo’s was Grünes gibt für jung und alt!

Wenn die tollsten Dinge in der Welt passier’n,

Der Berliner wird nie den Humor verlier’n.

Er hält stolz die Nase in die Höh’ – […]

Einen weiteren Schlager in Annemarie hat Robert Gilbert nicht nur getextet, sondern auch komponiert: »Annemarie, komm doch in die Laubenkolonie«. Diese Operette ist die erste große Zusammenarbeit von Vater und Sohn, doch nicht die erste Premiere für den Filius. Der hatte da längst erste Erfahrungen gesammelt in der Welt der Unterhaltung.

Studien, Ehe und ein Kommunist als Freund

Noch im letzten Jahr des Ersten Weltkriegs wird David Robert Winterfeld – noch ohne seinen Künstlernamen – in die Reichswehr einberufen. Als Soldat kommt er zum ersten Mal in Berührung mit – wie er es nennt – »revolutionären Dingen«. Genaueres ist da nicht bekannt. Aber es waren wilde Zeiten in Berlin: Am 9. November 1918 brach die Monarchie zusammen, quasi über Nacht wurde das Land zur Republik. Der Kaiser auf der Flucht, die meuternden Matrosen der Kriegsmarine marschieren Unter den Linden. Doch der verblüffend friedliche Übergang zur Demokratie ist vielen nicht Revolution genug. Sie wollen nicht die bürgerlich-demokratische, sondern die proletarisch-sozialistische Revolution, am liebsten die Weltrevolution. Und Gilbert hat zu diesen Kreisen Kontakt. Das ist zunächst eine Gruppe von Kameraden, die zum revolutionären Spartakusbund gehören. Später besucht Robert Arbeiterversammlungen, hört sich die Reden an, versteht aber nicht viel. Dennoch berührt es ihn.

Über 50 Jahre später, am 23. April 1973, wird er dem Germanisten Albrecht Betz und der Witwe des Komponisten Hanns Eisler, Steffy, in einem Caféhaus in Ascona erzählen, wie er ab 1918 in Kontakt zum Spartakusbund gekommen ist: »Diese weisen Leute haben mich zum Kommunismus gebracht; musste Marx lesen, habe Flugblätter verteilt, ging mit Arbeitern auf Demonstrationen, habe Geld zu ganz großem Teil hergegeben für politische Arbeit, später sogar, um Waffen zu kaufen. Meine Wohnung war ein Waffenarsenal, als die Nazis kamen.«10

Da greift Gilbert nun allerdings weit aus. Denn die Geschichte des Spartakusbundes endete bereits 1919, kurz nach der Ermordung ihrer Führung um Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht. Und die finanzielle Unterstützung politischer Arbeit folgte Jahre später seinem Aufstieg als Künstler. Ohnehin folgen dem ersten Kontakt zur Linken Jahre, in denen er ganz von diesen Dingen wegkommt. Der junge Mann kümmert sich um Goethe, Hölderlin und Claudius. Er besucht das Konservatorium, studiert Kompositionslehre und hat Klavierunterricht bei Claudio Arrau. Zu seinen Lehrern zählt er auch Moritz Meyer-Mahr, einen Klavier-Professor am Berliner Klindworth-Scharwenka-Konservatorium und Mitglied der Berliner Trio-Vereinigung, in der Paul Dessaus Onkel Bernhard Violine spielte.

Vom Wintersemester 1919/20 bis zum Wintersemester 20/21 ist er an der Berliner Friedrich-Wilhelms-Universität immatrikuliert, studiert – wie seinem erhaltenen Abgangszeugnis zu entnehmen ist – bei Hermann Kretzschmar Geschichte der Sinfonie, hört beim Altphilologen Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff über die hellenistischen Götter und bei dem Privatdozenten für Sinologie Erich Schmitt Chinesische Staatsreligion und Staatslehre. Das Sommer semester 1921 verbringt er an der Uni Freiburg, wo er sich mit der Blütezeit der Gotik, den Anfängen der griechischen Kunst und der bildenden Kunst der Chinesen und Japaner beschäftigt. Insgesamt ist er nur vier Semester an einer Uni immatrikuliert, zwei in Berlin, eines in Freiburg. Berlin bietet aber auch noch viel mehr als Hörsaal und Seminarraum. Jedenfalls für Gilbert, der jetzt erste kreative Gehversuche unternimmt. Ab circa 1922 arbeitete er für Rosa Valetti, die 1920 das literarisch orientierte Kabarett Größenwahn gegründet hat.

Und dann das: »Kathrin, Du hast die schönsten Beine von Berlin«. Ein erster Schlager, komponiert von Friedrich Löwe, getextet von Robert Winterfeld unter dem Pseudonym Robert H. Winter. Die Entstehungszeit lässt sich nicht genau bestimmen, da es dazu bei Löwe andere Angaben gibt als bei Gilbert. Aber dass Gilbert diesen Schlager verfasst hat, dürfte damit zu tun haben, dass er schon in der Studienzeit bei seinem Gesangslehrer Marie Luise Elisabeth Geldner, Jahrgang 1900, kennengelernt hat. Sie ist zu diesem Zeitpunkt noch eine verheiratete Gorodiski, lässt sich aber alsbald scheiden, um Gilbert zu heiraten. Die Ehe wird am 29. Mai 1923 vor dem Standesamt Berlin-Wilmersdorf geschlossen. Die Heiratsurkunde verzeichnet ihn als »Schriftsteller«, sie »ohne Beruf«, beide wohnhaft in Berlin-Wilmersdorf, Sächsische Straße 67. Man staunt: eine Wohngemeinschaft schon vor dem Trauschein in einem Haus von eher kleinbürgerlichem Zuschnitt im biederen Wilmersdorf? Aber nein: Es ist die Wohnung Rosa Winterfelds, also Roberts Mutter, die nach der Trennung von Jean (die Scheidung folgt dann 1924) in die Sächsische gezogen ist – und diese Wohnung auch über den Auszug von Robert und seiner Frau hinaus behält. Wilde Ehe also – aber unter Mutters Augen.

Über das junge Paar gibt am ausführlichsten die Tochter der beiden Auskunft, Marianne Gilbert Finnegan, die Kindheitserinnerungen und Familienerzählungen unter dem Titel Memories of a Mischling aufgeschrieben hat. Demnach mochte Elisabeth, seit Kindertagen Elsbeth genannt, Roberts große Ohren. Und sie habe immer lachen müssen, wenn sie ihn beim Gesangsunterricht sah: »Er war so ernsthaft, und zwischen den einzelnen Stücken holte er ein riesiges Taschentuch raus und trocknete sich das Gesicht.«11 Und »Winterfeld«, so fand sie, »war ein wunderschöner Name«. Ihm wiederum missfiel »Elsbeth«, er taufte sie auf Elke um.

Die Ehe mit Elke hatte schon früh sehr praktische Folgen: Gilbert musste nun Geld verdienen, und das war mit seinen Studien an der Universität nicht zu machen. In einem Gespräch mit der Wiener Boulevard-Zeitung Express sagt er im Dezember 1965: »Vom Vater wollte ich nicht leben, von Schopenhauer auch nicht, also wandte ich mich dem Gassenhauer zu.«12 Immer wieder beschreibt er seinen Weg mit dieser kalauernden Formel: »Von Schopenhauer zu Gassenhauer«. Und so kam es denn zum Schlager »Kathrin, Du hast die schönsten Beine von Berlin«. Die Noten sollen sich in einer Auflage von einer Million Exemplaren verkauft haben: Wie viel auch immer so ein Notenblatt gekostet haben mag – bei Komponist Löwe und Texter Gilbert werden schon einige Reichsmark hängengeblieben sein.

Dass der Schlager im Umfeld von Gilberts Hochzeit entstanden ist, wird unter anderem dadurch gestützt, dass 1924 eine Schallplattenaufnahme dieses »Shimmy-Blues’« bei Vox erschienen ist, dargebracht vom Orchester Bernhard Etté. Und in Gilberts Unterlagen findet sich ein Notenblatt von »KATHRIN – Shimmy, Text von Robert Heinz Winter, Musik von Fritz Loewe, für Zither bearbeitet von P. Renk, Copyright 1924 by Edition Karl Brüll, Leipzig – Berlin – Wien«. Fest steht immerhin, dass die Zusammenarbeit mit Löwe in Berlin von kurzer Dauer war, denn Löwe geht 1924 in die USA. Man wird später wieder von ihm hören – auch in Berlin.

Im Februar 1925 machen die Eheleute Gilbert an Bord der »Peer Gynt« eine Kreuzfahrt durchs östliche Mittelmeer: Genua, Neapel – mit Ausflug nach Pompeji –, Kairo, Alexandria, Konstantinopel, Athen.

In den späten 20er Jahren bezieht das Paar für kürzere Zeit eine Wohnung am Laubenheimer Platz 1. Unter dieser Adresse verzeichnet das Jüdische Adressbuch für Großberlin von 1929/30 den Komponisten Robert Winterfeld, obwohl der sich schon Jahre zuvor bei Studienantritt in Freiburg nicht mehr als Jude hatte registrieren lassen. Doch auch die Austrittskartei der Jüdischen Gemeinde – Gilbert tritt, notariell beurkundet, am 21. November 1929 »aus dem Judentum« aus – gibt diesen Wohnort an.13 In dem Viertel um den heutigen Ludwig-Barney-Platz wurden seit 1927 auf Initiative der Genossenschaft Deutscher Bühnen-Angehöriger (GDBA) und des Schutzverbandes deutscher Schriftsteller die Häuser der Künstlerkolonie Berlin errichtet.

Die Liste ihrer Bewohner liest sich wie der Auszug aus einem Who’s Who des deutschen Kulturlebens vor der Nazizeit: Ernst Bloch, Ernst Busch – der für Gilbert noch eine wichtige Rolle spielen wird –, Axel Eggebrecht, Sebastian Haffner (damals noch unter seinem Geburtsnamen Raimund Pretzel), Walter Hasenclever, Peter Huchel, Alfred Kantorowicz, Arthur Koestler, Ludwig Renn, Wilhelm Reich, Hans Sahl, Manès Sperber, Steffi Spira, Erich Weinert und viele andere – nicht zuletzt auch der Schriftsteller Henry Winterfeld, Roberts Bruder, der etwa von 1931 bis 1933 am Laubenheimer Platz 10 lebt.

In diesem Milieu bewegen sich auch Robert und Elke – allerdings wohnen sie nicht lange dort. Schon am 1. April 1931 beziehen sie eine großzügige 4 1 /2-Zimmer-Wohnung im 4. Stock der Charlottenburger Reichsstraße 82. Gerade rechtzeitig, denn inzwischen hat sich Nachwuchs angekündigt:

Am 13. Juli 1931 wird Tochter Marianne geboren. Robert, der seiner Frau erklärt hatte, dass er sie verlassen würde, wenn sie ein Kind bekäme, setzt dies tatsächlich ein Jahr nach der Geburt in die Tat um. Er verlässt das Haus, um Zigaretten zu kaufen, und trifft die Familie erst nach vier Jahren wieder – im Exil.14 Marianne schreibt, dass ihr Vater »ein Wanderer [gewesen sei]. Sein Leben lang begab er sich in die Arme schöner Frauen«.15

Es wird etwa 1923 gewesen sein, im Jahr seiner Heirat, als Gilbert bei einer Versammlung der Kommunisten einen Mann kennenlernt, der dort als Redner aufgetreten ist: Heinrich Blücher. Gilbert spricht ihn anschließend an – der Beginn einer Freundschaft, die bis zu Blüchers Tod 1970 hält und auch Blüchers spätere Frau einbezieht: Hannah Arendt. Blücher, wie Gilbert Jahrgang 1899, stammt aus proletarischen Berliner Verhältnissen. Der Vater stirbt noch vor Heinrichs Geburt bei einem Fabrikunfall. Die Mutter bringt den Jungen als Wäscherin allein durch. Er besucht die Volksschule, schafft es auf ein Lehrerseminar, muss aber die Ausbildung wegen des Krieges 1917 unterbrechen. Nach Ende des Krieges – eine Gasvergiftung hält ihn längere Zeit im Lazarett – kehrt er nach Berlin zurück und verbringt die nächsten Monate als Revolutionär bei Spartakusbund und KPD. Im Sommer 1919 nimmt er die Lehrerausbildung wieder auf, bricht sie jedoch bald ab. Stattdessen sammelt sich Blücher seine Bildung zusammen, wo immer er sie finden kann: Er liest unermüdlich, besucht Vorträge an der Universität und der Akademie der Schönen Künste oder hört Vorlesungen an der Deutschen Hochschule für Politik, die – damals unter den Hochschulen einzigartig – auch Studierende ohne Abitur zulässt.

Blücher und Gilbert verbindet die Leidenschaft für Kultur, Geschichte und Politik. Ob sie – wie Blücher später sagen wird – je zusammengearbeitet haben, für Kabarett, Operette und Kino gemeinsam getextet, ist zweifelhaft. Eine autobiographische Skizze Blüchers, die sich auch im Nachlass Arendts befand, die Beschreibung eines durchschnittlichen Lebens, zeichnet das Bild eines Mannes, der erst den Lehrerberuf anstrebte, dann jedoch Journalist wurde und Zugang fand zu den politischen und kulturellen Eliten der Republik. Später habe er an profitableren Filmmanuskripten, an Songs, Theateradaptionen und Zeitungsserien gearbeitet. Mit Hitlers Machtergreifung, die die Existenz Tausender seiner Kollegen aus rassischen Gründen ruiniert habe, hätte auch er aufgehört zu arbeiten. Eine Fortsetzung seiner Arbeit wäre ihm wie Verrat an seinen Freunden und Kollegen vorgekommen. Bis Ende 1933 sei er in Deutschland geblieben, um den Opfern so gut, wie es ihm als nicht-jüdischer Person möglich war, zu helfen. Im Januar 1934 sei er dann über Prag nach Paris gegangen, wo er bis 1940 gelebt habe.

Blüchers weitere Zeilen decken dann noch den Zeitraum bis in die ersten Jahre in den USA ab. Es ist nicht ersichtlich, von wann genau diese Skizze in eigener Sache stammt und für welchen Zweck er sie aufgeschrieben hat. Es fällt allerdings auf, dass Hinweise auf seine linksradikale Vergangenheit völlig fehlen. Und die könnte weit mehr gewesen sein als die Freizeitbeschäftigung eines angeblichen Journalisten und Filmschriftstellers.

Ein weiterer Lebenslauf, den Blücher 1956 für seinen Antrag beim Entschädigungsamt Berlin geschrieben hat, enthält die Behauptung, er habe 1918 die Abschlussprüfung am Lehrerseminar bestanden. Und weiter: »Von 1924 bis 1933 arbeitete ich zusammen mit Robert Gilbert in Kabarett-Operetten und Filmarbeit. Im Dezember 1933 musste ich Deutschland im Verfolg der Nazimassnahmen verlassen, da, abgesehen von allem anderen, mein Sozius und meine damalige Frau Juden waren.«16

Der Historiker Reinhard Müller, der in den Moskauer Archiven der Komintern recherchiert hat, hält einen Großteil von Blüchers Darstellungen für reine Legendenbildung. In Wirklichkeit habe er weder journalistisch noch für den Film gearbeitet, sondern als eine Art Berufsrevolutionär. Unter dem Decknamen Heinrich Larsen habe Blücher für den illegalen KPD-Nachrichtendienst gearbeitet, militärisch relevante Informationen gesammelt und an den sowjetischen Geheimdienst weitergereicht. Diese Spezialkenntnisse habe Blücher später auch in den USA eingesetzt.17 Als Larsen war Blücher, wie Arendt-Biographin Elisabeth Young-Bruehl schreibt, auch in Paris aufgetreten: »Er lebte bei Freunden in verschiedenen Hotels und Wohnungen und benahm sich, wenn er ausging, wie sein eigener Klassenfeind: Mit Anzug, Hut, Spazierstock und dem angenommenen Namen ›Heinrich Larsen‹ tarnte er sich als bourgeoiser Tourist.«18 Da er der Parteiopposition (»Versöhnler«) anhing, geriet er in die Wirren der innerparteilichen Kämpfe, bis er 1936 in Paris aus der Partei ausgeschlossen wurde.

In dem Gespräch mit Betz und Steffy Eisler in Ascona stellt Gilbert seinen Freund ganz anders dar – nicht als Politaktivisten, schon gar nicht als Spion, sondern als Schöngeist: »Blücher – von dem hab ich gelernt, was Lyrik ist, der hat mir gezeigt Mörike, Goethe [und] wo der Atem liegt.«19 Dass Blücher mit ihm getextet hätte, sagt Gilbert nicht. Aber auch das ist kein zwingendes Argument, denn Gilbert hat in mindestens einem anderen Fall eine Co-Autorin lebenslang verschwiegen.

Es sind nicht allein die musischen Interessen, die Gilbert und Blücher verbinden und in einen Kreis um den Expressionisten Arno Holz führen. Blücher ist ein durch und durch politischer Geist, der auch entsprechend handelt. Gilbert erinnert sich – ohne dafür einen konkreten Zeitraum oder die Beteiligten zu nennen –, Blücher habe sie mit Waffen versorgt. Das mag nach Räuberpistole klingen, ist aber durchaus nicht abwegig: Die KPD und ihre paramilitärische Vorfeldorganisation, der Rotfrontkämpferbund, spielten in den 20er Jahren immer wieder mit dem Gedanken an bewaffnete Aufstände, bereiteten sie auch vor und haben sie zumindest einmal, 1923 in Hamburg, erfolglos in Szene gesetzt. Und in der Nazizeit gab es bewaffnete Widerstandsgruppen im kommunistischen Untergrund.

Gilbert selbst hat zumindest Geld für die politische Arbeit gegeben. So berichtete der Schweizer Kommunist Jules Humbert-Droz, seinerzeit Komintern-Sekretär für die romanischen Länder, er habe Winterfeld in Zürich getroffen, den ihm der Berliner KPD-Oppositionelle [Karl] »Volk als denjenigen vorstellte, der die fraktionelle Arbeit finanzierte«. Zürich sei zu einem Zentrum des Zusammenschlusses der Versöhnler geworden, und es habe dort 1933 mehrere Treffen mit heftigen Diskussionen gegeben, bei denen Winterfeld und Paul Baudisch »den stärker fraktionistischen Standpunkt von Volk unterstützten«.20

Der von Humbert-Droz beiläufig erwähnte Winterfeld, der »die fraktionelle Arbeit finanzierte«, ist Robert Gilbert, der in politischen Zusammenhängen nicht mit seinem etablierten Künstlernamen agierte, sondern eben als Winterfeld oder unter Pseudonym. Gilbert / Winterfeld und Blücher gehören zunächst zu einer eher informellen antistalinistischen Fraktion innerhalb der KPD. Dabei war Fraktionsbildung das Letzte, was die Parteiführung duldete. Und so werden Blücher und Gilbert schließlich – als die Partei auf der Basis der Sozialfaschismusthese in der Sozialdemokratie den Hauptfeind zu erkennen glaubt – gemeinsam mit den früheren, dann bereits ausgeschlossenen KPD-Vorsitzenden Heinrich Brandler und August Thalheimer zu Gründern oder Unterstützern der KPD-O (Opposition), einem Kristallisationspunkt unorthodoxer Sozialisten. Zumindest zeitweilig gehören auch die späteren Politologen Wolfgang Abendroth und Richard Löwenthal sowie der Literaturwissenschaftler Hans Mayer zu dieser Gruppe, die nur einige Tausend Mitglieder hatte.

1933 flüchtet Blücher nach Prag, Anfang 1934 dann nach Paris. Dort spielt er nicht nur mit Walter Benjamin Schach, sondern lernt 1936 auch Hannah Arendt kennen. Nach Arendts Scheidung von Günther Stern (Pseudonym: Günther Anders) 1937 heiraten die beiden. Sie wird in einem Brief an Karl Jaspers schreiben, dass sie durch Blücher »politisch denken und historisch sehen gelernt habe«.21 Blücher ist in Paris aber auch, wie Reinhard Müller in seiner Revision eines Lebenslaufs über ihn berichtet, in hektische Parteiaktivitäten verstrickt – bis zu jenem 11. November 1936, an dem auf einer Sitzung der Auslandsleitung der KPD in Anwesenheit des später zum Sozialdemokraten gewandelten Herbert Wehner der Ausschluss Blüchers aus der Partei beschlossen wird.

Meist populär, gelegentlich revolutionär: Schlager, Balladen, Operetten

Vom Vater wollte er nicht leben, von Schopenhauer auch nicht, also wandte er sich dem Gassenhauer zu. So hat es Gilbert selbst erzählt, doch es wäre falsch anzunehmen, dass sich Gilbert nach dem Studium gradlinig von a) Schopenhauer nach b) Gassenhauer bewegt hat. Gilberts Schaffen wird eher reichhaltiger. Das Intellektuelle und das Populäre leben bei ihm fortan in friedlicher Koexistenz, der Schlager und das Kabarett. Neben der Arbeit für Rosa Valetti, der Prinzipalin des Kabarett Größenwahn, ist auch die für Claire Waldoff verbürgt. Für die oft betont burschikos und bodenständig auftretende Kleinkunstchansonette schreibt er den 1926 erschienenen Titel »Wat nützt mir der schönste Grunewaldsee« sowie »Ich bin nicht für die Treue gemacht« (Musik: Irving Caesar). Fünf Jahre später bringt sie seinen in Berliner Mundart gereimten Schlager »Warum liebt der Wladimir g’rade mir?« heraus, komponiert von Hans May:

WARUM LIEBT DER WLADIMIR G’RADE MIR? (1931)22

Mein erster, der hieß Franz, mein Zweiter der hieß Hans

Der Dritte, der hieß Friederich, die andern weeß ick nich.

Den Neusten habe ick schon, der is ’ne Sensation.

Der spricht schon von der Hochzeitsnacht,

da hab ick mir jedacht:

Warum liebt der Wladimir g’rade mir, g’rade mir?

Weil et ihm so neu is, det ihm eene treu ist. […]

So äußerlich jesehen is er nich g’rade schön

Doch sacht er, er wär tätowiert von Kopf bis zu den Zehn.

Es sei ein Fliederstrauch jemalt uff seinen Bauch

Doch hat er mir det nie jezeigt, denn dußlig is er auch.

Warum liebt der Wladimir g’rade mir, g’rade mir?

Weil ick aus Berlin bin und der Kietz für ihn bin.

Darum liebt der Wladimir g’rade mir und nich dir

Weil er wohl begründet doch nischt bessres findet.

Jreift er auch mitunter an die Wade dir […]

Und schließlich 1932, noch mal für die Waldoff, »Es wird in hundert Jahren wieder so ein Frühling sein«, ein Titel, der als Startpunkt der Karriere von Komponist Nico Dostal gilt.

Doch diese eher heiteren Titel könnten täuschen. Gilbert geht es in den kommenden Jahren wie einigen seiner Kollegen – sie fühlen sich »getrieben, ihren zunehmend linken Überzeugungen auch einmal professionell Ausdruck zu geben«.23