Titel

Joscha Wullweber

Zentralbankkapitalismus

Transformationen des globalen Finanzsystems in Krisenzeiten

Mit einem Vorwort von Rainer Voss

Suhrkamp

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2021

Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage der Ausgabe der edition suhrkamp 2747.

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Umschlag gestaltet nach einem Konzept
von Willy Fleckhaus: Rolf Staudt

eISBN 978-3-518-76556-2

www.suhrkamp.de

Vorwort

Von Rainer Voss

Damals, als ich meine ökonomische Sozialisierung erfuhr, war eigentlich alles ganz einfach. Das deutsche ökonomische Denkgebäude ruhte fest auf fünf Pfeilern: Markt gut, Staat schlecht, Schulden schlecht, Steuern ganz schlecht, und die Sozen können nicht mit Geld umgehen. Helmut Schmidt stellte uns vor die Alternative »Fünf Prozent Inflation oder fünf Prozent Arbeitslosigkeit«, eine fünfjährige Bundesanleihe verzinste sich mit elf Prozent, und die Deutschland AG – ein fest geknüpftes Netzwerk aus Banken und ihren Unternehmensbeteiligungen – wirkte wie ein Bollwerk gegen ausländische Annäherungsversuche.

Das, was man »Finanzmarkt« nannte, war eine Art beschütztes Wohnen, streng reglementiert, jeglichem Marktgeschehen entzogen und fest in der Hand von Bundesbank und Finanzministerium. Wettbewerb fand kaum statt, Entscheidungen von Tragweite wurden einvernehmlich getroffen.

Zentralbankpolitik war ein Arkanum, die Domäne alter weißer Männer. Seinen passenden Ausdruck fand dieser Umstand in einer berühmt gewordenen Formulierung von Alan Greenspan: »Ich weiß, dass Sie glauben, Sie wüssten, was ich Ihrer Ansicht nach gesagt habe. Aber ich bin nicht sicher, ob Ihnen klar ist, dass das, was Sie gehört haben, nicht das ist, was ich meinte.« Je opaker die Äußerungen der Zentralbanker waren, umso mehr rätselten die Märkte über die Orakel aus New York oder Frankfurt. Die heute praktizierte »Forward Guidance«, also die kommunikative Steuerung der Märkte ex ante, war damals eher eine Ex-post-Kommentierung aus dem Off.

Es gab Aktien, Anleihen und sonst nicht viel. Certificates of Deposit, Geldmarktfonds, Futures und Swaps etc. waren im Geltungsraum der D-Mark unbekannt, ausländische Banken nicht zugelassen. Banken waren Institutionen, so die gängige Meinung, die hauptsächlich Einlagen von Kunden entgegennahmen, als Kredite weiterreichten und von der Marge dazwischen fürstlich lebten. Anders gesagt: Wir hatten keine Ahnung von der Funktionsweise eines modernen Geldsystems! Was ist eigentlich Geld? Wer darf es schöpfen und wieso? Wer darf den dabei entstehenden Gewinn – die Seigniorage – behalten? Was ist die Rolle einer Zentralbank? Welche Player müssen in die Analyse mit einbezogen werden?

Mit dem »Big Bang« von 1986, als in Großbritannien und den USA die große Welle der Deregulierung des Bankensektors und des Wertpapierhandels losgetreten wurde, katapultierte sich die angloamerikanische Finanzwelt in eine neue Dimension. Als Exportnation gab es für Deutschland keine Alternative, als dieser Entwicklung zu folgen. Es begann das Zeitalter der Finanzkrisen: Schwarzer Montag, Soros und das Pfund, Südkorea, Argentinien, Russland und wieder Argentinien. Die akademische Ökonomie verfolgte die Ereignisse von der Seitenlinie, während Weltbank, Internationaler Währungsfonds und andere relevante Institutionen sie ausgehend von den Lehrmeinungen der siebziger Jahre mehr schlecht als recht managten. Erst 2002 erhielt mit dem israelischen Psychologen Daniel Kahneman erstmals kein Ökonom den Alfred-Nobel-Gedächtnispreis für Wirtschaftswissenschaften. Die Idee, dass man die Wirtschaft nicht verstehen kann, ohne alle gesellschaftlichen Stakeholder einzubeziehen, begann langsam salonfähig zu werden.

Schauen wir uns die Welt heute an: Aus dem Schreckgespenst »Inflation« ist ein Sehnsuchtsziel geworden. Die Erkenntnis, dass Kredite Einlagen schaffen und nicht umgekehrt, ist inzwischen anerkannte Lehrmeinung, wenngleich sie in den meisten Curricula noch nicht angekommen ist. Die Zentralbanken fluten das Bankensystem über Offenmarktoperationen mit nie dagewesenen Mengen an Zentralbankgeld, Zinsen sind im Wesentlichen verschwunden, und in manchen Bereichen entsteht die paradoxe Situation, dass man auch noch Geld obendrauf bekommt, wenn man einen Kredit aufnimmt. All das fordert unser traditionelles Denken darüber heraus, was Zentralbanken tun sollten und was nicht.

Im Gegensatz zu früher stehen heute an der Spitze der Europäischen Zentralbank beeindruckende Frauen, die ihre Intentionen und die Funktionsweise moderner Geldpolitik in sozialen Netzwerken und Bürgersprechstunden erläutern. Mit der Modern Monetary Theory ist eine neue Sichtweise auf den Staat, seine Finanzierung und die Steuerung von Inflation und Arbeitslosigkeit entstanden, die breit diskutiert wird. Aber auch über eine Erweiterung der Funktionen von Zentralbanken wird debattiert, über ihre Einbindung in die Dekarbonisierung, die Förderung von politisch gewolltem sozialen Wandel und über ihre engere Verzahnung mit der Fiskalpolitik.

Ob es sich bei all diesen Vorgängen um eine intellektuelle Evolution oder eine Schocktherapie handelt, darüber lässt sich diskutieren. Aber dass eine tektonische Verschiebung in der akademischen Ökonomie, der Weltwirtschaft und dem globalen Finanzsystem im Gang ist, steht wohl außer Frage. Um die Folgen dieser Entwicklung auf einer informierten Basis beurteilen zu können, reicht die Exegese von Finanzmarktliteratur nicht aus. Angesichts neuer Funktionsweisen und neuer Akteure muss man sich in den Maschinenraum der Kapitalmärkte hinabbegeben und dort detailliert die Funktionalität und Dysfunktionalität der Abläufe analysieren.

Gemeinsam mit Joscha Wullweber und Gerhard Schick habe ich Mitte 2020 einen Aufsatz unter dem Titel »Die Covid-19 Finanzkrise, Finanzinstabilitäten und Transformationen innerhalb des globalen Finanzsystems« verfasst.[1]  Dabei haben wir gemerkt, wie wichtig es ist, den Dialog zwischen Theorie und Praxis zu forcieren. Während meiner aktiven Tätigkeit im Bankensektor haben ich und meine Kollegen über die Erklärungsversuche der Ökonomen für bestimmte Phänomene häufig herzlich gelacht, wir wussten es halt besser. Nun hatte damals keiner von uns ein Interesse, aufklärerisch tätig zu werden. Am liebsten hätte man ein Schild am Eingang des Bankgebäudes aufgehängt: »Was hier drinnen geschieht, übersteigt Ihr Verständnis. Betreten auf eigene Gefahr.«

Ohne eine detaillierte Kenntnis der Abläufe, Strategien und Buchungssätze ist eine tiefe Analyse der Kapitalmärkte nicht möglich. Umso froher bin ich, dass Joscha Wullweber den Versuch gewagt hat, diese doch eher sperrigen Vorgänge zu sezieren. Dieses Vorgehen hat außerdem den Charme, dass die übliche Klippe ökonomischer Literatur – die Entscheidung zwischen einer mehr keynesianischen oder einer mehr liberalen Analyse – elegant umschifft wird und einer faktenbasierten Betrachtung weicht. Nur wenn man begreift, »wie« etwas passiert, kann man das »Warum« ergründen. Und da wir es letzten Endes mit dem aggregierten Handeln von Menschen zu tun haben, liegt hier der Schlüssel zu einer Steuerung und Regulierung sowie vielleicht zu einer besseren und gerechteren Ressourcenverteilung.

Im Januar 2021