Für Levi und für Claudia,

die eine kleine Kammer mit Licht erfüllten und

einem zaudernden Herzen Kraft verliehen.

ERSTER TEIL

DIE ANNÄHERUNG

1

Er folgte dem Geschöpf durch die Dunkelheit. Hinein in einen Gürtel aus Fichten, wo sich eine abschüssige Waldschneise öffnete. Er lief schnell. Er konnte den unebenen Untergrund kaum erkennen. Er hatte Glück, nicht zu stürzen.

Pauls Schritte und die des Geschöpfes klangen ineinander und er hatte das Gefühl, als würden auch ihre Herzen gemeinsam schlagen. Als gäbe es nichts mehr, was sie beide voneinander trennte, keine Grenzen der Körperlichkeit. Nur der Wald war da, die Heimlichkeit der Nacht.

 

Plötzlich tauchte ein See hinter den Reihen der hohen Baumstämme auf. Die Mondscherbe, die in kalter Höhe schwebte, warf einen Schimmer aufs Wasser.

Es war der abgeschiedene Flühensee, den selbst viele Einheimische nie zu Gesicht bekamen. Er lag in einem Bergkessel des Schwarzwalds und war von einer mächtigen Hügelkette umzogen. Nadelbäume säumten seine Ufer wie ein Heer von Wächtern.

Auch Paul hatte ihn in den sechzehn Jahren seines Lebens noch nie gesehen. Hatte aber Geschichten gehört, die man sich über ihn erzählte. Manche Menschen behaupteten, dass sich auf seinem Grund die Überreste einer schwarzen Festung verbargen, Heimat eines tyrannischen Herrschers. Angeblich war die Festung vor Jahrhunderten in einer aus dem nahen Kybfelsen hervorbrechenden Flut versunken. Andere sprachen davon, dass es unter Wasser verborgene Verbindungen gab zu den Karseen, die aus der Eiszeit stammten.

Im Gegensatz zu ihnen war das Wasser des Sees aber nicht sauer und man konnte in den Nächten Fische beobachten, die mit ihren schimmernden Körpern aus der Tiefe hervorschnellten.

Paul achtete nicht auf die Fische.

Seine Sinne waren auf das Geschöpf gerichtet, das jetzt zwischen den Nadelbäumen ans Ufer getreten war und sich langsam umwandte, um nach ihm zu spähen. Er stand noch im Schutz der Nadelbäume und nahm die modrigen Herbstdüfte wahr. Seine Augen sahen von dem Geschöpf nicht mehr als die Dunkelheit, die von ihm ausging und die sich kaum von dem See abhob. Trotzdem wusste der junge Mann genau, wer sich dort vor ihm am schilfigen Ufer befand. Seine Erinnerung beschwor die Farben herauf. Ließ ihn sehen, ohne zu sehen: das aus vielen Flicken gefertigte Gewand des Wesens. Die fratzenhafte Maske mit der langen spitzigen Nase und dem aufgerissenen Mund, aus dem die Zunge hervorkam. Und er sah, was sich unter diesem aus Lindenholz geschnitzten und mit einem Gemisch aus Ölfarben und Leinfirnis bemalten Gesicht verbarg. Ein zweites Gesicht.

Es war das Gesicht einer jungen Frau, die in dem Fastnachtskostüm der Hexe steckte. Er kannte die Frau gut. Sie war eine Referendarin an seiner Schule und nahm seit zwei Monaten an den Unterrichtsstunden teil.

Er kannte sie gut, sie war in seinen Träumen.

 

Er mochte ihre Augen unter der hohen, ebenmäßigen Stirn. Geheimnis lag darin und etwas Forderndes. Als wäre da ein Hunger, der an ihr nagte. Er mochte, wie sie ihre Haare trug. Den Zopf, der aus einer geflochtenen Partie und einer losen bestand. Und er mochte, wie sich ihre Lippen öffneten, wenn sie vor der Klasse redete. Mit einer Stimme, die jung klang und trotzdem die Festigkeit der angehenden Lehrerin hatte. Oft hatte er sich vorgestellt, wie sie sich dagegen wehrte, aber machtlos war. Hatte sich vorgestellt, wie ihre Stimme die Festigkeit verlor und langsam in ein Stöhnen überging.

Jetzt brauchte es keine Vorstellungen mehr. Keine Erinnerungen und Träume. Jetzt war sie ihm nah. So nah.

Außer ihnen Farne, Riedgras, Moose, Ranken, das Geflecht der Hallimasche, das Holz zum Leuchten brachte. Außer ihnen die Regungen der Nachtkreaturen. Das stille Fluten des Wassers. Außer ihnen nichts. Er wusste, der Moment war gekommen. Endlich. Er trat zwischen den Bäumen hindurch auf sie zu.

 

 

Sie hatte ihn hierhergeführt. Er hätte nicht für möglich gehalten, wie leicht es sein würde. Er hatte sie gleich an ihrer Stimme erkannt. An den Worten: Komm mit mir. Er war sich sicher: Niemand hatte ihr Verschwinden bemerkt. Ganz leise in der Ferne hörte er noch die Gesänge der Betrunkenen.

Zweimal im Jahr stiegen Bewohner der umliegenden Orte zum Kybfelsen hinauf, um zwischen den Überresten einer abgetragenen Spornburg das Feuer zu entfachen. Im Frühjahr, um den Winter zu vertreiben, und jetzt in der Nacht zum ersten November. In dieser Nacht sollte jenes Feuer den Toten Funken des Lebens zutragen. In dieser Nacht, so hieß es, war sie einen Spalt weit geöffnet. Die Pforte, die ins Totenreich führte.

Paul hatte auch Funken in die Nacht geschlagen, wie er es schon seit seiner Kindheit tat. Hatte die Scheibe – das handtellergroße Holzstück – auf den Haselnussstock gesteckt, den er zuvor frisch geschnitten hatte. Mit seinem Klappmesser, das einen leopardenfleckigen Griff aus Horn besaß und das er immer bei sich trug. Er hatte die Holzscheibe im Feuer glühend gemacht und dann den Stock mit der Scheibe durch die Luft geschwungen. Er hatte den Vers gesprochen, den er seit dem Kindesalter kannte. Ein altes Ritual. Mit dem Vers wurden die Scheiben geweiht. Die Menschen jubelten jedes Mal, wenn eine Scheibe als Funken über die kleine Rampe ins Tal katapultiert wurde.

Die meisten, die in dieser Nacht zur Ruine gekommen waren, trugen Kostüme der Narrenzünfte. Sie wurden über mehrere Generationen weitervererbt und meist im Frühjahr bei den Umzügen getragen, wenn Hexen und Narren Ort für Ort in der ganzen Gegend einnahmen. Aber häufig auch anlässlich dieser besonderen Herbstnacht.

Paul trug keine Maske. Er mochte das Gefühl, gesehen zu werden. Er mochte das Gefühl, dass die Menschen seinem Blick ausgesetzt waren. Mochte es, ihre Verunsicherung wahrzunehmen. Auch bei der jungen Referendarin war es so, als er sie das erste Mal ansah. Sie hatte dem Blick des Teenagers nicht standgehalten. Sie hatte genau gespürt, dass seine Blicke etwas bloßlegten.

Näher und näher trat er zu ihr ans Ufer heran. Er wusste, jetzt gehörten sie einander. Jetzt würden die Sinne alles freilegen. Schicht um Schicht. Die Holzmaske fiel und die Lippen der Referendarin, deren Vornamen er nicht kannte, die ungestümen, hilflosen Lippen, öffneten sich im Dunkeln.

Das Flickengewand sank herab. Er spürte seinen straffen Schwanz, durch den das Blut jagte. Er riss ihren Slip herunter.

Sie umfing ihn. Mit ihrem Leib. Ihren Brüsten. Mit der Feuchtigkeit ihres Verlangens. Fing ihn ein wie einen Nachtfalter am Ufer des Sees.

 

»Was ist das?«, sagte sie plötzlich.

»Was meinst du?«, sagte Paul.

»Da ist etwas. Auf dem See. Ein blaues Schimmern.«

Pauls Augen suchten danach, konnten aber nichts entdecken.

Dann hörten sie es. Ein Geräusch im Wasser.

»Sicher nur ein Fisch«, sagte er.

 

Aber was sich von den Wurzeln des Sees gelöst und aus der Tiefe hervorgekämpft hatte, war kein Fisch. Es kam näher.

Halb schwimmend, halb watend, zog es sich ans Ufer. Die beiden waren wie gebannt. Konnten sich nicht rühren. Und dann sahen sie, wie sich die triefende Kreatur vor ihnen aufrichtete.

Das Geschöpf, das einem Menschen ähnelte. Und doch kein Mensch war.

Paul glaubte das helle, aufgedunsene Fleisch zu sehen, das an den Knochen hing. Er glaubte zu sehen, dass die Kreatur leere Augenhöhlen hatte. Die dürre Hand, die mit einer schmierigen Schicht überzogen war, streckte sich, näherte sich dem Gesicht der Referendarin. Reglos kauerte sie neben Paul auf der schmalen Uferstelle. Paul spürte, wie schnell sich ihr Brustkorb hob und senkte, wie panisch sie atmete. Seine Gedanken erschöpften sich. Spielte ihnen jemand einen Streich? War es auch nur jemand in einem Fastnachtskostüm? Kurz kam ihm sein Klappmesser in den Sinn, das sich in der Tasche seiner Jeans befand. Er wollte danach tasten. Aber er konnte es nicht, konnte es nicht. Er spürte nur noch die Nähe des Sees und glaubte darin zu versinken. Er spürte weiche, wogende Pflanzen, die sich vom Grunde herauf um seine Glieder rankten. Er sah, wie ein spitzer Daumennagel die Wange der jungen Frau aufschlitzte. Blut quoll hervor, rann ihr Gesicht herab.

Gierig leckte sich die Kreatur die Finger nach dem Blut. Ließ die Tropfen in die verzogene Öffnung seines Mundes rinnen.

 

Mit diesen Tropfen begann es. Sie waren nur der Anfang.

Es ertönten keine Schreie. Mit einem Geräusch wie von zerreißender Seide schoss ein Waldkauz aus den Fichten hervor. Dann senkte sich wieder Stille über den Flühensee, der fließende Bilder davontrug. Unergründliche Bilder der Nacht.

2

Der Sommer hatte sich schon lange von der Erde gelöst. Hatte sein Licht zusammengerafft. Aber die Nadelbäume, die allgegenwärtigen finsteren Nadelbäume des Schwarzwalds, hielten fest an ihrem Grün.

Unter diesen Fichten und Tannen, die schon immer weit hinauf in die Höhe ihrer Träume ragten, ging sie.

Sie kannte den Weg. Kannte ihn gut.

Als Isabell eine freie Anhöhe erreichte, sah sie die bewaldeten Gebiete ringsum, die uralten Hügel und den Himmel wie gewölkter Marmor, in dem Dunkelheit anwuchs.

 

Unter sich sah sie die Lichter von Hofsgrund leuchten. Funken von Heimat und Hass. Ein Ort von wenigen Hundert Einwohnern, die auf über tausend Metern Höhe unterhalb des Schauinslandgipfels lebten. Ein beliebtes Ziel für Wanderurlauber und Skifahrer. Hofsgrund lag in der Weite schöner Natur. Aber die Weite der Gedanken ließen seine Bewohner nicht gern zu.

Isabell glaubte, unter sich in der Ferne das Schindeldach des Hauses in der Silberbergstraße zu erkennen, in dem sie zusammen mit den anderen Teenagern lebte, den Aufsässigen, den Haltlosen.

Die Betreuerin, die kaum älter war als sie, kam immer wieder vorbei, um nach ihnen zu sehen.

Sie verhielt sich so, als gehörte sie zu ihnen. Als wäre sie eine Freundin. An Tagen, an denen man schwach war, glaubte man ihr.

Es gab sie oft, diese Tage.

 

Isabell lief über das ausgezehrte Gras einer Wiese und drang tiefer in den Wald vor. Die Blautöne des Abends, die Ranken, Schlinggewächse und Zweige wurden zu einem immer feineren Gespinst. Isabell musste sich beeilen. Die Betreuerin hatte mit strenger Miene deutlich gemacht, wann sie sie zurückerwartete.

 

Schon einmal war Isabell abgehauen und hatte über einen Tag hier oben im Freien verbracht, bis ein Suchtrupp losmarschiert war und sie zurückgeholt hatte. Sie erinnerte sich gut an diesen Tag hier draußen. An die Geräusche, die nach und nach lauter und intensiver wurden: das Rascheln, das Scharren und Kratzen. Sie erinnerte sich an die Bewegung ungesehener Flügel, und an die leichten Luftströme. An den leise nagenden Hunger. An Pflanzen, die so langsam wuchsen, dass man sich vor ihnen fürchtete. Weil man nicht ahnen konnte, was sie vorhatten. Manche der Pflanzen hatte sie gegessen. Obwohl sie keine Ahnung hatte, welche davon giftig waren. Besonders an eine Pflanze erinnerte sie sich, die länglich und schmal auf einer Lichtung hervorwachsend in den Himmel stach. Hinterher hatte Isabell Bauchkrämpfe bekommen. Weiter geschah nichts. Aber noch immer hatte sie viel zu häufig Bauchkrämpfe. Dann schmeckte sie jedes Mal diese Pflanze auf ihrer Zunge …

Die Zeit war wie in einem Traum dahingeglitten. Dennoch hatte sie sich zum ersten Mal nach langer Zeit wieder frei gefühlt.

Ja, eigentlich durfte Isabell nicht mehr allein in den Wald. Aber heute gab es eine Ausnahme. Heute war ein besonderes Datum.

Ein Datum, das alle anderen Kinder und Jugendlichen in ihrem Umkreis mit Halloween verbanden. Die alten Kelten hatten sie Samhain genannt, die Nacht zum ersten November, in der angeblich so manche Grenze auf mysteriöse Weise aufgehoben wurde.

Isabell kannte ihren Weg, kannte ihn gut.

Sie ahnte nicht, dass etwas aus erdigen Tiefen hervorkam.

Näher und näher kam.

 

 

Die kleine Kapelle St. Margareta lag tief verborgen im Wald. Kein ausgewiesener Weg führte dorthin. Manche Wanderer, die sich aufgemacht hatten, sie zu finden, kehrten abends mit der Geschichte ihres Scheiterns zurück. Der Wald trug die Kapelle im Herzen.

 

Isabell hatte in der Bücherstube des Heimatmuseums darüber gelesen. Christian Albert, ein alter Mann, den sie jede Woche besuchte, hatte sie einmal dorthin mitgenommen.

Es war nicht so langweilig, wie sie erwartet hatte. In einem Buch stand auch etwas über die Kapelle. Die Häuser, die es hier einmal gegeben hatte, waren schon vor langer Zeit zerstört worden.

Damals, im 19. Jahrhundert, hatte hier der Holzhandel floriert und die Weißtannen waren abgeholzt und zu Masten der holländischen Kriegs- und Handelsschiffe verarbeitet worden. Da war der Wald fast verschwunden und die Lebensgrundlage der Menschen bedroht. Der badische Staat beanspruchte daraufhin die Gebiete für sich, um sie wieder aufzuforsten. Viele Bauern waren gezwungen, ihre Grundstücke aufzugeben.

Aber die kleine Kapelle stemmte sich gegen die Jahrhunderte, blieb bestehen.

Es gab eine Legende aus weit entrückten Zeiten, als die Pest die Täler des Schwarzwalds heimsuchte. Der Legende nach blieben nur die Orte, in denen das Glockenläuten von St. Margareta zu hören war, von der Krankheit verschont.

 

 

Als Isabell in die Kapelle trat, schlug ihr eine feuchte Kühle entgegen. Sie zündete eine Opferkerze an. Zaghaft breitete sich ihr Licht aus, kam aber gegen die tiefer werdende Dunkelheit kaum an. Nach und nach verschwanden die Farben der Buntglasscheiben.

Isabell blickte in die Kerzenflamme und hatte das Gefühl, dass sich ihr Körper in die Nacht verflüchtigte. Sie glaubte nur noch aus einem Gesicht zu bestehen, das schwerelos in der modrigen Luft schwebte und Ausschau hielt. Die Augen starr auf die Flamme gerichtet. Für einen kurzen Moment glaubte sie einen Gesang zu hören. Eine Art von Chor. Dann war es wieder still.

Im dünnen Lichtschein der Kerze kniete sie. Mit gefalteten Händen, als würde sie beten. Aber sie betete nicht. Sie versuchte an ihre Mutter zu denken.

 

Jedes Jahr am Geburtstag der Mutter zündete Isabell hier eine Kerze an. Aber die Bilder, die in ihrem Geist auftauchten, waren nicht die der Mutter. Es waren Bilder anderer Frauen, denen sie flüchtig begegnet war. Frauen, denen sie manchmal heimlich auf der Straße nachlief, weil etwas an ihnen sie an ihre Mutter erinnerte. Die Statur, das gewellte Haar, ein Hauch von Parfüm. Isabell versuchte immer hinauszuzögern, den Frauen ins Gesicht zu sehen, damit das süße Trugbild bestehen blieb. Aber dann tat sie es doch. Diese Frauen waren am Leben und gingen ihrer Wege. Aber ihre Mutter, sie war tot.

 

Als Isabell wieder hinaus an die Luft kam, stand der Mond am Himmel. Wie eine schimmernde Kerbe, die in die Nacht geschlagen worden war. Sie blieb vor dem Eingang der Kapelle stehen und atmete die kalte Luft. Sie stellte den Kragen ihres Mantels auf, der zu dünn war für diese Jahreszeit. Sie mochte ihn aber, weil sie sich in ihm sexy fühlte und er sich farblich perfekt von ihren blonden Haaren abhob.

Isabell dachte auf einmal an Daniel, dem sie immer begegnete, wenn sie mit dem Fahrrad zum Bauernhof fuhr, um Eier zu kaufen. Er war sechzehn – genauso alt wie sie – und ging in ihre Parallelklasse. Seinem Vater gehörte der Bauernhof. Wenn sie dorthin kam, blickte sie der junge Mann immer so staunend an. Ihre Freundinnen sagten alle, dass er viel zu brav wäre. Langweilig. Aber Isabell mochte sein sanftes Gesicht. Sehr sogar. Es war nicht verriegelt wie die Gesichter anderer Jungs. Es gab vieles preis. Man merkte, dass er aus einer abgesteckten Welt kam, die nach Butterblumen, Heu und Kuhmist roch. Man merkte, dass er sich für Dinge, die in der Erde wurzelten, mehr interessierte als für Bilder, die auf Touchscreens aufschimmerten. Aber genau das gefiel ihr an ihm.

 

 

Im Mondlicht stand der Baum, den Isabell schon häufiger betrachtet hatte. Eine Hängebuche, die sich linker Hand neben der Kapelle auf der kleinen Lichtung befand. Ihr düsteres Gewirr aus kleinen und großen Ästen sank ausladend fast bis auf die Erde herab. Für einen kurzen Moment verfing sich ihr Blick in diesem Gewirr.

Dann hörte Isabell plötzlich ein Geräusch.

Zuerst glaubte sie nur den Wind zu hören, der durch den Wald strich. Dann merkte sie, dass es mitnichten der Wind war. Es war ein leise gurgelndes Ächzen wie ein angestrengter Atem, der nicht nachlassen wollte. Das Geräusch kam aus der Tiefe. Aus der Tiefe des stillgelegten, halb zerfallenen Brunnens, der sich auf halber Höhe zwischen Hängebuche und Kapelle befand. Das Geräusch schien in der Verborgenheit des Schachtes anzuschwellen und immer näher zu rücken.

Isabell huschte hinter einen Mauervorsprung der Kapelle.

Ihr Atem ging flach und schnell. Sie lugte zum Brunnen hinüber und sah, was dort aus dem Schacht hervorkam.

Sie sah Hände, einen sich von der Dunkelheit abhebenden Körper, der sich hinaus ins Freie schob. Isabell hörte das Pulsieren ihres Blutes in den Ohren. Ein nacktes Wesen mit wundem, verkohltem Fleisch wälzte sich vom Brunnenrand hinab ins Gras. Isabell wagte nicht, sich zu rühren. Ihre Augen wollten nicht länger hinsehen und taten es dennoch. Sie sah, wie der Körper mühevoll auf der Erde vorwärtskroch. Sie hörte den schwer gehenden Atem, der anders klang als bei einem Menschen. Fast so, als müsste dieses Wesen mühevoll lernen zu atmen. Es raschelte und knackte im Gras, als das Wesen weiterkroch. Es kroch auf die Hängebuche zu und verschwand hinter dem Vorhang der herabhängenden Zweige. Dort blieb es liegen, atmete. Atmete.

 

Isabell wollte wegrennen. Aber sie konnte es nicht. Etwas fesselte sie an diesen Ort. Was dort in die Schatten geschlüpft war, schien ein unsichtbares Band zu ihr geknüpft zu haben.

Vorsichtig näherte sie sich dem Baum, der im Blau der Nacht wie entrückt schien. Als sie ihn erreicht hatte, blieb sie zaudernd stehen. Immer noch durchströmte Angst ihren Körper. Aber dann fasste sie sich ein Herz. Sie spürte die Berührung feiner Zweigspitzen, als sie unter den hängenden Ästen hindurchschlüpfte.

Dort unter dem Baumstamm im schwachen Licht lag kein flammenverzehrtes Wesen mehr, sondern der Körper einer zusammengekauerten nackten Frau. Mit Locken um das blasse Gesicht. Sie blickte Isabell von der mit Blättern bedeckten Erde herauf an. Ihre zitternden Hände streckten sich in einer Hilfe suchenden Geste nach ihr aus. Dann glaubte Isabell eine Ader auf der hellen Stirn hervortreten zu sehen. Die junge Frau packte ihre Hand und biss ihr heftig ins Fleisch. Isabell schrie auf. Die Frau ließ sofort von ihr ab. Es schien, als wäre sie vor ihrer eigenen Tat erschrocken. Sie sank auf die Erde zurück, machte hilflose Bewegungen, als wollte sie sich am liebsten in der Dunkelheit auflösen. Ihre Finger griffen in das tote Laub, das keinen Halt bot.

Isabell wandte sich ab, wollte jetzt so schnell wie möglich abhauen. Doch sie bewegte sich nicht. Sie hatte das starke Empfinden, sich nicht von dieser Frau lösen zu können. Sie konnte sie nicht zurücklassen.

 

Allen Naturgesetzen zum Trotz kam es ihr so vor, als würde die Helligkeit des Tages zurückehren, in rötlichen und orangen Farben.

Isabell sah auf die nackte Fremde herab und glaubte sie in ihren Augen wahrzunehmen: die Glut. Dann hörte Isabell die brüchige Stimme der Frau.

»Du musst mir helfen«, sagte sie.

3

Christian Albert saß an seiner Werkbank und ahnte nichts.

Er war damit beschäftigt, eine handtellergroße Holzscheibe zu drechseln, aus der später ein Rad mit fünfzig Zähnen werden sollte. Ein wichtiger Teil der Waagbalkenuhr, die er nach alter Schwarzwälder Tradition rein mechanisch anfertigte. Er baute die Uhren in verschiedenen Formen und Größen. Eine nach der anderen baute er. Mit alten, zerschlissenen Händen, die eine Ruhe besaßen, die für diese Arbeit unumgänglich war. Mit einem Herzen, das Ruhe nicht kannte.

In seiner Jugend hatte er Feinmechaniker gelernt. Seine Jahre in der Fabrik waren erfüllt gewesen von Maschinendröhnen und dem Kreischen, das hervorgerufen wird, wenn Stahl auf Stahl trifft.

Die ungleich leise Arbeit mit nachgiebigem Holz hatte sich zu einem unverzichtbaren Hobby für ihn entwickelt.

Christian Albert hielt sich streng an die alten Bräuche der Uhrmacher, die ihn seit seiner Kindheit faszinierten. Das Holz für seine Uhren schlug er ausschließlich in den Nächten zwischen Weihnachten und Neujahr bei abnehmendem Mond. Die Rohlinge für die Zahnräder lagen vier Wochen in Gülle ein und hingen hinterher draußen in seiner Rauchkammer, zwischen Schinken und Würsten, bis sie schwarz und hart wurden und sich nicht verziehen ließen. Die Maschinen, mit denen er schliff, bohrte und drechselte, hatte er alle selbst aus Holz gebaut. Die meisten wurden mit dem Fuß angetrieben, durch gleichmäßiges Treten.

Christian Albert saß an seiner Werkbank und ahnte nichts …

 

 

Die Werkstatt, die er aus Balken eines abgerissenen Bauernhofs gebaut hatte, lag angrenzend an das kleine Forsthaus, das er seit dem Tod seiner Frau bewohnte. Er hatte es schon als Jugendlicher von den Großeltern geerbt. Lange war das Forsthaus ein Rückzugsort für die Ferien gewesen. Nach ihrem Tod hatte er die gemeinsame Hofsgrunder Dachwohnung südlich des Schauinslandgipfels verlassen.

Das Forsthaus, das einige waldverhüllte Kilometer talabwärts des Ortes lag, hatte sich in seinen einzigen Wohnsitz verwandelt. Ein blätterüberwuchertes Zuhause mitten im Wald, am Rande der Zivilisation.

Anfangs hatte er sich in der Abgeschiedenheit unbehaglich gefühlt. Dann gewöhnte er sich daran. Die Arbeit an seinen Uhren half ihm dabei.

Doch nach dem Tod seiner Frau war etwas geschehen. Er konnte das Ticken, das ihm viele Jahre Wohltat gewesen war, plötzlich nicht mehr ertragen. Darum fertigte er nur noch Uhren an, die stumm blieben, deren Zeiger sich nicht bewegten. Christian Albert fertigte Uhren, die die Zeit schweigen ließen. Viele von ihnen schmückten die Wände des Forsthauses und der Werkstatt. Viele Uhren. Eine Stille.

 

Er saß an der Werkbank und ahnte nichts …

Draußen vor der mit hauchzarten Spänen bedeckten Fensterscheibe war die Sonne zu Blut geworden. Schwärze lag jetzt über dem herbstlichen Wald. Er sah spärliche Lichter seiner zurückgelassenen Welt, die winzig und fern schimmerten.

Drinnen warf eine Öllampe ihren Schein über die Arbeitsfläche, über die Drille und den Zahnstuhl. Und über das Fell seiner Hündin Nina, die auf dem Boden döste und ab und zu winselnde Laute des Träumens hören ließ.

Während diese Laute mit den vertrauten Geräuschen des Arbeitens in sein Unterbewusstsein drangen, dachte er an seine Frau. Tatjana. Sie hatte ein Augenleiden gehabt. Als sie älter wurde, waren ihre Tage allmählich hinter einem Schleier verschwunden. Er dachte daran, wie ihre zarten Finger an den Wänden der Dachwohnung entlanggefahren waren und nach einem Weg tasteten. Über alle Unregelmäßigkeiten der Oberflächen hatten die Finger Bescheid gewusst. Hatten Kanten erspürt, gefährliche Tücken. Nur ein einziges Mal hatten die Finger ihren Dienst versagt. An dem Tag im März, als er nicht zu Hause war. Unglücklich gestürzt, nannten sie es.

 

Inzwischen waren mehrere Monate verstrichen.

Er ging zweimal in der Woche zu ihrem Grab auf dem Friedhof am Berghang. Nina ließ er zu Hause. Er nahm seinen Klappstuhl mit, weil er nicht lange stehen konnte. Und eine Decke aus Wolle. Die hatte ihm seine Frau einmal gestrickt, vor über einem halben Jahrhundert. Als junge Frau war das Stricken ihr Halt gewesen, nachdem sie das Kind verloren hatten. Ihr einziges Kind, das zwei Stunden und dreiundzwanzig Minuten nach der Geburt aufgehört hatte zu leben.

Die Decke legte er sich über die Beine, wenn er am Grab saß. Sie ließ ihn die Schwere und Wärme all dieser Jahre an seinen Beinen spüren. Wenn es regnete, spannte er am Grab sitzend seinen Schirm auf.

In letzter Zeit hatte er häufig von seiner Frau geträumt. Er hörte ihre Stimme, die sagte: Hilf dem Mädchen! Anfangs hatte er geglaubt, sie meinte das Kind, das sie verloren hatten. Aber inzwischen war er sich nicht mehr sicher.

Christian Albert wusste nicht, wer gemeint sein könnte.

 

 

Er grübelte darüber nach, als ihn Nina aus seinen Gedanken riss. Sie hatte sich plötzlich vom Boden erhoben. Ihr großer Kopf mit den tiefgründigen Augen und der langen Schnauze war auf die geschlossene Tür gerichtet. Die Nase witterte etwas. Die steil aufgerichteten Ohren lauschten nach draußen in die Dunkelheit. Christian Albert lächelte, als er sie ansah. Er hatte seine Mischlingshündin sehr gern, in deren Dasein all die Widersprüche des Lebens zum Ausdruck kamen. Aber auch die Fähigkeit, sich von diesen in keiner Weise beeinträchtigen zu lassen.

 

Dann lächelte Christian Albert nicht mehr. Als er die Schritte hörte, die sich der Werkstatt näherten. Die Schritte und das schwerfällige Atmen.

Der alte Mann stand auf und löschte leise das Licht der Öllampe. Damit er durch das Fenster vielleicht besser sehen konnte, was draußen vor sich ging. Diese Hoffnung schwand schnell.

Draußen war nur das dunkle Tuch der Nacht zu erkennen.

Zaghaft öffnete er das Fenster einen Spalt weit. Kalte Luft brach in Wirbeln herein.

Unterdessen kamen die Schritte näher. Jemand hatte das leicht zugängliche Grundstück betreten. Hielt sich draußen im Garten auf, vor der Tür. Das Atmen klang unnatürlich laut. Kurzzeitig sah er einen Lichtschimmer unter dem Türspalt. Ein merkwürdig warmer Farbton war es, wie die Abendglut der Sonne. Dabei hatte die sich schon lange im Dunkeln verflüchtigt.

Nina, die regungslos geblieben war, setzte sich in Bewegung, auf dem schmalen Raum der Werkstatt, der ihr zur Verfügung stand. Hechelnd trottete sie auf die Tür zu, kehrte zu ihm zurück, um sich aufs Neue der Tür zu nähern. Ein paar Mal ging das so. Sie bellte aber nicht. Kein Winseln, keine Anzeichen von Angst. Nur ihre Unruhe war zu spüren. Wie eine angespannte Erwartung.

 

In der Frühlingsnacht, als sich der heruntergekommene Kerl Zutritt zum Grundstück verschafft hatte, um sich volllaufen zu lassen, hatte Nina gebellt, als hätte sie versucht, den Hasen im Mond zu verjagen, der manchmal dort oben zu sehen war. Nun gab sie keinen Ton von sich. Dann klopfte es an der Tür, nicht sehr laut. Eine Stimme war zu hören, nicht sehr laut.

»Herr Albert, bitte machen Sie auf!«

Christian Albert kannte die Stimme. Sie gehörte Isabell aus der WG, wo die Jugendlichen wohnten. Die es schwer hatten oder es anderen schwer machten, je nachdem, wie man es betrachtete.

Isabell hatte es ihm eigentlich nie schwer gemacht. Höflich war sie. Still. Er teilte gern die Stille mit ihr. Nie hätte er gedacht, dass darin etwas gedeihen könnte, das ihn in Gefahr brachte.

 

 

Isabell kam einmal pro Woche zu ihm. Sie ging ihm zur Hand, wo es nötig war. Half ihm, Besorgungen zu machen. Sie kochten zusammen. Manchmal spielten sie Karten. Er hatte ihr Cego beigebracht, ein badisches Spiel, das er seit seiner Kindheit kannte und früher mit seiner Frau gespielt hatte. Eigentlich konnte man es nicht zu zweit spielen, man brauchte mehrere Leute dazu. Aber er hatte sich eine leichtere Version ausgedacht, bei der man nur einen Mitspieler benötigte. Isabells Lieblingskarte war der Stieß, der höchste Trumpf. Herr Albert mochte ihr Lächeln, das erschien, wenn sie die Karte sah. Ein Lächeln, das einen schief sitzenden Zahn zeigte.

Isabells Betreuerin hatte das so veranlasst. Sie fand, diese Besuche würden ihr guttun. In Kontakt kommen mit dem Leben, nannte sie es. Aber er war ein alter Mann. In seiner Nähe kam man viel eher in Kontakt mit dem Tod, dachte er.

Isabell war noch nie so spät und unangekündigt zu ihm gekommen.

Er öffnete die Tür der Werkstatt. Christian Albert sah, dass sie nicht allein war. Jemand war bei ihr, dort draußen. Eine schmale Gestalt.

»Bitte!«, sagte er, weil die beiden ihre Münder nicht aufbekamen. Zögerlich bat er sie, über seine Schwelle zu treten.

 

 

Er konnte die Person, die Isabell in die Werkstatt brachte, nicht gleich erkennen. Erst als das Licht der Öllampe wieder entzündet war, sah er, dass es sich um eine junge Frau handelte, kaum älter als Isabell. Sie schien sich kaum auf den Beinen halten zu können. Isabell stützte den zierlichen, schwankenden Körper. Ihr Haar war lockig und sie besaß eine geheimnisvolle Schönheit, die wie die Erinnerung an ein unwiederbringliches Glück war. Aber die Augen, die Augen der jungen Frau wirkten, als hätten sie in einen Abgrund gestarrt.

 

Sie trug einen dünnen Mantel. Er wusste, dass er Isabell gehörte. Darunter schien die Frau nackt zu sein. Er sah versehrte Haut, einen pechschwarzen Bauchnabel. Er vernahm den Anflug eines modrigen Geruchs, der ihn an die Nonnengruft erinnerte, die er einmal bei einer Führung durch Freiburgs verborgene Gewölbekeller erlebt hatte. Er sah die schmutzigen Füße der Frau und ihre Hände, die nach Halt tasteten. Mit blutverkrusteten Nägeln. Nina, die sonst freudig über Isabell herfiel, um ihr das Gesicht abzuschlecken, blieb zurück. Den Ausdruck in ihrem Hundegesicht hatte er noch nie gesehen. Er glaubte Ehrfurcht zu erkennen, obwohl er sich nicht sicher war, ob eine Hündin dergleichen empfinden konnte. Zaghaft näherte sich Nina jetzt der Frau, leckte an ihren Fingern, wie um einen Schmerz zu lindern. Erst allmählich konnte Christian Albert seine Gedanken ordnen.

»Was soll das?«, sagte er zu Isabell. »Wen bringst du mir da an?«

Isabell erzählte ihm, dass sie die Frau in diesem Zustand im Wald aufgefunden hatte. Dass ihr etwas Schlimmes zugestoßen sein musste. Dass sie verwirrt war. Nicht einmal ihren Namen wollte sie nennen.

»Sie scheint vor irgendwas Angst zu haben«, sagte Isabell. »Jemand – etwas – ist hinter ihr her.«

»Wer, wer ist hinter Ihnen her?«, fragte Christian Albert die Frau. Sie antwortete nicht. Sie blickte ihn an, blickte ihn nur an …

 

Er machte Isabell Vorwürfe, dass sie das arme Geschöpf ausgerechnet hierhergebracht hatte. Zu ihm. Dass er mit dieser Sache nichts zu tun haben wollte. Dann fing er wieder einen Blick seiner Hündin auf. Christian Albert kannte ihn und konnte sich ihm selten widersetzen. Ein Blick, der wie eine stille Bitte war. Sein Groll fand keine Worte mehr. Er lächelte. Der alte Mann wurde sanft und gefasst. Sein Verstand arbeitete. Er sagte, er würde einen Arzt rufen und die Polizei verständigen. Die Frau geriet in sichtbare Unruhe. Mit eindringlicher Stimme sagte sie: »Keine Fährte legen, nein. Keine Fährte.«

Mehr brachte er nicht aus ihr heraus.

Auf einmal dachte er an die Heimatvertriebenen aus dem Krieg.

Ein paar wenige von ihnen waren damals mit schrundigen Füßen ohne Hab und Gut in dem kleinen Schwarzwaldort aufgetaucht, in dem er aufgewachsen war.

Unter ihnen befand sich ein Mädchen, fünf Jahre alt. Er selbst war noch ein Baby. Aber die Zeit, in der er zärtlich ihren Namen aussprechen sollte, war schon näher gerückt: Tatjana.

 

Christian Albert sah die blasse Frau an, die barfüßig in seiner Werkstatt stand. Er gab nach und führte die beiden hinaus ins Freie. Nina folgte ihnen. Angstvoll spähte die Unbekannte, die von Isabell untergehakt wurde, um sich. Der Mond gespensterte in den Bäumen.

Sie betraten das kleine Forsthaus, das aus einem einzigen lang gezogenen Raum bestand, der in Küche, Schlaf- und Wohnbereich unterteilt war. Er ließ Isabell für die Fremde aus einer Kommode ein Baumwollkleid heraussuchen, das seiner Frau gehört hatte. Das einzige Kleidungsstück seiner verstorbenen Liebe, das er behalten hatte. Ihr Lilienduft haftete noch schwach daran. Das Kleid war zu eng für die junge Frau, das heißt an gewissen Stellen. Ihre Brustwarzen zeichneten sich unter dem Stoff ab. Er versuchte es zu ignorieren. Immerhin hatte sie jetzt etwas, das ihren Körper bekleidete. Sie bekam noch Hausschuhe und er gab ihr seine Strickjacke, damit sie es wärmer hatte.

Isabell verabschiedete sich mit dem Versprechen, schon am nächsten Tag nach der Schule wiederzukommen, um nach ihr zu sehen. Es war sehr spät geworden. Schon lange wurde Isabell in der WG zurückerwartet. Dann waren Nina und er mit der Unbekannten allein.

Sie saß auf dem Bett. Vorsichtig näherte sich ihr die Hündin und begann an ihren Fingern zu schnuppern. Die junge Frau überließ Nina ruhig ihre Hand. Dann begann sie die Hündin mit einem Finger unter dem Kinn zu kraulen.

»Sie sollten etwas essen«, sagte Christian Albert. »Sie müssen wieder zu Kräften kommen.«

Der alte Mann besaß keinen Kühlschrank. Eine Klapptür im Boden öffnete einen winzigen kühlen Stauraum für Lebensmittel, den er mäusesicher gemacht hatte. Eine kleine Leiter führte hinab. Er sah nach, was er noch dahatte. Er war nicht geübt darin, Gäste zu bewirten, und tat sich generell mit dem Kochen schwer. Welches Essen serviert man jemandem, der offensichtlich etwas Schlimmes widerfahren war?

Er entschied sich für Schwarzbrot mit Bibiliskäse, einem Schwarzwälder Weichkäse, der aus Magerquark und süßer Sahne bestand und mit Schnittlauch, Zwiebeln und Gewürzen verfeinert war. Er presste den Quark durch ein Haarsieb, damit er locker wurde. Wie es Tatjana immer getan hatte. Dazu gab es Sauerkraut, das er mit reichlich Butter kochte. Bald breitete sich der markante schwere Geruch des erhitzten Krauts im Forsthaus aus. Aber die Unbekannte brachte kaum einen Bissen herunter. Sie sah vor sich hin, mit Augen, die geöffnet waren und doch finsteren Träumen ausgesetzt schienen.

 

Er überließ ihr sein Bett. Nina blieb bei ihr im Forsthaus. Er richtete sich eine Schlafstätte in der Werkstatt her. Nahm ein Buch alter Schwarzwälder Sagen mit, das schon abgegriffen war, so gern las er darin.

Seine sehnigen Finger schlugen in der Nacht viele Seiten auf, denn er konnte keinen Schlaf finden. Lesen konnte er allerdings auch nicht. Die Buchstaben entwichen ihm und er fand sich in der Leere wieder, die zwischen den Zeilen lag.

Seine Gedanken gingen Wege, die ihn in Unruhe versetzten. Woher kam die Frau? War es richtig, ihr Unterschlupf zu geben? Was hatten diese Worte zu bedeuten? Keine Fährte legen. Eine merkwürdige Formulierung. Wie aus der Zeit gefallen.

Als gegen Morgen hin doch ein leichter Schlaf über ihn fiel, hörte er wieder die Stimme seiner Frau.

Beschütze das Mädchen! Schweißnass schreckte er hoch. Er spürte, dass etwas näher kam, immer näher. Etwas, dem er nicht gewachsen war.

Wovor? Wovor nur sollte er dieses Mädchen beschützen?

4

Fäden von Sonnenlicht drangen durch die Bäume, als er sich ans Werk machte. Das Licht des Nachmittags hatte etwas Vergängliches und war von der Farbe überreifer Aprikosen. Er selbst fühlte im Gegensatz dazu den Beginn. Den Beginn, der wie das Aufspringen einer Klinge war.

 

Eine Nacht und ein halber Tag waren nun hier am See verstrichen. Das Blut und Fleisch der beiden jungen Menschen hatte ihn genährt. Er spürte, wie seine Kraft zurückkehrte. Lebenskraft. Wie innere Ströme entstanden, die ihn versorgten. Wie sich Sehnen und Nerven verbanden, in diesem Körper, in dem ein zorniger Wille herrschte, der auf ein einziges unauslöschliches Ziel ausgerichtet war. Und aus dem Inneren des Körpers drang der Name hervor auf seine Zunge. Der Name, der über so viele Jahre versunken gewesen war. Ein Name der Dunkelheit: Nachtweih. Tristan Nachtweih.

Bilder kehrten zurück aus der Erinnerung. Die Schlachtfelder, auf denen er gekämpft hatte, die roten Ströme, die in die Ritzen der Erde sickerten, wo sie – so sagten die Menschen einst – die Glut neuer Tage hervorbrachten. Tristan spürte diese Glut. Und wie sie auf ihn übergriff.

Auch ein besonderes Bild kehrte zu ihm zurück. Das Bild einer Frau, mit der sein Schicksal untrennbar verknüpft war.

Tristan wusste, dass auch sie bereits zurückgekehrt war. Er spürte ihre Nähe. Obwohl er nicht bestimmen konnte, wo sie sich genau befand. Noch nicht. Er spürte ihre Nähe wie den sanften Duft einer Blume. Er würde sie bald finden. Er kannte seine Aufgabe.

 

 

Er hatte es gut angestellt. Hatte die beiden Leichen erst einmal liegen gelassen, damit der Geruch andere Tiere anlockte. Ein Fuchs, der in den kargen Weiten des Herbstes herumstreifte, war vorsichtig herangekommen. Aber seine Vorsicht hatte ihn nicht bewahrt. Er hatte ihm das Genick gebrochen. Und als Tristan Nachtweih die Zähne in das rohe Fleisch schlug, war er in einen Zustand verfallen, der an die stärksten Gefühle heranreichte, die er je empfunden hatte. Dann sank er in einen Schlaf, tief und unbekannt. Hinterher nahm er das Klappmesser zur Hand. Er hatte es in der Hose des jungen Mannes gefunden, die aus einem blauen, sehr robusten Stoff bestand. Er hatte noch nie zuvor eine solche Beinbekleidung gesehen. Aber er wunderte sich nicht darüber. Alles hatte eine Selbstverständlichkeit für ihn. Als wären die gewaltigen Veränderungen, die diese neue Zeit mit sich brachte, für seine Augen, die immer schärfer zu sehen begannen, nur wie der kaum merkliche Wechsel eines Lichteinfalls.

 

Er fühlte sich sicher. Spürte, wie ihn Energie durchpulste und wie seine Sinne sogar in Regionen vordrangen, die er vorher nie erahnt hatte. Er registrierte sie: die Lebensimpulse dort draußen in der Weite. Er erlebte ein Gefühl der Erhabenheit über sie. Sogar ein Gefühl dafür, sie beeinflussen zu können, sie für seine Zwecke nutzbar zu machen. Und vor allem spürte er, wie sie ihm die Richtung vorgab: seine Aufgabe.

Der Tag ging zur Neige. Farben schwanden, Dunkelheit kam.

Es war so weit. Er nahm die Menschenhäute, die er zuvor an Ästen getrocknet hatte, und wickelte sie um sich wie eine schützende Hülle. Er spürte ihr Gewicht, das geringe Gewicht, das vom Leben übrig bleibt. Er watete in den See, tauchte in sein Dunkel. Als er wenig später aus dem Wasser hervorkam, trug er einen Mantel, der eine intensive blaue Farbe besaß.

Weich und geschmeidig fiel der Mantel um seinen schlanken Leib.

 

 

Tristan stieg die Anhöhen hinauf bis zu einer Kalksteinnase, die wie der Bug eines versteinerten Schiffes aus dem Wald herausragte. Von dort schaute er hinab ins Tal, wo die Lichter des Freiburger Stadtteils Günterstal glommen. Mit seinen überfeinen Sinnen hörte er die Stimmen von dort unten wie einen säuselnden Wind in seinen Ohren. Spürte die Rastlosigkeit menschlicher Herzschläge. Seine Augen weiteten sich, waren auf der Suche. Bis seine Blicke Einlass fanden in Häuser und Träume. Und dann wurden sie fündig. Verborgen in einer Gasse war das Schaufenster eines winzigen Geschäftes. Tristan lächelte. Wie die anderen Läden hatte das Geschäft bereits geschlossen, aber ein schummriges Licht brannte darin. Und seine Sinne registrierten einen Mann, der dort drinnen hinter einer Theke saß. In seinem Rücken staubige Glasregale, welche die ganze hintere Seite des Ladens einnahmen. Er gefiel ihm gut, dieser Laden. Es gefiel ihm, was es dort zu finden gab. Und ihm gefiel der Mann, der dort saß mit seinen schweißnassen groben Händen. Und seinen Gedanken nachhing. Die haltlos und düster waren. So düster und verabscheuungswürdig.

Tristan Nachtweih lächelte.

5

Die erste Nacht nach ihrer Rückkehr glitt dahin wie ein dunkler Strom. Sie schlief.

Kurzzeitig glaubte sie zurückzusinken in den Schlaf des Todes. In dem das Wort »ich« verschwand, so leise. Und nur ein Funken von Bewusstsein dorthin strebte, wo Taumel war, Stimmen und Lichter. Manchmal – so schien es ihr – war aus diesem Funken für eine kleine Weile ein neues Leben hervorgegangen. Ein Pfad hatte sich geöffnet, den sie nicht kannte.