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Band 218

 

Abstieg in die Zeit

 

Rainer Schorm

 

 

 

Pabel-Moewig Verlag KG, Rastatt

 

Cover

Vorspann

1. In aeternam ...

2. Conrad Deringhouse: Sprünge ohne Ende

3. Laura Bull-Legacy: Krankenbesuch

4. Hollquasch: Probleme, Untergebene und alles zusammen

5. Froser Metscho: Schwarze Gedanken

6. Laura Bull-Legacy: Schattenspiel I

7. Conrad Deringhouse: Opronergespräch

8. Froser Metscho: Krankschreibung

9. Hollquasch: Der Vorago

10. Conrad Deringhouse: Warteposition

11. Laura Bull-Legacy: Kontakt

12. Froser Metscho: Der Weg nach draußen

13. Sophie Bull-Legacy: Am Ziel

14. Conrad Deringhouse: An der Leine

15. Laura Bull-Legacy: Behandlung I – Anamnese

16. Froser Metscho: Abwärts

17. Laura Bull-Legacy: Behandlung II

18. Conrad Deringhouse: Warten

19. Sophie Bull-Legacy: In der Grube

20. Laura Bull-Legacy: Behandlung III – Nachlese

21. Conrad Deringhouse: Aus der Distanz

22. Sophie Bull-Legacy: Treffen am Abgrund

23. Sophie Bull-Legacy: Schattenspiel II

24. Conrad Deringhouse: Aus der Distanz

25. Laura Bull-Legacy: Die Fremde

26. Conrad Deringhouse: Das Ende

27. Ex aeternam ...

Impressum

PERRY RHODAN – die Serie

 

Fünfzig Jahre, nachdem die Menschheit zu den Sternen aufgebrochen ist, haben Kolonisten erste Siedlungen auf fremden Welten errichtet. Der Weg ins Weltall verläuft mühsam und abenteuerlich. Aber geleitet von Perry Rhodan, haben die Menschen bislang jede Gefahr überstanden.

Doch im Jahr 2089 werden sie mit einem Gegner konfrontiert, der nicht fassbar erscheint. Das mysteriöse Dunkelleben bedroht die Solare Union. Um dieses Phänomen zu enträtseln, reist Rhodan in ein fernes Sternenreich – zum Compariat.

Dort erleidet sein Raumschiff FANTASY einen katastrophalen Unfall. Es gelingt zwar, die Expedition mit einiger Verzögerung fortzusetzen. Aber Rhodan ist mit Dunkelleben infiziert, es geht ihm zunehmend schlechter.

Am Ende der Reise liegt Perry Rhodan im Sterben. Nur auf dem Planeten Lashat besteht für ihn noch Hoffnung. Lashat erweist sich jedoch als Ort unerwarteter Gefahren – dort lauert der ABSTIEG IN DIE ZEIT ...

1.

In aeternam ...

 

Ich sitze am Rand des Zeitbrunnens und fühle, wie der Kosmos in mir pulsiert.

Ringsum herrscht die Finsternis einer scheinbar ewig währenden Nacht. Diese Welt ist kaum zu erkennen, nur ein dunkles Negativ. Der Wald ist nicht mehr als ein tiefschwarzer Schatten. Ich komme gern hierher, wenn alles in tiefem Dunkel liegt.

Ich lasse die Beine über die Einfriedung des Brunnens baumeln. Sollte mich jemand beobachten, sieht es aus, als sei alles friedlich und ich selbst entspannt.

Das ist nicht so.

Die Zeitlosigkeit umspült Teile meines Ichs, die Nacht tut das mit dem Rest. Auf bizarre Weise fühle ich mich geborgen ... und unruhig zugleich. Hier ist das Universum älter als es selbst. Häufig habe ich mich gefragt, woher diese Relikte kommen. Inzwischen weiß ich, dass sie überdauert haben von dem, was davor war.

Manche Dinge kann man nur in Paradoxien beschreiben.

Ich spüre die Härte der Einfriedung, die den Brunnen umgibt. Ihre Substanz sieht beinahe aus wie Basalt, fühlt sich aber organisch an, wie Haut. Gleichzeitig haben die Quader eine eigenartig metallische Konsistenz.

Als wir sie setzten, machten wir ein Phänomen aus der Zeit davor nutzbar. Vor dem Beginn, der keiner war.

Das gehört zu den Dingen, die ich nicht begreife, nicht einmal nach all den Jahren. Eine Vermutung hat sich in meinem Kopf festgesetzt: Nichts beginnt, nichts endet wirklich.

Wo wären wir, wenn wir niemals hier gewesen wären?

Es ist nur ein alter Sinnspruch aus der Zeit, als es uns noch gab. Andere, außer mir. Damals kam mir der Satz wirr vor; das hat sich geändert. Manche Dinge lassen sich nur in Paradoxien beschreiben ...

Dieser Ort ist weit von aller Zeit entfernt. Man könnte es so formulieren: Er ist zu klein, um Zeit zuzulassen. Das Nichts zwischen zwei Sekunden.

Das absolute Fehlen macht mir meine Vollständigkeit bewusst. Mit der Zeit habe ich alle Bruchstücke meines Selbst wieder eingesammelt. Nun ja, diejenigen, die übrig waren, die die Fährnisse des Universums überstanden haben.

Ich spüre, wie ein Lächeln über mein Gesicht huscht. Wird man älter, fühlt man solche Dinge besser und genauer. Jede Falte, die die Jahre, Jahrzehnte, Jahrhunderte und Jahrtausende hineingegraben haben, hilft. Gerade so, wie Tasthaare einem Tier Hinweise auf die Umwelt geben.

Ich verfolge durch die Finsternis Monde, Planeten, Sonnen ... ja sogar Galaxien. Sie tanzen einen Reigen, dessen Regeln ich sogar nach so langer Zeit nicht begreife. Eine Ahnung, ja. Aber nicht mehr.

Wieder ein Lächeln.

Ich recke mich ein wenig, aber die Tage, da man die Zeichen des Alters durch Bewegung verscheuchen konnte, sind lange vorbei. Es sitzt in den Knochen, in den Muskeln, in jedem verdammten Gelenk. Nichts davon hätte man sich in jüngeren Jahren vorstellen können, als Energie und Kraft im Überfluss vorhanden waren – aber diese Tage liegen in meinem Fall weit, weit zurück.

Ich bin älter als das meiste, was mich umgibt. Nicht dass das eine besondere Qualifikation wäre. Alter mag ein Synonym für Erfahrung sein, aber nicht automatisch für Erkenntnis oder gar Verstehen.

Ich war einmal jung. Daran erinnere ich mich nicht, aber ich habe eine unüberschaubar große Zahl von Lebewesen kennengelernt. Sie alle sind jung, zu Beginn. Sie alle werden ins Leben geworfen ohne das geringste Verständnis. Diejenigen, die ein Bewusstsein ausbilden, leben lange Jahre ihrer Existenz aus Idealvorstellungen. Idole, Ideen, die sie aus ihrer Kultur heraus nutzen, bis das Leben und die Zeit die Ideale durch Erfahrung ersetzt. Das ist in allen Fällen ein schmerzhafter Prozess. Energieüberschuss zu Beginn weicht Einschränkungen, Behinderungen. Zurück bleiben Trauer und Bitterkeit, wenn die Welt nicht das hält, was man sich von ihr versprach. Das Einzige, was davor schützt, ist Dummheit.

Das ist keine meiner Qualitäten, ganz gewiss nicht. Aber mein Leben ist sehr viel länger als das der meisten.

Rings um mich werfen Sonnen und Sterneninseln ihre Schatten. Ich kenne viele davon, und ihre Bilder stehen mir lebhaft vor Augen. In ihren glühenden Herzen entsteht der Stoff, aus dem wir alle geworden sind.

Ich bin ein bisschen neidisch. Der Prozess dauert an. Natürlich tut er das. Immer mehr Neues entsteht, Dinge, die ich nie gesehen habe, weil sie zuvor nicht vorhanden waren.

Der Neid weicht der Trauer. Nicht alles, was entsteht, ist schön oder angenehm. Aus dem Dunkel der Zeit erhebt sich seit Kurzem etwas, das es nicht geben sollte. Es ist eine Unsäglichkeit. Aus dem gewaltigen Schlund der Finsternis reckt etwas sein hässliches Haupt, das nicht hierhergehört.

War es zunächst nur ein Unfall, scheint es sich nun zu entwickeln. Obwohl ich das für unmöglich hielt, geschieht genau das. Es wird.

Wir waren die Ersten. Wir haben es geahnt, wenn auch viel zu spät. Nun stellt sich die Frage, ob die, die nach uns kamen, dem gewachsen sind.

Ein ungutes Gefühl breitet sich in mir aus. Alles muss weichen, früher oder später. Aber nicht zu wissen, ob diese Katastrophe aufgehalten werden kann, macht es mir schwer. Ich will wissen, wie es endet. Obwohl selbstverständlich nichts wirklich zu Ende geht. Der Prozess ist ewig, aber geplant ist er keineswegs. Darauf haben wir nie Hinweise gefunden.

Die Finsternis könnte also weiterwachsen. Es ist nicht gut, wenn die Angst am Ende alles ist, was bleibt. Es liegt mir auf der Seele, aber lange Zeit haben wir den falschen Feind bekämpft, wie es scheint. Das Ringen war eine Farce. Dass ausgerechnet ich das zu spät erkannt habe, ist bedrückend, denn ich hätte es besser wissen können. Besser wissen müssen!

Das ist eine der bittersten Erkenntnisse überhaupt: Am Ende steht das Scheitern. Es ist so unausweichlich wie der Tod. Der große Prozess ist Veränderung, Entwicklung. Statische Zustände sind darin unmöglich, egal ob negativ oder positiv.

Man kann nichts »zu Ende bringen«.

Auch ich konnte das nicht. Ohnehin war ich nur ein kleiner Spieler. Mit der Zeit verliert man nicht nur Kraft, auch die Hybris schwindet. Was mir bleibt, ist, zu warten. Auf jemanden. Das tue ich seit geraumer Zeit, obwohl ich weiß, dass es schwierig werden wird. Denn der Weg ist versperrt. Genau diesen Weg wird er aber nehmen müssen. Der Widerspruch ist nicht auflösbar. Eine neue Paradoxie. Vielleicht warte ich umsonst.

Es wäre nicht das erste Mal.

2.

Conrad Deringhouse: Sprünge ohne Ende

 

Es war jedes Mal dasselbe. Conrad Deringhouse hätte es niemals zugegeben, aber sein Vertrauen in die FANTASY schwand. Er war kein Techniker oder Ingenieur. Er konnte, was die Spezifikationen anging, nicht mit dem Technischen Stab mithalten, aber er kannte sein Schiff.

Das ist eine Gabe, dachte er. Ein Fluch leider ebenso.

Er spürte die Beschädigungen des Schiffs, als seien es eigene Wunden. Aus den Augenwinkeln beobachtete er Mentro Kosum. Die Fähigkeiten des Emotionauten, das Schiff zu seinem Körper zu machen, war Deringhouse unheimlich, aber sein eigenes Gespür für die FANTASY glich Kosums Talent auf gewisse Weise.

Darüber sprach er nicht mal mit Montoya. Dass die Erste Offizierin gleichzeitig seine Frau war, änderte daran nichts. Sie war für solche Dinge nicht empfänglich.

Gut so, dachte er. Zwei von der Sorte wären nicht auszuhalten.

In einer spiegelnden Fläche sah er sich selbst: hager, eine lange Narbe am Hals und so viele graue Bartstoppeln, dass ihn ein fiktiver Vorgesetzter sofort zusammengestaucht hätte. Er grinste. Es hatte eindeutig Vorteile, der Kommandant zu sein.

»Mister Kosum, wie sieht's aus?«, fragte er laut.

Der rothaarige und rotbärtige Cyboraner unter der SERT-Haube hob den Daumen. »Die FANTASY schnurrt wie ein Kätzchen, verehrter Kommandant. Wollen Sie sie mal streicheln?«

Deringhouse schnaubte. Kosum gab sich gern betont respektlos, als wolle er der ganzen Welt beweisen, dass er unabhängig war. »Kein Bedarf«, lehnte Deringhouse ab. »Streicheln Sie gefälligst allein. Das ist Ihr Job. Oder wollen Sie sich drücken?«

»Ich mich drücken?«, protestierte Kosum. »Nicht doch!«

»Also los!«, befahl Deringhouse. Er wusste, dass Kosums Optimismus bis zu einem gewissen Grad gespielt war. Aber das war in Ordnung, denn wenn ein Schiffskommandant bei der Besatzung eins nicht gebrauchen konnte, war das Misstrauen oder die Befürchtung, man würde nicht überleben.

Also sollen alle anderen gefälligst anders ticken als ich. Es war ein armseliges Resümee, aber es ging nicht anders. Kommandant zu sein, hieß auch, Psychologe zu sein.

Die FANTASY beschleunigte bereits. Der heikle Punkt war die Eintauchgeschwindigkeit. Je niedriger sie angesetzt wurde, desto belastender war die Transition. Die Strukturfelder rissen das Raumschiff aus dem Normalraum, und der Rücksturz aus dem Hyperraum war kein bisschen harmloser. Es war eine Tortur für das Material. Die FANTASY hatte während ihrer Reise sehr viel mehr ausgehalten, als jede Prognose ihr zugetraut hatte. Die Refraktionszeiten, bei denen ein Kommandant unter normalen Umständen gern mal ein Auge zudrückte, waren im Fall der FANTASY bitterste Notwendigkeit.

»Hoffentlich klappt das«, murmelte Deringhouse und behielt gleichzeitig das Außenbordbeobachtungsholo und die grafischen Schemata im Blick, die ihm die dreidimensionale Trajektorie des Raumschiffs zeigten.

Das Notemesystem war nah, der Sprung somit vergleichsweise anspruchslos, aber Deringhouse vergaß keine Sekunde lang, in welchem Schiff er saß. Der Linearantrieb war ein Erfolg gewesen – zunächst. Alle waren begeistert gewesen und hatten bereits das Heraufdämmern einer neuen Ära der menschlichen Raumfahrt vor sich gesehen. Er selbst war da keine Ausnahme. Aber wie so häufig bedeutete der gelungene Start nicht automatisch eine gute Landung.

Es war vermessen, vom ersten Moment an. Deringhouse bemerkte bitter, dass sich in ihm Selbstmitleid breitmachte.

»Es wird gut gehen!«, sagte Gabrielle Montoya leise. Es erstaunte Deringhouse immer wieder, wie empathisch seine Frau war, trotz ihres sachlich-nüchternen Charakters.

»Wenn du das sagst«, murmelte er kaum hörbar.

Die Zentrale der FANTASY wirkte größer, als sie eigentlich war. Blaue und graue Farbtöne schufen eine neutrale Atmosphäre. In der Mitte des kreisförmigen Raums erhob sich eine Großkonsole, scherzhaft »der Fliegenpilz« genannt. Rundherum positionierten sich die Kernstationen: Ortung, Technik, Energie ... und natürlich der Platz des Emotionauten. Man konnte die FANTASY konventionell steuern, aber auf dieser besonderen Reise war Conrad Deringhouse häufig genug froh darüber gewesen, dass ein Meister wie Mentro Kosum den Experimentalraumer lenkte; gleichgültig wie widerborstig sich der Cyboraner gab.

Die Energiemeiler der FANTASY waren laut; deutlich zu laut für Deringhouses Geschmack, aber daran ließ sich nichts ändern. Der Prototyp hatte sich tapfer gehalten. Sie würden Lashat erreichen, sofern nicht in letzter Sekunde etwas Unvorhergesehenes geschah.

Genau damit rechnete er allerdings, ganz nach dem Murphy'schen Motto: Wenn etwas schiefgehen kann, geht es schief.

Das Ekelhafte daran ist: Ich habe momentan nicht die geringste Ahnung, was das sein könnte, dachte er. Aber etwas wird sich finden, da bin ich sicher.

Seine Frau stupste ihn an. »Du weißt, dass es Murphy nicht gibt, oder? Alter Pessimist!«

Deringhouse musterte konzentriert die Anzeigen, die ihm die Holowolke darbot. »Wenn du meine Gedanken gelesen hast, lies weiter! Ich habe dich geheiratet. War das pessimistisch?«

»Sei froh, dass ich einem Vorgesetzten keine verpassen darf. Aber ich habe ein gutes Gedächtnis, wie du weißt«, warnte sie.

Deringhouse grinste schmal. »Wir sind beide steinalt. Da lässt das Gedächtnis schon mal zu wünschen übrig. Ich hätte beinahe gesagt, vergiss das nicht.«

»Was?«, fragte Montoya.

»Eben!«, sagte Deringhouse.

Sie hatten die Transitionsparameter beinahe erreicht, nah am Optimum. Deringhouse richtete den Blick auf den Platz, an dem Perry Rhodan üblicherweise saß. Der Sitz war verwaist. Rhodan lag in der Medostation.

An den Anblick gewöhne ich mich nie!, dachte Deringhouse deprimiert.

Nach den Abenteuern in der KIRRSH, dem Kommando- und Gefängnisschiff der Shafakk, hatte der MINSTREL, der kleine Ableger der Hyperinpotronik NATHAN, die meiste Zeit über dem Fliegenpilz geschwebt, als sei das sein angestammter Platz. Nun, da er nicht mehr in der Zentrale war, vermisste Deringhouse sogar ihn.

Die beiden NATHAN-Interpreterinnen, Laura und Sophie Bull-Legacy, waren ebenfalls nicht anwesend. Ob das der Fall war, weil der MINSTREL seinen Platz geräumt hatte oder ob dieser den beiden Zwillingen gefolgt war, wusste Deringhouse nicht. Er war verblüfft gewesen, als er erfuhr, dass der MINSTREL in der Medostation aufgetaucht war. Niemand hatte versucht, ihn aufzuhalten, selbst wenn das möglich gewesen wäre.

Was bei allen Sternenteufeln will er in der Intensivstation?, fragte er sich zum tausendsten Mal.

Der MINSTREL war eine anorganische Intelligenz, wie NATHAN, der Vaterverbund, auf dem irdischen Mond; kein Computer, obwohl viele den Unterschied nicht begriffen. Zweifellos verfügte NATHAN über ein medizinisches Wissen in einem Maße wie kein Arzt der Welt. Aber bis auf sehr spezifische Aktionen war die Hyperinpotronik auf diesem Gebiet nicht aktiv geworden. Er hatte Rhodans Söhne zu den ersten Emotionauten der Menschheit und die Töchter von Reginald Bull und Autum Legacy zu seinen persönlichen Interpreterinnen gemacht. Nicht, dass Deringhouse genau gewusst hätte, was damit gemeint war, aber dass die Zwillinge verändert worden waren, daraus machten sie selbst kein Geheimnis.

Bislang jedoch hatte der MINSTREL Perry Rhodan nicht geholfen – wahrscheinlich nicht helfen können. Warum also suchte er nun dessen Nähe?

Ein leises Akustiksignal zeigte das Erreichen der optimalen Sprunggeschwindigkeit an.

»Das Halbraumfeld baut sich auf«, meldete Cameron Canary. Der rothaarige Multi-Ingenieur klang zuversichtlich.

Das Team aus Ingenieuren und Technikern, die den größten Teil der Mannschaft ausmachten, hatte ein Experiment gewagt. Der Linearantrieb funktionierte nicht. Für einen Linearflug war das Halbraumfeld zu instabil, aber für eine Hilfsfunktion war es bestens geeignet.

Das Feld erleichterte der FANTASY den Durchbruch in den Hyperraum und ebenso den Rücksturz. Diese Technik reduzierte nicht nur den Energieaufwand der Strukturprojektoren, sie verringerte zugleich die Belastungen für das Material und die Besatzung erheblich. Für das Transitionstriebwerk der FANTASY, das niemals für die gewaltigen Entfernungen oder die immense Anzahl der dicht hintereinanderfolgenden Sprünge konzipiert worden war, die für ihre derzeitige Fernexpedition nötig waren, war das wahrscheinlich die Rettung gewesen.

Zumindest haben wir so unser Ziel beinahe erreicht, dachte Deringhouse.

Kosum gab das Signal, und die FANTASY sprang.

Der Eindruck unterschied sich von einer normalen Transition. Deringhouse glaubte, einen alles überziehenden, rötlichen Schimmer zu sehen – einen typischen Halbraumeffekt.

Wie immer dauerte der Sprung nicht lange genug, um wirklich wahrgenommen werden zu können, der Vorgang glich eher der Erinnerung an einen Traum. Der übliche Transitionsschock war kaum spürbar. Ohnehin hatte sich Deringhouse im Laufe der Jahrzehnte daran gewöhnt. Aber für viele der Techniker und Ingenieure an Bord, die den größten Teil ihrer Dienstzeit in den Werften auf dem Mond oder der Erde verbracht hatten, war es eine erhebliche Erleichterung. Sprungverspannungen mit ihren unangenehmen Sekundärfolgen gab es keine mehr, das hatte er einem Bericht von Pari Sato entnommen, der Chefärztin der FANTASY.

Wenigstens das, dachte er. Dann ist dieser technische Großversuch immerhin zu etwas nutze.

»Schiff stabil«, meldete Kosum. »Wir haben das Notemesystem erreicht. Bisher keine Besonderheiten.«

»Ortung auf Hochtouren!«, befahl Deringhouse. »Ich will keine bösen Überraschungen erleben.«

»Ich kann Merkoshs Daten bestätigen«, sagte der Ortungsoffizier Alberto Pérez. »Spektralklasse K2V. Leuchtet schwächer und rötlicher als unsere Sonne. Etwa null Komma sieben Sonnenradien und etwa null Komma acht Sonnenmassen. Diesmal ist es wenigstens kein Sternenmonster – davon hatten wir in letzter Zeit genug.«

»Ist Lashat auszumachen?«, wollte Deringhouse wissen. »Ich sehe im Ortungsergebnis nichts.«

Pérez ließ sich einige Sekunden Zeit. »Jetzt müsste etwas auftauchen. Die Massetastung ist positiv. Lashats Masse ist mit der Erde vergleichbar – eine etwas geringere Dichte, das ist jedoch marginal.«

»Ich bekomme die Massenangabe angezeigt«, sagte Deringhouse. »Aber warum sehe ich in der optischen Wiedergabe nichts?«

Pérez' Stimme klang ungläubig. »Eine derart niedrige Albedo habe ich nie zuvor gemessen. Der Planet ist schwarz wie eine Teergrube. Unglaublich. Davon hat Merkosh nichts erwähnt.«

Merkosh war aufgestanden und musterte die Bilder und Grafiken. Der Oproner war humanoid, hochgewachsen und beinahe dürr. Seiner Transparenz wegen nannte man ihn auch den »Gläsernen«. Er war sichtlich erstaunt. Zumindest das konnte Deringhouse in seinem von großen, grünen Augen geprägten Gesicht erkennen, obwohl die Mimik des Oproners meist schwer zu deuten war. »Das ist mir neu«, sagte Merkosh. »Eine allzu hohe Rückstrahlung hatte Lashat nie, aber sie war definitiv stärker als das hier.«

»Haben Sie eine Vorstellung, was geschehen sein könnte?«, fragte Pérez. Seine Analyseholos umschwärmten ihn wie ein Hornissenschwarm. »Übrigens entspricht die Atmosphärenzusammensetzung exakt Ihren Angaben. Da gab es keine Veränderungen – zumindest keine, die von unserer Position aus messbar wäre.«

Merkosh war am 17. November 2088 im Situationstransmitter von Olymp aufgetaucht und hatte sich als friedlicher Besucher vorgestellt. Nun befand sich die FANTASY im sogenannten Compariat – seiner Heimat – und stand kurz vor Lashat: der Welt, auf der alles zusammenlief.

Gucky runzelte die Nase. »Ich mag diesen Planeten nicht.«

»Hast du etwas aufgefangen?«, wollte Montoya wissen. Der Mausbiber war mit seinen Paragaben jemand, auf dessen Einschätzung sie Wert legte.

»Nein«, antwortete der Ilt. »Ich empfange telepathisch nichts. Aber daran liegt es nicht. Es ist nur ein Gefühl. Vertrau meiner Intuition. Du wirst Lashat ebenfalls nicht mögen. Da wette ich.«

Pérez mischte sich ein. »Abwehreinrichtungen scheint es keine zu geben. Das deckt sich mit Merkoshs Angaben. Das System wird nicht komplett überwacht. Die drei äußeren Planeten sind nicht ausgebaut – ihre Monde sind einfach nur Monde.«

Deringhouse kratzte sich nachdenklich die Bartstoppeln. »Fangen wir Nachrichten auf?«

Pérez blendete einige Frequenzbänder ein. »Das kann man wohl sagen. Wir bekommen einen ganzen Schwall ziemlich eindrücklicher Warnungen herein. Die lassen an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig. Man malt die Gefahr einer Infektion in den leuchtendsten Farben aus. Wer das hört oder liest, müsste wahrhaftig stumpfsinnig sein, wenn er weiter in das System hineinfliegt. Eins ist völlig klar: Dies ist ein Seuchensystem. Wir haben keine Abwehrstationen in den äußeren Bereichen gefunden, aber eine ganze Sphäre von Warnbojen. Sie hüllen das Notemesystem komplett ein.«

»Ich hatte mit so etwas gerechnet«, sagte Deringhouse. »Wir sind nicht stumpfsinnig, aber bei verrückt wäre ich nicht so sicher.«

»Was meinen Sie?«, erkundigte sich Pérez.

»Wer immer dieses System besucht, begibt sich in tödliche Gefahr. Davor warnt man die Leute, aber man überlässt ihnen die Reaktion. Wer dumm genug ist, weiterzufliegen, muss mit allem rechnen. Aber um das zu verhindern, betreibt man keinen Aufwand. Mal sehen, ob sich daran etwas ändert, wenn wir uns dem Planeten selbst nähern.«

Kosum hob die Hand. Er trug unverändert die SERT-Haube. Das bedeutete, dass er mental Zugriff auf alle Sensoren des Raumschiffs hatte. »Ich fürchte, ich muss Wasser in den Wein schütten. Sehen Sie sich das einmal an.«

Lashat und der sonnennächste Planet erschienen in einer schematischen Darstellung des Notemesystems.

»Ich zoome Lashat etwas heran«, sagte Kosum.

Der Planet wurde größer. Deringhouse stöhnte.

»Sind das ...?«, fragte Montoya leise.

»Leider ja«, sagte Kosum. »Das ist ein ganzes Geschwader von Shafakkschiffen. Eines davon gehört zu den größten Xaphaken, die wir je gesehen haben. Die Vaapula, der Zentralkörper, erreicht wohl einen Kilometer Durchmesser. Die Vaapen, die angekoppelten Funktionswaben, geben dann noch einmal rundum jeweils einen guten halben Kilometer Durchmesser zu. Das Ding ist gewaltig. Auffällig ist die relativ hohe Entfernung zu Lashat. Könnte das ein Sicherheitsabstand sein?«

Merkosh strich sich über den Kopf. Im Innern des transparenten Schädels war sein Gehirn zu sehen. »Ich erinnere mich nicht daran, dass es zu meiner Zeit auf Lashat eine derart starke Präsenz der Shafakk gab. Es patrouillierten nur ein paar Wachschiffe, die recht häufig ausgetauscht werden mussten. Für Shafakk ist Wachdienst ohne Angriffe sehr unbefriedigend. Es muss seither einiges geschehen sein. Das beweist allein schon die stark veränderte Albedo. Der Planet schluckt Licht wie ein Stück Kohle. Die Veränderung wird also als gefährlich eingestuft.«

»Schmälert das unsere Chancen für einen Kontakt mit Lashat?«, wollte Deringhouse wissen.

»Die Truppenstärke wird nicht von Lashat aus geregelt, Kommandant Deringhouse«, antwortete Merkosh. »Die wird von den Gaden organisiert. Lashat hat eine Sonderstellung inne, aber das ist an sich nichts Neues. In weiten Bereichen des Contagiats – das ist eine Art Seuchengebiet – sind die Zustände nicht viel besser. Nein, ich muss mich korrigieren: Das betrifft die Zustände, die zu meiner Zeit dort herrschten. Ich habe keine Informationen über die aktuelle Lage im Contagiat. Ich weiß somit nicht, was meine Äußerungen für ein Gewicht haben können. Zumindest auf Lashat hat sich etwas entwickelt.«

»Entwicklung?«, beschwerte sich Gucky. »Schaut euch diesen schwarzen Klumpen an!«

»Evolution bedeutet nicht automatisch eine Verbesserung«, belehrte ihn Merkosh sanft. »Das ist ein häufiges Missverständnis.«

»Du meinst, es könnte sich auf Lashat alles zum Schlechteren entwickelt haben?«, fragte Gucky mürrisch. »Da kann ich gut drauf verzichten. Und auf das schwarze Pack genauso.« Die Shafakk, die von der Besatzung der FANTASY auch schwarze Mausbiber genannt wurden, verkörperten alles, was Gucky verabscheute. Auf diese Verwandtschaft war er nicht stolz.

»Ich fürchte, ich habe weitere schlechte Nachrichten«, meldete Pérez.

»Nur zu«, sagte Deringhouse. »Bei dieser Dichte an Wachschiffen können wir eine unbemerkte Annäherung ohnehin vergessen. Wir werden Lashat offiziell erreichen oder gar nicht.«

»Ein Raumfahrzeug hat sich in Bewegung gesetzt«, berichtete Pérez. »Mit Kurs auf uns. Die wollen uns abfangen.«

»Woher kommt das Schiff?«, fragte Gabrielle Montoya.

»Nicht von Lashat selbst«, antwortete Alberto Pérez. »Startpunkt ist die große Xaphake. Das ist ein Wabenschiff der Shafakk. Genau das, was uns am wenigsten nützt.«

»Was soll ich tun?«, fragte Mentro Kosum. »Ich habe bislang eine Geschwindigkeit beibehalten, die uns mühelos wieder an die Sprunggrenze bringen kann.«

»Tun Sie das weiter«, entschied Deringhouse. »Wir halten zunächst einfach Kurs. Wenn wir stoppen, wäre das für die Shafakk eine Geste der Unterwerfung. Widerstand schätzen sie sehr viel mehr. Das verschafft uns etwas Respekt. Aggressiv wirken wir ohnehin nicht auf sie. Die Analyse wird ihnen schnell zeigen, dass wir keine Offensivwaffen haben.«

Kosum beugte sich nach vorn und konzentrierte sich.

Gucky hob plötzlich den Kopf. »Da stimmt was nicht. Ich muss zur Medostation.«

»Perry?«, fragte Deringhouse unruhig.

Der Ilt nickte und griff nach Merkosh. »Ich nehme unseren Oproner mit. Der wird gebraucht. Okay?«

Die beiden verschwanden.

Deringhouse fragte sich, welches Problem wohl das größere sein würde. Perry Rhodan war die eigentliche Priorität ihrer Mission. Dem Zusammentreffen mit den Shafakk sah er mit gemischten Gefühlen entgegen. Die Erfahrungen, die sie mit den schwarzen Mausbibern bisher gemacht hatten, waren höchst unerfreulich gewesen.

»Na, dann laden wir unsere speziellen Freunde mal zum Tee ein«, sagte Conrad Deringhouse leise.

3.

Laura Bull-Legacy: Krankenbesuch

 

Es war nicht weit.

Das Schiff war übersichtlich. Um nicht zu sagen: klein.

Laura Bull-Legacy blieb stehen. Es war nichts anderes als ein untauglicher Versuch, einem unangenehmen Ereignis aus dem Weg zu gehen. Ein bitteres Gefühl machte sich in ihr breit, nicht zum ersten Mal. Jeder Besuch an Perry Rhodans Krankenbett war eine Qual.

»Ich habe mich noch immer nicht daran gewöhnt«, murmelte sie, dann ging sie weiter. Die Medostation an Bord der FANTASY war naturgemäß nicht auf dem Stand eines der wirklich großen terranischen Raumschiffe wie etwa der CREST II oder gar der MAGELLAN. Dort ähnelten die medizinischen Areale eher kleinen Stadtteilen. Die FANTASY jedoch war gerade mal 280 Meter lang und schlank. Zudem war sie ein Prototyp, ein Experimentalschiff für eine kleine Besatzung. Da blieb nicht viel Raum für medizinische Hochtechnik.

Sie kam an einem Patientenzimmer vorbei. Das Schild verriet, wer darin untergebracht war. Paul Butler Yeats war schwer verletzt worden. Auf der KORRWAK, einem Raumschiff der Sleeker. Ein Shafakk hatte ihn übel zugerichtet. Ganz ohne Zweifel wäre der Multi-Techniker auf der MAGELLAN längst wiederhergestellt, wenngleich vielleicht nicht unbedingt dienstfähig gewesen. Aber auf der FANTASY zog sich die Rekonvaleszenz in die Länge. Yeats würde überleben, das war längst klar, aber er würde viele Beeinträchtigungen zurückbehalten. Ob seine Zellschäden später heilbar waren, stand in den Sternen.

»Wir wissen nicht mal, ob wir zurückkehren können«, sagte Laura leise. »Ganz bestimmt nicht alle, so wie's aussieht.«

Die NATHAN-Interpreterin stand wie ihre Zwillingsschwester im Ruf, sehr klug zu sein. Das war korrekt, half aber in Situationen wie dieser nicht. Intelligenz, die man nicht nutzen konnte, weil es keine Umsetzungsmittel gab, war eher eine Belastung. Die eigene Hilflosigkeit zu erkennen, tat weh. Sie war immer stolz auf ihren scharfen Verstand gewesen. In Situationen wie dieser allerdings präsentierte er ihr immer wieder die ganze Ausweglosigkeit.

»Es gibt keine Probleme, nur Lösungen«, dachte Laura bitter. Es ist unglaublich, wie viele dieser bescheuerten Sprüche es gibt. Und viele halten sie tatsächlich für Weisheiten.

Die Wände des Korridors waren schmucklos, kaum strukturiert, bis auf die technischen Funktionselemente. Die Farben waren neutral, hauptsächlich Grautöne mit unterschiedlichen Farbstichen, meist ins Bläuliche hinein.

Ich zögere es hinaus, gab Laura vor sich selbst zu. Und das, obwohl ich genau weiß, was mich erwartet. Es ist ja nicht so, dass ich ihn zum ersten Mal besuchen würde. Kein gutes Zeichen.

Das Rumoren, das durch den Schiffsleib zog, hörte sich beinahe an, als würde etwas verdaut werden. Das lag an den vielen Schäden, die die FANTASY erlitten hatte. Wie bei Yeats stand keinesfalls fest, dass sie je wieder völlig in Ordnung kommen würde. Yeats selbst hätte daran wahrscheinlich die größten Zweifel. Der Techniker wusste zu viel über seinen Zustand.

Manchmal sind Illusionen tatsächlich tröstlich, dachte Laura. Gleichgültig, wie falsch sie sind.