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Nr. 3052

 

Terra

 

Brennpunkt Neu-Atlantis – die Gelegemutter schickt eine Botschaft

 

Christian Montillon

 

 

 

Pabel-Moewig Verlag KG, Rastatt

 

Cover

Vorspann

Die Hauptpersonen des Romans

Prolog: Briefe aus einem fremden Universum

1. Die Stunden vor der Heimkehr

2. Ein Gespräch unter Freunden und ein einsamer Onryone

3. Ein Traumspiel (7)

4. Der Roboter und die Residentin

5. Die besten der Lunaren Flotte

6. Ein Traumspiel (8)

7. Kein Wiedersehen

8. Rückkehr in die Geisterstadt

9. Ein Traumspiel (9)

10. Verschwinden

Epilog: Aus: Hoschpians unautorisierte Chronik des 21. Jahrhunderts NGZ

Leseprobe PR NEO 210 – Oliver Plaschka – Imperium am Abgrund

Vorwort

TEIL I – Grabreden

1. Böses Erwachen

2. Flaschenpost

3. Kondolenzbesuch

Gespannt darauf, wie es weitergeht?

Leserkontaktseite

Glossar

Impressum

PERRY RHODAN – die Serie

 

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Für die Menschen einer fernen Zukunft ist die Erde nicht mehr der »kleine blaue Planet«, von dem aus sie ins All aufgebrochen sind. Die Menschen verstehen sich – nach der lateinischen Bezeichnung ihrer Ursprungswelt – als Terraner, obwohl sie auf Tausenden Welten siedeln. Terra selbst wurde von unbekannter Macht vor Jahrhunderten gegen einen nahezu identischen Planeten ausgetauscht und ist seither verschwunden; mittlerweile gilt die Erde als Mythos.

Doch Perry Rhodan und seine Gefährten haben die Hoffnung nicht aufgegeben, die ursprüngliche Heimat der Menschen wiederzufinden. Sie sind mit der RAS TSCHUBAI, einem riesigen Raumschiff, in die ferne Galaxis Ancaisin gereist. Dort hoffen sie, hinter das Geheimnis der verschwundenen Erde zu kommen.

Im Jahr 2046 Neuer Galaktischer Zeitrechnung – es entspräche dem Jahr 5633 nach Christus – gibt es endlich eine klare Spur: Die Raumfahrer haben Zugang zur sogenannten Zerozone gefunden. Dahinter, so hoffen sie, verbergen sich die Erde und der Mond.

Perry Rhodan landet in einem ungewöhnlichen Kosmos, wo neue Herausforderungen auf ihn warten. Aber dort erreicht er auch TERRA ...

Die Hauptpersonen des Romans

 

 

Perry Rhodan – Der Terraner setzt endlich wieder seine Füße auf Terra.

Homer G. Adams – Der Advisor besucht drei Gräber.

Ghizlane Madouni – Die Kommandantin begibt sich auf die Jagd.

Amalia Serran – Sie dient dem Advisor ihrerseits als Ratgeberin.

Wer alles durchschaut,

sieht nichts mehr.

(Anonyme Sammlung altterranischer Weisen,

Kapitel 33: »Clive Staples Lewis«)

 

Prolog

Briefe aus einem fremden Universum

 

Lieber Mésren,

es gab viele Antworten, seit wir die andere Hälfte des Dyoversums erreichten. Es stellen sich aber mit fast jeder Antwort gleichzeitig eine Menge Fragen, besonders für jemanden wie mich, der versucht, die Dinge zu verstehen, indem er sie vergleicht und historisch einordnet.

Ich kann hören, wie du nachhakst: »Jemand wie dich? Es gibt niemanden wie dich!« Vielleicht hast du damit recht. Meine Profession ist in diesen Zeiten tatsächlich sonderbar.

Ich vermisse dich. Seit deinem Tod ist es so viel stiller geworden. Dein Herzschlag fehlt. Ich erinnere mich an die Jahre, als alles doppelt in mir hallte. Ich weiß, wie deine Gedanken hinter dem Nebelschleier klangen, gerade noch sichtbare, aber ungreifbare, wunderschöne Gewächse. Wenn ich die Augen schließe, ist es manchmal ganz nah, dann wieder ein ferner Traum, von dem ich mich immer häufiger frage, ob er je wirklich war.

Doch zurück zur Gegenwart! Es gibt eine Menge zu berichten, Bruder!

Nachdem Perry Rhodan mich als Mitglied seines Einsatzteams ausgewählt hatte, landeten wir auf Luna. Ich sitze hier in einem arkonidischen Kelchbau, mitten auf dem Erdmond, der gemeinsam mit Terra seit mehr als vierhundert Jahren verschollen war. In einigen Stunden soll es weitergehen. Unser neues Ziel ist die Erde.

In meinem letzten Brief habe ich dir von meiner Angst erzählt. Mir geht es aber mit jeder Minute, während der wir nicht in irgendwelche Kämpfe verwickelt werden, ein wenig besser. Es spuken eben zu viele wirre Vorstellungen in meinem Kopf herum – als müsste es ständig Angriffe geben, als würden Perry Rhodan und seine Leute unablässig um ihr Leben fürchten. Vielleicht wird es ja bis zum Ende ruhig bleiben.

Wobei – wie soll dieses Ende aussehen?

Kehren wir in unser Heimatuniversum zurück? Wie könnte das gelingen? Wir haben keine Möglichkeit, erneut in die Zerozone einzufliegen.

Oder bleibt nur die Wahl, einen Weg zu finden, Terra und Luna nach Hause zu schicken und uns gemeinsam mit dem Planeten auf die Reise zu machen?

Aber was heißt das schon – nach Hause?

Für die Menschen liegt ihr Zuhause längst in diesem Teil des Dyoversums. Sie sind dort geboren, genau wie ihre Eltern, Großeltern und die Generationen davor.

Und wie fremd kann ein Universum eigentlich sein, das mit unserem gleichzeitig entstanden ist? Ein siamesischer Zwilling, in dem offenbar dieselben Planeten und Sonnensysteme existieren, mit uns am Punkt der Zerozone dauerhaft verbunden?

Siehst du, Mésren? Jede neue Erkenntnis bringt Fragen mit sich. Das habe ich immer versucht, dir zu erklären.

Fragen über Fragen!

Ich könnte Hunderte weiterer anhängen, aber welchen Sinn hätte das, solange es keine Antworten gibt?

Oh, schon wieder eine Frage, entschuldige.

Lass es mich anders formulieren: Ich glaube, dass dieser Teil des Dyoversums gar nicht so andersartig ist. Ein Zwilling kann dem zweiten nicht fremd sein, erst recht nicht, wenn sie miteinander verbunden sind ... verwachsen.

So wie wir es waren, Mésren.

Sobald ich Perry Rhodan wiedersehe, werde ich ihm das sagen.

Du fehlst mir, Bruder. Die Operation trennte uns nach dreißig gemeinsamen Jahren, und kurz darauf bist du gestorben. Trotzdem gibt es diese Momente, in denen ich dich weiterhin spüre, deine Gedanken hinter dem Nebelschleier.

1.

Die Stunden vor der Heimkehr

 

Perry Rhodan lächelte, als er Sichu Dorksteiger mitten in der Kantine sah. Nur wenige Plätze waren belegt.

Seine Frau saß einer hochgewachsenen Gestalt mit heller Haut, albinotisch roten Augen, spitzem Kopf und glänzender Glatze gegenüber – einem Ara wie aus dem Bilderbuch. Die beiden führten offenbar eine angeregte Diskussion und hatten darüber die Kuchenstücke, die auf dem Tisch zwischen ihnen standen, völlig vergessen.

»Die extrem erhöhte Hyperimpedanz in diesem Teil des Dyoversums wirkt sich genetisch aus«, sagte der Ara gerade, »und das werde ich beweisen! Es gibt seit über zweihundert Jahren Aufzeichnungen einer speziellen Chromosomen-Anomalie, die bewirkt, dass hier geborene Kinder mit fortlaufender Generationenzahl ... oh.«

»Was ist?«, fragte Sichu, die ihren Mann bisher nicht bemerkt hatte, weil sie mit dem Rücken zu ihm saß.

»Du hast Besuch«, sagte Rhodan.

Sie drehte sich zu ihm. Wie so häufig kam es ihm vor, als veränderte sich das goldene Fleckenmuster auf ihrer hellgrünen Gesichtshaut aufgrund der Überraschung. Einen Beweis für diese Theorie hatte er jedoch nie gefunden, und sie hielt diese Beobachtung für Unfug.

»Perry!«, sagte sie.

»Der bin ich.« Rhodan breitete die Arme aus. »Frisch von NATHAN bestätigt, übrigens. Das Mondgehirn hält mich für echt und hat angekündigt, dass uns darum der Weg nach Terra offensteht.«

Denn genau wegen dieser ausstehenden Identitätsüberprüfung hatte Ghizlane Madouni, die Kommandantin des hiesigen Liga-Flaggschiffs, ihn und sein kleines Einsatzteam nicht sofort zur Erde, sondern zunächst zum Mond geführt. Die aktuelle Residentin bestand auf diesem Test, ehe sie den Fremden treffen wollte, der von sich selbst behauptete, Perry Rhodan zu sein. Ebenjener Rhodan, der bereits verschwunden gewesen war, bevor Terra und Luna in den Universenzwilling versetzt wurden.

Nach dem Besuch bei NATHAN war Rhodan zum arkonidischen Kelchbau gegangen, der mitten im Ylatorium stand – das einzige für Gäste frei zugängliche und sinnvolle Gebäude. Die zahllosen Bronzehütten der Ylanten lagen ebenso in Atmosphärelosigkeit wie normalerweise das scheinbar brennende, unförmig-klotzige Zentralgebäude.

Im Kelch wohnten die Raumpiloten der Lunaren Flotte und deren Angehörige – eine Art Oase normaler Zivilisation inmitten der Ylantenstadt, die sich im gesamten Mare Ingenii über etliche Quadratkilometer erstreckte.

Rhodan wandte sich an den Ara. »Entschuldige bitte die Störung. Ich wollte euer wissenschaftliches Gespräch nicht unterbrechen.«

»Hast du aber.« Der Ara lachte laut schallend – ein ungewöhnlich starker Gefühlsausbruch, der gekünstelt wirkte. »Bist du wirklich Perry Rhodan?«

»Ja.«

»Darf ich ehrlich sein?«, fragte der Ara.

Rhodan nickte.

»Es ist nicht gut, dass ...« Der Ara stockte. »Halt, lass es mich neu formulieren: Ich finde es nicht gut, dass du gekommen bist. Fast alle haben sich damit abgefunden, dass wir hier leben. Dieser Teil des Dyoversums ist unsere Heimat. Es gab eine Zeit, da kam es zu Unruhen, zu Demonstrationen und Aufständen, weil manche dafür eintraten, dass wir einen Weg zurück suchen sollen, andere in der Versetzung eine Chance und einen Neuanfang sahen.«

»Die Vanothen.«

»Ich sehe, du hast dich gut informiert. Es gab damals sogar Ausschreitungen, Tote und nach zwei Jahrhunderten das Pluto-Experiment. Weißt du etwas darüber?«

Rhodan schüttelte den Kopf. »Wenig genug.« Er erinnerte sich allerdings an den Moment direkt nach der Ankunft der TESS QUMISHA in diesem Teil des Dyoversums. Das erste Ortungsholo hatte statt des Planeten Pluto ein unwirkliches, fast geometrisches Gebilde gezeigt – jedoch noch verschwommen, und danach war sofort nahezu sämtliche Technologie ausgefallen, und alles hatte sich in Chaos aufgelöst.

»Was genau?«

»Ich weiß, dass wohl versucht wurde, Kontakt mit dem Heimatuniversum aufzunehmen. Eine Art ... Universentunnel, um wenigstens eine akustische Nachricht zu schicken.«

Der Ara nickte. »Dann weißt du, was es zu wissen gibt. Wir wollten bloß eine Botschaft schicken – und nicht einmal das ist gelungen. Dennoch wurde Pluto dabei vernichtet.« Er klatschte in die Hände. »Für weniger als nichts.«

»Pluto ist definitiv zerstört?«

»Eurer definitiv und unser nicht ganz so, aber beide wurden vernichtet, nur unter völlig verschiedenen Umständen und zu einer ganz anderen Zeit. Vielleicht ist das Plutos Schicksal, behaupten einige.« Der Ara winkte ab. »Als Wissenschaftler glaube ich nicht an solche spirituellen Konzepte.«

»Aber?«

»Wieso aber?«

»Deine Formulierung ... Es hörte sich so an, als wolltest du die Zerstörung relativieren.«

»Nicht die Zerstörung, nur das, was daraus wurde. Uns ist es gelungen, die Trümmer des Pluto in ein Wunder zu verwandeln. Vielleicht wirst du das Gestänge mit eigenen Augen sehen, Perry Rhodan. Für den Moment nur eines – wir haben endlich Frieden gefunden, hier in diesem Universum. Und plötzlich tauchst du auf und bringst alles durcheinander.« Ein tiefes Durchatmen folgte. »Nun gut, es gibt viel zu tun, meine Pause ist bereits überzogen.« Der Ara deutete auf das Gedeck vor sich. »Magst du? Mit Erdbeeren. Sie sind zwar künstlich, schmecken aber wie echt. Der Kuchen ist unangerührt.« Er stand auf, nickte Sichu zu und zog sich zurück.

Sofort war ein Roboter zur Stelle, um das Geschirr abzuräumen.

Rhodan setzte sich. »Lass den Teller hier!«

»Wie du wünschst.« Die Maschine packte nur das halb leer getrunkene Glas und surrte davon.

»Wie hast du mich gefunden?«, fragte Sichu.

»Farye sagte mir, dass du etwas essen wolltest. Und zwar ganz logisch – möglichst nahe am Hauptausgang aus diesem Kelch, von wo du am schnellsten zurück zur ORATIO ANDOLFI gelangst, sobald das Signal zum Aufbruch kommt.«

»Es lief gut«, sagte sie, »bis dieser Verrückte dazwischenkam.«

Perry grinste. »Seine Theorie hat dich also nicht überzeugt?«

»Er ist Mediker bei der hier stationierten Lunaren Flotte, aber er fühlt sich zu Höherem berufen. Er teilte mir mit vielen Worten und in aller Ausführlichkeit mit, dass er einem genetischen Phänomen auf der Spur sei. Einer angeblichen Veränderung im Erbgut terranischer Frauen durch die erhöhte Hyperimpedanz in diesem Teil des Dyoversums.«

»Und?«

»Nichts und. Es gibt keinerlei Beweise, nur irgendwelche schrägen Interpretationen einer Erbkrankheit, die es bereits vor fünfhundert Jahren gab – vor der Versetzung. Als ich ihm das sagte, wollte er nichts davon hören.« Sie winkte ab. »Derartigen Leuten begegnet die Chefwissenschaftlerin der Liga ...« Sie lächelte und klopfte sich gegen den Brustkorb. »... übrigens ständig. Eine solche Position scheint Spinner geradezu anzuziehen. Aber zurück zur Sache – du hast NATHAN also überzeugt?«

»Habe ich.« Und ganz nebenbei hatte Rhodan einige Informationen gesammelt. Er hatte sich einen Eindruck von NATHAN verschafft: Dieser hatte einen Teil des Mondes umgestaltet, um sein sogenanntes Ylatorium zu errichten – eine experimentelle Roboterzivilisation, die an seine positronische Tochter YLA erinnern sollte. Obwohl NATHAN eine Art eigene Philosophie zu entwickeln schien, war der lunare Großrechner Rhodans Einschätzung nach immer noch der treue Freund der Menschheit.

»Kommandantin Madouni soll uns nach Terra bringen«, berichtete Rhodan. »Dort werden wir aber nicht sofort die Residentin treffen, sondern zunächst einen alten Bekannten.«

»Und wen?«, fragte Sichu. »Homer G. Adams befindet sich noch für einige Tage in der Suspension, und sonst kann niemand von damals mehr am Leben sein.«

»Rico«, sagte Rhodan.

»Oh.«

»Ich war ebenso überrascht. Er ist Bürgermeister von Neu-Atlantis, genauer gesagt, einer der beiden Bürgermeister. Er teilt sich den Posten gleichberechtigt mit einer Frau. Xaphia da Zavaron, jüngster Spross einer alten arkonidischen Adelsfamilie.«

»Von der ich nie gehört habe.«

»Ebenso wenig wie ich«, meinte Rhodan. »Farye ist mit Mulholland und Tergén bereits in Madounis Flaggschiff. Fehlen nur wir beide. Aber das hat noch einen Moment Zeit.« Er nahm die Gabel und trennte einen Bissen des Kuchens ab. »Köstlich«, sagte er kurz darauf mit vollem Mund.

Sichu ließ ihr eigenes Stück liegen und probierte seines. »Findest du? Ich konnte Erdbeeren nie leiden.«

»Banausin«, sagte er.

 

*

 

In der Eingangshalle, kurz vor dem Verlassen des Kelchbaus, erhielt Rhodan einen Funkanruf von Ghizlane Madouni. Sie bat ihn, auf sie zu warten, da sie noch im Kelch persönlich mit ihm sprechen wollte, und versprach, höchstens zehn Minuten zu brauchen. Dabei klang ihre Stimme amüsiert, als würde sie sich ein Lachen verkneifen.

Während sie warteten, wirkte Sichu Dorksteiger ungeduldig, doch Rhodan genoss die Atmosphäre. Er fühlte sich zu Hause.

Egal, ob Terra und Luna in einem fremden Zwillingsuniversum ihre Bahnen zogen ... ob längst neue Generationen von Bewohnern herangewachsen waren ... ob die Gesellschaft sich verändert hatte ... ob er von manchen Gruppen angefeindet wurde oder nicht – dies war seine angestammte Heimat: die Erde und ihr Trabant.

Eine Truppe Raumsoldaten kam in das Gebäude, in voller Uniform und Montur, die Helme im Nacken eingefaltet. Männer und Frauen, die ihn in schnellem Tempo passierten, ohne ihn wahrzunehmen; überwiegend Terraner, aber er sah auch eine Arkonidin und einen Insektoiden, den er spontan keinem bestimmten Volk zuordnen konnte.

Einige Kinder strömten lärmend und lachend in die Halle. Sie eilten zu der Felsenlandschaft, die den künstlichen Bachlauf in der Seite des Raumes umgab. Ein Mädchen deutete zu den Soldaten und rief: »Papa!«

Einer der Piloten drehte den Kopf und winkte, ehe er mit den anderen weitereilte.

Kurz darauf traf die Kommandantin ein.

Rhodan kannte Ghizlane Madouni erst seit Kurzem, doch er wusste, dass er ihr vertrauen konnte. Die Erlebnisse mit der inhaftierten Topsiderin und während des Attentats im Tunnel zwischen den Bronzehütten hatten ihm bewiesen, dass sie auf derselben Seite standen.

»Es wird dich freuen zu hören«, sagte Rhodan, »dass NATHAN meine Identität bestätigt hat.«

»Erstens habe ich daran nicht mehr gezweifelt«, kommentierte sie, »und zweitens hat das Mondgehirn mich sofort informiert. Ich soll dich nach Terra bringen. Aber das werde ich nicht.«

Rhodan fiel auf, dass sich Sichus Haltung versteifte. »Und was spricht dagegen?«, fragte er.

Die Kommandantin machte eine umfassende Handbewegung. »Ich muss noch etwas erledigen. Mein Stellvertreter wird euch transportieren, mit der ANDOLFI, ganz offiziell. Dass ich zurückbleibe, braucht niemanden zu interessieren.«

»Außer uns«, meinte Sichu. »Was hast du im Ylatorium vor?«

»Jemand hat ein Attentat auf uns verübt«, sagte Ghizlane Madouni. »Genauer gesagt, wohl auf dich, Perry. Aber wer immer dahintersteckt, er oder sie hat den möglichen Tod anderer Personen in Kauf genommen.«

Rhodan nickte. »Allerdings denke ich, es war eher eine ... Stellungnahme als ein Attentat. Ein zerstörter Tunnel, der uns der Atmosphärelosigkeit aussetzt – während wir Raumanzüge tragen, was sich unser Gegner hat ausrechnen können. Falls es sich nicht um einen Idioten handelt.«

»Stellungnahme oder Attentat«, sagte Madouni. »Mir ist das egal. Ich will wissen, wer es war. Mit meinem Sicherheitschef Torr Nishal habe ich bereits die Ermittlungen aufgenommen.« Sie streckte abwehrend die Hand aus. »Leider gibt es bislang keine nennenswerten Ergebnisse, nur einen Ansatzpunkt. Ich halte euch auf dem Laufenden und bin überzeugt, dass wir uns wiedersehen werden.«

»Ohne jeden Zweifel«, sagte er.

Ghizlane Madouni verabschiedete sich. »Sei vorsichtig, Perry Rhodan. Es gefällt nicht allen, dass deine Ankunft Zündstoff bietet. Die Vanothen werden weiterhin aufbegehren. Dazu kommt das Auslieferungsultimatum der Topsider. Kommandantin Hokkno wartet in ihrem Schiff jenseits der Grenzen des Solsystems. Falls du meine Meinung hören willst, geht natürlich niemand auf das Ultimatum ein, aber das könnte den mühsam erhaltenen Frieden mit den Echsen beenden. Ein offener Krieg wäre ...« Sie brach mitten im Satz ab. »Das muss ich dir wohl nicht erklären.«

»Einen offenen Krieg wegen meiner Person lasse ich nicht zu«, stellte Rhodan klar.

»Und wenn du es nicht verhindern kannst?«

Er sah sie lange an. »Ich werde einen Weg finden«, sagte er schließlich.

 

*

 

In der Zentrale der ORATIO ANDOLFI warteten bereits Rhodans Enkelin Farye und die beiden anderen Teammitglieder auf sie – der Mutant Mulholland und der Vergleichende Historiker Tergén. Tergén war für Perry Rhodan eine Art Joker; sein Bauchgefühl hatte ihm geraten, ihn mitzunehmen, obwohl er ihn am wenigsten von allen kannte.

Iwán/Iwa Mulholland stellte sich während des kurzen Fluges nach Terra zu Rhodan. Mulholland changierte zwischen den Geschlechtern und sah sich mal dem einen, mal dem anderen Geschlecht zugehörig, wählte darum für sich selbst das sächliche Pronomen. Menschen, die ihm gegenüberstanden, nahmen Mulholland unterschiedlich wahr, Frauen eher als weiblich, Männer eher als männlich. Weshalb Rhodan in ihm stets einen Mann sah.

»Ich habe mich umgehört«, sagte es.

Rhodan wusste, dass sich Iwán dabei nicht ausschließlich auf seine Ohren verlassen, sondern seine Paragabe genutzt hatte, um telepathisch Informationen zu sammeln.

Nach diesem ersten Satz schwieg Mulholland – zumindest akustisch. Es verfügte über eine Telemittergabe, konnte Gedanken also gezielt senden. Rhodans Mentalstabilisierung würde ihn davor schützen, doch er öffnete die Stabilisierung. In Iwáns Gegenwart schaltete er meistens automatisch auf Empfang.

So erfuhr er, dass sich der Mutant sowohl im Kelchbau als auch an Bord der ORATIO ANDOLFI umgehört hatte.

Etliche Mitglieder der Schiffssicherheit glaubten, dass der Anführer der Vanothen – der Vano, der vermutlich seit einiger Zeit irgendwo auf dem Mars untergetaucht war – einem Spielplan folgte, der auf die alten Vorhersagen von Jathao Vanoth zurückging. Auf dieser Basis gab es angeblich eine Fülle von Strategien und Taktiken, was zu tun sei, falls Rhodan tatsächlich in diesem Teil des Dyoversums ankäme.

Diese Sicherheitsleute gingen davon aus, dass der Vano viele Bereiche der hiesigen Liga infiltrierte, dass es an Bord zahlloser Raumschiffe und Ministerien, sogar im Geheimdienst Schläfer gab, die nur auf ihren Einsatz warteten.

Eine geheime Struktur, die sich durch sämtliche Schichten der Gesellschaft zog – ein umfassendes Netz, das der Vano hatte knüpfen können, weil ohnehin die meisten Menschen mit dem Gedankengut der Vanothen sympathisierten.

Nicht länger zu versuchen, in die ursprüngliche Heimat zurückzukehren, sondern im neuen Solsystem zu leben, war in den vergangenen Jahrhunderten notgedrungen zum Alltag geworden.

Es gibt einen weiteren Unsicherheitsfaktor, sendete Iwán. Einige gehen davon aus, dass der Vano nur eine Marionette der Topsider ist. Und dass er in ihrem Auftrag einen Bürgerkrieg anzetteln wird, den die Echsen wiederum für einen offenen Angriff auf eine geschwächte Liga nutzen wollen.

Diese Befürchtung hielt Rhodan aufgrund all seiner Erfahrung nicht einmal für unwahrscheinlich. Doch selbst, wenn dahinter nur Schwarzmalerei steckte, erwartete ihn auf Terra keineswegs eine harmonische Gesamtgesellschaft. Die Bevölkerung hatte nicht die ganze Zeit über einhellig und einträchtig auf eine Rettungsmission gehofft.

Das Solsystem und die Liga waren keine Idylle, sondern ein Wespennest.

Trotz der negativen Konsequenzen brachte dieser Gedanke Rhodan zum Lächeln: Es handelte sich eben um Terraner, die nicht tatenlos warteten und ausharrten. Sie nahmen die Entwicklung selbst in die Hand. Dass dabei nicht immer alles glatt- und harmonisch lief, lag in der Natur der Dinge – selbstverständlich gab es mehr als eine Meinung.

Ghizlane Madounis Stellvertreter meldete sich und kündigte an, dass die Landung auf dem Raumhafen von Terrania City dicht bevorstehe.

2.

Ein Gespräch unter Freunden und ein einsamer Onryone

 

»Du wolltest mich sprechen?« Jindo Kubertin stand in der offenen Tür.

Ghizlane Madouni betrachtete ihn. »Du hast ein wenig zugelegt, Jin.«

Tatsächlich hatte er sehr zugelegt. Nicht dass er fett wäre – kein Kommandant einer Raumjägerstaffel könnte fett sein. Doch man sah ihm überdeutlich an, dass er seinen Posten vor allem hinter dem Schreibtisch erledigte.

»Du nicht, Lane«, konterte er. »Drahtig wie immer, aber zu dürr, um wirklich sexy zu sein.«

»Charmant«, sagte sie.

»So bin ich eben.«

Er bat sie einzutreten und schloss die Tür, aber sie setzten sich nicht, sondern blieben im Flur stehen. Ein schmaler verspiegelter Schrank stand an der Seite, gegenüber hing eine kleine Garderobe, an der nur eine einzige Jacke baumelte – oder vielmehr ein exzentrisches Sakko, blau mit einem antiquiert wirkenden rötlich-braunen ornamentalen Blumenmuster.

»Weißt du, dass mich seit Jahren niemand mehr Lane genannt hat?«, fragte sie.

»Ach komm, so lange ist es noch nicht her, dass wir zum letzten Mal zusammen waren.«

»Vier Jahre, sechs Monate, siebzehn Tage.«

»Seit wann glänzt du denn mit einem eidetischen Gedächtnis?«

»Ich habe damals Tagebuch geführt und nachgesehen«, behauptete sie. »Außerdem hast du den Begriff falsch gebraucht.«

»Ich bin Militärangehöriger, kein Sprachwissenschaftler.«

Ghizlane hatte beim Kommandanten der Lunaren Flotte um ein Gespräch gebeten. Jindo Kubertin stand einer Raumjägerstaffel vor, die im Ylatorium stationiert war, wie es das Positronische Konkordat bestimmte, das NATHANS Rechte und Pflichten regelte.

Sie kannten einander schon jahrzehntelang, seit dem gemeinsamen Beginn ihrer militärischen Ausbildung auf der AMALIA SERRAN. Den Kontakt hatten sie vor allem in den ersten Jahren ihrer Karriere gepflegt, einschließlich einer fast zwanzig Monate dauernden Beziehung, die vor allem im Bett stattfand. Ob Liebe im Spiel gewesen war, fragte sich Ghizlane seitdem häufig, fand aber keine Antwort. In Sachen Liebe war sie kaum die richtige Ansprechpartnerin.

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Illustration: Swen Papenbrock