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PROF. DR. OLIVER HOFFMANN

VOM NÜTZLICHEN

LUXUS

UHREN ALS ALTERNATIVES INVESTMENT

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Copyright der deutschen Ausgabe 2021:

© Börsenmedien AG, Kulmbach

Copyright aller in diesem Buch enthaltenen Uhrenabbildungen:

© Christie’s

Gestaltung Cover: Daniela Freitag

Gestaltung und Satz: Jürgen Hetz, Denksportler Grafikmanufaktur

Herstellung: Timo Boethelt

Lektorat: Egbert Neumüller, Claus Rosenkranz

Korrektorat: Sebastian Politz

ISBN 978-3-86470-687-5
eISBN 978-3-86470-688-2

Alle Rechte der Verbreitung, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Verwertung durch Datenbanken oder ähnliche Einrichtungen vorbehalten.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar.

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Für

Stella
Nina
ST. u. d. g. F. d. G
.

Inhalt

Über dieses Buch – eine Gebrauchsanweisung

Einführung: Uhren im 21. Jahrhundert – Anachronismus oder Vorreiter?

TEIL 1:Uhren verstehen

Kapitel 1:Uhren als Produkt – zwischen Massenproduktion und Manufaktur

Kapitel 2:Die Grundlagen der Uhrenindustrie

Kapitel 3:Innovation und Uhr – ein kurzer Einblick in die Entwicklungsgeschichte der Uhr

EXKURS: Was bedeutet Innovation?

Wert und Innovationsdiffusion: Ein Framework zur historisch-prozessbasierten Analyse und Bewertung

Kapitel 4:Die Entwicklung der Uhrenindustrie im historischen Überblick

Kapitel 5:Der Uhrenmarkt damals und heute

Schweiz

Deutschland

Erfolgsfaktoren der Uhrenindustrie – die Basis für heutige Werte

Technologiewandel und Innovationsbereitschaft bei Luxusgütern

Entwicklungslinien der Globalisierung in der Uhrenindustrie vom 20. in das 21. Jahrhundert – ein Überblick

Die wirtschaftlichen Mechanismen moderner Luxusgüter

EXKURS: Hochtechnologietransfer, Produktentwicklung und Wissensmanagement – aktuelle Herausforderungen für die Uhrenindustrie

TEIL 2:Uhren als Investment

Kapitel 6:Einführung: Uhren als Luxusgüter –

Konsum und Investment

Kapitel 7:Wie investiere ich in Uhren?

Bewertung von Uhren – Wertdimensionen

Internalisierter Wert: Innovationsdimensionen, neue Materialien und der Wert des Objekts an sich

EXKURS: Uhren und neue Materialien – Werttreiber mit Mehrwert

Externalisierter Wert: Rarität, Zustand und soziale Wahrnehmung

Markenwert oder Der Glanz der Marke

Patek Philippe

Rolex

Audemars Piguet

Vintage-Marken und -Themen

EXKURS: Investieren jenseits der „großen Drei“?

Marktwert und Preisbestimmung

Kapitel 8:Investmentstrategien in Uhren

Uhren und Aktien – ein Vergleich

Investmentstrategien – was möglich ist

Der Primärmarkt

Der Sekundärmarkt

Auktionen

Kapitel 9:Uhren in alternativen Anlagekonzepten

Kapitel 10:Ein kurzes Fazit: Wie alternativ sind Uhren als Investment?

Danksagung

Anmerkungen

Anhang A

Anhang B

Glossar

Abbildungsverzeichnis

Abkürzungsverzeichnis

Literaturverzeichnis

Über dieses Buch – eine Gebrauchsanweisung

Dieses Buch versteht sich als Wegweiser und Kompass zum komplexen Mikrokosmos der Uhrenwelt und möchte dem Uhrenenthusiasten in zwei Teilen aufzeigen, wie er sich ebendiesen Kosmos erschließen und dabei ein gutes Investment tätigen kann. Dabei folgt der Aufbau des Buches einer einfachen Logik: Alle alternativen Investments (zu denen auch Uhren zählen) unterliegen mitunter sehr kurzfristigen, dynamischen Marktentwicklungen; ein Buch über Uhren als alternatives Investment kann nur eine Momentaufnahme sein. Dieses Buch möchte dem Leser das Rüstzeug an die Hand geben, sich selbst ein Bild von den zugrunde liegenden Mechanismen des Marktes zu machen, diese und deren wertbestimmende Elemente zu verstehen und sie dadurch auf jede Marke oder Marktsituation übertragen zu können. Dabei sind für dieses Marktverständnis zwei sehr unterschiedliche Aspekte der Uhrenindustrie wichtig: die historische Entwicklung des Marktes mit seinen sehr speziellen Methoden, Produkte erfolgreich zu machen, sowie ein Leitfaden darüber, was derzeit erfolgreiche Investmentstrategien in Marken und Modelle sind. Beides zusammen ermöglicht es dem Leser, für sich zu erkennen, welche Uhren „innovativ“ und daher am Markt erfolgreich sind, und dieses Wissen auf andere Marktsituationen zu übertragen. Dabei werden der Stil und der Anspruch beider Teile unterschiedlich sein. Die (recht wissenschaftlichen) Theorien zum Thema Innovation sind dabei die Basis, um den Markt zu verstehen und, um Beispiele ergänzt, ein wirkliches Fundament für Investmententscheidungen – hinter praktisch allen erfolgreichen Investmentmodellen der Uhrenindustrie stehen ähnliche Eigenschaften und Prinzipien. Sie gilt es zu erkennen.

Um die Besonderheit des Luxusguts „Uhr“ in den heutigen Zeiten zu verstehen, ist es zunächst wichtig, zu wissen, woher dieses besondere Gut produktgeschichtlich gesehen kommt, was es ausmacht und wie die wirtschaftliche Dynamik dahinter aussieht und entsteht. Daher wird auch der erste Teil des Buches auf das Thema Innovation abzielen, das sich die Uhrenindustrie seit jeher auf die Fahnen geschrieben hat und heute mehr denn je als elementare Daseinsberechtigung sieht – das Anbieten von technisch hochwertigen Produkten, die dem Käufer Zusatznutzen bieten, ist nach wie vor einer der wesentlichen Treiber dieses besonderen Industriezweigs. Ebenso wird sich der erste Teil des Buches damit beschäftigen, wie sich die Uhrenindustrie entwickelt hat, und einige generelle Themen im Bereich Technologiewandel und Innovation bei Luxusgütern anschneiden, die das grundlegende Verständnis des Investors für diesen Industriezweig schaffen.

Der zweite Teil des Buches beschäftigt sich aufbauend auf den Mechanismen des ersten Teils mit den Investmentmöglichkeiten, welche die Welt der Uhren heutzutage bietet, und beschreibt detailliert, wie sich der Wert einer Uhr konstituiert, welche Investmentstrategien gefahren werden können, welche Marken wichtig und welche Handelsformen relevant sind. Dabei ist es natürlich wichtig, zu beachten, dass das Ganze eine Momentaufnahme ist und dass es weder eine Garantie auf Vollständigkeit noch einen allgemeinen Konsens unter Uhrenexperten gibt. Und es ist wichtig, zu betonen, dass es in diesem Buch darum geht, langfristig angelegtes, grundlegendes Wissen aufzubauen und nicht darum, möglichst einfach einen schnellen Gewinn mit dem Kauf und Verkauf von Uhren zu erzielen.

Ich war sehr erstaunt darüber, dass es in deutscher Sprache kein einziges Buch gibt, das diesen Themenkomplex (wirtschaftswissenschaftlich) fundiert aufarbeitet, einen Investmentleitfaden liefert und darüber hinaus allgemein Verständnis für eine spannende Industrie schafft. Dieses Manko will dieses Buch nun beheben. Inzwischen kann ich auf eine nunmehr fast 20-jährige intensive und überaus umfangreiche Beschäftigung mit dem Thema Luxusuhren verweisen. Vom Aufbau eines großen europäischen Auktionshauses (man lernt nirgends so viel über Uhren wie dort, wo man jede Woche Hunderte – wenn nicht Tausende – Exemplare in unterschiedlichsten Zuständen sieht und beurteilen muss) über die Beratung führender Uhrenhändler wie Christie’s oder Chrono24 bis hin zu einer eigenen Unternehmung im Bereich Luxusuhren bin ich tief in die Materie eingetaucht. Mit „Vom nützlichen Luxus“ möchte ich mein Wissen weitergeben und für den Leser nachvollziehbar machen, wie die Werte von Uhren entstehen und sich im Zeitverlauf ändern.

Einige Anmerkungen zum Aufbau des Buches:

• Vor jedem Kapitel werden kurz die Inhalte sowie die Bedeutung des kommenden Abschnitts skizziert und dieser in den Gesamtkontext eingeordnet. Dabei kann der Leser selbst entscheiden, ob er zum Beispiel ein Theoriekapitel zur Wertkonstitution bei Luxusgütern überspringt, um es später zu lesen, oder ob ihn das Thema gleich interessiert.

• Einige Kapitel enthalten ausführlichere Darstellungen von zum Beispiel theoretischen oder historischen Hintergründen, welche ich für wichtig für eine Gesamtdarstellung erachte, die aber sehr ins Detail gehen. Diese Abschnitte sind farblich hinterlegt und können bei Bedarf gelesen werden.

• Am Ende jedes Kapitels stehen eine Zusammenfassung und auch einige Checklisten für den Investor. Beides soll ihm erleichtern, seine persönliche Strategie zu entwickeln.

• Am Ende des Buches findet sich ein Glossar, welches die Fachtermini enthält und erklärt.

• Die Gesamtlogik des Buches folgt dem Aufbau Theorie und Anwendung der Theorie auf die Vergangenheit (Teil 1) sowie Ableitung von Investmentprinzipien für die Zukunft (Teil 2). Dabei wird besonderes Augenmerk auf die Mechanismen der Wertgenerierung gelegt. Wichtig ist dabei, dass dieses Buch dem Leser dabei helfen will, sich die Materie selbst zu erschließen. Auf plakative Vorgaben habe ich deshalb bewusst verzichtet.

Ich wünsche nun viel Freude und Erfolg mit „Vom nützlichen Luxus – Uhren als alternatives Investment“.

Einführung: Uhren im 21. Jahrhundert – Anachronismus oder Vorreiter?

Am Anfang eines solchen Buches muss unweigerlich die Frage stehen, ob Uhren als Produkt heutzutage überhaupt noch zeitgemäß sind. Das mag für die vielen Fans das Sammelguts Uhr zunächst eine schockierende Frage sein, sie ist aber durchaus berechtigt. Denn letztendlich zielt sie sowohl auf den zukünftigen Wert des geliebten Sammelobjekts als auch auf den Wert der Industrie an sich ab. Und dies ist vollkommen unabhängig von dem unverkennbar vorhandenen kulturellen Wert, sondern auf rein wirtschaftlicher Ebene zu betrachten. Denn natürlich ist jede Uhr nicht nur ein Wirtschaftsgut, sondern auch ein autark kulturtragendes Produkt, also ein Produkt, das aus sich heraus einen nicht zuletzt kulturellen Wert besitzt – auf diesen Aspekt wird der erste Teil des Buches näher eingehen.

Jeder Uhrenliebhaber ist zunächst geneigt, die oben stehende Frage sofort mit „Ja, selbstverständlich sind Uhren heutzutage noch relevant, sie sind der einzige Schmuck des Mannes“, zu beantworten. Ähnlich würde die Frage höchstwahrscheinlich auch die Luxusgüterindustrie beantworten, die nicht müde wird, Jahr für Jahr ein neues Spiel aus Form und Farbe in immer neuen Kollektionen, Wiederentdeckungen und Neuauflagen bekannter Klassiker auf den Markt zu bringen.

Die Frage, wo das Kulturgut Uhr heutzutage wirklich steht, ist dabei deutlich komplexer, da das Produkt einen stetigen Bedeutungswandel durchlebt hat, der sich seit den 2000er-Jahren mit dem Aufkommen der ersten Smartwatches noch einmal deutlich beschleunigt hat. Es ist anzunehmen, dass der Leser dazu nach der Lektüre des ersten Teils des Buches eine deutlich fundiertere Meinung hat. Um das Wesentliche vorwegzunehmen: Es ist bei Weitem nicht sicher, dass kommende Generationen einer Uhr (und speziell einer Armbanduhr) den gleichen Stellenwert beimessen werden wie die heutigen. Dies hätte natürlich erhebliche Auswirkungen auf die Wertposition – man braucht sich nur vorzustellen, was passieren würde, wenn Uhren das gleiche Sammlerschicksal wie Briefmarken oder Münzen erleiden würden. Beides waren einst beliebte Sammelgüter, doch dann brach ihnen im Wesentlichen durch den Generationenwechsel der Markt weg – und nur noch das absolute Topsegment konnte sich halten.

Interessanterweise sieht man heute im Uhrenmarkt, der deutlich stärker den Dynamiken von Luxusgütern folgt und somit auch viele Trendelemente beinhaltet, die Entwicklung, dass das oberste Preissegment beziehungsweise das Segment mit den wirklich interessanten Sammleruhren den gesamten Markt vor sich hertreibt und ein Stück weit dabei ist, sich von diesem zu entkoppeln.

Man muss sich nur diese Entwicklung ansehen, um ein wenig ins Grübeln zu kommen: Ein Markt, der sowohl im Primär- als auch im Sekundärmarkt Preiszuwächse von 5 bis 20 Prozent (und für einige Modelle im Vintage-Bereich deutlich darüber) zu verzeichnen hat, stützt sich im Wesentlichen auf ein Produkt, das stark anachronistisch ist. Allen Beteuerungen der Uhrenindustrie zum Trotz erfüllt eine Uhr heute nicht mehr die ursprüngliche kulturelle Aufgabe, ein gemeinsamer Taktgeber für unsere Waren- und Wirtschaftswelt zu sein. Diese Funktion war einmal überlebenswichtig und wesentlich für die Entwicklung unseres Wirtschaftssystems verantwortlich. Heute sind Uhren ein reines Luxusgut mit stark kulturell geprägtem Hintergrund und unübersehbarem soziokulturellen Kontext. Dieser Wandel hat wie in jeder Luxusgüterindustrie auch die Diversifikation und die Erweiterung der verschiedenen Produktpaletten erheblich beschleunigt – jeder Luxusuhrenhersteller hat heute ein deutlich erweitertes (wenn nicht in einigen Fällen sogar aufgeblähtes) Sortiment.

Dieser Hintergrund führt verständlicherweise bei jedem (potenziellen) Uhrenenthusiasten oder Sammler zu zwei Fragen. Erstens: Lohnt es sich heutzutage überhaupt noch, neue, moderne Uhren zu kaufen und zu sammeln – womöglich sogar noch mit dem Ziel der Geldanlage? Und zweitens: Was sollte ich anstelle dessen kaufen, ist „Vintage“ oder „gebrauchte Uhren“ jetzt die Antwort? Zusätzlich zu dieser komplexen Fragestellung drängen derzeit auch zunehmend Investoren in den Uhrenmarkt, die nicht nach den Gesichtspunkten eines Uhrensammlers vorgehen, sondern Uhren als reine Anlageobjekte betrachten, eine Sichtweise, die dem Thema langfristig nicht unbedingt dienlich ist. Man sieht also schon: Jeder, der sich mit dem Thema Uhren im 21. Jahrhundert auseinandersetzt, muss bei seinen Entscheidungen und Investitionen ein komplexes Themenfeld beachten, in dem es sich auch lohnt, die Hintergründe richtig einordnen zu können. Denn eines ist klar: Der Markt wächst jedes Jahr und es ist immer mehr Geld im Spiel – was Auswirkungen auf alle Akteure rund um den „Mythos Uhr“ hat.

Teil Eins Uhren verstehen

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OMEGA
Speedmaster, ‚Broad Arrow‘
Baujahr: 1957
Erzielter Preis / Jahr:
324.500 USD / 2018

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Kapitel Eins

Die folgenden vier Kapitel erklären, wie das Produkt Uhr als solches funktioniert und wie die Uhrenindustrie aufgebaut ist. Dabei wird es insbesondere um den Begriff der Innovation gehen, da mit diesem im weiteren Verlauf des Buches sehr gut eine Wertentwicklung abgeleitet werden kann. In einem Exkurs wird das Thema Innovation und deren Verbreitung vertieft.

Wichtige Inhalte:

Es wird erklärt, was Innovation überhaupt ist, wie sie bei Uhren zu verstehen ist und wie sie zu deren Wertbasis beiträgt.

Ein umfassendes (holistisches) Innovationsmodell wird eingeführt und es wird erläutert, was wertgenerierende Faktoren sind.

Wie Uhren produziert werden.

Welche Rolle Uhren in der Industrie spielen.

Besonderheiten von Luxusgütern und deren Werten.

Uhren als Produkt – zwischen Massenproduktion und Manufaktur

Wenn man Uhren als Produkt verstehen möchte, hilft es, zu begreifen, wie sie hergestellt werden und wie die Produktionsprozesse abstrahiert aussehen. Denn der Preis einer Uhr – und streng genommen auch der ihr zugeschriebene Wert – wird stark durch den subjektiv wahrgenommenen, fiktiven Produktionsaufwand sowie in zweiter Linie natürlich auch durch die realen Fertigungskosten bestimmt.

Die Produktion einer Uhr gliedert sich grundlegend in zwei Teilbereiche: zunächst die physische Fertigung, die in den letzten 400 Jahren zahlreiche Innovationen und Prozessverbesserungen erlebt hat. Von diesen Wandlungen wird im folgenden Kapitel ausführlich die Rede sein, ebenso von den verschiedenen Produktionssystemen sowie von den Spezifika verschiedener Länder und Produktionsregionen.

Neben der physischen Fertigung kommen insbesondere in den letzten 30 Jahren (in denen sich der Uhrenmarkt in seiner heutigen Form konstituiert hat) immer mehr sogenannte virtuelle Fertigungskomponenten hinzu, die heutzutage unerlässlich sind, um eine Uhr am Markt erfolgreich platzieren zu können. Gemeint sind damit vor allem Themen, die unter den Oberbegriff „soziale Innovationen“ zu fassen sind. Damit sind zum Beispiel verschiedene Formen von Marketing gemeint, der Aufbau einer Marke sowie die Steuerung der Kundenwahrnehmung. Es ist jedoch wichtig, zu verstehen, dass dies genauso zum Produktionsprozess gehört wie die Produktion von Werken und Gehäusen – denn das Produkt Uhr vereint wie jedes Luxusgut neben physikalischen Komponenten als Unterscheidungsmerkmal zu regulären Gütern soziale Komponenten in sich, die unabdingbar sind, um den Wert bestimmen und letztendlich diese Produkte auch verkaufen zu können. Wer also eine Uhr kauft, der kauft letztendlich neben dem physikalischen Gut auch immer den aktuellen Stand der psychosozialen Positionierung der Marke sowie die damit verbundenen Implikationen für den Sekundärmarkt. Diesem Produktaspekt wird im zweiten Teil des Buches ausführlich Platz eingeräumt.

Ein weiteres Spannungsfeld im heutigen Uhrenprimärmarkt ist das zwischen Manufaktur und Massenproduktion: In der Wahrnehmung einer überwältigenden Mehrheit der Kunden (87 Prozent) werden Luxusuhren im Wesentlichen in Handarbeit hergestellt, was zentral zu dem mitverkauften Mythos Uhr beiträgt und für viele Käufer (79 Prozent) auch ein wichtiges Kaufargument ist.1 Dem steht meist die Realität diametral gegenüber – automatisierte Fertigung beherrscht bei einem Großteil der Luxushersteller den Produktionsprozess, die Fertigungssysteme sind stark ausdifferenziert und sowohl vertikal als auch horizontal diversifiziert. Diese Diversifizierung wird von Computersystemen dominiert, der Faktor Mensch tritt meist nur noch in der Endfertigung bei verschiedenen hoch spezialisierten Produktionsschritten in Erscheinung. Gleichzeitig ist der Faktor Mensch in der Uhrenindustrie zumindest derzeit noch nicht vollständig ersetzbar und trägt daher nach wie vor entscheidend zum Mythos Uhr bei, nur eben nicht in dem Ausmaß, wie es die Kunden glauben und das Marketing suggeriert. In wirtschaftlicher Konsequenz ist dies jedoch ein sehr wertvoller Widerspruch – denn gerade weil Uhren (auch Luxusuhren – die Produktionszahlen der Hersteller werden im zweiten Teil des Buches diskutiert) Massenprodukte mit Unikatcharakter sind, konnte sich überhaupt ein nennenswerter Sammlermarkt mit größerem Volumen entwickeln. So sind heute die begehrtesten Modelle und Marken auch die mit den größten beziehungsweise signifikanten Produktionszahlen.

Doch zunächst einen Schritt zurück: Wenn man die heutige Uhrenwelt verstehen möchte, ist deren Geschichte und damit auch die Geschichte der Innovation grundlegend. Die Innovationsmechanismen, die in der Uhrenindustrie entwickelt wurden, sind beispielhaft für alle Mechanismen in der Luxusgüterindustrie und daher mehr als nur einen Blick wert.

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ROLEX
Cosmograph, Paul Newman
Panda, Ref. 6263
Baujahr: 1971
Erzielter Preis / Jahr:
4.020.000 HKD / 2017

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Kapitel Zwei

Die Grundlagen der Uhrenindustrie

Wenn man sich in der Wirtschaftsgeschichte der letzten 400 Jahre das Innovationsaufkommen anschaut, wird man zu einer aus heutiger Sicht vielleicht überraschenden Entdeckung kommen: Ein heute im Allgemeinen (zu Unrecht) eher weniger für seine Innovationskraft als für seine Traditionsverbundenheit bekannter Industriezweig prägte die Entwicklung Europas und später auch der Welt wie kein anderer. Die Rede ist von der feinmechanischen Industrie, spezieller von deren spezifischer Ausprägung in der Uhrmacherei. Dies ist aber nur auf den ersten Blick überraschend – sobald man sich vergegenwärtigt, dass es abgesehen von der Waffenindustrie keine andere Industriesparte gibt, die über eine längere kontinuierliche Historie verfügt, und dass deren Produkte (nämlich Uhren und astronomische Gerätschaften) lange Zeit starke Innovationstreiber waren. Denn sie ermöglichten durch die vereinheitlichte und genaue Erfassung der Zeit die Synchronisierung des Zeitablaufs innerhalb von Handel, Produktion und Gesellschaft – eine der maßgeblichen Grundlagen unserer heutigen Wertschöpfungsprinzipien. Neben ihrer wirtschaftlichen Bedeutung waren präzise Zeitmesser auch im nautischen und militärischen Bereich von hoher Bedeutung. Sie ermöglichten Europa die Erforschung der Welt und legten auch in anderen Bereichen den Grundstein für die bis zum heutigen Tag anhaltende wirtschaftliche Stärke Europas.

Die Technologiegetriebenheit der Uhrenindustrie ist ein bis heute andauernder Prozess, der mit der Erfindung der ersten Uhren in der Renaissance seinen Anfang nahm. Diese aus heutiger Sicht überaus lange Zeitperiode birgt die Chance, Technologiediffusion und das damit verbundene Innovationsverhalten zu analysieren, deren grundlegende, bis in die Gegenwart unveränderte Prinzipien herauszuarbeiten und so ein tieferes Verständnis für Mechanismen zu erlangen, die in der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Gegenwart nach wie vor praktisch identisch ablaufen, jedoch von immer komplexeren Systemen überlagert werden – die Möglichkeiten, aus der Geschichte für die Zukunft zu lernen, sind evident.

Die technologische Entwicklung der Uhrenindustrie innerhalb des Maschinenbausektors ist neben sich parallel entwickelnden Wirtschafts- und Produktionsprinzipien die wesentlichste Grundlage der heutigen Wirtschaftsleistung – es gibt praktisch keinen Sektor oder keine Branche, die nicht von den gewaltigen Fortschritten und Weiterentwicklungen in diesem Bereich profitiert hätte. Auch wurden in den vergangenen zwei Jahrhunderten stetig die Grundlagen für vollkommen neue Industrien (wie die Elektroindustrie) geschaffen. Dadurch hat der Maschinenbau auch eine hohe industriepolitische Bedeutung, da er Kern- und strategischer Schlüsselfaktor der Gesamtindustrie aller industrialisierten Staaten ist. Dies gilt in Europa im besonderen Maße für die Schweiz und Deutschland; für beide exportorientierten Länder ist er die jeweils wichtigste Exportindustrie. Maschinen und Anlagen sind seit jeher die Grundlage der industriellen Investitionsentwicklung und deren Ausprägung im Innovationsverhalten: Beide stellen die Basis von grundlegenden und weiterführenden Prozessentwicklungen und darauf aufbauenden Innovationen in der gesamtindustriellen Produktion dar – dadurch bestimmen sie auch nachhaltig die Produktivitäts-, Qualitäts- und Kostenentwicklung aller anderen Industriezweige. Diese Aussage trifft insbesondere auf den Teilbereich des Werkzeugmaschinenbaus zu, der als Produzent von weiterführenden Komponenten und Investitionsgütern für alle verarbeitenden Industrien gilt. Werkzeugmaschinen schaffen dabei die Grundlagen für (industrielle und handwerkliche) Produkte, Produktinnovationen und Herstellungsverfahren.

An dieser Stelle rücken nun die Beiträge des Werkzeugmaschinenbaus und dessen entwickelte Produktionsverbesserungen für die Uhrenindustrie in den Fokus – zunächst die erste anteilige horizontale Arbeitsteilung2 in Form der spezialisierten Fertigung von einzelnen einfacheren Bauteilen (wie Zeiger, Zifferblätter oder Räder). Später wurden auch anspruchsvollere Komponenten (wie Spiralen oder Hemmungen) zugeliefert, wobei die Fertigung selbst individuellen Manufakturcharakter hatte. Dies sollte sich ab 1773 ändern, als durch George „Frédéric“ Louis Japy auch die vertikale Arbeitsteilung in Kombination mit der beginnenden Komponentenfertigung von Rohwerken3 Einzug hielt und die Fertigungsprinzipien nachhaltig veränderte: Von nun an wurden auf immer leistungsfähigeren und präziseren Werkzeugmaschinen immer komplexere Komponenten gefertigt, die anschließend modular zur fertigen Uhr integriert wurden – das bis heute maßgebliche Wertschöpfungssystem, das durch seine Skalen- und Netzwerkeffekte eine differenzierte Massenfertigung und somit die umfassende Verbreitung verschiedenster Uhrenarten erst ermöglichte. Neben den Fortschritten in der technischen Ausstattung der grundlegenden Werkzeugmaschinen ging aber der Trend gerade in der jüngsten Geschichte (neben der angestrebten Perfektion in der Massenfertigung) wieder in Richtung des vollintegrierten Manufakturgedankens mit möglichst hoher Eigenfertigungstiefe. In diesem breiten Spannungsfeld bewegt sich die Geschichte der Uhrenindustrie, eines Industriezweigs mit Pioniercharakter: Praktisch alle Fertigungs- und Innovationsprinzipien dieser Branche hatten mannigfaltige, starke Auswirkungen auf benachbarte industrielle Branchen.

Und auch die Uhrenindustrie selbst ist sowohl national in der Schweiz als auch international ein Schwergewicht: Mit einer Bruttowertschöpfung von rund 26,8 Milliarden USD im Jahr 2017 und einem Exportvolumen von 20,1 Milliarden USD im Jahr 20174 ist sie die drittgrößte Exportbranche der Schweiz (nach der chemischen Industrie und dem Maschinenbau) und als solche als eine der bedeutendsten Industrien der Schweiz einzuschätzen. Mit diesem Weltmarktvolumen ist die Schweiz noch vor Hongkong und China der mit Abstand wichtigste Akteur im Markt. Dies erklärt das überaus große Interesse der Schweiz an der Uhrenindustrie, die als nationales technologisches Kompetenzzentrum und als Vorzeigebranche für Produktivität und Innovationsführerschaft gilt.5

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ROLEX
Cosmograph, Daytona,
Ref. 6262
Baujahr: 1970
Erzielter Preis / Jahr:
435.000 CHF / 2019

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Kapitel Drei

Innovation und Uhr – ein kurzer Einblick in die Entwicklungsgeschichte der Uhr

Bevor die zentrale Frage nach dem Wesen der Innovation im Luxusgütermarkt im Allgemeinen und im Besonderen in der Uhrenbrache angegangen wird, möchte ich einen Überblick geben, was Uhren erfolgreich im Markt macht – sprich: was Uhren innovativ macht. Diese Muster leiten sich direkt aus den Erkenntnissen der später folgenden Abschnitte ab, werden aber vorangestellt, um das Thema griffiger zu machen und Gelegenheit zu geben, sich während des theoretischen Teils besser mit den Zielbildern auseinanderzusetzen.

Ganz einfach ausgedrückt: Jedes Produkt ist dann erfolgreich, wenn es einer Kundengruppe einen wahrnehmbaren Zusatznutzen zur Erreichung der eigenen Ziele bietet, der im Einklang mit den aufzuwendenden Mitteln steht, um dieses Produkt zu erlangen. Im Luxusgütersegment sieht der Nutzen natürlich etwas anders aus – es geht primär um einen sozialen Nutzen.

Das Produkt Uhr ist heute – wie jedes Luxusgut – ein Produkt der sozialen Differenzierung. Es geht darum, seinen persönlichen Wohlstand, seinen Geschmack und seine heute gar nicht hoch genug einzuschätzende Individualität über ein weit ausdifferenziertes Produkt der Massenproduktion auszudrücken. Was zunächst wie ein Widerspruch wirkt, muss dies allerdings nicht sein: Der Uhrenmarkt hat wie jede Sparte der Luxusgüterindustrie eigene Mechanismen entdeckt und entwickelt, um ein in sich stark standardisiertes Produkt immer weiter auszudifferenzieren und technologisch wie preislich zu unterscheiden. Die drei wesentlichen Themenkomplexe sind dabei heutzutage Designadaption, kreative Nutzerorientierung sowie die Nutzung neuer Technologien und Materialien.

Der letzte Themenkomplex leuchtet dabei intuitiv am einfachsten ein: In den letzten 500 Jahren Entwicklungsgeschichte der Uhrenindustrie sind immer wieder neue Materialien und neue Ideen zur Gestaltung des mechanischen Ablaufs eines Uhrwerks entwickelt und in erfolgreiche Produkte umgesetzt worden. Am Ende haben sich allerdings nur wenige technologische Funktionsprinzipien durchgesetzt, 98 Prozent aller Uhren gehorchen heute denselben technischen Grundprinzipien. Die heutige Differenzierung läuft dabei hauptsächlich über neue Gehäusematerialien mit besseren Nutzungseigenschaften, etwa der Verwendung von neuen Bauelementen in Uhrwerken zur Verlängerung von Servicezeiten oder der Ganggenauigkeitsverbesserung. Die funktionale Ebene der Uhr wird dabei eher nicht verändert – dieses Thema wird später noch ausführlich behandelt.

Kreative Nutzerorientierung hingegen tut genau dieses: Sie fügt mehr oder weniger neue Funktionen hinzu oder interpretiert bekannte Anzeigen neu. Dieser Themenkomplex ist technisch meist recht versiert, da er Neuentwicklungen mit beträchtlichem Aufwand umfasst. Auch komplett neue Anzeigesysteme oder die Rekombination von Komplikationen fallen in diesen Bereich – stets mit der gleichen Wirkung, dass sich die Uhr bereits auf den ersten Blick stark von anderen Modellen abhebt. Der langfristige Nutzen ist dabei schwer zu beurteilen. Häufig bleiben diese Entwicklungen Randerscheinungen, da sich das Bild einer Uhr bereits sehr im kulturellen Gedächtnis gefestigt hat.

Designadaption hingegen ist eine eher neuere Entwicklung der Luxusgüterindustrie und bezieht sich stark auf den historischen Kontext von Produkten vergangener Produktionen und Jahrzehnte und deren Neuinterpretation und Überführung in aktuelle Produkte. Dieser Prozess nimmt heute breiten Raum ein und viele Uhren in aktuellen Kollektionen beziehen sich auf historische Vorbilder, was Design, Funktion oder Produktanmutung anbelangt. Gleichzeitig hat dies natürlich auch signifikanten Einfluss auf den Sekundärmarktpreis der historisch adaptierten Uhren, was sich in steigender Begehrlichkeit sowie steigenden Preisen niederschlägt. Mehr dazu folgt im zweiten Teil des Buches. An dieser Stelle erscheint es zunächst einmal sinnvoll, sich damit zu beschäftigen, was Innovation und somit auch Markterfolg bei einem Luxusgut im Detail überhaupt ist – dies ist zentral für das Marktverständnis.

Exkurs: Was bedeutet Innovation?

In diesem Buch wird viel von Innovation als Grundlage zur Beurteilung der Werthaltigkeit von Uhren die Rede sein – um dies besser zu verstehen, ist es hilfreich, sich mit dem Wesen von Innovation zu befassen und was diese mit dem Objektwert zu tun hat.

Die Grundlage der Innovation im Allgemeinen ist stets die kreativ-schöpferische Idee, die in einer Invention (also Erfindung) eine konkrete, potenziell werthaltige Form und Ausgestaltung annimmt. Danach wird durch eine Technologie- oder Designkomponente die Invention in einem meist iterativen Entwicklungsprozess in ein marktfähiges Produkt (oder in eine Dienstleistung, davon soll hier aber nicht die Rede sein) transformiert, das anschließend durch die Akzeptanz am Markt zur Innovation wird. Es ist entscheidend, dass die Invention im Falle eines späteren Markterfolges ab dem Zeitpunkt ihrer Einführung und Umsetzung als Innovation bezeichnet werden kann – sie wird also situativ-historisch über den Markterfolg rückwirkend definiert und somit konstituiert. Die Wertposition einer Uhr bildet sich häufig ganz ähnlich heraus, wie man in Teil 2 des Buches sehen wird.

Für das Verständnis von Innovation bei Luxusgütern erweitert sich das Definitionsset der Innovation jenseits der Technizität zusätzlich um die ökonomische und soziokulturelle Komponente – wobei, wie wir sehen werden, hier eine starke gegenseitige Beeinflussung besteht.

Am Anfang jeder Innovation steht die Diffusion von Ideen aller Art (Inventionen oder Innovationen). Diese ist zunächst ein vollkommen natürlicher, automatisch ablaufender Vorgang, der stark dem menschlichen Bedürfnis nach Weiterentwicklung und Lernen unter sozialer Interaktion, dem Spieltrieb und nicht zuletzt auch dem Bedürfnis nach Transzendenz entgegenkommt. So ist bereits die Vor- und Frühgeschichte voll von Beispielen, wie sich zunächst Technologien und später auch Innovationen regional ausgebreitet haben (Technologien benötigen im Gegensatz zu Innovationen keinen funktionierenden Markt, wohingegen Innovationen durch diesen erst konstituiert werden).

Jedoch ist die Diffusion von Technologien und den sich daraus entwickelnden Innovationen in der Geschichte nicht hinreichend ohne eine umfassendere Sichtweise auf das Wesen der Innovation selbst zu verstehen. Die einfacher zu beschreibende und direkter auftretende Diffusion von Technologien im langfristigen Zeithorizont kann nämlich nur dann erfolgreich sein, wenn eine parallele Diffusion einer nachgelagerten Innovation stattfindet, die den wirtschaftlichen Erfolg einer Technologie begründet.

Aufbauend auf der situativen histozentrierten Konstitution von Innovation und deren nachfolgender Werthaltigkeit ist es entscheidend, die oft sehr begrenzte Sichtweise von Innovation6 auf eine breitere Basis zu stellen, da gerade für langfristige Innovationsphasen (und die anhaltende Adoption von Technologien, wie sie in der Uhrenindustrie häufig vorkommt) Aspekte jenseits der wissenschaftlich gut verankerten Technizität eine Rolle spielen. Dazu wurde ein stärker auf den Meta-Dimensionen der Innovation beruhendes Modell entwickelt und genutzt – das holistische Innovationsmodell.

Abbildung 1: Das holistische Innovationsmodell

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Quelle: Eigene Darstellung

Wie in der neueren Innovationsforschung bereits öfter aufgegriffen,7 spielt eine sowohl individuell als auch kollektiv wahrgenommene Ästhetik in vielen Fällen eine zentrale Rolle für erfolgreiche Innovationen. Der Begriff der Ästhetik splittet sich für die Begriffswelt der Luxusgüterindustrie in die Aspekte der individuellen Emotionalität eines Produkts und der sozialen Bedeutung oder Interaktion eines Produkts im gesellschaftlichen Kontext.8 Im ersten Fall ist das Design das entscheidende Trägermedium, das über die technischen oder funktionalen Eigenschaften eines Produkts hinaus Sinn oder Sinnlichkeit vermittelt und dem Besitzer beziehungsweise Eigentümer oder dessen sozialem Umfeld gerade durch seine spezifische Gestaltung abstrakte Eigenschaften wie Schönheit, Eleganz, Kreativität oder Hochwertigkeit signalisiert.9 Gerade in den untersuchten Fällen der Uhrenindustrie und ihren Innovations- und Technologietransferprozessen gelingt eine Erklärung meist nur unter Berücksichtigung der ästhetischen Dimension der Innovation, welche die individuelle Produktinnovation (sprich den unmittelbaren Nutzen des Produkts durch seine Gestaltung) und die kollektive Dimension der Positions- und Paradigmeninnovation – die beiden wichtigsten Dimensionen für die soziale Konstitution von Innovation – umfasst.10 Der das Modell komplettierende Begriff der Technizität hingegen spiegelt den ursprünglich verwendeten Ansatz von Innovation wider, der vom Konzept her auf die technologiebasierten Elemente von Innovation setzt, sich stark auf die individuell-technische Produktdimension (Nutzen durch Technik in der Verwendung) und die eher kollektivbezogene Prozessdimension (Fertigung eines Produkts und dessen Auswirkungen auf den Kunden) konzentriert und so den Innovationscharakter für ein Produkt bestimmt. In Summe ist es wichtig, zu betonen, dass Innovation und der daraus geschaffene resultierende Wert nur dann wirklich verstanden werden können, wenn sie neben ihrem technologischen Aspekt, der meistens relativ klar umrissen werden kann, auch auf ihre „weichen“ Faktoren der Ästhetik hin untersucht werden. Gerade hier liegen für eine Branche wie die Uhrenindustrie, in der die Differenzierung ihrer Produkte weit ausgedehnt wurde, das mitunter größte Innovationspotenzial und dementsprechend auch die entscheidenden Wertkomponenten und der daraus resultierende zukünftige Wert eines Objekts (hier einer Uhr).

Wert und Innovationsdiffusion: Ein Framework zur historisch-prozessbasierten Analyse und Bewertung

Wenn man von durch Innovation erzeugter Wertigkeit spricht, ist es ebenfalls wichtig, zu verstehen, wie sich diese Innovation ausbreitet und was diese Ausbreitung fördert (Exzitation) oder hemmt (Inhibition). Um im weiteren Verlauf die Determinanten verschiedener Innovationen und deren Diffusionsprozesse vergleichbar machen und in ihrer Aussage in einen wertbezogenen Kontext überführen zu können, wird ein eigenes Diffusionsmodell genutzt, das sich genau auf die Spezifika von Innovationsdiffusion bei Luxusgütern konzentriert, ohne sich von den qualitativen Gegebenheiten der unternehmerischen Praxis der Luxusgüterindustrie zu entfernen. Im Kern konzentriert es sich dabei auf die Bewertung von drei Faktorgruppen, die den Diffusionsprozess von Innovationen in seiner Ausrichtung beeinflussen. Dabei wird zunächst zwischen Exzitationsfaktoren und Inhibitionsfaktoren unterschieden. Die die Innovation unterstützenden Exzitationsfaktoren unterteilen sich wiederum in die Prädispositionsfaktoren der Kundenbedürfnisse und der Kundennachfrage (Was muss gegeben sein, damit Innovationen sich überhaupt ausbreiten können?) sowie die Initiierungsfaktoren der Produktionsprinzipien und der Ubiquität (Unter welchen Bedingungen breitet sich die Innovation besonders erfolgreich aus?). Die Inhibitionsfaktoren bestehen aus den Faktoren Regulierung und Spezifität und hemmen die Ausbreitung.

Diese Faktoren beeinflussen jede Innovation kontinuierlich in ihrer Ausrichtung und Verbreitung bis hin zum Abbruch eines Diffusionsprozesses (in diesem Fall wäre es keine sonderlich werthaltige Innovation) oder dessen Übergang in eine am Markt etablierte Innovation (in diesem Fall kann von einer erfolgreichen Innovationsdiffusion gesprochen werden).

In diesem Modell sind die Prädispositionsfaktoren die erste Hürde. Sie müssen für eine Innovation sowie für einen erfolgreichen Diffusionsprozess ebendieser positiv ausgeprägt sein. Diese Faktoren beinhalten primär Aspekte, die die grundsätzliche Marktbefähigung einer (innovativen) Technologie oder Ästhetik ermöglichen – ohne diese Befähigung wäre jede Innovationsdiffusion bereits im Frühstadium zum Abbruch verdammt, da die Anreize für eine Übernahme mangels attraktiver ökonomischer Anwendungsmöglichkeiten nicht gegeben wären. Der Kristallisationspunkt ist dabei die ökonomische Relevanz und somit auch die Rechtfertigung zur Übernahme und Anwendung einer spezifischen Technologie oder Ästhetik – diese ökonomische Relevanz setzt (meist) implizite Kundenbedürfnisse und die damit verbundene grundsätzliche Nachfrage- und Zahlungsbereitschaft voraus. Hier setzen die relativen Wettbewerbsvorteile einer Technologie oder Ästhetik ein: Je höher die zukünftige Kundenrelevanz eingeschätzt wird, desto besser sind die Voraussetzungen für eine positive, das heißt unterstützende Ausprägung der Prädisposition. Auch haben einige Technologien und Ästhetiken diesbezüglich das Potenzial, sich schneller zu verbreiten, da sie mit aktuellen Wertschöpfungsstrategien (zum Beispiel dem Differenzierungspotenzial ästhetischer Innovationen) assoziiert werden. Ein weiterer Faktor ist die prinzipielle Transferierbarkeit einer Technologie oder Ästhetik: Sie darf in ihrem Wesen oder ihren (Anwendungs-)Voraussetzungen nicht einzigartig sein. Diese Einzigartigkeit wird bei näherer Betrachtung jedoch stets graduell sein, da neben den rein technischen Aspekten auch Substitutions- und Komplementärtechnologien im Rahmen einer wettbewerbstheoretischen Betrachtung zu berücksichtigen sind. Im unmittelbaren Kontext stehen die Anwendungsvoraussetzungen, die einen signifikanten Einfluss auf die Diffusionsrate und -geschwindigkeit haben. Je höher die Barrieren sind, desto langsamer und komplizierter wird der Diffusionsprozess – bis hin zu dessen Abbruch. In diesem Zusammenhang spielen auch (temporäre) Meinungsführer im übergeordneten relevanten Diskurs eine große Rolle, denn diese reduzieren die subjektive Unsicherheit im Diffusionsprozess durch die Generierung, Bewertung oder Verbreitung relevanter Informationen zu den Prädispositionsfaktoren.

Die Initiierungsfaktoren gehen einen Schritt weiter, indem sie sich auf den tatsächlichen, praktischen Technologietransfer fokussieren – sprich auf den Prozess der Adoption. Der erste Initiierungsfaktor ist dabei die situative Passung der Produktionsprinzipien einer Innovation beziehungsweise ihrer technologiebasierten Komponenten. Eine erfolgreiche Diffusion wird dadurch gestartet, dass sie jeweils auf das spezifische, individuelle Produktionsumfeld hin abgestimmt ist und somit die produktionsrelevanten, praktischen Voraussetzungen erfüllt werden, um eine Technologie überhaupt wertstiftend nutzen zu können. Zudem muss die Position und Ausrichtung der Wertschöpfung selbst zu gewählten Technologien und deren Rolle im Transformationsprozess der Produktion stimmig sein. Der Einsatz von Technologien, die dem Wertschöpfungsniveau nicht angepasst sind, kann zwar im Interim zwischen zwei Produktionsstufen zu einer erfolgreichen Diffusion führen, sich jedoch nicht als dauerhaft ökonomisch tragfähig erweisen. Mit dem zweiten Initiierungsfaktor, der Ubiquität einer Innovation, wird schließlich die Vielseitigkeit und das Einsatzspektrum einer Technologie oder Ästhetik und somit auch die potenzielle Wertschöpfungsbreite einer Innovation einbezogen. Die Vielseitigkeit einer Innovation hat entscheidenden Einfluss auf die Diffusion der zugrunde liegenden Technologien oder Ästhetik, da hier Anknüpfungspunkte zu anderen Technologien oder Produkten geschaffen und die kognitive Anschlussfähigkeit des Marktes sichergestellt werden. Wenn diese Faktoren gegeben sind, steigt das Nutzungs- und Wertschöpfungsspektrum einer Technologie oder einer Ästhetik, auf welche positive Prädispositionsfaktoren zutreffen, derart an, dass der gesamte Diffusionsprozess gerade auch über eine erleichterte Adoption stark beschleunigt wird – mit der Konsequenz, dass hier eine Technologie als Schlüsseltechnologie einzustufen ist und je nach ihrer Transferierbarkeit in einen „State of the Art“-Zustand übergehen kann. Darüber hinaus bedeutet Ubiquität in diesem Zusammenhang aber auch die graduelle Unabhängigkeit einer Innovation von gegenwärtigen soziokulturellen und soziotechnischen Gegebenheiten und den damit verbundenen Normen und Regeln. Daraus resultiert zum einen ein potenziell sehr langer Nutzungszeitraum einer Innovation, zum anderen werden Mechanismen des Innovationswissenstransfers und des Adoptionsprozesses dahingehend verändert, dass diese tendenziell komplexer und langfristiger werden, was wiederum Auswirkungen auf die Wertschöpfung der Innovation hat. Zusammenfassend sind die beschriebenen Exzitationsfaktoren ein aufeinander aufbauendes Geflecht aus Voraussetzungen und Beschleunigern des Diffusionsprozesses von Technologien und Ästhetik, die eine Innovation begründen und diese näher analysieren und bewerten lassen.

Zusätzlich zu den Exzitationsfaktoren wirken noch zwei Inhibitionsfaktoren auf den Diffusionsprozess und schwächen ihn in seiner mittelbaren und unmittelbaren Wirkung meist ab. Dazu zählen zunächst Faktoren der Regulierung. Hierunter fallen alle Aspekte von gesetzlichen oder gesellschaftlichen Normen und Regeln, mit Technologien und Innovationen interagierende soziale Netzwerke und Organisationen sowie individuelle Verhaltensmuster oder Nutzungsgewohnheiten. Das Spektrum des Einflusses von Regulierung ist überaus breit und vielschichtig und muss jeweils im konkret untersuchten Fall betrachtet werden. Grundsätzlich aber hat eine Regulierung die größten Auswirkungen auf die Prädispositionsfaktoren und beeinflusst diese von gering bis umfassend (zum Beispiel können einzelne Kundenbedürfnisse gesellschaftlich verpönt beziehungsweise verboten oder die Transferierbarkeit von Technologien aufgrund von existierenden Patenten eingeschränkt sein). Der andere Inhibitionsfaktor ist die Spezifität einer Technologie oder Innovation. Die Spezifität ist sozusagen das hemmende Pendant zur Ubiquität und beschreibt die Verflechtung der Entwicklungs- oder Anwendungsgrundlagen mit anderen Technologien, sozialen Faktoren oder ökonomischen Gegebenheiten. Hierdurch können Innovationen trotz hoch ausgeprägter Ubiquität in ihrer Verbreitung gehemmt werden, da sie aufgrund ihrer Spezifität derart komplexe Entwicklungs- oder Anwendungsbedingungen haben, dass für die Diffusion zunächst hohe Barrieren zu überwinden sind. Auch für die Spezifität gilt, dass sie fallspezifisch betrachtet werden muss, da situative Gegebenheiten wie das technologische Umfeld, die Wertschöpfungsprinzipien und die Marktgegebenheiten wichtige Betrachtungsfelder sind.

Um dazu ein konkretes Beispiel zu nennen: Der anhaltende Markterfolg sportlicher Edelstahluhren wie der Nautilus von Patek Philippe oder der Royal Oak von Audemars Piguet basiert mitunter genau auf diesen hierbei positiv ausgeprägten Exzitationsfaktoren: Es gab ein verstecktes Kundenbedürfnis nach einer neuen Klasse von Uhren jenseits der klassischen, runden Golduhr und den bereits etablierten Funktionsuhren wie den Taucheruhren von Rolex. Gleichzeitig konnte die spezifische Ästhetik der Marken gut auf die neuen Modelllinien übertragen werden. In der Initiierung waren zum einen die damaligen Fertigungstechnologien zum ersten Mal in der Lage, flache und robuste Edelstahluhren herzustellen. Und die entwickelte Ästhetik hat sich als sehr ubiquitär erwiesen. Sie war von Anfang an kulturell gut eingebettet und ließ sich beständig weiterentwickeln und in neue Modelle übersetzen. Die Inhibitionsfaktoren des Marktumfelds waren gering: im Markt gab es anfangs gewisse Widerstände gegen eine sportliche Stahluhr im Preisbereich einer klassischen Golduhr und die Größe der Uhr brauchte ebenfalls etwas Zeit, um akzeptiert zu werden. Die Spezifität war wenig ausgeprägt. All diese Faktoren haben letztendlich dazu geführt, dass sich diese Innovation sehr gut im Markt ausbreiten konnte und durch den Erfolg dort langfristig werthaltig wachsen konnte – das Prinzip dieser frühen Sport-Stahluhren wurde später praktisch von jeder Marke aufgegriffen, was den Wert der ursprünglichen Modelle weiter in die Höhe getrieben hat.

Ein gegenläufiges Beispiel ist die Entwicklung der eigenen Quarzuhren der Schweizer Uhrenindustrie (Beta-1 und Beta-2). Die 1967 entwickelten ersten Quarzuhren haben zwar den Sprung in ein Serienprodukt (Beta 21) geschafft, es wurden aber über alle Marken hinweg lediglich circa 6.000 Werke verbaut, welche sich am Markt nie sonderlich relevant entwickelten. Die Innovationsdiffusion war bereits durch nur schwach ausgeprägte Exzitationsfaktoren erschwert: Die Kundennachfrage war nicht ausgeprägt, die Technologie damals schwer nutzbar und fehleranfällig. Zudem waren die ästhetischen Gestaltungsspielräume gering, die Uhren waren für die damalige Zeit zu klobig und zu schwer. Dieses Bild wurde von stark ausgeprägten Inhibitionsfaktoren noch unterstützt: Viele Regularien die neue Technologie betreffend waren anfangs unklar, die Technologie war relativ spezifisch und schwer zu beherrschen. Dies hat zu einer wenig erfolgreichen Innovation geführt, die sich nie in der Uhrenindustrie und am Markt großflächig ausbreiten konnte – erst ein verändertes Set an Faktoren hat später die Situation geändert, nachdem Japan hier die technologische Entwicklung vorangetrieben hatte und eine hohe Marktakzeptanz aufbauen konnte. Auch aus heutiger Investmentsicht sind diese frühen Beta-21-Uhren zwar nicht uninteressant, konnten aber in der Wertentwicklung nicht mit mechanischen Modellen mithalten. Sie sind zwar rar und haben eine heute attraktiver wirkende Ästhetik, aber ihnen fehlt der historische Markterfolg, der erfolgreiche Investmentuhren mit konstituiert.

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