Über das Buch

Ein mitreißender Roman über eine Flugpionierin im Berlin der wilden zwanziger Jahre: Als der Arzt Nelly B. eröffnet, dass sie wegen eines Herzleidens nicht mehr fliegen darf, bricht für sie eine Welt zusammen. Als erste Frau in Deutschland hat sie den Pilotenschein gemacht und mit ihrem Mann eine Flugschule geleitet. Sie verlässt Paul, findet eine Stelle bei BMW, wo sie Motorräder verkauft, nimmt Quartier bei einer Berliner Zimmerwirtin und trifft die viel jüngere Irma, in die sie sich rettungslos verliebt. Aris Fioretos erzählt die Geschichte einer modernen, emanzipierten Frau und einer großen, tragischen Liebe. Aus einem aufregenden Leben wird große Literatur.

Aris Fioretos

Nelly B.s Herz

Roman

Aus dem Schwedischen von Paul Berf

Carl Hanser Verlag

Du hast ein Herz im Körper. Ist es ein Element der Form oder ein Element des Gefühls?

Henry James

1.

»Ein Mensch kann auf einen Lungenflügel und eine Niere verzichten. Ein Teil der Leber lässt sich durch einen chirurgischen Eingriff entfernen, manche sind mit dem halben Magen ausgekommen.« Erwin Rosenblatt wusch sich die Hände am Becken. »Ein Organ ist jedoch unverzichtbar, Nelly. Entweder es funktioniert oder nicht.« Ich könne meine Bluse zuknöpfen, die Untersuchung sei beendet. Er setzte sich an den Schreibtisch, schlug mit dem Stift gegen seine Zähne. Das Sonnenlicht fiel wie goldener Puder auf die Instrumente, unter anderem das Sphygmomanometer, das er um meinen Arm geschlungen hatte. »Alles deutet auf eine Kardiomyopathie hin.«

Bei den Flügen des letzten Jahres war mir häufig schwindlig geworden. Ich glaubte, es läge am Schlafmangel, da wir uns ständig stritten und ich selten mehr als ein paar Stunden ungestört schlief. Doch als sich eines Tages der Werkstattboden in Wasser verwandelte und alles zu fließen begann, zwang mein Mann mich, einen Arzt aufzusuchen. Zunächst ging ich zu Cassirer, der mir im Krieg bei meinen Problemen mit den Nerven geholfen hatte. Er meinte, es handele sich um die alten Spannungen und dass ich endlich etwas dagegen tun müsse; dem Doktor zufolge, den ich danach um Rat fragte, litt ich an zu niedrigem Blutdruck. Schließlich bekam ich einen Termin bei Rosenblatt, einem Spezialisten. Er war in dieselbe Klasse gegangen wie mein Stiefbruder Eduard und empfing mich im Miséricorde.

»Kardio-was?«

»Myopathie.« Rosenblatt legte eine haarige Hand auf die Brust. »Hypertrophe Kardiomyopathie, um genau zu sein. Die Wände verdicken sich, das Blut wird immer schlechter mit Sauerstoff versorgt. Am Ende fehlt dem Herzen die Kraft.«

Möglicherweise litte ich an einer angeborenen Fehlbildung. Das würde den niedrigen Blutdruck erklären, der nicht lebensbedrohlich sein müsse. Häufig reichten Ruhe, Gymnastik, gesunde Ernährung — solche Dinge. Wenn die Nervosität jedoch in Schwindel übergehe und das Gleichgewicht, die Balance, beeinflusst werde wie jetzt, sei Vorsicht geboten.

»Habt ihr Kinder? Nein? Manchmal werden sie mit bläulicher Haut geboren. Die Franzosen sprechen von la maladie bleue.« Rosenblatt sah Paul an, als verstünde mein Mann ihn besser, weil er aus Marseille stammt. »Der Hämoglobinmangel verfärbt die Haut. Wenngleich Zyanose auch bei Erwachsenen vorkommt. Häufigste Ursache ist Unterkühlung, ›Spannungen‹ tragen dazu bei …« Er schrieb mit zwei Paar Fingern Anführungszeichen in die Luft und erkundigte sich, ob mein Nervenarzt noch mehr gesagt habe. Ich hatte keine Lust, die Tintenkleckse zu erwähnen, die Cassirer mir regelmäßig gezeigt hatte, oder das, was er Inklinationen nannte, also schwieg ich.

Rosenblatt öffnete und schloss, öffnete und schloss die Faust. »Wir haben es mit einem Muskel zu tun. Die Verdickung der Herzwände verursacht Atemnot, außerdem können Arhythmien auftreten. Deshalb spreche ich von einem verzerrten Herzen — oder cœur distordu, vornehm ausgedrückt.« Er lächelte. Vermutlich wäre ich nicht ohnmächtig geworden, meinte er, wenn ich an einem anderen Ort als Johannisthal arbeitete. Aber in Kombination mit meiner Natur verschlimmere sich mein Zustand in dünnen Luftschichten. In Zukunft wäre es klug, große Höhen zu meiden.

Ich schüttelte die Hand ab, die Paul auf meinen Arm legte.

»Keine geschwollenen Füße? Gut. Aber Gleichgewichtsstörungen? Und diffuse Schmerzen? Ich verstehe.« Als mein Mann die Tropfen erwähnte, die Cassirer mir nach dem Absturz verschrieben und die ich seither von Zeit zu Zeit genommen hatte, brummte Rosenblatt. Es war ihm anzumerken, dass er zögerte. Schließlich suchte er einen Rezeptblock heraus. »Bleib auf der Erde, Nelly. Sonst fällst du früher oder später vom Himmel.« Als ich nichts erwiderte, füllte er das Rezept für das Medikament aus und wandte sich erneut an Paul. »Wenn die Spannungen schlimmer werden« — diesmal keine Finger in der Luft —, »kann sie ein paar Tropfen davon nehmen. Aber Achtung: Man verfällt ihnen allzu leicht.«

Er schob mir das Rezept sowie linierte Papierbögen zu, die Notenblättern ähnelten. Ich fühlte mich wie ein Gegenstand. »Das ist ein Pulsprotokoll. Indem du deine Werte einträgst, verschaffen wir uns einen Überblick. Sollte die Kurve die Linie hier oder hier überschreiten, besteht das Risiko einer Distorsion. Kommt das häufiger vor, müssen wir ein EKG machen.« Er lehnte sich zurück, wieder schlug er mit dem Stift gegen seine Zähne. »Und Eduard ist jetzt mit Pussi Uhl liiert? Wer hätte das von deinem Bruder gedacht?«

2.

Nachdem wir das Medikament in der Apotheke im Hauptgebäude abgeholt hatten, promenierten wir durch den Krankenhauspark. Ich ging schnell und merkte nicht, dass Paul sich auf eine Bank sinken ließ. Als ich mich umdrehte, strich er mit der Hand über die Sitzfläche, aber ich wollte nicht umkehren. Die Haut war heiß, der Nacken steif, das Herz leer und doch übervoll. Als mein Gatte mich eingeholt hatte, schlug er vor, Spezialisten in Frankreich zu konsultieren; Kardiologen gebe es auch dort. Ich schüttelte den Kopf. Nicht noch mehr Ärzte. Wenn Rosenblatt mir den Rat gab aufzuhören, hatte er dafür gute Gründe. Paul kaute auf seinem Schnäuzer, wie er es immer tut, wenn er unsicher ist. Schließlich murmelte er, mein Fachwissen werde auch im Hangar benötigt. Erneut schüttelte ich den Kopf. Zwölf Jahre war Johannisthal mein Leben gewesen. Ein Dasein ohne Himmel und Benzindünste hatte ich mir nicht vorstellen können. Wenn ich gezwungen war, auf der Erde zu bleiben, wollte ich den Flugplatz lieber ganz verlassen. Im Übrigen würden sich die Spannungen mit Medikamenten beseitigen lassen, unsere Streitigkeiten aber wohl kaum.

»Wollen wir dann die Flucht nach vorn antreten?« Mein Mann lächelte gequält.

Um die Flugschule zu retten, hatten wir eine Weltreise erwogen. Sie sollte unsere Flucht nach vorn sein. Paul hatte mit einer Filmgesellschaft gesprochen, die unsere Reise dokumentieren wollte. Mit den Einnahmen könnten wir unsere Schulden zurückzahlen und wieder auf die Beine kommen. Ich persönlich glaubte nicht, dass das Geld ausreichen würde, aber nach dem Besuch bei Rosenblatt fand er unsere Ehe wichtiger als meine Gesundheit. In der Maschine, die wir kürzlich umgebaut hatten, saß man Seite an Seite, falls mir schwindlig werden sollte, versprach er zu übernehmen. Niemand könne sagen, wie das Leben in neun Monaten aussehen würde. Oder zwölf. Vielleicht blieben wir im Ausland, eröffneten eine Schule in den Tropen.

Es fiel mir immer schwerer, mich zu konzentrieren. Meine Haut kribbelte, mein Kopf brannte. Erst als Paul mir unter den Arm griff, merkte ich, dass ich wimmerte.

»Nelly, du machst mir Angst.«

3.

Wir hatten die Flugschule 1912 eröffnet. Im gleichen Frühjahr erwarb mein Mann seine Lizenz. Anfangs lief alles gut, nur drei Jahre später mussten wir den Unterricht jedoch einstellen. Bei unserer Hochzeit hatte ich seine Staatsbürgerschaft angenommen. Als der Krieg ausbrach, erhielt er Flugverbot, später auch ich. Eine Zeitlang schlugen wir uns durch, aber ohne Genehmigung war es schwierig, den Betrieb aufrechtzuerhalten. Im zweiten Kriegswinter requirierte das Militär die Flugzeuge, ebenso Werkzeug und Material. Paul wurde in Holzminden interniert. Die fehlenden Einkünfte zwangen uns, die große Wohnung mit den hellen Zimmern und den langen Fluren aufzugeben. Wir verkauften sein Motorrad, meine Teppiche und unseren Kronleuchter, später auch den Flügel, der ihm so viel bedeutete, und zum Schluss Vaters monogrammiertes Silber. 1917 wurde er nach Wittstock verlegt, wo wir nach einer gewissen Zeit bei einer Bauernfamilie einzogen und er an Tuberkulose erkrankte. Ich bin mir sicher, dass er sich bei der Tochter auf dem Hof angesteckt hat, einem hageren Mädchen mit Warzen an den Händen. Alles war schlechte Gesundheit und Müdigkeit. Im Nachhinein erscheint es mir wie ein Wunder, dass wir erst anfingen, uns zu streiten, als er genesen war.

Der Frieden kam, trotzdem dauerte es Jahre, bis wir unser beschlagnahmtes Eigentum zurückerhielten — und dann auch nur zwei unserer Flugzeuge. Das eine verkauften wir, um uns das Auto leisten zu können, das die Schule nach Pauls Ansicht benötigte, einen himmelblauen Duesenberg mit einem soliden Achtzylindermotor und oben liegender Nockenwelle. Mittlerweile stritten wir uns ständig. Der Betrieb trug sich nicht, die Schulden wuchsen, die Klage auf Schadenersatz wurde in Deutschland abgewiesen. So entstand der Gedanke an eine Flucht nach vorn. Neue Medien und moderne Beförderungsmittel hatten das Interesse an fremden Kulturen verstärkt. Unser Film sollte eine Perspektive eröffnen, wie sie das Publikum nie zuvor erlebt hatte. Der Arbeitstitel lautete Ein Paar in der Luft.

Als wir von Rosenblatt heimkamen, setzte mein Mann sich an den Esstisch der Wohnung, die wir halb möbliert gemietet hatten und die nach dem Fisch stank, den der Vermieter eine Etage unter uns verkaufte. Er wollte alles noch einmal durchrechnen. Die Zahl der Tage und die Menge Benzin für einzelne Strecken. Zeit für Ruhephasen und Wartung. Ausgaben für Lebensunterhalt und Transport. Längere Etappen über Gewässer, Berge und Wüsten würden wir mit Schiff oder Zug zurücklegen, eventuell auch zu Pferd, das Flugzeug sollte in Kisten verpackt werden. Darüber hinaus mussten wir ein abnehmbares Gestell bauen, mit dessen Hilfe es möglich war zu filmen, ohne dass man es sah, wenn die Maschine in der Totale gezeigt wurde. Es waren Mittel für Visa und Bestechungsgelder für den Zutritt zu fremden Heiligtümern erforderlich. Der Film sollte nicht nur unsere Abenteuer im Äther schildern, sondern auch »ungeahnte Lebensweisen«, wie die Annoncen-Agentur, mit der Paul gesprochen hatte, es in ihrem Werbebrief ausdrückte.

Als er alles zusammenzählte, waren wir bei einer Fantasiesumme angelangt. Dabei hatten wir noch keinen Gewinn gemacht, sondern lediglich die notwendigen Ausgaben abgedeckt. Was mich betraf, war die Sache damit entschieden. Selbst wenn wir das Auto verkauften, würden sich unsere Schulden nicht nennenswert verringern. Im Gegenteil, wir würden gezwungen sein, die Reise durch einen Vorschuss der Anwaltskanzlei zu finanzieren, die wir beauftragt hatten, den Prozess in Frankreich weiterzuführen. Besser, man sah es ein: Die Schule musste schließen.

»Das Fliegen tut not, das Leben tut nicht not.« Mein Mann lächelte, so dass seine Zähne zu sehen waren. Er wusste, was Pietschkers Worte mir bedeuteten. Ich nickte verbissen. Seltsamerweise war seine Bereitschaft, meine Gesundheit zu riskieren, ein Beweis dafür, wie gern er mich hatte. Laut Plan solle die Reise ein knappes Jahr dauern, sie werde durch etwa zwanzig Länder und sämtliche Klimazonen führen. Was hindere uns daran, von Zeit zu Zeit Leute gegen Bezahlung zu fliegen oder einen lokalen Transport von Gütern anzubieten? Im Übrigen sei er sicher, der Tapetenwechsel werde mir guttun. Er persönlich freue sich auf arabische Dörfer aus gebrannten Ziegeln und verspreche, dass mir die Lotusplantagen in Indochina gefallen würden, die er schon als Kind bewundert hatte.

Aber wir bekamen das Kapital nicht zusammen. Ein paar frühere Geschäftsfreunde meines Vaters steuerten kleinere Beträge bei, ansonsten wollte niemand in das Projekt investieren. Drei unseriöse Antworten auf unsere Annoncen in der Presse, das war alles. Die Mittel reichten gerade einmal für die Probeaufnahmen. Und neue Overalls.

Als die Filmgesellschaft einige Wochen nach dem Besuch bei Rosenblatt eintraf, an einem windigen Donnerstag im Juli vergangenen Jahres, erklärte ich, unser umgebautes Flugzeug müsse im Hangar bleiben. Der Wind sei voller Staub und Pollen, ein Unwetter liege in der Luft. Außerdem hätten wir die Tragflächenbespannung noch nicht fertig lackiert. Ich rollte Pläne aus, die zeigten, wie wir das Problem mit den Führersitzen gelöst hatten. Die neue Konstruktion werde das Publikum sicher interessieren. Wie immer, wenn Paul merkte, dass ich angespannt war, senkte er die Stimme. Frau Becker habe recht. Die Wolken heute seien tückisch, die Maschine könne zu Schaden kommen. Der Wetterbericht verspreche für das Wochenende klaren Himmel. Warum nicht warten?

Der Regisseur wollte jedoch nicht auf uns hören. Stattdessen wurden wir angewiesen, die Maschine aus dem Hangar zu rollen und uns so zu drehen, dass unser Firmenabzeichen auf den Overalls erkennbar war — zwei spiegelverkehrte Bs bildeten eine Kreuzung aus Schmetterling und Flugzeug. Der Kragen scheuerte; am liebsten wäre ich zu den Plänen zurückgekehrt. Aber das Publikum sollte das Ehepaar Becker-Boulard sehen, das Arbeit und Liebe teilte. Also wurde mein Mann gebeten, zum Himmel aufzublicken und die Wolken für mich zu deuten. Auf Motorteile zu zeigen und ihre Funktion zu erläutern. Die Propeller zu drehen und Spanndrähte zu testen, während ich die Zylinder mit Putzwolle polierte.

Damit das klar ist: Tätigkeiten dieser Art gehören auf einem Flugplatz zum Alltag, ich habe nichts gegen sie. Doch das Geld reichte nur für zwei Drehtage. Wenn wir den Rohfilm nicht rationierten, würde er uns ausgehen, ehe wir dazu kamen, die Maschine aufsteigen und mich zeigen zu lassen, was sie konnte.

Als die Szene endlich im Kasten war, sollte ich mich auf dem Rand des Tandemsitzes niederlassen, die Kappe aufgeknöpft und die Zigarette im Mund, während Paul sie anzündete und mir etwas Wichtiges auf der Karte zeigte. Er merkte, dass ich kribbelig wurde. »Halte die Form, Cornelia.« Ich fauchte, dass ich nicht so viele Jahre Sabotage ertragen hätte, um als schmückendes Beiwerk in einem Film zu enden. Wusste der Regisseur, dass ich drei Patente besaß? Und die meisten Flugstunden von uns beiden vorzuweisen hatte? Ich hatte nichts dagegen, als Ehefrau aufzutreten, warum auch, aber unsere Duoplace war ebenso mein Werk wie das von Paul.

Die Leute von Propps Annoncen-Agentur, die vorhatten, die Probeaufnahmen für ihre Werbekampagne zu nutzen, blieben im Hintergrund. Erst als ich die Kappe herunterriss und hineinging, begannen sie zu tuscheln. Gewitter ballte sich in meiner Brust.

4.

Hier folgen die wichtigsten Informationen über meinen Kameraden und Kollegen für zwölf Jahre. Es ist gut, wenn Fakten bekannt werden, bevor das Bild von Dingen gefärbt wird, auf die er keinen Einfluss hat.

VORNAME: Jean Paul — der erste nach seinem Vater, der mit Seifen und exotischen Tinkturen handelte, der zweite nach seinem Großvater, der in den Kolonien Land bestellte und am asiatischen Fleckfieber starb.

NACHNAME: Boulard.

GEBOREN: 8. Juli 1882 in Marseille.

BERUF: Diplomingenieur, Flugzeugkonstrukteur, zertifizierter Pilot (Prüfung am 4. April 1912). Teilhaber der Flugschule Becker-Boulard GmbH am Alten Flugplatz in Johannisthal. Inzwischen Taxifahrer.

KENNZEICHEN: Überdurchschnittlich groß; schmale Hüften; kräftiger Knochenbau. Markante Nase. Und, wie erwähnt, Schnäuzer. Große Hände, mit denen er vor dem Start ein »kosmisches« Zeichen macht. Fünf verheilte Knochenbrüche.

SONSTIGES: Neigt dazu, dem Motor beim Aufsteigen zu viel Treibstoff zuzuführen, landet aber stets sanft. Asthmatiker, dennoch Kettenraucher; ausgeglichen wie ein Ballen Heu; spiritistische Interessen. Trägt eine Nagelfeile im Portemonnaie. Erkrankte als Folge der Internierung in Wittstock 1917—18 an TBC. Spricht ein kantiges Deutsch. Wenn er verlegen ist, geht sein Blick an einem vorbei, anschließend wechselt er ins Französische. Öffnet und schließt die Hände im Schlaf, als ob er Teig knetet.

Da ich die Personenbeschreibung meines Mannes angebe, füge ich hinzu, dass er mich Cornelia nennt, wenn er keine Einwände hören möchte, sonst immer Nelly. Aber niemals Duvölligverrückte. Mein voller Name lautet Ruth Cornelia Becker-Boulard. Ich bin Bildhauerin, Eisseglerin und Aviatikerin gewesen. Sowie, bis vor Kurzem, eine treue Gattin.

5.

Paul ist immer noch mein Mann, ich bin immer noch seine Frau. Wir sind verheiratet, leben aber nicht mehr zusammen. Als die Weltreise abgesagt wurde, verlor ich den Glauben an das meiste. Auch an uns. Ich wurde schlammig, war ohne Vorwärtsbewegung. Nur die Murphytropfen halfen.

Mein Mann versuchte mir Mut zu machen. Er kochte, obwohl er in einer Küche hilflos ist, schlug Ausflüge und Lektüre vor. Ob ich Lust hätte, ins Kino zu gehen? Wir könnten uns Die Austreibung noch einmal anschauen, der Film hatte mir doch gefallen. Oder wollten wir nach Dresden fahren? Er wisse zwar, dass ich mich mit meinen Stiefgeschwistern nicht verstehe, aber sollten wir sie nicht trotzdem besuchen, nachdem Eduard den Kontakt zu Rosenblatt vermittelt hatte? Als ich Paul erklärte, dass mein Bruder seit langem in Berlin lebe, daran müsse er sich ja wohl erinnern, sah er schräg an mir vorbei. Und was war mit Hedda? Meine Schwester hatten wir zuletzt bei der Beerdigung ihrer Mutter getroffen. Das war im zweiten Kriegsjahr gewesen, an einem Tag, der genauso griesgrämig war, wie es die Tote gewesen war. Alles, was ich erbte, waren Vaters altes Silber und ein Nähkästchen, das keiner haben wollte. Obwohl unsere finanziellen Probleme kein Geheimnis waren, hatte Ada Becker, geborene Herdmann, mir gerade so viel vermacht, dass es für die Kaution für unsere neue Wohnung reichte. Wenn ich es wünschte, fügte Paul hinzu, als er merkte, dass mich keiner seiner Vorschläge erfreute, könnten wir auch den Zug nach Stockholm nehmen, wo ich auf die Kunstakademie gegangen war. Wichtig sei vor allem, dass meine Tage eine Form annähmen.

Ich bekam ein schlechtes Gewissen, weil ich ständig den Kopf schüttelte, aber eigentlich war ich verzweifelt. Er verstand mich nicht; schlimmer, er sah nicht, wer wir geworden waren.

Dann kam der Abend, an dem er mich fragte, ob ich zu der Gastwirtschaft mitkommen wolle, in der sich die alten Adler trafen, nachdem das Café Senftleben geschlossen hatte. Adler wurden jene Piloten genannt, die ihre Lizenz noch vor dem Krieg erworben hatten; einige hängen so sehr an der Bezeichnung, dass sie eine Interessenvereinigung gründen wollen. Ich hatte keine Lust, meine schmerzlichen Erinnerungen zu verleugnen und Frohsinn zu heucheln, und begriff nicht, dass Paul das nicht verstand. Er kaute auf seinem Schnäuzer und erklärte, eine Luftveränderung könne nicht schaden. Kaum war er gegangen, schleuderte ich mein gerahmtes Diplom auf den Fußboden, dann sank ich schluchzend zwischen die Scherben. Ich litt noch immer unter dem, was die Kollegen mir angetan hatten. Zuerst wollte man mich davon abhalten, die Prüfung abzulegen, später davon, in Johannisthal Frauen auszubilden, und zuletzt davon, die Schule wieder auf die Beine zu bringen. Plötzlich hatte ein Reifen einen Platten oder die Zündkerzen waren gegen ausgebrannte vertauscht worden. Der Treibstoff ging mir unerwartet aus und ich musste notlanden. Oder der Name einer Schülerin stand nicht auf der Startliste, obwohl ich sie am Vortag dort eingetragen hatte.

Im Juli 1911 war ich zum ersten Mal allein geflogen. Trotz Turbulenzen überwältigte mich die Stille in der Luft. Hier gab es nur Wind und Kühle und ungeheure Konzentration. Ich fühlte es so deutlich wie den Samtpuls in meinen Adern: Das war mein Element. Als ich die Orientierungspunkte auf dem Erdboden ausmachte, beschloss ich, weitere hundert Meter aufzusteigen — das Doppelte der erlaubten Höhe — und eine zweite Runde zu drehen. Die Markierungen waren kaum noch zu sehen, aber das Flugzeug gehorchte wie ein Hund. Nach einer Weile begann ich den Sinkflug, um die Gleitgeschwindigkeit zu testen, schwebte über das Hauptgebäude und landete schließlich vor den Hangars der Firma Fokker. Die Maschine machte keine ruckenden Hüpfer, wie es geschieht, wenn der Pilot das Heck zu ungelenk absenkt. Im Gegenteil, die Räder berührten den Erdboden sanft, wie zur Probe. Als ich aus dem Führersitz kletterte, war mein Gehirn kalt und klar, aber der Körper brannte. Ich erinnere mich noch an die Schlagzeile in der Zeitung: DER REIZ DES NEUEN. Und die nachfolgende Notiz: »Auf dem Flugplatz in Johannisthal gab am heutigen Vormittag zum ersten Mal eine Dame, Fräulein Bäcker, Proben ihrer Kunst. Sie flog ohne Lehrer zwei Mal um den Flugplatz herum und konnte zudem landen, ohne die Maschine zu beschädigen.«

Die falsche Namensschreibung war Absicht.

Mehr als zehn Jahre war ich die einzige »Dame« unter den Adlern. Ich weiß nicht, ob die Erinnerungen an diese Einsamkeit den Ausschlag gaben. Aber als Paul heimkam, saß ich, am geschwollenen Nagelbett des Daumens kratzend, wieder am Küchentisch. »Ich glaube …«, murmelte ich und erhob die Stimme: »Ich glaube, wir sollten uns trennen.«

6.

Die Tage danach waren schwarz. Die Nähe zwischen meinem Mann und mir hat immer in einer anderen Dimension existiert als jener, in der Haut und Hände eine entscheidende Rolle spielen. Dennoch litt er und ich war unfähig, mich zu erklären. Nach einer unserer endlosen Diskussionen schloss ich mich auf der Toilette ein. Dort saß ich mit dem Rücken an die Badewanne gelehnt und den Zeigefingern in den Ohren. »Wenn du weitermachst, komme ich nicht heraus.« Der Körper war schwer, gefüllt mit nasser Erde. »Ich muss allein sein, begreifst du das nicht?« Vermutlich wimmerte ich, denn Paul antwortete nicht. Später lag ich zusammengekauert auf dem Kachelboden und weinte so, dass die Zähne klapperten.

Obwohl mein Mann merkte, wie schlecht es mir dabei ging, war er der Ansicht, dass ich mich »verantwortungslos« verhielt. Am Ende ließ er mich widerwillig in Frieden. Danach verbrachte er die Nächte auf dem Sofa; wenn ich aufwachte, war er schon weg. Begegneten wir uns im Hangar, den wir bis Ende August leerräumen mussten — er mit zusammengepressten Kiefern, ich mit roten Augen —, sagten wir nur so viel, wie die Situation erforderte. Die Monteure merkten nichts, aber Knut Ludwig, der von Beginn an bei uns gewesen war, spürte die Veränderung. Ich hoffte, unser Chefmechaniker würde denken, es läge an den Schuldbriefen. Eines Tages, als ich über den Papieren der französischen Anwälte saß, betrat er das Büro. »Es kann besser werden.« Nachdenklich stopfte er seine Pfeife. »Man muss einander Raum geben, Frau Becker. Verliert man den Respekt, verliert man alles.«

Auch wenn Ludwig die Situation missverstanden hatte, erkannte ich, es gab etwas, das schlimmer war als Selbstvorwürfe. So viele Jahre hatte mein Dasein aus Konstruktionsplänen und Maschinenteilen bestanden. Mehr als Kameradschaft hatte ich von Paul nie verlangt; mehr, glaubte ich, war nicht nötig. Nun schockierten mich die Löcher in unserer Ehe. Und wie wenig ich über mich selbst wusste.

Aber das hätte mein Mann nicht hören wollen.

Ich hätte ihm sagen können, dass ich immer noch die Nelly war, die ihn im Frühjahr 1912 in die Luft gebracht und ihm beim dritten Mal die Steuerknüppel überlassen hatte. Die Nelly, mit der er zwischen den Orientierungspunkten, die man in einhundertfünfzig Metern Abstand voneinander aufgestellt hatte, eine Acht geflogen war. Die Nelly, die er heiratete, nachdem er den schönsten Brief geschrieben hatte, den meine Stiefmutter jemals bekam, die Nelly, mit der er die Schule gründete, und die Nelly, mit der er im Krieg praktisch alles verlor. Ich hatte die neue Wohnung gefunden und war später zu ihm nach Wittstock gezogen, wo »fremde Subjekte« interniert waren. Ich war die Nelly, die ihn gepflegt hatte, als die Tuberkulose seine Lunge spröde wie Papier machte, die ihn mit Hühnersuppe fütterte, bis er wieder zu Kräften kam, und auch dann nicht ging, als wir uns an den Abenden nichts mehr zu sagen hatten. Die Nelly, die Schreiben an die Behörden formulierte, sich um den Kontakt zu den deutschen Anwälten kümmerte und später auf die Idee kam, den Prozess nach Frankreich zu verlegen, da wir beide französische Staatsbürger waren. Die Kanzlei, die wir ursprünglich beauftragt hatten, ging davon aus, dass ich meine alte Staatsbürgerschaft behalten hatte, und zog nie etwas anderes in Erwägung. Ich war die Nelly Becker-Boulard, die vorgeschlagen hatte, Johannisthal eine letzte Chance zu geben, und so lange bettelte, bis wir einen heruntergekommenen Hangar im südwestlichen Teil mieten durften. Die Nelly, die das Steuer übernahm, als das Asthma, das auf die TBC folgte, ihm beim Fliegen zusetzte, obwohl der Schwindel stärker geworden und ich mehrmals in Ohnmacht gefallen war. Ich war sogar liegen geblieben, als sich seine Teigklumpen unter dem Laken bewegten, obwohl ich vor Widerwillen und Müdigkeit und Verzweiflung halbtot war.

Aber auch das hätte er nicht hören wollen.

Und am allerwenigsten hätte er hören wollen, wie niedergeschlagen ich mich trotz der Tropfen fühlte, und dass ich jemanden brauchte, der mich aufleben ließ. Menschen können aus Liebe so vieles werden. Schwach und abhängig oder stark und zehn Meter groß. Sie vergöttern und besingen oder hassen und töten. Manche verbringen ein Leben zusammen, ohne zu lernen, wo das Schloss zum Geliebten sitzt. Andere werden es niemals leid, neue Verstecke zu entdecken. Manche haben nicht einmal einen heimlichen Namen füreinander. Ich kann, hätte ich hinzufügen können, mit einer Person leben, die untreu ist. Solange ich die Gründe verstehe, kann ich ihr sogar verzeihen, auch wenn es dauern würde. Aber wenn ich nicht fliegen darf, ertrage ich ein Zusammenleben nicht, das bedeutet, mir selbst weiter untreu zu sein.

Doch auch das sagte ich nicht. Und da wusste ich, dass sich nur noch der Respekt retten ließ. Und deshalb klapperte ich mit den Zähnen.

7.

Am nächsten Tag zog ich aus. Um es ihm einfacher zu machen, wartete ich mit den Scheidungspapieren. Wir einigten uns darauf, die Tilgungen einzustellen, bis uns ein französisches Gericht das Recht auf Schadensersatz zusprach. Auf die Art würden wir beide über die Runden kommen, während wir uns neue Arbeit suchten. Zum Glück mussten wir nicht auf Kinder Rücksicht nehmen. Paul erneuerte seine Flugzeugführerlizenz, aber in Johannisthal wollte ihn keiner einstellen. Auch wenn der Krieg Jahre zurücklag, er war Franzose. Wir verkauften die letzten Werkzeuge und einiges altes Material, vor allem Motorenteile, und auch unseren Zweisitzer, den wir Schraube für Schraube, Draht für Draht umgebaut hatten. Die Seitenflosse scharrte am Tor des Hangars entlang, als die Kollegen vom Club für Aviatik — üblicherweise CFA abgekürzt, was die Leute aus irgendeinem Grund tsé-fa aussprachen — die Maschine hinausrollten. Die Räder quietschten, obwohl ich meinen Mann gebeten hatte, sie zu ölen. Ludwig bekam für seine treuen Dienste die Konstruktionspläne. Dann standen wir da, in der leeren Halle auf dem alten Flugplatz. Als Paul das Vorhängeschloss zudrücken wollte, bat ich ihn, es zu lassen. Es gab nichts, wozu wir hätten zurückkehren können. Er fragte, ob er das Auto behalten dürfe; wenn er nicht fliegen könne, wolle er Taxi fahren. Ich hatte nicht das Herz, mich mit ihm zu streiten.

Die Pension, in der ich zwölf Jahre zuvor, frisch aus Dresden eingetroffen, mit Träumen von Wind und Horizontlinien, abgestiegen war, hatte ein freies Zimmer. An einem späten Septembertag entdeckte ich auf dem Heimweg allerdings meinen Mann vor der Stadtbahnstation. Polierte Kotflügel, heruntergeklapptes Verdeck, gekleidet wie ein Oberkellner. Ich kehrte in das Gebäude zurück und ging auf der anderen Seite hinaus. Nach mehr als einem gemeinsamen Jahrzehnt war er immer noch in jedem Nervenfaden und Flimmerhaar. Zwei Mal suchte er mich in dieser Phase auf, obwohl ich es ihm verboten hatte. Beide Begegnungen endeten mit heftigen Gefühlen. Mitte Oktober tat ich deshalb, was ich von Anfang an hätte tun sollen, und zog ans andere Ende der Stadt, in die Pension Colding in der Friedrichsruher Straße 30 in Steglitz.

Ich war fest entschlossen, »die Form zu halten«, wie Paul und ich zu sagen pflegten, und mich nicht von einer Situation deprimieren zu lassen, die nur besser werden konnte. Die erste Maßnahme bestand darin, weniger Tropfen zu nehmen, was sicher klug war, die Nächte jedoch unruhig machte. Fast immer wachte ich auf, bevor es hell wurde. In einer Nacht war mir vor Traurigkeit übel, in anderen machte ich das Licht an, blätterte in einer Damenzeitschrift und empfand stille Dankbarkeit für mein neues Dasein. Meistens dachte ich nach. Der Vier-Uhr-Dämon zwingt einen dazu.

Mal empfand ich Reue, mal machte ich mir Mut. Mein altes Leben fühlte sich an wie eine dieser schlechten Fotografien in Zeitungen, auf denen die Abgebildeten nur mit Hilfe der Bildunterschrift zu identifizieren sind. Unscharf, fremd, ohne Legende — so war ich geworden. Es gab Tage, an denen ich meine vagen Konturen genoss, das will ich nicht leugnen. Ich zerfloss und wurde ein Teil der Umgebung, wie Wasserfarbe. Das Gefühl war beängstigend, aber auch befreiend; ich hieß es willkommen und wehrte mich zugleich dagegen. Aber die meiste Zeit kämpfte ich — für mich, gegen mich, in diesem unbestimmbaren Körper. Ich, die ich so streng gewesen war, dass ich allem entsagt hatte, um zu fliegen, hatte beschlossen, ein Leben zu führen, von dem ich nicht wusste, was es sein mochte.

Als Paul mich in diesen Wochen ein einziges Mal anrief, tat er es, um mir einen Tipp für eine Stelle zu geben. Bevor wir auflegten, fragte er mich, ob ich nicht zu Cassirer zurückgehen wollte. Ich hatte jedoch keine Lust, meinen Nervenarzt wiederzusehen, also antwortete ich nur: »Menschen inklinieren genau wie Flugzeuge. Das Leben ist ein Wasserhahn, der leckt.«

Paul brummte etwas.

»Die meisten wollen nicht, dass er leckt. Mir reicht es. Ich will lecken.«

»Nelly, du hast mich.« Er begriff es immer noch nicht.

»Das habe ich mir so viele Male eingeredet, es ist bedeutungslos geworden.«

Zwei Tage später bekam ich eine Stelle bei BMW am Kaiserdamm, was ein Fortschritt war und dem Alltag Stabilität verlieh. Anfangs arbeitete ich im Büro, aber als der Chef sah, wie ich mit Kolben und Vergasern umging, übertrug er mir die Betreuung der Motorräder in der Ausstellungshalle. Der Kontakt mit Menschen und Maschinen tat gut. Mir blieb der Schwindel erspart, die Haut juckte weniger. Dann, als ich am wenigsten damit rechnete, passierte etwas, und ich wünschte, dafür gäbe es ein Sphygmomanometer.

8.

Zwei Wochen vor Weihnachten — am 10. Dezember 1924, einem ungewöhnlich warmen Tag — wurde in den neuen Messehallen im Westen die Deutsche Automobilausstellung eröffnet. Schon am Vormittag standen die Menschen Schlange bis auf die Straße hinaus. Von neun bis sieben demonstrierte Dr. Berends unser neues Sportmodell, die R 37, während ich die alte R 32 vorführte — in Lederkleidung, aber ohne Kappe. Mit den Männern fachsimpelte ich über den Kardanantrieb, der solche Aufmerksamkeit erregt hatte, als das Modell im Vorjahr präsentiert worden war, ihren Begleiterinnen erzählte ich, dass der vierzehn Liter fassende Tank es einem Paar erlaube, nonstop nach Hamburg zu fahren. Wenn irgendein selbsternannter Experte darauf hinwies, dass die Zylinder an den Seiten wie Teig hervorquollen, erwähnte ich Max Friz. Bei mehreren Gelegenheiten hatte der Konstrukteur der R 32 Johannisthal besucht. Wir hatten über die neuen Junkers-Maschinen gesprochen und darüber, wie ein Motor für eine maximale Balance in der Luft befestigt werden sollte. Was die Zylinder angehe, warf ich nun ein, so kühle ihre Platzierung sie ab; Friz habe den Trick von uns gelernt. Daraufhin verstummte der Besucher und gesellte sich zu der Gruppe um den Chef.

Nach ein paar Tagen ließ das Gedränge in den Gängen nach. Manchmal dauerte es bis zu einer Stunde, bevor der nächste Besucher auftauchte. Untätig kam ich mir in Leder und Schal dumm vor. Der Chef wollte jedoch, dass ich wie eine Rennfahrerin aussah; das locke Leute an, und im Übrigen sei es nur eine Frage der Zeit, bis Frauen richtige Rennen fahren würden. Am Mittwoch der folgenden Woche zog ich trotzdem meine Handschuhe aus und legte sie auf den Tank der R 32. Es war nur noch eine halbe Stunde, bis die Messe schloss; wegen des großen Andrangs hatte man kurzfristig entschieden, die Ausstellung bis Ende der Woche zu verlängern. Ich hatte wenig gegessen und wollte heim. Ich setzte gerade an, Dr. Berends zu fragen, ob wir nicht abschließen und die Maschinen abdecken sollten, als eine neue Besuchergruppe eintraf.

Der einzige Mann unter lauter Frauen erklärte, sie kämen von Propps Annoncen-Agentur; ich beschloss, die missglückte Kampagne ein halbes Jahr zuvor nicht zu erwähnen. Er sagte etwas Scherzhaftes, die Frauen lachten gekünstelt. Eine von ihnen betrachtete unterdessen das Motorrad, das ich gerade wegrollte. Ich war mir nicht sicher, ob ich ihr von den Zylindern erzählen sollte. Als die Klingel ertönte, fragte sie nach der Kupplung. Ich erwiderte, dass die Messe gleich schließe, und klappte den Ständer herunter. Sie hatte es jedoch nicht eilig. Statt den Kollegen zum Ausgang zu folgen, schob sie ihre Hand auf meine. Für jemanden, der lernen möchte, wie die Schaltung einer R 32 funktioniert, ist das eine natürliche Bewegung. Für mich war es ein Schock. Dennoch blieb ich ruhig. Ruhig, aber elektrisiert.

In dem Moment wusste ich nicht, was geschah. Heute weiß ich, dass mein Leben als Duvölligverrückte begann. Meine zwölf Monate auf Erden. Und über sie kann ich nur im Präsens sprechen.

9.

So fühlt es sich an, wenn einen eine fremde Hand berührt, die abwechselnd Ruhe und Elektrizität verströmt, und man das Ausmaß dessen, was geschieht, noch nicht ahnt. Will sagen: eine zukünftige Erinnerung. Drei Worte reichen: Das Blut singt.

Deswegen geht man das Vorgefallene in Gedanken durch. Immer aufs Neue. Auch später, wenn man aufwacht, weil man die Tropfen nicht genommen hat. Präsens, Präsens, Präsens.

Das Lächeln in der Dunkelheit will nicht verschwinden.

10.

Auf dem Heimweg von der Messe halte ich die linke Hand vom Körper weg. Als ich es merke, stecke ich sie in die Manteltasche. Entweder bin ich abergläubisch, oder sie gehört nicht mehr mir allein. Beides macht mich verlegen. Trotz Spannungen bin ich eine sachliche Person ohne Sinn für Sternzeichen oder Tarotkarten.

Etwas Vergleichbares habe ich zuvor nur einmal erlebt. Es war vor vielen Jahren, vor Johannisthal und vor Stockholm. An einem Wintertag hat eine Marktfrau daheim in Laubegast mich am Handgelenk gepackt. Ich kann nicht älter als sieben oder acht gewesen sein und war mit Hedda auf dem Eis gewesen. Nun trug Hedda unsere Schlittschuhe über der Schulter, während ich in den gerösteten Kastanien auf einem Ölfass stocherte. Die Marktfrau legte die Zeitung fort, mit der sie sich Luft zugefächelt hatte. Erst glaubte ich, sie wolle mich schlagen. Stattdessen zog sie mich zu sich, bog meine Finger auf und musterte die gerötete Handfläche. »Wie heißt du, meine Rastlose?« Als ich ihr meinen vollständigen Namen nannte, lachte sie. »Ruth?« Sie versuchte mich in die Wange zu zwicken, dann lächelte sie meiner Stiefschwester boshaft zu. »Die hier wird niemals heiraten. Oder Kinder bekommen. Das kannst du in der Bibel nachlesen. Schau, sie kann ja nicht einmal stillstehen.« Sie trippelte wie ich mit ihren klobigen Holzschuhen.

Als Hedda ihrer Mutter erzählte, was passiert war, wurde mir verboten, noch einmal dort hinzugehen. Meine linke Hand fühlte sich tagelang fremd an, als wäre sie geliehen, obgleich die Prophezeiung nur halb in Erfüllung ging. Zwanzig Jahre später heiratete ich im Rathaus von Johannisthal und nahm sogar Pauls Staatsangehörigkeit an. Auch wenn ich nie so sehr ich selbst war wie bei meinen Reisen durch dünne Luft, pelzbekleidet und schmerzhaft wach in jedem Teil des Körpers, haben die Jahre als Ehefrau mich die Kunst des Stillstehens gelehrt. Die Worte der Marktfrau habe ich allerdings nie vergessen. Wenn ich meine Handfläche betrachte, frage ich mich, ob sie vielleicht doch recht hatte, wenn auch viel später.

In der Pension habe ich ein helles Zimmer. Frau Colding ist die Witwe eines Getreidehändlers und bietet in ihrer Wohnung bis zu fünf Gästen Kost und Logis an. Der Einrichtung nach zu urteilen, wohne ich in dem, was früher das Herrenzimmer war. Es gibt zwei Türen; die zum Wohnzimmer ist dauerhaft verschlossen. In dem Schreibtisch mit Löwentatzen verwahre ich das wenige, was mich als die erste Aviatikerin des Landes ausweist. Ein Lederfutteral mit dem Emblem der Flugschule enthält meinen Pass, den Zeitungsausschnitt über den »Reiz des Neuen«, mein Kontoheft, ein paar Geldscheine und Fotos, die alte Flugzeugführerlizenz — Dinge dieser Art. Das Zimmer liegt an der Hausecke, was bedeutet, dass ich zwei Fenster habe, weshalb ich auch mehr bezahle. Ich teile mir mit Fräulein Boska einen Vorratsraum, den wir als Teeküche benutzen. Eine elektrische Kochplatte, für jeden eine hölzerne Vorratskiste. Toni Boska — eigentlich heißt sie Antonia — arbeitet in der Telefonzentrale eines Ministeriums. Manchmal blättere ich in den Zeitschriften, die sie liegen lässt; wir leihen einander auch Lebensmittel. Mittlerweile ist mir klar, dass ich es in dem Loch, das ich in den ersten Wochen bewohnte, niemals länger ausgehalten hätte. In jungen Jahren wäre es gegangen, aber mit achtunddreißig brauche ich Platz. Es kommt vor, dass ich mich in die Zugluft zwischen den Fenstern setze, die Augen schließe und die Arme ausbreite, wie Paul es tat, als ihm verboten wurde zu fliegen. Der Durchzug lässt mich erleben, was das Gedächtnis allein nicht vermag. Auch wenn dieser Lufthauch nur ein schwaches Echo der Turbulenz in höheren Luftschichten ist, erquickt er.

Apropos Erquickung. Steht darüber auch etwas in der Bibel?

Boska muss ausgegangen sein; aus ihrem Zimmer dringt kein Laut. Meine Hand fühlt sich noch fremd an, als ich den Topf unter den Badezimmerhahn halte und das Wasser aufdrehe. Während das Ei auf der Platte kocht, versuche ich an nichts zu denken. Das Lächeln will jedoch nicht aus meinem Gesicht weichen; manchmal seufze ich und presse die Hand auf die Lippen. Ich weiß, dass ich mich wie ein Schulmädchen benehme. Trotzdem wandern meine Gedanken ständig zur Messehalle zurück.

11.

Als ich gegen vier Uhr aufwache, ist meine Brust von Qual und Erwartung erfüllt, als dulde sie keine Leere. Ich begreife nicht, wie es möglich ist, beide Gefühle gleichzeitig zu erleben; der Körper wirkt reif und zugleich ein ganzes Leben jünger. Dann drehe ich das Kissen um und lasse das Geschehene zum Ich-weiß-nicht-wievielten-Mal Revue passieren. Bilde ich mir das alles nur ein?

Erst lehnt sie sich vor und schiebt ihre Hand auf meine. Sie berührt mich nur für ein paar Sekunden. Gleichwohl fühlt ihre Haut sich unerwartet kühn an, ähnlich einem Flugzeug, das länger auf einem Wind gleitet, als man es für möglich gehalten hätte. Dann presst sie ihre Finger auf meine.

Das hat zur Folge:

Dass ich die Kupplung drücke.

Dass sie ihre Hand justiert.

Dass wir gemeinsam die Kupplung kommen lassen.

Mehr passiert nicht, dennoch hat in diesem Augenblick eine Ewigkeit Platz, und ich frage mich, ob es nicht möglich wäre, sich darin niederzulassen. Sie tritt einen Schritt zurück, nickt zur R 37 hin und stellt eine Frage zu dem Seitenwagen, den der Chef soeben vorführt. Ich erläutere, dass er seiner harten Blechschale zum Trotz gefüttert und überraschend bequem ist; die Kupplung sei übrigens die gleiche wie bei der R 32. Bei zukünftigen Modellen müsse Friz den Mechanismus nur verfeinern. Man könne sich auch mehr Gänge vorstellen, was jedoch von der Motorstärke abhänge, die natürlich wiederum dem Rahmen und dem Gesamtgewicht des Motorrads entsprechen müsse.

»Natürlich.«

Man hört, dass sie mit ihren Gedanken woanders ist. Während Dr. Berends ihren Kollegen unsere neue Maschine vorstellt, zieht sie meine Motorradhandschuhe an. Der Chef schielt herüber, das Gesicht ist rosa wie Kiemen. Ich ahne, was er denkt, und sage, dass ich auf der Arbeit keine Freunde empfangen dürfe.

»Ich bin kein Freund.« Die Stimme ist trocken, ein wenig abwesend.

»Das wird mein Chef aber glauben.«

»Hm.« Sie spreizt die Finger und studiert ihre kalbsbraune Hand. »Wenn das so ist, kann ich es ja werden.« Als sie zu den Kollegen aufschließt, strahlt ihre Gestalt eine Art schlanke und straffe Selbstgenügsamkeit aus. Wie eine Wachskerze.

Ich folge ihr mit den Augen, bis sie im Gedränge verschwindet. Der Gedanke, dass wir Freunde werden könnten, lässt mich zittern. Dann merke ich, sie hat meine Handschuhe mitgenommen.

12.

Am nächsten Tag bitte ich darum, meine Mittagspause um eine halbe Stunde verlängern zu dürfen. Dr. Berends klemmt den Stift hinter das Ohr. Seine Wangen glänzen von Rasierwasser, die Augen sind rot unterlaufen. Ich habe bereits den Mantel an. Als ich wiederhole, ich müsse etwas erledigen, erinnert er mich daran, dass wir am Nachmittag zwei angemeldete Gruppen erwarten. Ich setze die Baskenmütze auf und nicke abgelenkt, will los.

Bevor ich zu Hause aufgebrochen war, hatte ich im Adressbuch der Pension geblättert. Im Flur sitzend fühlte ich mich wieder wie dreizehn. Eine Annonce am unteren Rand einer Seite verkündete: LUDWIG PROPP: IN DER ZEIT, MIT DER ZEIT. Das hatte auch auf jenem Briefpapier gestanden, auf dem die Agentur ihre Vorschläge aufgelistet hatte, um unseren Film zu vermarkten. Unter der Reklame folgten drei Telefonnummern. Als ich die Anschrift sah, beschloss ich, nicht anzurufen.

Nun gehe ich stadteinwärts. Es ist erstaunlich warm, obwohl der Herbst vorbei ist. Auch wenn die Temperatur allmählich etwas anzieht und das Dasein sich sowohl klarer als auch begrenzter anfühlt, regnet es mitunter. In Johannisthal ist man vermutlich trotzdem von der Ledermontur zum Pelz übergegangen. Eine Frau kommt mir entgegen, mit einem Kinderwagen so breit wie eine Kommode. Als wir aneinander vorbeigehen, lächelt sie erschöpft und zupft die Decke der Zwillinge zurecht.

Die Tür im Erdgeschoss steht einen Spaltbreit offen. Hinter der Theke steigt ein Mann mit einem Pinsel in der Hand gerade eine Leiter hinauf. Auf einer Plane auf dem Fußboden liegen Uhren, die unterschiedliche Uhrzeiten anzeigen, sowie Schilder mit NEW YORK, BERLIN und SCHANGHAI. Die Empfangsdame bittet das Durcheinander zu entschuldigen; sie hätten einen Wasserrohrbruch gehabt. Ich sage, dass ich den Namen der Person, die ich suche, nicht kenne, beschreibe aber ihr Aussehen — bleiche Locken, groß und schlank, in etwa wie eine Wachskerze? Die Frau antwortet, sie sei neu und sich nicht sicher, wen ich meine. Im Übrigen seien alle Mitarbeiter beschäftigt. Sie lächelt nichtssagend, dann dreht sie sich zur Tür.

Gerade trifft ein Mann ein. Er schiebt die Plane fort; die Tür schlägt zu. Es ist derselbe, der mit seinen Kolleginnen auf der Messe war. »Herr Peters«, die Empfangsdame rückt hilflos ein paar Prospekte zurecht. »Die Dame hier …« Peters stöhnt über die Farbdünste. Er grüßt flüchtig und stößt seinen fest gewickelten Regenschirm in den Ständer neben der Theke. Als er mein Anliegen hört, sagt er kurz: »Klingt nach Maak.« Und verschwindet im Korridor.

Deutsche Automobilausstellung am 17. Dezember