Cover

Kurzbeschreibung:

Emma ist am Boden zerstört – ihre Familie, der MC, hat sie rausgeworfen, weil der Mann, den sie liebt, es so verlangt hat. Jedoch weigert sie sich, seine Entscheidung hinzunehmen, denn sie weiß, Scar schickt sie nicht aus Boshaftigkeit fort. Er steckt in Schwierigkeiten und will Emma auf diese Weise beschützen. Sie kann jetzt nicht einfach gehen und ihn im Stich lassen. Fest entschlossen, für ihn zu kämpfen, schnüffelt sie in seiner düsteren Vergangenheit herum und stößt dabei auf einige sprichwörtliche Leichen in seinem Keller, die besser vergraben geblieben wären und die nicht nur Scar und Emma in große Gefahr bringen.

Sandra Binder

Verloren in der Finsternis

Biker Tales 4

Roman


Edel Elements

Inhaltsverzeichnis

Prologue – Scar

Chapter Nine – Burning With Curiosity

Chapter Ten – I Fucked It Up

Chapter Eleven – Fast Lane Through His Hell

Interlude – The Other Side

Chapter Twelve – My Way Or The Highway

Chapter Thirteen – I Ain’t Got No Patience

Interlude – Take Care

Chapter Fourteen – Which Plan, Supergirl?

Chapter Fifteen – Lost In The Dark

Interlude – One Last Time

Chapter Sixteen – My Home And My Family

Epilogue – Emma & Scar

Glossar

Prologue – Scar

Es ist ein Trugschluss, wenn du glaubst, du könntest dein Leben an einem Ort beenden und es an einem anderen einfach wiederaufbauen. Für eine kurze Weile mag das funktionieren, du kannst fortgehen, Kontakte abbrechen, Erinnerungen weit wegschieben – vergessen ist dadurch allerdings nichts.

Die Schatten der Vergangenheit werden niemals gänzlich verblassen. Sie sind wie Geister, die um dich herumschwirren und ständig in dein Ohr säuseln. Manchmal leise, fast unhörbar, doch dann wieder laut und kaum zu ertragen. Du wirst sie nicht los. Nicht in diesem Leben. Denn was geschehen ist, ist nun einmal geschehen – du kannst kämpfen, diskutieren oder betteln, du wirst die Vergangenheit niemals ändern können.

Ich habe versucht, diese Geister zu ignorieren, habe ernsthaft geglaubt, ich könnte untertauchen, vergessen und ein anderes Leben führen, ein neuer Mensch werden ... Dabei haben sie mich schon drei Mal gefunden. Drei Mal musste ich mein Leben bereits abbrechen und woanders noch einmal neu beginnen. Dennoch hatte ich im Laufe des vergangenen Jahres Hoffnung geschöpft. Der Grund dafür ist so simpel wie gefährlich: Ich habe Gefühle zugelassen.

Niemals wollte ich einem Motorradclub beitreten. Ich fuhr schon als Teenager gerne, zwar eher die Rennmaschinen als die gemütlichen Harleys, aber ich stand immer auf Zweiräder. Dennoch hatte ich nie daran gedacht, mich irgendwelchen Rockern anzuschließen. Bis dieser massige Ire mit der großen Klappe und einer demolierten Harley vor mir stand.

»Mein Bro killt mich, wenn er erfährt, dass ich seine Maschine zu Schrott gefahren habe«, meinte er damals. »Kriegst du das hin, bis er nächste Woche aus dem Knast zurückkommt?«

Ich schaute mir das verschrammte Elend an und schüttelte mitfühlend den Kopf. Ich fühlte mit der Harley, nicht mit dem Iren, um das einmal klarzustellen. Was hatte er dem armen Bike nur angetan?

Pat selbst stand mit einer Wunde am Arm und einem gebrochenen Finger vor mir, blutete den Werkstattboden voll und grinste. Ich weiß noch, dass ich mich fragte, wie der Typ es in dieser Situation schaffte, so breit zu grinsen. Heute, nachdem ich Pat kenne, wundere ich mich nicht mehr. Diesem verdammten Iren scheint immerzu die Sonne aus dem Arsch!

»Wieso hast du das Bike überhaupt genommen?«, hakte ich nach.

Er zuckte mit den Schultern. »Bei meinem war der Sprit leer.«

Ich nickte. Was hätte ich dazu sagen sollen? War immerhin ein nachvollziehbarer Grund. Also machte ich mich an die Arbeit.

Ich brauchte drei Tage, um das Bike zu reparieren, da ich auf einige Ersatzteile warten musste. Aber ich bekam den Schrotthaufen wieder hin. Das war es, was ich konnte und gern machte: kaputte Fahrzeuge herrichten. Es war ein friedlicher Job, ich wusste stets, was zu tun war, und so brachte ich in meinem Leben wenigstens eine Sache zum Laufen, machte etwas heil, statt es zu zerstören.

Ich rief also den grinsenden Iren an, damit er die Harley wieder abholte. Dass Pat keine Kohle hatte, war mir auf den ersten Blick aufgefallen, daher berechnete ich ihm meine Stunden nicht. Keine Ahnung wieso, schätze, der Kerl war mir auf Anhieb sympathisch, trotz des blöden Grinsens. Oder vielleicht deshalb. Weil er das konnte, was ich lange nicht mehr geschafft hatte: Lachen, obwohl es keinen Grund dafür gab.

Ob er im Gegenzug etwas für mich tun könne, fragte Pat noch, aber ich winkte ab. Was wollte ein Outlaw schon für mich tun, dachte ich.

Zwei Tage später stand er wieder in der Werkstatt.

»In dem Laden, in den ich sonst immer gehe, Don’s Werkstatt, hat sich der beste Mechaniker beide Hände an einem Auspuffrohr verbrannt«, meinte er. »Ich hab gesagt, ich kenn da einen, der für ihn einspringen kann. Ist sicher besser bezahlt als in dem Loch hier. Du lässt mich doch nicht hängen, oder?«

»Wie verbrennt man sich beide Hände an einem Auspuffrohr?«, wollte ich wissen.

Der Ire zuckte mit den Schultern. »Er ging Don auf’n Keks.«

Ich nickte. Auch das schien mir ein nachvollziehbarer Grund zu sein.

»Kannst nach der Arbeit im Clubhaus vorbeikommen«, schlug Pat vor. »Ich geb einen Whisky aus.«

Ich stimmte zu, und kurz darauf lernte ich die Advocates kennen.

Nein, ich wollte niemals einem Motorradclub beitreten, aber als ich das Clubhaus betrat und sah, was für eine eigene kleine Welt das war, änderte ich meine Meinung. Es war der perfekte Ort, um unterzutauchen. Sicher und unauffällig. Ich bat darum, mich als Prospect beweisen zu dürfen, obwohl ich nicht vorhatte, lange genug zu bleiben, um ein richtiger Member zu werden. Ich wollte mich lediglich eine Weile verstecken und dann weiterziehen, so wie ich es immer getan hatte.

Zu diesem Zeitpunkt hatte ich noch nicht damit gerechnet, auf die Weise aufgenommen zu werden, wie sie es taten. Pat wurde zu einem guten Freund und Nachbarn, Don war nicht nur mein Chef, für ihn wurde ich zu einem Teil seiner Familie, und die Advocates, sie alle waren Brüder verschiedener Mütter. Einen solch unzerstörbaren Zusammenhalt kannte ich bisher nur aus manchen Heimen, in denen ich aufgewachsen war. Man achtete aufeinander, scheißegal, wer man war oder woher man kam. Die Vergangenheit zählte nicht – keiner fragte nach oder setzte einen unter Druck. Man wurde akzeptiert, wie man war.

Nach all der Scheiße, durch die ich gewatet war, nach all dem Hass, dem Zorn und der Gewalt, die mich zermürbt hatten, war ich endlich an einem Ort angekommen, an dem ich mich nicht nur sicher, sondern aufgehoben fühlte. Ich erlaubte mir, mich zurückzulehnen, Erinnerungen zu verdrängen und Menschen zu mögen. So lange hatte ich mir verboten, mich an jemanden zu gewöhnen – reiner Selbstschutz, aus Angst, diesen jemand nicht mehr verlassen zu können. Aber hier und jetzt konnte ich mich nicht länger dagegen wehren, wollte es nicht einmal mehr. Dafür machten sie es mir zu schwer. Nicht nur meine Brüder, vor allem dieser eine Mensch klopfte mich derart weich, dass ich nicht anders konnte als aufzugeben. Nach meinem ewigen Gang in völliger Dunkelheit war Emma das Licht, das mir einen Weg in eine hellere, hoffnungsvolle Zukunft wies.

Ich kann mich nicht erinnern, jemals zuvor ein solches Lachen gehört zu haben. So warm und ehrlich, dass es Eisblöcke zum Schmelzen brachte. Wer ihre Nähe nicht genoss, musste aus Stein sein.

Doch ich wusste, dass ich ihr niemals das Gleiche geben konnte wie sie mir. Keine Wärme, und schon gar keine Ehrlichkeit. Ich liebte es, wie sie mich ansah, ich hätte es nicht ertragen, wie sich das ändern würde, wenn sie die Wahrheit erfuhr. Deshalb hielt ich die sichere Distanz, so leid es mir tat, ihr nicht sagen zu dürfen, wie sehr ich sie mochte. Noch schwerer fiel es mir, nachdem ich ihre Familie kennengelernt hatte. Emma war eine Frau, die es wert war, dass man ihr jeden Tag sagte und zeigte, wie sehr sie geliebt wurde. Das hatte sie verdient. Und ich wünschte mir nichts sehnlicher, als der Mann sein zu dürfen, der diesen Job übernahm, aber ich konnte nicht. Bis sie mich küsste und damit die kläglichen Reste der Mauern einriss, die ich um mein Herz herum erbaut hatte.

Ich redete mir ein, dass es vielleicht doch funktionieren könnte. Emma interessierte sich nicht für meine Vergangenheit, und ich war nun schon derart lange unentdeckt geblieben, vielleicht interessierte sich meine Vergangenheit ja auch nicht mehr für mich. Ich bildete mir ein, dieses Mal tatsächlich neu anfangen, mich auf den Club und die Frau einlassen zu können, an die ich mein Herz verloren hatte. Ich wollte endlich wieder leben. Rückblickend betrachtet eine armselige Entschuldigung dafür, unvorsichtig geworden zu sein.

Ich hatte mich zu wohl gefühlt, mir erlaubt zu lächeln, hatte nicht aufgepasst – und die Geister meiner Vergangenheit fanden mich erneut.

Keine Ahnung, ob sie den Schriftzug auf meinem Rücken hatten lesen können oder ob sie glaubten, ich hielte mich in Kalifornien nur auf, aber sie wussten jetzt, dass ich einem Motorradclub beigetreten war. Mit meiner Leichtfertigkeit hatte ich den gesamten Club in Gefahr gebracht. Wenn ich meinen Patch also nicht gleich wieder abgeben wollte, durfte ich ihnen das nicht erzählen. Die Vergangenheit zählte bei den Advocates nicht, das mochte sein, doch die Vergangenheit war nicht vergangen, wenn sie mit halbautomatischen Waffen in Wolfville anrückte.

Mir blieb nichts anderes übrig, als mich umzuhören und zu hoffen, dass ich Antonio und seine Gang nicht zu uns gelockt hatte. Aber ich konnte das Risiko keinesfalls eingehen, dass sie Emma erwischten, deshalb musste sie gehen.

Ich war nie besonders gut darin gewesen, jemanden zu beschützen. Bisher hatte es auch niemanden gegeben, der es wert gewesen wäre. Ich war es nicht gewohnt, einen Menschen so sehr zu lieben, dass ich denjenigen über mich stellte. Ich hoffte inständig, dass mir Emma eines Tages verzeihen würde, doch lieber sollte sie mich auf ewig hassen, als in Antonios Fadenkreuz zu geraten. Vielleicht war es ohnehin besser für sie, wenn sie mich für ein gefühlloses Arschloch hielt. Es war nicht gut für sie, mich zu lieben, so sehr ich mir wünschte, wir könnten zusammen sein.

Aber all das spielte zu diesem Zeitpunkt schlichtweg keine Rolle. Wichtig war nur, dass sie so weit wie möglich von mir weg war. Denn, scheiße, ich würde sterben, wenn ihr meinetwegen etwas geschah.

Chapter Nine – Burning With Curiosity

Tief durchatmend blickte Emma aus dem Autofenster auf die Filiale der Western Union Bank. Ihr kam es vor, als befände sie sich in einem schrägen Traum, der sich zwar schmerzlich nach Realität anfühlte, aber derart verquer war, dass es einfach nicht echt sein konnte.

»Das wäre der perfekte Moment, um aufzuwachen«, murmelte sie, das Bild vor ihren Augen löste sich jedoch nicht auf, und sie spürte auch kein weiches Kissen unter ihrem Kopf. Nein, das war die Realität. Ihre Realität. So schräg und verquer sie auch aussehen mochte.

Der Mann, den sie für ihren besten Freund gehalten hatte, der Mann, der sie angeblich liebte, und viel schlimmer, den sie liebte, verbannte sie aus der Stadt. Zwang sie damit, einen Typen um Hilfe zu bitten, der nichts als Missbilligung für sie übrighatte. Ihr Magen drehte sich um, wenn sie daran dachte, dass sie nun in die Bank gehen und das Geld abholen musste, das Tyler ihr geschickt hatte. Sie würde gerne sagen, sie hätte sich nie zuvor derart jämmerlich gefühlt, aber das stimmte leider nicht. Ihr Leben schien nicht mehr als eine Aneinanderreihung von peinlichen und Stolz brechenden Situationen zu sein.

So konnte es nicht weitergehen. Scar ließ sich nicht helfen, und wenn Emma nicht wollte, dass sich die Jungs gegenseitig an die Gurgel gingen, musste sie tun, was er verlangte: verschwinden und kein großes Drama daraus machen. Daher blieb ihr nichts anderes übrig, als alle Zelte abzubrechen und irgendwo einen Neuanfang zu versuchen.

Blaze war am vergangenen Abend sogar noch bei ihr aufgekreuzt und hatte sie so lange genervt, bis sie ihm versprach, vorerst zum Vegas-Chapter zu gehen. Nur bis sich die Dinge in Wolfville geklärt hatten, wie er sich ausdrückte. Emma hatte zugestimmt, damit er endlich Ruhe gab und verschwand, jedoch hatte sie keinesfalls vor, wirklich nach Vegas zu gehen. Sie würde sich nicht wie ein abgelegtes Club-Groupie von einem Chapter ins andere abschieben lassen. Das ertrug sie nicht.

Stundenlang hatte sie gegrübelt, versucht, eine andere Lösung zu finden, aber ihr war nichts eingefallen. Inzwischen war sie schlicht zu erschöpft, um weiter darüber nachzudenken. Wenn sie nicht bleiben und nicht nach Vegas gehen konnte, blieb ihr nur noch die Flucht nach vorn. Daher hatte sie sich entschieden, das Erbe ihres Großvaters anzunehmen und nach Reno zu fahren. Dort fand sie sicherlich eine Unterkunft und einen Job.

Dass sie in ein paar Stunden bereits in ihrer neuen Heimat ankommen würde, ging ihr aber schlichtweg nicht in den Kopf. Vor allem, weil sie nicht aus Wolfville wegwollte. So wenig und so vehement, dass sie am liebsten mit dem Fuß aufgestampft hätte, wie das kleine Mädchen, das sie längst nicht mehr war. Und dessen Träume einmal mehr zerbrachen. Doch es half nichts, irgendetwas musste sie tun.

Pat war der Einzige, von dem sie sich verabschiedet hatte. Obwohl er wie alle anderen dachte, sie ziehe bloß nach Vegas, behandelte er Emma, als würden sie sich nie wiedersehen. Der sonst so lustige Ire, dem für gewöhnlich nichts die Stimmung verhageln konnte, war erschreckend wütend auf Scar. Emma hoffte nur, er würde sich bald beruhigen. Denn sie war sicher, er hatte es nur halb im Scherz gemeint, als er vorschlug, seinen Bruder bei der nächsten Ausfahrt zu schneiden, damit Scar ›aus Versehen‹ die Klippen hinunterstürzte.

Pat konnte nicht verstehen, was passiert war. Wie auch? Emma begriff es selbst nicht. Sie versprach ihm allerdings, nur solange in Vegas zu bleiben, bis sein ›Bro wieder zur Vernunft kam‹. So viele Lügen ...

Konnte denn keiner sehen, wie falsch das alles war? Verstand denn niemand, dass Emma sich so schlecht fühlte, weil die Familie, zu der sie gehören wollte, sie einfach so fortschicken durfte, ohne Grund? Es war nun schon die zweite Familie, die sie rauswarf. Und sie hatte es so satt. Sie war es müde, nirgends richtig dazuzugehören.

Du bist nicht für diese Welt gemacht, Süße. Du wirst immer das gleiche, schwache Mädchen sein, das sich von allen herumschubsen lässt.

Die Erinnerung an Mishas Worte schnitt sich wie ein Messer in Emmas Brust. Pres’ old Lady hatte sie nie akzeptiert und ihr so oft prophezeit, was geschehen würde, wenn die Jungs hier in Wolfville mit ihr fertig waren. Emma hasste sie dafür, recht gehabt zu haben.

Schnaubend schüttelte sie den Kopf. So wütend sie war, und so viele triftige Gründe sie fand, um fortzugehen, da war etwas tief in ihrem Inneren, was sie gerade davon abhielt, in diese Bank zu marschieren. Diese verdammte leise Stimme, die ihr wiederholt zuflüsterte, dass Scar sie nicht aus Bosheit, sondern aus Angst und Sorge weggeschickt hatte, und er in Wahrheit Hilfe brauchte. Trotz allem hatte sie das bittere Gefühl, ihn im Stich zu lassen.

Gib ihn nicht auf. Er braucht dich. Er weiß es nur nicht immer.

Es waren Pats Worte, die ihr neben Mishas nicht mehr aus dem Sinn gingen. Was, wenn sie die Stadt verließ und Scar etwas Schlimmes zustieß?

Sie waren sich ähnlicher, als man auf den ersten Blick meinen konnte. Sie wollten beide das Beste für den anderen. Leider schien das, was sie für das jeweils Beste hielten, nicht miteinander vereinbar.

Alles in Emma drängte danach zu erfahren, was Scar so hartnäckig versuchte, vor ihr zu verstecken. Er hatte Probleme. Und eine wahre Freundin würde sich nicht einfach umdrehen und gehen, auch wenn er das verlangte. Oder?

Emma atmete einmal mehr tief durch, dann zwang sie sich, auszusteigen und auf das Bankgebäude zuzugehen. Sie holte jetzt dieses Geld ab und fuhr nach Reno, so wie sie es entschieden hatte. Herrgott noch mal, das konnte doch nicht so schwer sein.

Als sie den Schalterraum betrat, hätte sie am liebsten gleich wieder umgedreht. Die Boxen in den Ecken waren zwar auf unaufdringliche Hintergrundlautstärke eingestellt, aber Emma hörte Dolly Partons weinerliche Stimme trotzdem überdeutlich. In ihrem Song »Jolene« flehte sie ebenjene an, ihr den Mann nicht wegzunehmen. Ausgerechnet!

Emma erinnerte sich dabei nicht nur schmerzlich daran, dass sie wie Jo von einem Chapter ins nächste abgeschoben wurde, sie hatte auch sofort die Szene vor Augen, in der Scar seine Hand an ihren Rücken legte. Ihr Herz wurde schwer beim Refrain ...

Scar war zwar nicht ihr Mann, nicht einmal ihr Freund, also konnte von wegnehmen keine Rede sein, dennoch tat der Gedanke, Jo schlage von jetzt an ihre Klauen in ihn, höllisch weh. Kein Wunder, dass sie glaubte, in diesem Moment seine Stimme zu hören.

»Prüfen Sie es noch einmal nach.«

Ähm, nein, es war gar keine Einbildung. Scar stand am Schalter, in seiner ganzen furchteinflößenden Düsternis, und diskutierte mit der Angestellten.

Emmas Herz flatterte in ihrer Brust, während ihr restlicher Körper erstarrte. Obwohl sie ihn nur ein paar Tage nicht gesehen hatte, kam es ihr vor, als seien Jahre vergangen. Er stand mit dem Rücken zu ihr, die noch neuen Patches auf seiner Kutte strahlten ihr förmlich entgegen, und er beugte sich zu der Dame am Schalter hinunter, sodass Emma sein Gesicht nicht sehen konnte. Allerdings zeugte seine gesamte Haltung von Anspannung.

Die Bankmitarbeiterin drückte sich in die Rückenlehne ihres Stuhls, zog den Kopf ein und schaute mit großen Augen zu ihm auf. Emma vergaß oft, wie bedrohlich der Mann auf andere wirkte. Dafür kannte sie ihn zu gut. Oder vielmehr hatte sie geglaubt, ihn gut zu kennen. Anscheinend hatte Scar aber mehr Geheimnisse als alle Repräsentanten des Weißen Hauses zusammen.

»Es tut mir leid, Sir«, sagte die Frau. »Ich werde ... Ich schaue noch einmal nach. Tut mir leid ...«

Scar richtete sich auf und drehte den Kopf zur Seite, da erwachte Emma aus ihrer Starre. Sie huschte hinter den älteren Mann, der am Schalter offenbar ungeduldig darauf wartete, dass der Outlaw endlich fertig wurde. Geduckt drängte sie sich an seinen Rücken und schielte über dessen Schulter.

»Ich muss nur wissen, ob die Adresse rausgegeben wurde oder nicht.« Scars samtene Stimme strich über Emmas Haut. Wie hatte sie dieses sanfte Raunen vermisst! »Ich komme jeden Monat hier her, das muss irgendwo dokumentiert sein.«

»Es tut mir sehr leid, Mister Greenwood, aber ich kann in dem Datensatz nichts erkennen.« Die Angestellte hatte sichtlich Angst vor dem schwarzgekleideten Mann mit der Narbe im Gesicht. Ihre Finger zitterten, als sie ein Blatt Papier aus dem Drucker nahm und es vor ihm ablegte. »Schauen Sie, so sieht es aus, mehr sehe ich nicht.«

Der ältere Herr räusperte sich und zuckte mit der Schulter, da merkte Emma erst, dass sie vor Spannung die Hände an seinen Rücken gelegt hatte.

»Entschuldigung«, murmelte sie und trat einen Schritt zurück.

»Kann ich davon ausgehen, dass der Empfänger das Gleiche sieht wie wir beide?« Scar bemühte sich offenbar um einen ruhigen Tonfall, damit er die arme Frau nicht noch restlich aus der Fassung brachte. »Taucht in den Unterlagen irgendwo die Adresse dieser Filiale auf? In irgendeiner Zahlung der letzten Monate?«

Emma konnte nicht mehr verstehen, was die Angestellte murmelte, und Scar war wie immer nicht anzusehen, was er dachte. Von hinten sowieso nicht. Schließlich nickte er, machte auf dem Absatz kehrt und marschierte zum Ausgang.

Emma duckte sich hinter den älteren Herrn, umrundete ihn dann und huschte zum Schalter.

»Hey, Miss! Was soll denn das?«, beschwerte sich dieser.

»Tut mir ehrlich leid, Sir!« Emma bedachte ihn mit einem entschuldigenden Lächeln, stellte sich vor die Angestellte und legte unauffällig eine Hand auf den Ausdruck, den Scar liegengelassen hatte. Die Frau war noch damit beschäftigt, Scar hinterherzusehen, weshalb sie ihre neue Kundin nicht einmal zu bemerken schien.

»Hi, mein Name ist Emma Bennett, mein Bruder hat mir Geld geschickt.«

Die Bankangestellte zuckte zusammen, dann schüttelte sie den Kopf und drehte sich zu ihr herum. »Wie lautet der Transaktionscode?«

»Er lautet ... oh, mein Gott! Was ist denn das?« Emma deutete hinter die Angestellte, und in dem Moment, als diese den Kopf in die gezeigte Richtung drehte, knüllte sie das Dokument unter ihrer Hand zusammen und stopfte es in ihre Hosentasche.

»Was denn? Was meinen Sie?«

»Ach, nichts weiter. Ich dachte, ich hätte eine Maus gesehen, aber es war wohl nichts.« Emma zuckte mit den Schultern, ehe sie der Angestellten den Code mitteilte und wenig später das Geld entgegennahm.

Als sie aus der Bank marschierte, zitterten ihre Finger, und sie spürte das zerknüllte Papier in ihrer Tasche überdeutlich. Sie fühlte sich wie eine Bankräuberin. Rasch ging sie zu ihrem Wagen, setzte sich hinters Steuer und schaute sich mit klopfendem Herzen um. Dann legte sie den Geldumschlag auf den Beifahrersitz und zog den Ausdruck aus der Hosentasche.

Was immer mit diesem Papier war, es hatte Scar nervös gemacht. Das hatte Emma sogar seinem Hinterkopf angesehen. Außerdem hatte der sonst so aufmerksame Kerl nicht einmal ihr Auto bemerkt, ansonsten hätte er garantiert auf sie gewartet, um sicherzugehen, dass sie auch wirklich aus Wolfville verschwand. Diese Sache hier musste etwas mit seinen Problemen zu tun haben.

Fahrig öffnete Emma die Papierkugel und strich sie auf ihrem Oberschenkel glatt, während sie sich erneut umsah, ob auch niemand an ihren Wagen herantrat. Was sie eingesteckt hatte, war eine Zahlungsanweisung an eine gewisse Elena Vasquez. Eine Adresse stand nicht darauf, weder beim Empfänger noch beim Sender, Noah Greenwood, der unterschrieben hatte. Es war eine Zahlung über fünfhundert Dollar. Und Scar hatte gesagt, er käme jeden Monat mit dem gleichen Auftrag in die Filiale.

Emma runzelte die Stirn. Wieso zahlte er monatlich so viel Geld an eine Frau, von der Emma nie etwas gehört hatte? Als Erstes drängte sich ihr der Gedanke an Unterhalt auf, aber dass er irgendwo ein Kind hatte, um das er sich nicht kümmerte, passte nicht zu ihm. Vielleicht waren es Schulden?

Mit einem Mal hatte Emma das Gefühl, den Mann, dem sie sich so nahe gefühlt hatte, überhaupt nicht zu kennen. Sie knüllte das Papier zusammen, warf es auf den Beifahrersitz und startete den Motor. Sie fuhr los, ganze zehn Zentimeter weit kam sie, bis sie erneut anhielt.

Argwöhnisch starrte sie auf die Papierkugel. Dann auf den Umschlag. Dann wieder auf die Papierkugel.

»Scheiße«, fluchte sie. Emma konnte es schlichtweg nicht ignorieren. Sie wollte es, unbedingt, aber sie wusste, dass sie das niemals loslassen würde. Und auf einmal wurde ihr klar: Sie konnte nicht gehen.

Du bist nicht für diese Welt gemacht, Süße. Du wirst immer das gleiche, schwache Mädchen sein, das sich von allen herumschubsen lässt.

Erst jetzt dämmerte ihr, dass sie Mishas Theorie bestätigte, wenn sie fortging. Fuhr sie nach Reno, hätte sie sich ein weiteres Mal herumschubsen lassen. Die Queen von Wolfville war zwar der Meinung, Emma fehlte das gewisse Etwas, Herz, Leidenschaft und Willensstärke, aber sie würde ihr beweisen, dass sie sich in ihr getäuscht hatte – Emma war stärker, als sie alle annahmen. Sie gab Scar nicht einfach auf und überließ ihn sich selbst.

Außerdem brannte sie vor Neugier, wer diese Elena Vasquez war.

Sie trat aufs Gaspedal, dass die Reifen durchdrehten, wendete am Ende der Straße und fuhr in Richtung ihrer Wohnung. Vor dem Haus angekommen, lud sie ihre Taschen aus dem Kofferraum und schaffte ihr Gepäck wieder nach oben.

»Schwach bin ich nur, wenn ich gehe«, murmelte sie dabei.

Neue Energie durchflutete sie, nun, da sie einen winzigen Hinweis gefunden hatte, einen Zipfel aus Scars Vergangenheit, an dem sie den Rest hervorzerren würde. Sie war so sicher, dass sie ihm helfen konnte, wenn sie nur erst einmal die Wahrheit erfuhr.

In ihrer Wohnung packte sie den Laptop aus und setzte sich damit an den Esstisch. Scar kam aus Chicago, daher entschied Emma, dort mit ihrer Suche nach Elena zu beginnen. Sie googelte sich die Finger wund, wälzte digitale Telefonbücher und suchte überall im Netz nach dem Namen. Vergebens. Im Fernsehen sahen derartige Ermittlungen immer so einfach aus – man gab hier einen Namen ein, suchte dort im Telefonbuch, und schon hatte man das passende Ergebnis. In der Realität spuckte Google knapp Zweimillionen Ergebnisse für ›Elena Vasquez Chicago‹ aus. Was für eine Scheiße ...

Die Stunden vergingen, Emmas Nacken wurde steif, ihre Augen brannten, und sie hatte nicht den kleinsten Hinweis. Ihre Recherche zu Noah Greenwood zeigte ihr wenigstens zwei der Heime an, in denen Scar gelebt hatte, doch keine Spur von Elena. Dennoch konnte Emma nicht aufgeben. Sie hielt sich derart verbissen an diesem Zipfel fest, dass sie sich allmählich selbst bescheuert vorkam.

Schließlich startete sie eine Suche nach dem Familiennamen. Vasquez in Chicago lieferte Zwölfmillionen Treffer. Emma wechselte auf die Bildersuche, denn die Buchstaben verschwammen allmählich vor ihren Augen. Sie war müde und unkonzentriert, und so langsam wurde sie wütend auf sich selbst. Was machte sie hier bloß? Glaubte sie wirklich, dass sie herausfand, wer diese Frau war, und auf einmal, aus unerfindlichen Gründen, könnte es ein Happy End für Scar und sie geben? Das war schlicht schwachsinnig!

Seufzend klickte sie weiter. Sie war schwindend gering, ja, aber die Hoffnung blieb. Emma konnte einfach nicht aufgeben.

Schließlich, auf Seite zehn, stach ihr eine Todesanzeige ins Auge. Der Verstorbene hieß Matteo Vasquez, er wurde vor gut zwei Jahren auf einem Friedhof in West Chicago beigesetzt. Unter den Hinterbliebenen war seine ›liebende Schwester‹ Elena aufgeführt.

Emmas Herz klopfte schneller. Konnte das die Elena sein? Sie kannte sich in Chicago nicht aus, aber wie man hörte, war die West Side der ungemütliche Teil der Stadt. Wo Schießereien an der Tagesordnung waren und Gangs regierten. Emma lief es eiskalt den Rücken hinunter. Sie mochte sich gut vorstellen, dass Scar aus der Ecke stammte.

Natürlich konnte es sein, dass Matteo Vasquez irgendein Kerl war, der bloß einem Herzinfarkt erlag. Allerdings war er bei seinem Ableben knapp dreißig Jahre alt gewesen, was die Vermutung nahelegte, dass er einen gewaltsamen Tod gestorben war.

Emma hatte keine Ahnung, ob Scar diesen Matteo gekannt hatte oder ob es wirklich diese Elena war, der er Geld schickte, aber sie musste dem Hinweis nachgehen, sonst würde sie bald wahnsinnig werden. Daher checkte sie erneut die Telefonbücher, dieses Mal von West Chicago. Nachdem sie unter Elena Vasquez nichts finden konnte, versuchte sie es unter Rita Vasquez, die als Mutter von Matteo und Elena aufgeführt war. Und endlich gab es einen Treffer!

Emma starrte auf den Telefonbucheintrag, und Schweiß perlte auf ihrer Stirn. Wenn sie die Nummer wählte, überschritt sie eine empfindliche Grenze, nach der sie nicht mehr umkehren konnte. Das wurde ihr in diesem Moment bewusst.

Verdammt, sie war nicht Sherlock Holmes, der irgendein Verbrechen aufklärte, es ging hier um Scars Vergangenheit. Eine Vergangenheit, die er mit größter Mühe vor ihr und allen anderen verbergen wollte. Wenn sie ehrlich war, hatte sie Angst, was sie erfahren würde. Bei allem Vertrauen in Scar, aber wenn er sich derart verschloss, musste Emma davon ausgehen, dass diese Geschichte zwischen ihm und Elena krass gewesen war. Allerdings war der Drang nachzuforschen, viel stärker als jegliches andere Gefühl in Emma. Sie würde Mrs Vasquez anrufen, das stand außer Frage. Nicht umsonst hatte sie stundenlang das Internet durchforstet wie eine irre Stalkerin. Jetzt musste sie nur noch überlegen, was sie sagen wollte.

Sollte sie Scars Namen erwähnen? Wenn sie es nicht tat, würde sie die Verbindung vermutlich niemals herausfinden.

Emma griff nach ihrem Handy. Ihre Finger zitterten vor Aufregung, und das flaue Gefühl in ihrer Magengegend breitete sich aus. Entschlossen schob sie ihr schlechtes Gewissen beiseite und wählte die Nummer. Sie wusste, dass sie Scar aufs Übelste hinterging und sein Vertrauen missbrauchte, aber er ließ ihr keine andere Wahl, redete sie sich ein. Er würde ihr niemals freiwillig von Elena erzählen.

Sie atmete tief durch, dann drückte sie auf das grüne Hörer-Symbol. Es klingelte. Mehrmals. Emmas Herz raste, und sie war kurz davor aufzulegen, da erklang ein Knacken in der Leitung.

Ohrenbetäubender Lärm scholl aus dem Hörer. Ein Kind weinte kläglich, und eine Frau schimpfte im Hintergrund auf Spanisch, dazu klapperte irgendetwas.

»Hola«, brüllte eine raue Stimme ins Telefon. Da Emma nicht gleich reagierte, fügte die Frau hinzu: »Quien esta ahi?«

Emma räusperte sich. »Ähm, hallo, spreche ich mit Rita Vasquez?«

»Rita Vasquez, si, soy yo.«

Mist, anscheinend gab es hier ein leichtes Verständigungsproblem. Emma sprach so langsam und deutlich wie möglich: »Ich würde gerne mit Elena Vasquez sprechen. Ist Elena da?«

»Qué hay con Elena? Debo ponerla en el teléfono?«

»Si, Elena an el telefono bitte.« Emma legte eine Hand an die Stirn. Was kam sie sich dämlich vor.

»Elena!«, rief die Frau, und das Kind tobte daraufhin noch lauter. »Teléfono!«

Im Hintergrund fand eine kurze Diskussion statt, von der Emma jedoch kein Wort verstand. Sie hatte nicht viel mit spanisch sprechenden Menschen zu tun, von Isa abgesehen. Allerdings sprach diese derart schnell, dass Emma nie wusste, wann das eine Wort aufhörte und das nächste anfing.

»Qué pasa?«, meldete sich schließlich eine andere weibliche Stimme. »Eres tú, Nina?«

Oh nein, hoffentlich sprach wenigstens Elena Englisch, sonst wäre dieses Gespräch wenig aufschlussreich. »Ähm, hi, spreche ich mit Elena Vasquez?«

»Wer will das wissen?«, blaffte die Frau mit starkem Akzent in den Hörer.

Oha, da war wohl jemand misstrauisch. Emmas Erfahrung nach reagierten nur Menschen, die etwas zu verbergen hatten, auf diese Weise: Kriminelle, Flüchtige, Mitglieder von Motorradclubs ...