Denkräume

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Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, August 2020

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ISBN 978-3-644-00638-6

www.rowohlt.de

 

Alle angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die Printausgabe.

ISBN 978-3-644-00638-6

Fußnoten

Polnisches Gendering: am Wortende alle für alle Geschlechter nötigen Buchstaben in gefälliger Reihenfolge.

Nebenbei auch die ‹Badezimmer›, die etwa das Format eines Großbriefs haben, aber darum geht es hier nicht.

Hanna Engelmeiers Wunsch, dieser Liste ein Exemplar von Einkauf aktuell hinzuzufügen, «damit es weniger peinlich wirkt», musste unerfüllt bleiben, das ist schließlich keine Fiktion hier.

Erledigt.

Überhaupt, die Wissenschaft! Was hat sie uns hierbei eigentlich geholfen!!???? Wenig bis NICHTS.

Eine auch nur oberflächliche Visite bei JSTOR zeigt: Unter anderem Winslow 2016, Narum 2004, Hadfield et al. 2003, Slack 1968, Allen 2011, Gieryn 2002, Millard 1982 fanden es für sich richtig, auf Churchill zurückzugreifen, egal, ob sie über singhalesische Dörfer (Winslow) oder Modernismus im Allgemeinen schrieben (Allen). Nachweislich nachgedacht haben wir also zumindest darüber, dass ein Churchill-Zitat, das knackig zu nennen, eine arge Versuchung ist, ungefähr so funktioniert wie ein leistungsstarker Dosenöffner, mit dem man alles von Tomatenmark bis Ananaskonserve aufbekommt. Zusammengefasst: 1-a-topische Verwendung des Namens «Churchill», auch in der Architekturtheorie.

Rassistische Äußerungen, Befürwortung eugenischer Maßnahmen, Planung von Giftgaseinsätzen in Kurdistan, persönliche Mitschuld an der Hungersnot in Bengalen 1943 u.v.m.

Erving Goffman, Wir alle spielen Theater, München: Piper 2003 (im Original: The Presentation of Self in Every-day Life, New York: Doubleday 1959).

George Lakoff/Mark Johnson, Metaphors We Live By, Chicago: University of Chicago Press 1980

Stevie Wonder, The Secret Lives of the Plants, 3 LPs, Motown 1980 – aber auch Frank Zappa & The Mothers Of Invention, Call Any Vegetables.

Nach einer merkwürdigen Hymne auf das Prokrastinieren hat Kathrin Passig vor ein paar Jahren im Rahmen einer nicht ganz gemeinsamen Veranstaltung in der Berliner Volksbühne mir aufgrund meiner Aussage, ich hätte keine Zeit zu prokrastinieren, erwidert, ich käme ihr vor wie ein Industrieller aus dem 19. Jahrhundert. Die Vorstellung, ich könnte aufgrund von Sorgepflichten nicht prokrastinieren, kam ihr gar nicht in den Sinn, ihre Vorstellung von Denkräumen schien nur in diesem digitalen Hipstertum und einer gewissen Betriebsamkeit zu bestehen, was vermutlich den meisten so geht. Schrifstellerinnen werden als vereinzelte Subjekte gedacht, die nur durch digitale Vernetzungsformen zueinanderfinden, kollektive Denkräume schließen sich erst daran an. Die von Kathrin Passig dagegen entworfene Vorstellung digitaler Muße wirkte damals auf mich wie eine Simulation kontemplativer Vorstellungsräume, eine Camouflage der rasenden Bewegung durch digitale Welten, in die wir eingeübt werden. Was ist Prokrastination heute anderes, als sich durch digitale Räume zu schieben, diese stets aufzuschieben, also eine Art Raumflucht mitten im Denken zu installieren, sich jedenfalls nirgendwo mehr wirklich aufzuhalten. (Aber was hieße heute schon wirklich?) Ob man diese Form der Entgrenzung wirklich als zeitgemäßes Dandytum sehen kann oder eher als ein digitales Gebot eines narzisstischen Spektakels inmitten einer nur scheinbar unendlichen Bewegung, möchte ich an dieser Stelle nicht entscheiden. Vielmehr beschäftigt mich die Frage, ob Denkräume nicht erst durch Grenzen entstehen, die Frage, ob das, was einen angeht und was nicht, eine Rolle in deren Formierung spielt? Werden einem manchmal gar Denkräume zugewiesen oder verwehrt, je nachdem, ob ich weiblich, migrantisch, gesund, arm oder reich bin? Reimt sich Denkraum auf Anerkennungsraum? Und wird diese Frage nicht durch meine sozialen Umstände gestaltet, überlege ich, während die Betonwand namens sozialer Realität in Höchstgeschwindigkeit in Neukölln auf mich zurast (ob in der Bankfiliale, als Verkehrsteilnehmerin oder am Spielplatz), sie mag zwar hier automatisch Fiktion werden, aber in diesem Abschneiden der Gedanken durch mein Umfeld, liegt etwas, das mir zu denken gibt. Immerhin. Vielleicht ist dieses Denken einfach zu einer anderen Tätigkeit geworden und in einsamen Räumen nicht mehr vorstellbar? Vielleicht dienen Denkräume von Schriftstellerinnen heute mehr der Connection. Dem Angebundensein, Verbundensein? Vielleicht entspricht dem auch die Vielfalt scheinbar brennender Themen, die Schriftstellerinnen (die ja keine Sozialfigur mehr abgeben) in zunehmendem Maße auf ihren digitalen Schreibtischen finden und einen von hierhin nach dorthin springen lassen – «Ach, das ist nur das 21. Jahrhundert», beruhigte mich vor kurzem ein befreundeter Journalist.

Orte als Mittel, also das kann man nur als absolut abgehobener Charakter formulieren, nicht? Sie sind keine Mittel, du Dummkopf! Vielleicht bist du eher das Mittel. Nur für was? Also mir persönlich fällt nichts ein.

Zufällige Inspirationsräume? Du bist entlassen!

Also mit der Formulierung bist du doppelt entlassen.

Also von hier an lese ich nicht weiter!

Mangel Rabe überwinde einmal den Traum // Muss erblühen. Liebliches Rückzugsgebiet. Mond. // Geschwätz Münze wahlloser Zugriff einst beachtete Wut.

Ich bin niemand. Wer bist du? / Bist auch du niemand?

Doch aufzuerlegen, ist nicht dasselbe wie / zu entdecken. Eine Ordnung zu entdecken wie die / Einer Jahreszeit, den Sommer zu entdecken und ihn zu erkennen, // Den Winter zu entdecken und mit ihm vertraut zu sein, zu finden / Nicht aufzuerlegen, nicht die Vernunft gebraucht zu haben / Aus dem Nichts in schwere Wetter geraten zu sein, // Es ist möglich, möglich, möglich. Es muss / Möglich sein. Es muss so sein, dass mit der Zeit / Das Wirkliche aus seinen rohen Zusammenballungen hervorkommen wird // Wie ein wildes Tier anfangs, ausgespien, unähnlich / Gewärmt von einer verzweifelten Milch. Um das Wirkliche zu finden, / Jeder Fiktion entkleidet zu werden außer einer, // Der Fiktion eines Absoluten --- Engel, / Schweig still in deiner lichten Wolke und höre / Die lichte Melodie des eigentlichen Klangs.

Aṭ-ṭābūr (Die Warteschlange). Der Roman erschien im April 2020 unter dem Titel Das Tor in der deutschen Übersetzung von Larissa Bender im Wilhelm Heyne Verlag, München (A.d.Ü.).

Wir haben uns den Konfi Stuttgart nicht ausgedacht! Er heißt wirklich so und existiert in mehr als einem Unternehmen.

Diesen Satz habe ich aus einem Kommentar von Hanna Engelmeier übernommen und nur leicht gekürzt.

«Die Zwitschermaschine», bit.ly/zwitschermaschine, erschienen 2012 im Residenz Verlag in Die Kunst des Zwitscherns.

«Die Wir-Verwirrung: Kontextfusion und Konsensillusion», bit.ly/wir-verwirrung, erschienen 2013 im Merkur.

Der vorliegende Text enthält Spuren meines Aufenthalts am Berliner Wissenschaftskolleg im Winter 2008. Es handelt sich um die erweitere Fassung eines Textes, der 2009 in Paris anlässlich der Verleihung des Raymond-Aron-Übersetzer-Preises an die Übersetzer meiner Topographie des Fremden auf Französisch vorgetragen wurde und in einer ersten deutschen Fassung in der italienischen Zeitschrift links (Rom), X (2010), S. 13–17 erschien. Was den weiteren theoretischen Hintergrund meiner Überlegungen betrifft, vgl. das Schlusskapitel in Der Stachel des Fremden, Frankfurt/M. 1990: «Gleichzeitigkeit des Ungleichartigen. Moderne Ordnung im Spiegel der Großstadt»; Topographie des Fremden, Frankfurt/M. 1997; Ortsverschiebungen, Zeitverschiebungen, Frankfurt/M. 2009 sowie «Orte und Wege des Fremden – Phänomenologische Perspektiven», in: J. Klose, W. Schmitz (Hg.), Wer ist Deutschland? Aspekte der Migration in Kultur, Gesellschaft und Politik, Dresden 2017.

Meine Schwester und ich, wir erinnern uns noch / An den Tag, an dem wir Abschied nahmen und wegfuhren / Und wir denken an unsere Freunde, die bleiben mussten / Aber darüber sprechen wir nicht.

Anatevka, Anatevka … bald wird man ein Fremder sein, an fremdem Ort / und man findet keinen Menschen dort …

Regen auf dem West Side Higway / rote Ampel am Riverside Drive … Heimweh nach einer Frau, nach uns selbst … Eine völlig neue Poesie, die hier beginnt.

wenn nur eine Frau die Wahrheit über ihr Leben sagen würde / täte sich ein Riss in der Welt auf.

Wie bei so vielen Dingen stand am Anfang der Gedanke. Aus dem Gedanken wurde eine Idee, aus der Idee das Buch. Wir unterhielten uns oft über die Orte, an denen wir denken und schreiben, schickten uns Fotos hin und her. Die eine von uns saß damals in Hamburg an einem Forschungsprojekt, die andere hatte gerade ihren Roman abgeschlossen und mit ihrer Promotion in München begonnen. Es waren unterschiedliche Orte, der klassische Schreibtisch zu Hause, das Büro voller Bücher, Notizen und Zettel, der Sekretär in einer Sommervilla während eines Schreibaufenthalts, der Klapptisch in der Bahn, die Bank am Meer. Als wir dann im Spätsommer zusammen in den Bergen umherwanderten, dort am See, dachten wir darüber nach, diese Gedanken zu veröffentlichen. Wir sprachen weiter über dies und das, Schreiben im Allgemeinen und das Denken im Spezifischen. Wo, wann und unter welchen Umständen. Wir sprachen über prekäre Zustände und Existenzängste, über den Zweifel und das Zaudern beim Denken, die Stille beim Schreiben, den Moment der Erkenntnis. Plötzlich und unvermittelt war sie dann da, die Idee für dieses Buch: Wir laden andere ein, über ihre persönlichen und damit besonderen Orte des Denkens und Schreibens zu reflektieren.

Selbst als Hybride unterwegs, zwischen Wissenschaft und

Klar war auch, dass sich das Denken und Schreiben nicht nur an klassischen Orten vollzieht, etwa am Schreibtisch und in der Bibliothek, sondern weit darüber hinaus an Orten, die ursprünglich nicht für das Denken vorgesehen sind. Denken kann prinzipiell überall und jederzeit stattfinden. So wie wir am See auf Gedanken und Ideen kamen, in der Bewegung, im Gespräch, im Miteinander, in Zwischenräumen, die erst in diesen Prozessen entstehen, so gibt es viele Orte und Weisen des Denkens und Schreibens. Denkräume in diesem Sinne sind Möglichkeitsorte, an denen unter bestimmten Bedingungen und auf eine spezifische Art und Weise nachgedacht und geschrieben wird. So kommen auch zunächst absurd erscheinende Räume und ästhetische Erfahrungsprozesse in den Blick: die Tanzfläche zum Beispiel, oder der

Genau genommen entstehen Räume erst durch eine Grenzziehung. Es wird eine Grenze gezogen, die einen Innenraum erzeugt, der wiederum einen zweiten Raum entstehen lässt. Grenzen schaffen Räume, in denen wir leben und arbeiten, denken und schreiben. Sie trennen uns von einem Außen, um uns zu konzentrieren, gleichzeitig bleiben wir mit diesem Außen immer in Verbindung. Räume, so ließe sich festhalten, sind auf zweifache Weise strukturiert: Sie eröffnen Möglichkeiten und beschränken diese, schließen ein und schließen aus, sie trennen und verbinden.

Von der Vielfalt an Orten und der Unterschiedlichkeit der Denk- und Schreibweisen, wie sie dann von den Autorinnen und Autoren in dieser Anthologie an uns herangetragen wurden, waren wir aber selbst überrascht. Die Beitragenden nehmen uns mit in die Akademie, in die Universität und in die Vorlesung, zeigen uns Möglichkeiten, aber auch Grenzen des Denkens in der Institution auf. Sie lassen uns beim Denken in der Küche und im Oberstübchen zuschauen sowie an ihren Leiden und Räuschen der Erkenntnis teilhaben. Darüber hinaus ist von unbesetzten Räumen und Nicht-Orten die Rede, von transuranischen Räumen und Frei-Räumen, von tragbaren und flüchtigen Orten. In literarischen Streifzügen erhalten wir Einblicke sowohl in die Erlebnisse und Erfahrungen der Schreibenden als auch in die Ordnungen und Unordnungen des Denkens. Auch das Denken auf der Arbeit und im Alltag erweist sich als erstaunlich betriebsam, wenn

Dabei nimmt das kollaborative Denken und Schreiben einen zentralen Stellenwert ein, und das nicht nur im Netz. Auch wenn man beim Denken physisch allein ist, sind oft die Gedanken anderer da, wenn etwa Bücher zu Resonanzkörpern werden oder das Gespräch mit sich selbst zur Erkenntnis führt, wenn man ganz einfach mit einer Person in einem Raum sitzt oder dem Prasseln der Dusche zuhört. Ob zu Hause in den eigenen vier Wänden oder im öffentlichen Raum: Gedanken kommen und gehen oft unbemerkt, Ideen entstehen häufig dann, wenn man es nicht erwartet, wenn man nicht mit ihnen rechnet, wenn man eben nicht nachdenkt: im Leerlauf, in der Zerstreuung, in der Erinnerung. Und nicht zuletzt bergen die Beiträge überraschende Momente, wenn Orte der Gefangenschaft – metaphorisch oder real – zu Möglichkeitsräumen der Kreativität und Freiheit werden.

So vielfältig und kontingent wie die Denkräume sind auch die Darstellungen, die ihnen ihre Form geben: von der Anekdote über die autobiographische Beobachtung und der Erzählung bis hin zum Denkbild und dem Essay, sie alle erhalten Eingang in die Anthologie. Meist vermischen sich Stile und Textarten auch in einem Beitrag und fügen sich zu «kleinen Formen», die durch die Kraft der Imagination

Dadurch entfaltet sich ein ernstzunehmender und zugleich vergnüglicher Blick auf die Denkräume der Gegenwart, die im 21. Jahrhundert von Prozessen der Digitalisierung und Technisierung, der Migration und Globalisierung herausgefordert und beständig neu bestimmt werden. Das Denken ist so unberechenbar wie die Gegenwart, in der es stattfindet. Das zeigen uns Ereignisse wie Kriege und Pandemien, die unsere Räume des Denkens schlagartig verändern. In der Zeit, in der wir diesen Text schreiben, sind die Universitäten und Bibliotheken geschlossen, die Clubs und Cafés dicht, die Straßen leer. Wir sind auf uns selbst zurückgeworfen und dennoch nicht alleine.

Die Anthologie entwirft eine Geschichte, die etwas über die Welt und ihre Kulturen erzählt, eine Geschichte, die in ihrem Ergebnis eine alte ist. Im Denken und Schreiben zeigt sich trotz der Unterschiede etwas Gemeinsames, über das wir uns in der Schrift verständigen können. Zumindest uns ging es beim Lesen so, unbenommen davon, ob die Beiträge aus akademischen oder alltags- und populärkulturellen Zusammenhängen kommen, aus dem eigenen Kontext oder entfernten Ländern, ob sie in der Gemeinschaft mit anderen oder in der Isolation entstanden sind. In allen Texten scheint etwas auf, was wohl das Universelle genannt wird: die Gleichheit in der Differenz.

 

Die Herausgeberinnen

Hamburg/New York, im März 2020

Im Grundsätzlichen

Carolin Emcke

«Also lassen Sie uns denken. Lassen Sie uns in Büros denken; in Omnibussen; während wir in der Menge stehen und Krönungen oder Amtsantrittsumzüge von Oberbürgermeistern beobachten; lassen Sie uns denken, wenn wir am Kenotaph vorbeigehen; lassen Sie uns in Whitehall denken; auf der Galerie des Unterhauses; in den Gerichtshöfen; lassen Sie uns bei Taufen und Hochzeiten und Beerdigungen denken.»

Virginia Woolf, Drei Guineen

Die Frage nach den Räumen, in denen ich denken kann oder, allgemeiner, in denen sich denken lässt, wird gewohnheitsmäßig auf Räume als Orte gelenkt, also auf ein Wo, an dem sich ungestört, unbelastet, unbeschwert denken (und schreiben) lässt. Ich vermute, diese eingeübte Assoziation, hin zu etwas Topographischem, Gegenständlichem, hat nicht zuletzt mit Virginia Woolfs legendärem Essay «Ein eigenes Zimmer» zu tun, der die dahingeworfene Frage nach «Frauen und Literatur» auf ihre eigenen unmöglichen Voraussetzungen hin abklopft und mit dem Verweis auf die ökonomischen und räumlichen Bedingungen des weiblichen Denkens und Schreibens von Literatur beantwortet.

Und so fallen auch mir all die Räume ein, die ich mir

Bis heute hat sich diese beißende Sehnsucht gehalten: in Räumen sein zu können, die nicht schon besetzt sind mit Erwartungen, die ich nicht erfüllen kann oder will, in Räumen also, die mir selber Raum lassen. Bis heute empfinde ich eine regelrecht körperliche Freude, sobald ich an einem Ort bin, an dem ich lesen oder schreiben oder auch nur sein kann, ohne andere Ansagen oder Aufgaben, an einem Ort, an dem es keinen Zwang gibt, anders auszusehen, anders zu sprechen, anders zu denken, anders zu sein, keinen Zwang, mich anders kleiden, bewegen, artikulieren, etwas verbergen oder entschärfen zu sollen.

Später (bis heute) waren und sind solche geschützten Räume auch queere Clubs oder Bars, nicht als Orte, an denen sich schreiben ließe (oder für mich nicht), aber doch als «safe spaces», Orte, an denen es, neben der schlichten Freude an der Begegnung, auch ums Sichverständigen und miteinander Handeln gehen kann. In der letzten Zeit, in denen die

In den letzten Jahren, in denen die individuellen und kollektiven Anfeindungen zugenommen und das abstrakte Bewusstsein der eigenen Verwundbarkeit sich schmerzlich konkretisiert hat, ist mir dieses Denken mit anderen, die Suche nach Orten, an denen sich gemeinsam nachdenken lässt, unersetzlich geworden. Nicht nur als Räume, in denen wir uns beschützt und aufgehoben fühlen können, sondern auch als Räume, in denen zeitgeschichtliche, politische, soziale, ästhetische Fragen leidenschaftlich verhandelt werden können. Es ist ein großes Lebensglück, seit mittlerweile fünfzehn Jahren an der Schaubühne in Berlin einen solchen Ort, ein solches öffentliches, monatliches Gespräch mitgestalten zu können. Das reicht natürlich nicht. Es braucht mehr davon. Aber es ist mir über die Jahre immer kostbarer geworden, mir andere einladen zu dürfen und mit ihnen zusammen auf einem Podium, und immer auch mit dem Publikum, fragen, lernen, hadern, überprüfen, zweifeln und irren zu dürfen. Ein solcher Raum lebt, glaube ich, auch davon, dass das eigene Nicht-Wissen, Nicht-Verstehen sichtbar werden kann und nicht nur eine Expertise oder Überzeugung ausgestellt wird.

Der politisch-mediale Diskurs des Fernsehens bietet mittlerweile ja vor allem Gesprächssimulationen, die keinerlei, wirklich keinerlei Erkenntnisinteresse mehr leitet, sondern mit pornographischer Lust vorhersehbare Konflikte und

Das Sprachbild der Räume, die selber Raum lassen, eröffnet aber noch eine andere Überlegung, die wegführt von Räumen als Orten und hin zu Denkräumen als Phantasien, als Vorstellungen. Wenn ich diese Räume als Wie des Nachdenkens (oder des Womit) betrachte, also die Gegenden, in die hinein ich denken gelernt habe, dann spielte nicht nur das wachsende Reservoir an Wörtern eine Rolle, mit denen sich die Welt erschließen ließ, sondern auch die Geschichten und Erzählungen, mit denen sich Affekte und Beziehungen, Normen und Lebensentwürfe begreifen ließen: Für mich waren das sehr früh die biblischen Figuren und ihre Lebenswelt, und sie sind es noch heute, aber natürlich erweitert und vertieft um poetische oder theoretische, dramatische oder literarische Texte, die mich nicht nur in andere Erfahrungswelten haben hineindenken lassen, sondern auch durch ihre Musikalität und

Diese Räume, in die sich denken lässt, diese Landschaften, in die sich imaginieren lässt, sind immer vorgegeben und eben doch angeeignet, so subjektiv und vereinzelt, wie sozial und gemeinsam geteilt mit all denen, denen sich diese literarischen Motive und Bilder, diese Figuren und Erfahrungen ebenso (und etwas anders) eingeschrieben haben. Es sind endlose Fäden, die miteinander verknüpft und verwoben, wieder aufgelöst und hängen gelassen werden, und sie

In meinem Fall gehörte von früh an die klassische Musik zu dem vielleicht am tiefsten prägenden Denkraum, die musikalische Sprache ist für mich diejenige, die mir – durch ihre Methodik – die komplexesten Empfindungen und Gedanken erschlossen hat. Sie hat vermutlich auch, neben der Kritischen Theorie, den größten Einfluss auf mein eigenes Schreiben genommen. Aber es wäre fahrlässig, nur über ästhetische Denkräume, nur über das zu schreiben, was eine Person an sprachlichem, literarischem oder musikalischem Reservoir und Struktur gegeben wurde. Wenn es zu reflektieren gilt auf die Räume, in denen wir denken, dann gehören all jene Einflüsse, all jene Setzungen dazu, die das Denken behindern, unterdrücken oder abkürzen lehren, all die Ritualisierungen, Tabuisierungen, die unser Denken, unsere Körper angepasst und zugerichtet haben. Wenn erfasst werden soll, in welchen Räumen sich denken lässt, dann müssen all die Institutionen und Traditionen mit beschrieben werden, die das unabhängige, querulantische, subversive Denken einordnen, begradigen, maskieren wollen. Es sind Trainingsräume, in denen Regeln und ihre Anwendungen, in denen Techniken und ihre Wiederholungen geübt werden, so lange, bis sich alle Abweichung als Missgeschick oder als Gefahr denunzieren lässt, es sind Schweigezonen, die so lange von Generation zu Generation, in der Logik der Familiengeheimnisse weitergereicht werden, bis sie weitere Zonen der Verunsicherung oder der Scham erzeugen. Ohne dass die Einzelnen genau wüssten, wofür sie sich schämen. Und die zuletzt jede Befragung, jeden Zweifel, jedes Thematisieren als Verrat, als Flucht oder als Schamlosigkeit diskreditieren. Diese Trainingsräume, in

Wenn ich über Denkräume schreiben soll, dann muss ich auch über die Mechaniken der Verdrängung, des Leugnens schreiben, die alle dazu dienen, das eigenständige, zweifelnde, lebendige Denken zu betäuben. Diese Mechaniken sind überall und jederzeit am Werk, und wer sie reflektieren, befragen, unterwandern will, muss eben die soziale Welt und ihre Praktiken reflektieren und befragen. Das ist es, wozu uns Virginia Woolf mit ihrem Satz «Also lassen Sie uns denken» auffordert.

«Also lassen Sie uns denken. Lassen Sie uns in Büros denken; in Omnibussen; während wir in der Menge stehen und Krönungen oder Amtsantrittsumzüge von Oberbürgermeistern beobachten; lassen Sie uns denken, wenn wir am Kenotaph vorbeigehen; lassen Sie uns in Whitehall denken; auf der Galerie des Unterhauses; in den Gerichtshöfen; lassen Sie uns bei Taufen und Hochzeiten und Beerdigungen denken.»

Entscheidend ist nicht allein, dass wir in Büros denken oder in Omnibussen, im Unterhaus oder in den Gerichtshöfen. Entscheidend ist, dass wir diese Orte und Institutionen, auf ihre Bedingungen und Logiken hin befragen. Wir sollen nicht einfach in Büros sitzen und nachdenken, sondern über das, was sie befördern oder verunmöglichen, wen sie einlassen oder ausschließen. Wir sollen nicht einfach in der Menge stehen und Krönungen und Amtsantrittsumzüge beobachten, sondern diese Traditionen und Rituale auf das befragen, was sie über Privilegien und Status verraten oder eben zu

Carolin Emcke

Carolin Emcke, Publizistin, studierte Philosophie in London, Frankfurt/M. und Harvard, Promotion über den Begriff «Kollektiver Identitäten». Von 1998 bis 2014 Auslandsredakteurin und -reporterin mit Fokus auf Krisenregionen (u.a. Kosovo, Afghanistan, Irak, Gaza, Kolumbien, Haiti), seitdem freie Publizistin (Kolumnen in der Süddeutschen Zeitung und El País). Ihre Bücher («Wie wir begehren», «Weil es sagbar ist», «Gegen den Hass») wurden weltweit in über zehn Sprachen übersetzt. Seit über fünfzehn Jahren kursiert und moderiert Carolin Emcke den «Streitraum» an der Schaubühne Berlin. Seit 2019 ist sie auch mit der Lecture Performance «Ja heisst ja und …» in der Schaubühne zu sehen. Ausgezeichnet u.a. mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels, dem Johann-Heinrich-Merck-Preis für Essayistik und dem Brückenpreis. Carolin Emcke lebt in Berlin.

Nora Sternfeld

Heute ist der «Denkraum» in aller Munde: KuratorInnen, ArchitektInnen, PädagogInnen, BibliothekarInnen sprechen davon in Bildungskonzepten, Hochglanzmagazinen, Werbetexten und Anträgen. Dort wird er gerne wie eine Kontaktzone vorgestellt – als sozialer Raum der Versammlung und Auseinandersetzung – oder wie eine Bibliothek oder sogar wie eine Flughafen-Lounge. Es scheint überhaupt so, als würden sich Lounges als Räume zunehmend ausbreiten. Eigentlich sind es antiseptische, anonyme und überwachte Räume, Orte also, die ich hier gerne schlecht gemacht hätte, von denen ich aber zugeben muss, dass ich in ihnen schreiben kann, obwohl sie vielleicht nicht einmal Räume im eigentlichen Sinne sind, sondern «Nicht-Orte» wie wir von Marc Augé lernen. Denn so bezeichnete der Anthropologe Transiträume, Wartezonen auf Flughäfen, Bahnhöfen, in den Shopping-Malls der Stadt – die Formen von Zwischenstationen, die von Infrastrukturen geschaffen werden.

Solche Nicht-Orte sind also unsere Denkräume geworden. Und es gibt immer mehr davon. Es scheint so, als würden wir uns Denkräume wünschen, in einer Welt, die zwischen Anträgen, Abrechnungen, Terminplanungen, Budget- und Finanzplänen kaum Raum lässt, um zu denken. Vielleicht haben wir deshalb heute einen stärker räumlichen als denkerischen

Ringen um den Denkraum

Bevor wir uns also den Denkräumen der Gegenwart widmen, um nachzuvollziehen, was mit Wissensräumen im 21. Jahrhundert geschah, will ich mir noch kurz Raum nehmen und beim eigenen Denken bleiben. Ich schreibe am besten, wenn ich alleine reise. Dabei gibt es nicht nur die, die neben mir sitzen, es gibt auch noch die vielen Referenzen, mit denen ich denke. Die anderen AutorInnen schaffen einen Raum, in dem ich nicht alleine schreibe, wenn ich schreibe, auch wenn ich dabei immer alleine bin. Manchmal habe ich sogar das Gefühl, dass sie mit mir denken, wenn ich in der Bahn oder im Flugzeug vor meinem Computer sitze – zwischen dem und mir sich übrigens ebenfalls ein Raum bildet, in dem mich kaum etwas stören kann, wenn ich einmal im Textfluss bin. Jedenfalls bin ich in Auseinandersetzung mit lebenden und nachlebenden FreundInnen und GegnerInnen, deren Texte ich lese, diskutiere, auf die ich verweise und denen ich hoffentlich

Und von dieser schrieb wiederum einer, mit dem ich hier denken möchte: Aby Warburg. Der Gründer der Kulturwissenschaft prägte den Begriff des Denkraums. Nun handelte es sich dabei keineswegs um einen gemütlichen Rückzugsort, auch nicht um die wunderschöne und berühmte Bibliothek, die Warburg in Hamburg gemeinsam mit seinen AssistentInnen aufbaute und die heute in London als Institut existiert, weil sie als jüdische Institution von den Nazis bedroht war. Vielmehr ist «Warburgs Denkraum» – so übrigens der Titel eines Sammelbandes, herausgegeben von Martin Treml, Sabine Flach und Pablo Schneider, dessen Beiträge über genau diesen nachdenken –, jedenfalls ist «Warburgs Denkraum» der Platz in unserem Kopf, den wir uns so wünschen, wenn sich dort die Gedanken vernebeln und verdichten, er birgt die Klarheit, um die wir ringen.

Warburg meinte mit Denkraum natürlich keine Flughafen-Lounge, sondern etwas ganz anderes: Er schreibt vom Denkraum der Besonnenheit zwischen sich und dem Objekt. Genau genommen formuliert er es so: «Wir sind im Zeitalter des Faust, wo sich der moderne Wissenschaftler – zwischen magischer Praktik und kosmologischer Mathematik – den Denkraum der Besonnenheit zwischen sich und dem Objekt zu

Ganz in diesem Sinne spricht Martin Treml vom «Ringen um Selbstvergewisserung, ja Selbstheilung des schwer Erkrankten und mühsam Genesenen». So gesehen ist der Denkraum ein Freiraum im Kopf, der noch ganz schön viel von seiner Bedrohung durch das wirre Denken, dem er abgerungen ist, erzählt.

Der Denkraum als Platz, den es im Kopf erst zu schaffen gilt, ist vielleicht weniger Raum als Zwischenraum. Der Begriff markiert einen Umbruch im Denken am Anfang des 20. Jahrhunderts, das sich über die ihm durch die Disziplinen und Hierarchien des akademischen Wissens gesetzten Grenzen hinwegsetzen will. Walter Benjamin, ein Zeitgenosse Warburgs, erweist sich hier als gute Referenz, auch hier zeigt sich die «gute Nachbarschaft»: Er schreibt vom Denkbild. Ein Denkbild ist bei Benjamin eine Miniatur im Schreiben, ein Essay, der zugleich ein Bild zeichnet, das Erkenntnis und Poetik miteinander verbindet. Anders als der Warburg’sche Denkraum sucht das Benjamin’sche Denkbild nicht Distanz, sondern will diese durch Punktierung durchbrechen. Es ist ein sprachlicher Versuch etwas über die Gegenwart im Zwischenraum von

Wissensräume zwischen Zugang und Zugriff

Vielleicht kann der Versuch, ein solches Denkbild zu zeichnen, dabei helfen zu verstehen, warum die stylischen Lounges, die Denkräume sein wollen, so unheimlich sind. Damit stellt sich auch die Frage: Wodurch unterscheiden sich Wissensräume heute in ihren Architekturen, Nutzungsformen und Selbstverständnissen von solchen des 19. bzw. des 20. Jahrhunderts?

Stellen wir uns zunächst eine Bibliothek des 19. Jahrhunderts vor. Was sehen wir vor unserem inneren Auge? Wahrscheinlich ein beeindruckendes Gebäude, erhöht gebaut. Um es zu betreten, müssen wir Treppen erklimmen, die von Monumenten wichtiger Denker auf Sockeln gesäumt sind. Die meisten sind Männer, sie sind fest eingeschrieben in die Geschichte der jeweiligen nationalen Repräsentation (in Deutschland ist sehr wahrscheinlich Kant und vielleicht auch Alexander von Humboldt dabei, in Frankreich wahrscheinlich Voltaire und möglicherweise auch Rousseau). Stellen wir uns vor, wir gehen über diese Treppen, erreichen ein Plateau, dann weitere Treppen, gehen durch ein beeindruckendes Portal in einen Raum mit weiteren Büsten, Stuck an der Decke, vielleicht ein Deckenfresko. Vor uns sehen wir deutlich und massiv eine Theke, die die Grenze zwischen innen und außen markiert, sie regelt den Zugang. Vielleicht sehen wir

Die Materialitäten und Architekturen der nationalen Repräsentation hatten eine wichtige Funktion im 19. und 20. Jahrhundert. Mittlerweile ist diese kritisch in den Blick geraten. Die scheinbare Neutralität und Objektivität, die sie vorgaben; die folgenreichen Unterscheidungen und Hierarchien, die oft vor allem ein «Wir» im Gegensatz zu einem «Ihr», ein «Eigenes» im Gegensatz zu einem «Fremden» konstruierten; die Macht der Präsentationsformen und die zumeist bürgerlichen, westlichen, patriarchalen und nationalen Gesten des Zeigens wurden längst in Frage gestellt. Damit einhergehend bröckelten auch der überzeitliche Wahrheitsanspruch und die Allgemeingültigkeit des Wissens, die bis dahin das Denken bestimmt hatten. Die Kritik greift noch. Aber möglicherweise kommen in der Gegenwart eben andere Strategien und Technologien hinzu, die uns regieren und die sich nicht so leicht fassen lassen. Mein Denkbild geht deshalb der Ahnung nach, dass wir nicht mehr wesentlich durch Repräsentation regiert werden, sondern auch durch andere postdemokratische Mechanismen, die sich als Logistiken, Mathematiken und Infrastrukturen beschreiben lassen (denken wir etwa an die Algorithmen, die uns berechnen, und die Erfassungs- und Überwachungsformen, die die notwendigen Daten dafür liefern) – kurz: Systeme, Klassifikation und Technologien, die

Um im Heute anzukommen, schlage ich eine Zeitreise vor, die das 20. Jahrhundert nur streift. Wirft man die Zeitmaschine an, ziehen an uns Volksbildungsbewegungen, Weltkriege und die sozialen Kämpfe der 1970er Jahre vorbei, Glas- und Stahlarchitekturen scheinbar transparenter Bibliotheken und Institutionen etwa der BRD werden sichtbar, um schließlich im 21. Jahrhundert anzukommen – vor einer neuen Bibliothek, einem Raum der unmittelbaren Gegenwart. Stellen wir ihn uns zum Beispiel in Dänemark vor, dort entstand ein preisgekrönter Citizen Space. Das Gebäude, das wir uns imaginieren, steht auf einer barrierefrei zu erreichenden Plattform, seine Türen öffnen sich für jeden elektronisch, es ist einladend, durchlässig und weithin sichtbar, transparent. Wer den Raum betritt, steht bereits mitten in einer großen offenen Lounge, überall sind Lampen und Sitzmöbel, die eher an einen design-preisgekrönten Flughafen als an eine Bibliothek erinnern. Im Zentrum des Raumes gibt es ein Café, ein Franchise-Unternehmen, vielleicht Starbucks, jedenfalls gibt es Cappuccino, Soja Latte und Eiscreme. Und überall gibt es

Noch während wir uns in dem imaginativen Bild umsehen, das ich hier zeichne, schwant uns bereits, dass die Wissensräume der Gegenwart ambivalent sind. Egal, ob sie «Access» – also Zugang – regeln oder lauthals allen ermöglichen: Sie greifen immer auch auf uns zu, ihre porösen Architekturen haben unsere Körper, unsere Privatheit längst durchlässig werden lassen. So sitzen wir also in den Lounges und Bibliotheken der Gegenwart, und während wir denken, finden wir uns in Daten und Mathematiken verwandelt, mit denen wir aneinander gemessen, organisiert, zugerichtet und eben regiert werden – in Denkräumen, die unsere Gedanken erraten und in Waren verwandeln, bevor wir sie fassen können.

Das Denken wird uns trotzdem niemand nehmen können. Weder das Denken der Kritik noch jenes der Imagination. Und genau deshalb haben wir Denkräume befragt und benutzt

Nora Sternfeld

Nora Sternfeld ist Kunstvermittlerin und Kuratorin. Sie ist derzeit documenta-Professorin an der Kunsthochschule Kassel. Darüber hinaus ist sie Koleiterin des /ecm-Masterlehrgangs für Ausstellungstheorie und -praxis an der Universität für angewandte Kunst Wien, Teil des Wiener Büro trafo.K, das an Forschungs- und Vermittlungsprojekten an der Schnittstelle von Kunst, Vermittlung und kritischer Wissensproduktion arbeitet, und von der Plattform freethought (London). In diesem Zusammenhang war sie eine der künstlerischen LeiterInnen der Norwegischen Triennale Bergen Assembly 2016. Sie lehrte an internationalen Universitäten und publiziert zu zeitgenössischer Kunst, Ausstellungen, Geschichtspolitik und Bildungstheorie.

Friedrich von Borries

Ich bin Architekt und verstehe das Denken selbst als etwas Räumliches. Mal eng, mal weit, mal schön, mal hässlich, mal schnell und mal langsam. Manchmal leer, aber, zumindest bei mir, auch manchmal ziemlich zugestellt. Dann muss ich erst mal aufräumen, Gedanken beiseitelegen oder mich von ihnen verabschieden. Dabei helfen mir physische Räume, zum Beispiel die Dusche oder die räumliche Weite eines Atelierraumes.

Zugleich ist das Denken für mich ohne die Bewegung im Raum nur schwer vorstellbar. Ich gehöre zu den Menschen, die im Zimmer auf und ab gehen, um den Gedanken im Gespräch mit mir selbst zumindest ein wenig Raum zu geben. Manchmal gehe ich zum Denken auch spazieren, raus aus dem Haus, auf die Straße, noch lieber in die Natur. Zu Fuß oder auf dem Fahrrad, Hauptsache Bewegung.

Das klingt alles sehr vergnüglich, angenehm, geradezu erholsam. Aber das ist es nicht. Denken ist ein Vorgang, gegen den ich mich manchmal wehre, nicht weil das Denken an sich quälend ist, das ist es auch, dagegen habe ich aber nichts, sondern weil die Ergebnisse des Denkens nicht immer beglückend, sondern in ihrer Konsequenz oft auch belastend sind, zumindest wenn sie das Bestehende in Frage stellen, und das ist bei dem, was ich als gelingendes Denken bezeichnen