Impressum

Die Story

Ein hochspannender Psycho-Thriller über den Traum von der Liebe und das böse Erwachen.

Als die Cutterin Christine Winterall den Münchner Juwelier Alexander Helin kennenlernt, glaubt sie, endlich den Lebensgefährten gefunden zu haben, nach dem sie sich immer gesehnt hat. Mit ihrer Liebe will sie den scheinbar so sanften Mann vor seiner düsteren Vergangenheit retten. Zu spät bemerkt sie die Abgründe, die in seiner dunklen Seele lauern. Ihr Versuch, diejenigen zu schützen, die er ins Verderben stürzen will, endet in einer Katastrophe. Christine wird für ein Verbrechen verurteilt, das sie nicht begangen hat.

Kann sie nach neun Jahren im Gefängnis endlich für Gerechtigkeit sorgen?

Die Autorin

Foto: Anna Iding

Die Idee zu dieser Geschichte hatte Bettina Brömme bereits im Jahr 2001, kurz nachdem ihr Romandebüt erschienen war. Doch bevor aus der Idee ein Buch werden konnte, kam viel Leben dazwischen: Eine Weltreise machen, eine Familie gründen, viele andere Bücher schreiben (vom Jugendthriller bis zum Frauenroman), fürs Fernsehen arbeiten, den richtigen Ort zum Leben finden, mit der Kollegin Beatrix Mannel die »Münchner Schreibakademie« gründen und anderes mehr.

Doch »Des Glückes dunkle Seele« ließ sie nicht los, bis nun der richtige Zeitpunkt gekommen ist, die Geschichte zu veröffentlichen.

Mehr Info:

www.bettinabroemme.de

www.münchner-schreibakademie.de

»Es gibt keine Erklärung für das Böse.
Es ist wohl ein notwendiger Bestandteil
in der Ordnung der Dinge.
Es zu ignorieren ist kindisch,
es zu beklagen sinnlos.«

Sommerset Maugham

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Wenn nichts süßer ist …

23. April, 2018, 9.00 Uhr

Ich hatte neun Jahre Zeit, um meine Geschichte aufzuschreiben. An der ersten Fassung arbeitete ich kaum vier Monate. Tag für Tag, wann immer ich dazu kam. Die Krämpfe in den Fingern ließen bald nach. Ich schrieb wie besessen, es gab kein Zögern, kein Abwägen, kein Nachdenken. Ich kotzte die Worte aufs Papier. Doch Sinn ergab nichts davon. Meine Sätze mäanderten, verloren sich, knüpften an ausgetrockneten Enden an und versickerten schließlich im Unverständlichen. Es war mir egal. Denn ich schrieb, um mein Leben nicht beenden zu müssen. Schreiben oder sterben – das schienen mir die Alternativen zu sein. Papier und Stifte waren das Einzige, woran mir nicht mangelte. Vielleicht hätte ich mir mit der Miene des Bleistifts die Pulsadern aufschlitzen können – aber wenn jede Viertelstunde eine Vollzugsbeamtin einen Blick in die Zelle wirft, ist diese Vorgehensweise ungeeignet. Und zu anderen Methoden fehlte mir der Mut. Also schrieb ich.

Nun, vierzehn Fassungen später, nach fast genau neun Jahren, lege ich 379 eng beschriebene Seiten in meinen Koffer. Andere persönliche Gegenstände nehme ich nicht mit. Nicht einmal die Zahnbürste, die erst wenige Tage alt ist. Ich habe genug zu tragen an den 379 Seiten und an den Unterlagen, die mich hinaus begleiten werden. Der Haftentlassungsschein. Der vorläufige Personalausweis, der den alten, längst abgelaufenen, vorübergehend ersetzt. Die Telefonnummer meiner Bewährungshelferin. Die Telefonnummer des Haftentlassenenvereins. Die Bestätigungen über die Arbeiten, die ich verrichtet habe. Den Zettel mit dem Termin beim Arbeitsamt.

»Frau Winterall«, ruft mich die Vollzugsbeamtin und sie lächelt. Ich habe sie nie lächeln sehen, in all den Jahren nicht. Sie scheint es für diejenigen zu reservieren, die das Privileg haben, freizukommen. »Es geht los.«

Ich nicke, nehme die Tasche und verlasse die Zelle. Ich sehe mich nicht um.

Das Rolltor gleitet so sanft hinter mir zu, als bemühe es sich, meinen Aufenthalt augenblicklich vergessen zu machen. Eine solche Rücksichtnahme hat mir niemand mehr entgegengebracht seit jener Nacht vor zehn Jahren.

Auf dem beinahe leeren Parkplatz vor der Haftanstalt stehen meine Eltern an ihr Auto gelehnt. Meine Mutter kneift die Lippen zusammen und sie sieht aus, als würde sie gleich zu weinen anfangen. Mein Vater tut, als müsse er einen Fleck von seinem Mantelrevers kratzen. Ich weiß nicht, ob es das helle, beinahe gleißende Tageslicht ist, das mir klar macht, wie alt meine Eltern geworden sind. Älter, als das sonst in knapp einer Dekade üblich ist. Wir haben uns in der ganzen Zeit mehrmals pro Jahr gesehen und ich hatte immer den Eindruck, wenigstens sie verändern sich nicht. Aber das war wohl eine Wunschvorstellung. Meine Mutter kommt auf mich zu, nun rinnen die Tränen über ihre Wangen und sie legt ihre Arme um mich, drückt ihr Gesicht an meinen Brustkorb. Sie ist geschrumpft. Mein Vater betrachtet mich mit einem Gesichtsausdruck, der belegt, dass er krampfhaft über einem entkrampfenden Spruch nachdenkt. Doch es fällt ihm nichts ein.

»Willkommen«, sagt er stattdessen und nun muss ich lachen. Als sei ich aus einem fernen Land zurückkehrt, von einer Weltreise. Wobei – so ähnlich fühle ich mich, nur dass die Reise vor allem in mein Inneres führte und ich kein Andenken mitgebracht habe. Keines, außer den 379 eng beschriebenen Seiten, die allein für mich bestimmt sind. Er nimmt meine Tasche und legt sie in den Kofferraum.

»Komm«, sagt meine Mutter und schiebt mich zum Auto. »Wir können gleich in die Wohnung fahren. Es ist alles vorbereitet.« Sie lässt meine Hand nicht los und versucht, etwas fröhlicher dreinzuschauen.

»Danke«, sage ich, entziehe ihr meine Hand und setze mich auf den Beifahrersitz. Als ich die Tür schließen will, bemerke ich weiter entfernt ein Fahrzeug, aus dem jemand zu uns herüber starrt. Der Mann am Steuer trägt einen Vollbart und eine Kappe auf dem Kopf. Ich kann ihn nicht genau erkennen. Und dennoch kommt mir etwas in seiner Haltung vertraut vor.

»Kann's losgehen?«, fragt mein Vater und lässt den Motor an.

»Ja«, sage ich und versuche, im Seitenspiegel noch einen Blick auf den Mann im Wagen zu erhaschen. Das Einzige, was ich erkenne, ist, dass sich sein Auto in Bewegung setzt. Zufall, sage ich mir. Das ist ein Zufall.

Die Wohnung liegt im Norden der Stadt und ist winzig. Eigentlich ist es gar keine Wohnung. Es ist ein Appartement mit einem vielleicht zwanzig Quadratmeter großen Zimmer, einem sechs Quadratmeter großen Flur, in dem auf der einen Seite ein Einbauschrank, auf der anderen eine Küchenzeile untergebracht ist. Zudem gibt es ein winziges Bad mit Dusche, Toilette und Waschbecken. Aber es hat eine Tür. Und man kann es abschließen. Von innen. Und es gehört ganz allein mir.

»Es ist kein Palast«, sagt mein Vater. »Immerhin hast du einen Balkon.« Er geht zur Tür und öffnet sie. Kühle Morgenluft dringt herein und überlagert den Geruch nach frisch verstrichener Farbe. Im Grün zwitschert eine Amsel.

»Es ist wunderbar«, sage ich und da öffnet mein Vater seine Arme und ich lasse mich von ihm umfangen und ignoriere die Enge in meiner Kehle. Es macht mir nichts mehr aus, vor meinen Eltern zu weinen.

»Ich setz mal einen Kaffee auf«, sagt meine Mutter und verschwindet in den Flur. Ich trete auf den schmalen Balkon, spüre meinen Vater neben mir und blicke hinaus über Bäume, Müllcontainer und einen Fahrradabstellplatz im Hof. In der Ferne erkenne ich den Olympiaturm und die Hochhäuser des Olympiadorfes. Es fühlt sich an, als sei ich in meine Heimat zurückgekehrt, obwohl ich sie doch nie verlassen habe. Stadelheim liegt keine fünfzehn Kilometer weit entfernt südlich.

Würde mich jemand fragen, wie es mir geht, wüsste ich nicht, was ich antworten sollte. Natürlich bin ich erleichtert und froh, dass dieser Albtraum endlich ein Ende hat. Aber genauso bin ich verunsichert und ängstlich vor dem, was kommt. Werde ich eine Arbeit ergattern? Werde ich Freunde finden? Werden meine Eltern so geduldig sein, mich in der nächsten Zeit zu ertragen? Werde ich sie nicht enttäuschen? Und vor allem – werde ich mich nicht enttäuschen? Mein wichtigster Vorsatz lautet: Ich lasse hinter mir, was war, ich schaue nur vorwärts. Nirgendwohin sonst.

Der Mann am Steuer des Wagens fällt mir ein. Als sei er ein Bote der Vergangenheit. Doch ich werde seine Botschaft nicht annehmen, sollte er hier auftauchen. Es muss Schluss sein. Mit allem.

Beim Kaffeetrinken versuchen wir, so zu tun, als seien wir eine normale Familie. Die Eltern im Rentenalter, die Tochter in den besten Jahren. In den zweitbesten eher, denn meinen vierzigsten Geburtstag habe ich schon letztes Jahr gefeiert. Wieder so ein Gedanke, den ich schnell mit einem Schluck Kaffee hinunterspüle. Ich konzentriere mich darauf, wie gut dieser Kaffee schmeckt, den meine Mutter aufgebrüht hat. Er schmeckt nicht mehr nach Luxus, sondern nach Freiheit. Und sei es nur die Freiheit, ihn zu verschwenden. Ihn kalt werden zu lassen und wegzukippen. Ihn nicht zu beachten. Höchstens als das, was er ist: eine schlichte Tasse Kaffee. Nicht mehr und nicht weniger.

Meine Mutter laviert sich in unserem Gespräch um alle Untiefen herum. Mein Bruder kommt nicht zur Sprache, auch Monika nicht und erst recht nicht die Kinder. Früher hätte ich mich über ihr Verdrängen aufgeregt, heute lasse ich sie großzügig gewähren. Ich bin froh, dass meine Eltern noch für mich da sind und dankbar für das, was sie tun. Und wenn ihre Bedingung ist, dass wir nicht über Tobias und seine Familie reden, dann ist das in Ordnung für mich.

Dennoch bin ich erleichtert, als sie zum Gehen aufbrechen.

»Jetzt leb' dich erst mal ein«, sagt meine Mutter. »Und wenn du was brauchst ...« Ihre Stimme wird wieder kippelig.

»Sag Bescheid, wie der Termin beim Arbeitsamt gelaufen ist«, fordert mein Vater mich auf. Ich bedanke mich und drücke beide zum Abschied an mich. Dann schließe ich die Tür hinter ihnen. Jetzt beginnt sie, die Freiheit.

Unsicherheit überfällt mich, kaum ist die Tür geschlossen. Was soll ich nun tun? Ich öffne alle Schränke und entdecke, dass meine Eltern für eine zweckmäßige Erstausstattung gesorgt haben. Etwas Geschirr, Töpfe, zwei Pfannen, eine Kaffeemaschine, sogar der Kühlschrank ist mit Grundnahrungsmitteln gefüllt. Ein paar der Gegenstände erkenne ich aus meiner alten Wohnung wieder. Von den Möbeln und allem anderen, was man zu Geld machen konnte, ist längst nichts mehr da. Im Einbauschrank liegen neue Bettwäsche und Handtücher, Putzmittel und Klopapier. Einige nackte Bügel warten auf Kleidung, die ich mir erst noch besorgen muss. Es ist, als habe jemand die Reset-Taste gedrückt und außer dem Betriebssystem ist nichts vorinstalliert in diesem neuen Leben.

Ich lege meine Tasche auf den kleinen Esstisch im Wohnraum und öffne sie. In ein schmales Regal packe ich mein Manuskript. Es wird Wochen dauern, bis ich alles in einen Computer abgetippt haben werde. Ich bin froh über diese Aufgabe und hoffe, dass ich mir bald ein Laptop anschaffen kann. Alle übrigen Unterlagen verstaue ich in einem anderen Regalfach. Es sieht aus, als sei ich ein Hotelgast auf der Durchreise.

Ganz oben im Schrank entdecke ich drei übereinandergestapelte Briefablageboxen aus Plastik. Ich angle sie herunter und werfe einen Blick hinein. Die Police meiner Lebensversicherung und ähnliche Unterlagen erkenne ich, ein paar Hefter, alte Zeugnisse und in der untersten: das Handy und ein Ladekabel. Beides sieht klobig und altmodisch aus. Ob es noch funktioniert? Der leuchtend rote Sticker mit dem Goldfisch wirkt noch immer wie frisch aufgeklebt. Ich traue mich nicht, es hervorzuholen. Vorwärts schauen, nicht zurück. Darunter liegt ein weiterer Hefter. Er ist orange, das durchsichtige Plastik des Deckblatts ist verkratzt und geknickt. Darin ein dicker Stapel Papier, genauso mit der Hand beschrieben wie meiner. Ich habe mir niemals vorstellen können, dass wir Gemeinsamkeiten haben würden. Seine Schrift ist hakelig und sehr unregelmäßig und die karierten Blätter sind an manchen Stellen eingerissen. Letzteres war schon so, als ich den Hefter damals in seiner Tasche fand. Ich kenne jedes Wort, jedes Detail dieser Geschichte, die darin festgehalten ist. Das Gewicht des Stapels liegt beruhigend in meiner Hand. Es stabilisiert mich. Nicht nur mir widerfuhr Unrecht. Der Daumen fährt über die Kanten des Papiers, ab und an erkenne ich ein Wort, weiß, auf welchen Teil des Dramas es sich bezieht. Obwohl es beinahe zehn Jahre her ist, dass ich die Geschichte gelesen habe. Ich bleibe einmal mehr an der ersten Seite hängen. Die Sätze lesen sich einfach, er bedient sich einer schlichten Sprache, vermutlich hatte er den Eindruck, so der Realität näher zu kommen. Wahrscheinlich konnte er es nicht anders.

Sie haben gesagt, wenn ich meine Geschichte aufschreibe, können sie mir schneller helfen. Ich soll einfach alles aufschreiben. Alles, woran ich mich erinnere. Auch an meine Kindheit. Das würde mir guttun. Ich hab keinen Schimmer, ob das stimmt. Aber ich habe sowieso nichts zu tun. Und die andern beachten mich vielleicht weniger, wenn ich einfach in einer Ecke hock’ und vor mich hin kritzel.

Tja, woran erinner ich mich? Ich mein, von früher. Klingt komisch: früher. So alt bin ich jetzt auch noch nicht. Im Moment erinner ich mich eh am besten an meinen Geburtstag. Ist ja auch noch nicht so lange her. Volljährig bin ich jetzt. Hurra! Und das coolste Geschenk war eindeutig das Abschlusszeugnis von der Hauptschule. Den Qualigepackt, yeah! Okay, es war auch das einzige Geschenk. Aber irgendwie bin ich schon stolz, dass ich das hingekriegt hab. Komisch, wenn einer wie ich stolz auf was ist. Aber, na ja, eigentlich bin ich echt stolz.

Als ich in die Schule kam, da kann ich mich dran erinnern, da hat die Mami zu mir gesagt, jetzt bin ich stolz auf dich. Ob der Papi auch stolz war, weiß ich nicht. Ich weiß gar nicht mehr genau, ob er überhaupt dabei war. Ich glaub, da haben wir schon in dem großen Haus gewohnt, wo ich das große Zimmer hatte. Das war klasse. In so einem großen Haus würd ich später auch gerne mal wohnen. Aber bei mir dürften die Kinder immer rumtoben und auch mal unordentlich sein

Ich lasse den Hefter sinken und schiebe ihn zurück in die Briefablage. Ich sehe dieses blasse, blonde Kind vor mir, diesen runden Jungen, der lautlos durch das teuer eingerichtete Haus schleicht, dem eingetrichtert wird, dass er nichts anfassen darf und der sich zu Tode langweilt. Ein Kind, das kaum mit Altersgenossen aufwächst und selbst Erwachsene selten zur Gesellschaft hat. Ein Kind, das sich selbst überlassen bleibt. Falls es geliebt wurde, dann so, dass es nichts davon bemerkte. Schluss damit.

Auf dem Balkon kann ich den Blick nicht abwenden von all dem Grün, von Häusern und ihren Fenstern, von der Stadt, die vor mir liegt und in die ich jederzeit gehen kann. Einfach so. Und obwohl mir dieser freie Blick Ruhe schenkt, wandern meine Gedanken sofort wieder in die Vergangenheit. An den Abend vor Prozessbeginn, als ich aus dem Fenster meiner weitläufigen, wunderschönen Wohnung sah, voller Hoffnung, dass noch irgendetwas geschehen könnte, um mein Schicksal abzuwenden. Ich rechnete mit einem Wunder. Wie naiv war ich.

Am nächsten Morgen würde ich meine Geschichte erzählen, nach einem halben Jahr Wartezeit, die ich unter strengen Auflagen und dank einer Kautionszahlung nicht in Untersuchungshaft hatte verbringen müssen. Ich fürchtete mich vor diesem Tag und ich sehnte ihn herbei. Bis dahin hatte ich den Bildern immer mehr vertraut als den Worten, vielleicht lag es an meinem Beruf. Ich war Cutterin beim Fernsehen. Ein wunderbarer Beruf, in dem ich nie wieder arbeiten werde, denn die Technik hat mich längst abgehängt und schlichte Cutter sind so gesucht wie Bergarbeiter – gar nicht. Heute muss man wenigstens Mediengestalter sein.

Damals war ich es gewohnt, Bilder so zu ordnen, aneinanderzureihen, dass sie zeigten, was geschehen war. Wie ich von den Dingen sprechen sollte, die sich ereignet hatten, wusste ich dagegen nicht. Noch dazu erwartete man von mir, dass sich durch die Worte ein Sinn ergeben würde, dass dann, wenn die Worte die Welt betreten haben würden, jedermann endlich nachvollziehen konnte, warum sich die Geschichte so und nicht anders abgespielt hatte. Ich lebte auf diesen Tag hin, als sei es ein Geburtstermin. Ich fürchtete mich vor den Schmerzen und vor dem Wortmonster, das ich gebären würde, hoffte jedoch auf Erlösung, sogar auf Freispruch, und dass ich das ungeliebte Baby nicht mit nach Hause nehmen müsste, sondern sich andere Menschen von da an um es kümmern würden.

Ich wollte mir nicht ausmalen, wie der Ort aussehen würde, an dem ich Zeugnis ablegen sollte von den Ereignissen und wo ich Alexander wiedersehen würde. Meine große Liebe. Einstmals. Früher. Als alles gut zu werden schien. Bevor das Gefühl des Ekels einsetzte, das bis heute nicht aufgehört hat.

Als ich dann durch die Tür des Gerichtssaals trat, mich den Anschuldigungen stellte, entgegenstellen wollte, erlebte ich, wie schrecklich es war, die Kameras auf mich gerichtet zu spüren. Und jede gespeicherte Sekunde Material demonstrierte mir in vierundzwanzig Einzelbildern geradezu penetrant seine Erfahrung mit dem öffentlichen Leiden. Während ich die Objektive auf mir spürte, die Hitze der Scheinwerfer, die Kabel sah und sich mir die Mikrofone wie bei einem Spießrutenlauf entgegen reckten, lief in meinem Kopf der unvermeidliche Dialog der Kollegen ab, der sich zwei, drei Stunden später abspielen würde: »Komm, geh da rein, wo sie den Arm noch unten hat und man das verheulte Gesicht sieht. Ja, genau! Meinst du, wir sollen da 'ne Slowmo nehmen? Mann, das sieht richtig gut aus – aber lass' es zwölf Frames länger stehen.«

Zum ersten Mal blitzte in diesem Moment die Überlegung auf, ob er sich nur auf mich eingelassen hatte, weil er jemanden brauchte, mit dem er diese Erfahrung teilen konnte? Hatte er es von Anfang an darauf angelegt, dass alles, was geschah, nur geschah, damit ihn endlich ein Mensch verstand? War es reiner Zufall, dass ich dieser Mensch war? Oder wollte er mich, als Angehörige der Medienmeute, die er so hasste, bestrafen, ein Exempel an mir statuieren? Auch heute kann ich diese Fragen nicht beantworten. Ich weiß nur, sein Plan ist aufgegangen. Ich wurde bestraft. Ohne etwas verbrochen zu haben.

Ein Geräusch wie das Zirpen eines zu groß geratenen Insekts reißt mich aus dem Vergangenheitsstrudel, und auch wenn ich es nicht gleich einordnen kann, bin ich ihm dankbar für die Ablenkung. Es zirpt noch einmal und ich begreife, dass es die Türklingel ist. Sofort spüre ich eine Faust im Magen. Kommen sie und holen mich zurück, weil meine vorzeitige Haftentlassung ein Versehen war? Nein, nein, beruhige dich, wispere ich mir zu. Du hast einen Schein, der beweist, dass dir deine Freiheit rechtmäßig zusteht. Noch ein Fehlurteil werden sie nicht fällen. Hoffentlich.

Ich starre auf die Tür und brauche einen Moment, bis ich den Türöffner entdecke. Ich strecke den Finger aus, will darauf drücken, doch schon klopft es von außen. Ich fahre zurück.

»Christine?«, höre ich eine Männerstimme.

Mein Atem geht schneller, meine Finger zittern, als ich sie auf die Klinke lege. Soll ich ihm öffnen? Ja, er hat sich all die Jahre um mich bemüht – aber nicht, da bin ich ganz sicher, um mir zu helfen, sondern um sein schlechtes Gewissen zu entlasten. Und seine Versuche haben nichts gebracht. Gar nichts.

»Christine, bitte«, nun klingt er drängender. »Wir müssen reden. Ich habe einen Beweis.«

Dieses letzte Wort ist der Magnet, der meine bleischweren Finger dazu bringt, die Klinke zu drücken und die Tür zu öffnen. Der Mann mit dem Vollbart und dem Käppi schaut genauso ernst wie vor zehn Jahren. Vielleicht war es das, woran ich ihn vorhin im Auto erkannt habe, trotz der Entfernung. Seine Augen sind von vielen kleinen Falten umrahmt und in ihnen liegt etwas Flehendes. Ich trete einen Schritt zurück und lasse ihn herein. In meine Zelle, denke ich und korrigiere meinen Gedanken viel zu spät.

Ronald weiß nicht recht, wie er mich begrüßen soll. Er macht einen Schritt auf mich zu, hebt die Arme, lässt sie rasch sinken. Wir haben uns noch nie umarmt. Warum sollten wir es heute tun? Wir sind keine Freunde, waren es damals nicht und sind es jetzt nicht. Schließlich streckt er mir seine Hand entgegen und ich schlage ein. Doch ich bin froh, dass die Berührung schnell endet. Auch nach so langer Zeit fällt es mir noch schwer, sein Verhalten von damals mit einem gnädigen Blick zu betrachten.

»Komm rein«, sage ich und versuche, so zu klingen, als sei alles ganz normal. Er versucht, die Wohnung unauffällig zu mustern, als ob er nach Spuren meines gerade beendeten Lebens suche. Er stellt seinen Pilotenkoffer neben der Badezimmertür ab. Es ist derselbe Koffer wie vor zehn Jahren. Nur etwas abgewetzter wirkt er.

»Schöner Ausblick«, sagt Ronald und tritt ans Fenster neben der Balkontür. Er räuspert sich und sein Gesicht wird rot. Jeder Satz kann eine Sprengfalle sein.

»Wie geht es dir?«, fragt er und ich hebe die Schultern, starre auf den Boden, öffne die Handflächen.

»Gut«, sage ich schließlich. »Und dir?«

Er nickt und schafft es, ein klein wenig zu lächeln. Er nimmt die Kappe vom Kopf, der Haarschopf darunter hat sich deutlich gelichtet.

»Ich habe vor ein paar Tagen deine Doku über die Langzeitschäden bei Missbrauchsopfern gesehen. Sehr beeindruckend«, sage ich, um die Stille zu vertreiben.

»Danke. Ich ...« Er sieht sich um. »Können wir uns setzen?«

Das Sofa ist ein bisschen schmal und wir sitzen zu eng beieinander. Ich lehne mich zurück, versuche, Abstand zwischen uns zu bringen. Er mustert den Boden, als läge darauf ein verschwenderisch verzierter Perserteppich. Dabei ist dort nur billiges Laminat verlegt.

»Christine, ich will gar nicht lange drumrum reden.« Er scheint sich gefangen zu haben. Andererseits war er schon immer so: Small Talk war nie sein Ding, es ging immer nur um das Wesentliche. Das für ihn Wesentliche.

»Ich habe für diese Missbrauchs-Doku sehr aufwändig recherchiert und es war schwierig, Betroffene zu finden, die zu reden bereit waren.«

Warum erzählt er mir das? Meine Erwähnung seines Films war nur dazu gedacht, die angespannte Atmosphäre zu lockern.

»Ich habe im Verlauf der Recherchen auch einen Täter getroffen. Es war zu spät, um ihn und seine Geschichte in den Film mitaufzunehmen. Aber ich habe ihn aus einem anderen Grund befragt und seine Aussage liegt mir als Audiodatei vor.«

Ich schiebe die Hände unter meine Oberschenkel. Ist es plötzlich kälter geworden im Raum? Ronald sieht mich unbeirrt an, sein Gesicht ist so beherrscht, dass ich es nicht schaffe, eine Gefühlsregung daraus abzulesen.

»Er hat mit mir gesprochen, weil seine Tat gerade verjährt ist. Er ist bei einer damals Vierzehnjährigen übergriffig geworden. Er hat versucht, sie zu vergewaltigen. Vor ein paar Tagen ist sie dreiundzwanzig geworden und damit ist seine Tat verjährt.«

»Warum erzählst du mir das?«

»Damit du verstehst, warum ich dir nicht früher helfen konnte.«

»Was hat der Mann mit mir zu tun? War es Alexander?« Ich traue ihm alles zu, auch eine Vergewaltigung.

»Nein. Aber er hat seine Tat an einem Abend im Oktober 2008 begangen. Auf dem Parkdeck eines Einkaufszentrums.«

Ehe ich etwas tun kann, rutsche ich vom Sofa hinunter auf das Laminat. Ich starre Ronald an, bringe keinen Ton über die Lippen.

»Er hat euch gesehen – euch alle drei. Er sagt, der Ablauf stehe ihm vor Augen wie ein Film, den er selbst gedreht und hunderte Male angeschaut habe.«

Ich fange an zu wimmern. Unkontrollierbar dringen kleine, stachelige Laute aus meinem Mund. Ein Auto. Es stand ein Auto auf dem Parkdeck. Ich erinnere mich genau. Es war leer. Es sah leer aus.

Ronald rutscht dichter an mich heran und legt mir eine Hand auf die Schulter. »Möchtest du ein Glas Wasser?«

Ich kann keine Antwort geben und er steht einfach auf, findet im Schrank über der Spüle ein Glas und füllt es. Ich trinke in gierigen Schlucken.

»Der Mann sagt«, fährt Ronald fort, als er wieder neben mir sitzt, »dass es keinen Tag in seinem Leben gab, an dem er nicht bereut hat. Ein paar Mal wollte er sich das Leben nehmen, aber dann hielt ihn der Gedanke zurück, dass er nach der Verjährung reden würde. Er wollte nicht sterben mit dieser Schuld.«

Soll ich dafür dankbar sein? Wie könnte ich!

»Und war er schon bei der Polizei?«, frage ich.

»Er wollte zuerst mit dir sprechen«, antwortet Ronald. »Wenn du willst, bringe ich dich zu ihm. Noch heute.«

Ich nicke, ich rapple mich hoch und fange an, durch das Zimmer zu laufen. Es fühlt sich an wie die Zelle, die ich gerade verließ.

»Immerhin konnte das Mädchen damals entkommen«, berichtet Ronald. »Er war abgelenkt von dem, was vor sich ging, und es hat die Tür seines Wagens geöffnet und ist fortgelaufen, halb nackt. Kurz darauf zog sie mit ihrer Familie in eine andere Stadt. Sie hat ihn nie angezeigt. Aber weil er der Vater einer damaligen Freundin war, hat sie seinen Namen nie vergessen. Nachdem sie mir diesen anvertraute, war es nicht mehr allzu schwer, ihn zu finden.«

»Und hat sie auch etwas gesehen?«

»Nein, hat sie nicht. Sie hat Stimmen gehört, aber sie ist einfach nur gelaufen. Vielleicht ist ihr später klar geworden, was dort passiert ist – aber sie hat versucht, den Übergriff zu verdrängen, sie wollte nichts mehr damit zu tun haben. Vermutlich hätte sie auch nichts sagen können, was den Richter zu einem anderen Urteil bewogen hätte. Sie hat die Tat nicht gesehen.«

Ich könnte wütend sein auf die junge Frau, weil sie mir vielleicht neun Jahre in einer Haftanstalt erspart hätte, wenn sie ihn angezeigt hätte und er schon damals seine Aussage hätte machen müssen. Aber es taucht ein Gedanke auf, der mich mehr und mehr ausfüllt: Sie konnte entkommen. Meinetwegen. Wenn die Geschehnisse damals ansonsten nur Unglück hervorgebracht haben, dann taucht dieser eine Strahl, diese eine positive Folge die Welt in ein versöhnlicheres Licht.

Ich setze mich auf das Sofa und sehe Ronald fest an.

»Wann können wir ihn treffen? Und wo?«

»Ich schicke dir eine Whatsapp«, sagt er. »So eine Nachricht aufs Handy.« Ich lächle ihn an, die Muskelbewegung ist ungewohnt.

»Ich weiß, was eine Whatsapp ist«, sage ich. »Ich habe es im Fernsehen gesehen. Aber ich habe kein Smartphone.«

Ronald nickt und steht auf. Kurz darauf kommt er mit seinem Pilotenkoffer zurück, den er auf den kleinen Esstisch legt und öffnet. Er holt ein Smartphone heraus und streckt es mir entgegen.

»Hier«, sagt er. »Ich habe einen Vertrag dafür abgeschlossen. Es ist für dich. Du solltest dich schnell an die Gegenwart gewöhnen. Ich hoffe, ich kann damit etwas helfen.«

Ich nehme das Telefon in die Hand. Das letzte, das ich besaß, konnte man aufklappen. Und man konnte SMS-Nachrichten damit verschicken.

»Ich weiß nicht ...«, hebe ich an.

»Doch, bitte, ich bestehe darauf.« Er kneift die Lippen zusammen, duldet keinen Widerspruch. Kurz erklärt er mir, wie ich Whatsapp bediene, er demonstriert mir, wie ich ins Internet komme und wo ich Anleitungen dafür finde, was das Handy alles kann.

»Woher wusstest du, dass ich heute entlassen werde?«, frage ich ihn und umschließe das ungewohnte Mobiltelefon mit beiden Händen.

»Ich bat deine Eltern darum, mich zu informieren. Ich habe ihnen versprochen, dir bei der Jobsuche behilflich zu sein. Und das werde ich auch tun.«

»Aha.« Mehr kann ich dazu nicht sagen. Noch immer unterstelle ich Ronald, dass er nur Dinge tut, die auch für ihn einen Nutzen haben.

Er zeigt mir, wo die Audiodatei mit dem Geständnis des Zeugen auf dem Handy abgespeichert ist.

»Für alle Fälle«, sagt Ronald. »Pass gut darauf auf!« Sein Blick macht mich unsicher. Verbirgt er etwas?

»Ich melde mich. Vermutlich am späten Nachmittag«, fügt er an. Dann wendet er sich zum Gehen. Er ist noch nicht ganz an der Tür, da dreht er sich um.

»Eine Frage, die ich mir gestellt habe: Warum bist du nicht schon letztes Jahr freigekommen? Da waren doch zwei Drittel der Strafe verbüßt.«

Ich blicke kurz aus dem Fenster, als wolle ich mich vergewissern, dass dort wirklich keine Wachtürme stehen.

»Wenn du die Tat nicht zugibst, lassen sie dich nicht raus«, erkläre ich. »Was hätte ich zugeben sollen?«

»Und jetzt?«

»Mir wurde klar, dass ich weitere drei Jahre nicht überstehen würde. Ich habe die meiste Zeit in der Zelle damit zugebracht, meine Geschichte aufzuschreiben. Aber damit war ich fertig. Alles war niedergeschrieben. Was hätte ich die nächsten Jahre tun sollen? Da habe ich die Tat eingeräumt, habe bereut und mich in die Hände der Psychologin begeben, die mir schließlich Einsichtsfähigkeit und eine gute Zukunftsprognose attestiert hat. Tja, und da öffneten sich die Tore. Wer lügt, wird belohnt.«

»Verstehe!« Er nickt, aber ich denke, er hat es nicht verstanden, denn wer kann schon nachvollziehen, wie es ist, einen Mord – halt, nein, einen Totschlag – zuzugeben, den man nicht begangen hat. Einen Totschlag, für den es nun einen Zeugen gibt.

1

Als meine Großmutter im Frühjahr 2008 starb, war ich 31 und die Mutter meiner Mutter die erste Leiche, die ich je zu Gesicht bekam. Die Tote war in einer winzigen, düsteren Kammer aufgebahrt und der Bestattungsunternehmer hatte mir mit den Worten, es sei ja nur die Oma, Mut machen wollen, den engen Raum zu betreten. Also stand ich dort und starrte auf die leblosen Finger, die schneeweiß waren, weiß wie ein Blatt Papier, unbeschreiblich weiß und wächsern, und die an Kerzen für eine Geburtstagstorte erinnerten. Ich vergaß, dass dort die tote Großmutter lag, weil mich der Anblick dieser unwirklichen Finger so irritierte. Erst als meine Mutter neben mir schluchzte, sah ich der Toten ins Gesicht. Ich hätte nicht sagen können, was ich erwartet hatte, aber sicher nicht, einen fremden Menschen im Sarg liegen zu sehen, eine Frau, die ich nie zuvor gesehen hatte. Es hätte auch ein alter Mann sein können, der dort lag, so hart und verzerrt waren die Gesichtszüge. Doch das Weinen meiner Mutter bewies mir, dass es sich bei der Leiche tatsächlich um meine Großmutter handelte. Rückwärts ging ich zur Tür, weil ich meinte zu ersticken, wenn ich noch länger in der engen Kammer bleiben würde. Als ich viel später die zweite und die dritte Leiche meines Lebens sah, begriff ich, was mich so erschreckt hatte. Der Tod an sich überwältigte mich nicht, vielmehr war es die Erkenntnis, dass der Tod die Lebenden und die Toten sofort voneinander trennt, sie restlos entfremdet. Dass da wirklich nichts bleibt. Nicht einmal vertraute Gesichtszüge.

Schneeregen wehte in eisigen Böen fast waagerecht über den kargen Vorstadtfriedhof. Meine Mutter klammerte sich an meinen Vater, Tobias hatte den Arm um die mittlerweile schon deutlich schwangere Monika gelegt, ihre zwei Kinder drängten sich an die Wintermäntel der Eltern. Nur ich stand allein und gefasst da und sorgte später – nach dem üblichen, wortlos auffordernden Blick meines Vaters – für die übrigen, recht alten Trauergäste. Ich nahm ihnen ihre Mäntel und Jacken ab, orderte koffeinfreien Kaffee und zündete Kerzen an. An jeden Platz legte ich die Erinnerungskarte, die mit einem der letzten Fotos meiner Großmutter bedruckt war: schon deutlich gezeichnet vom Alter und ihrem schwachen Herzen, aber noch immer mit diesem etwas spitzbübischen Lächeln, das bis in ihre hellblauen Augen strahlte. Das Meer der Zeit ist nur eine Woge auf dem Meere der Ewigkeit, stand darunter, ein Zitat ihres Lieblingsdichters Jean Paul. Meine Mutter sah mir beim Verteilen zu, während sie ihre Hände auf den Schultern ihres bereits am Tisch sitzenden Sohnes abstützte, als sei er der Einzige, der ihr Halt bot. Dabei flüsterte Tobias Alina, seiner Vierjährigen, kleine Witzchen ins Ohr und bemerkte die Berührung kaum. Wie immer bemühte ich mich, diese Szene zu ignorieren: Mutter und ihr perfekter Sohn.

Natürlich hätte ich den Abend bei den Eltern verbringen können, wie sie es vorschlugen, aber ich verspürte einen Widerwillen, mir alte Fotoalben anzuschauen, Schinkenbrote aufgenötigt zu bekommen und mitzudiskutieren, wie der Grabstein aussehen sollte. Außerdem hatte ich schon am Morgen das Aufziehen einer Erkältung gespürt und wollte in die Badewanne.

Vier Jahre lebte ich nun in dieser großen Wohnung. Ich zog ein, als ich, nach der langen Ausbildungszeit, meine Festanstellung bekam. Wie froh war ich, dass mein Gehalt zum ersten Mal einigermaßen ausreichend war und der Vermieter zu den wenigen sozial eingestellten gehörte. 75 Quadratmeter mitten im Münchner Glockenbachviertel für mich alleine. Es hatte keine Woche gedauert, bis ich die Zimmer voll geräumt hatte, obwohl ich vorher ein Appartement von kaum zwanzig Quadratmeter bewohnt hatte.

Als ich nach Hause kam, fand ich eine Nachricht auf meinem Anrufbeantworter, die ich insgeheim ersehnt hatte, auch wenn ich sie für diesen Tag als unpassend empfand. Ich wusste, dass Stefan am Abend in München sein würde, aber ich hatte es dem Schicksal oder besser ihm selbst überlassen, ob er sich bei mir melden würde. Tatsächlich hatte er mir mit gewohnt knappen Worten den Treffpunkt mitgeteilt. Um halb acht erwarte er mich in seinem Hotelzimmer, freudig, wie er sagte, allerdings mit der Einschränkung, dass ich nicht die ganze Nacht bleiben könne, da er am nächsten Morgen den ersten Flieger um 6.50 Uhr erwischen müsse. Seine Redaktion in Berlin hatte ein wichtiges Meeting am frühen Vormittag anberaumt.

Ich überlegte nicht. Die Zeit reichte gerade, um heiß zu duschen und mit nassen Haaren zum Hotel zu fahren. Unsere Affäre hatte vor etwa zehn Wochen begonnen, kurz nach Neujahr, als die meisten Kollegen im Urlaub waren. In die Spätschicht hatte er eine Flasche Champagner mitgebracht, die angeblich von Silvester übrig war. Ich hatte vor ein paar Monaten schon einmal mit ihm geschnitten, da war er mir steif, reserviert und sehr ernst vorgekommen. Keiner, der mir auf Anhieb sympathisch war. Als er aber diesmal den Schneideraum betrat, war sein Hemdkragen geöffnet, er zwinkerte mir zu, als seien wir alte Freunde, und entschuldigte sich für sein frostiges Verhalten beim letzten Mal, er sei einfach gestresst gewesen. Ich war sprachlos. Seit ich als Cutterin arbeitete, und das waren immerhin drei Jahre Ausbildung und vier Jahre Berufserfahrung, hatte sich noch nie irgendein Journalist für sein Benehmen entschuldigt. Im Gegenteil: Unhöfliche, hektische Kollegen waren die Regel. Stefan aber war in Plauderlaune. Der Schnitt verlief unkompliziert. Er hatte hervorragendes Bildmaterial, eine ausgefeilte Schnittliste und sein Konzept war stimmig. Für die sechs Minuten zum Thema Genforschung benötigten wir gerade mal vier Stunden. Er lobte überschwänglich meine schnellen Finger und mein gutes Gespür für Bilder. Dann erzählte er von seinem Berufsalltag, davon, dass seine Hauptredaktion in Berlin saß. Da er sich aber schon als Hospitant im hiesigen Sender einen guten Ruf erworben hatte, arbeitete er gelegentlich für die Wissenschafts-Redaktion in München. Das Pendeln zwischen den beiden so verschiedenen Großstädten gefiel ihm und brachte nicht nur beruflich Abwechslung, sondern hielt auch sein Eheleben spannend. Ein bisschen Sehnsucht ab und an fördere die Beziehung ungemein.

Als wir mit der Arbeit fertig waren und er den Champagner öffnete, fand ich ihn ausgesprochen attraktiv. Ich war noch nie auf die Idee gekommen, mich mit einem Kollegen einzulassen, zudem mit einem verheirateten. Ich ließ mich sowieso selten mit Männern ein. Als Teenager war ich durchgängig unglücklich verliebt gewesen, hatte aber auch so etwas wie eine große Befriedigung verspürt, als Trauernde durchs Leben zu schlingern. Ab Beginn des Kunstgeschichtsstudiums, das ich nach vier Semestern abbrach, hatte ich eineinhalb Jahre lang eine Beziehung zu einem Assistenten meines Professors gehabt. Ich war nicht glücklicher als in den Tagen meines Alleinseins und hatte für mich beschlossen, dass ich mich nicht für eine feste Partnerschaft eigne. Später, wenn ich spürte, dass ein Mann etwas von mir wollte, hatte ich mich darauf eingelassen, einfach weil ich dachte, es gehöre dazu. Verliebt war ich immer nur in Männer gewesen, die unerreichbar blieben. Mit Stefan entwickelte es sich anders. Ich hatte es mir nicht vorstellen können, aber nachdem wir uns ein paar Mal getroffen hatten, um miteinander zu schlafen, hatte ich mich tatsächlich ein wenig in ihn verliebt. Er hatte es so einrichten können, dass er beruflich öfter in München zu tun hatte – ein Interview hier, ein Recherchetermin dort.

An diesem Abend in seinem Hotelzimmer küsste ich ihn zur Begrüßung nur flüchtig. Ich wollte ihm von der Beerdigung erzählen, von der Einsamkeit, die mich angesichts meiner Familie überfiel, ich brauchte ein wenig Trost.

Er streichelte unkonzentriert meine Hand und drängte mich zum Bett. Ohne viel Vorspiel kam er gleich zur Sache und ging dieses Mal auf meine Bedürfnisse nicht ein. Mit einem flapsigen Spruch wollte ich ihn darauf hinweisen, doch bevor mir etwas Passendes einfiel, verschwand er im Bad und die Dusche begann zu rauschen. Ich spürte, wie Ärger in mir hochstieg. So musste ich mich nicht behandeln lassen. Wenn es schon nur Spaß mit ihm sein sollte, dann wollte ich den wenigstens auch haben. Ich angelte nach einer Packung Kleenex auf dem Nachttisch und stieß dabei seine Ledermappe herunter. Als ich sie vom Boden aufhob, rutschte etwas heraus. Ein Foto. Eine schöne, blonde Frau – seine Frau, wie ich wusste – saß in einem Krankenhausbett und an ihrer Brust lag ein Kind mit vielen schwarzen Haaren. Neben ihr saßen stolz seine zwei älteren Söhne. Keine Frage – dieses Foto musste sehr aktuell sein.

»Herzlichen Glückwunsch«, sagte ich, kaum hatte er die Badezimmertür geöffnet. »Mit so einem Säugling bekommt man ja immer viel zu wenig Schlaf. Besser, ich gehe jetzt. Dann kannst du dich mal so richtig ausschlafen.« Ich sprang aus dem Bett und suchte meine verstreuten Klamotten zusammen.

»Christine, warte! Ich kann alles erklären.«

Ich musste mir ein hysterisches Lachen verkneifen.

»Lass gut sein«, antwortete ich und während ich schon die Zimmertür öffnete, zog ich noch den Reißverschluss meiner Jeans nach oben.

Wie hatte ich so blöd sein können? Mir hätte gleich klar sein müssen, dass er viel zu oberflächlich war, nicht an mir interessiert und vor allem: nicht längerfristig verfügbar. Hoffentlich würde er in der nächsten Zeit selten auftauchen.

Als ich zu Hause meine Wohnungstür hinter mir abschloss, sperrte ich ihn aus. Gestrichen, dachte ich.

Am folgenden Morgen erwachte ich viel zu früh – ich hätte ausschlafen können, weil erst die Spätschicht auf mich wartete – mit einem Kratzen im Hals, die Nase war völlig verstopft und die Augen waren verklebt.

Weil ich einen Arzttermin erst für den frühen Nachmittag bekam, schleppte ich mich pflichtbewusst in Großmutters Wohnung, die wir auflösen mussten. Meine Mutter hatte schon einige Müllbeutel mit nun Überflüssigem gefüllt und drückte mir den nächsten wortlos in die Hand.

»Hilft Tobias nicht?«, fragte ich.

Meine Mutter hob irritiert die Augenbrauen.

»Du weißt doch, wie hart dein Bruder arbeiten muss. Nach dem Büro geht er auf die Baustelle, sonst wird das Haus ja nie fertig. Und Monika – in ihrem Zustand. Das kann ich ihr nicht zumuten.«

Widerwillig sah ich die Unmengen von Modeschmuck aus vier Jahrzehnten durch. Alles Imitate und billiges Plastikzeug in grellen Farben, von dem ich mir nicht vorstellen konnte, dass meine Großmutter es jemals getragen hatte. Doch auf manchen der Geburtstags-, Weihnachts-, oder Einschulungsfotos auf der Anrichte vor mir waren eine Kette, ein protziger Ring oder eine unförmige Brosche zu entdecken. Wohin nur mit all dem Zeug?

Ich ließ mich auf den Klavierhocker sinken und sah mich um. Alles war wie immer. Dort stand das Piano, auf dem ich die ersten abgehackten Melodien geklimpert hatte. Über dem Klavier hing die Reproduktion des Mondaufgangs am Meer von Caspar David Friedrich. Vor dem Fenster blühten die Alpenveilchen. Auf der Anrichte lag die Tischdecke, die meine Großmutter selbst mit blauem und rotem Garn bestickt hatte und die nur zu besonderen Gelegenheiten benutzt worden war. Bald würde dies alles Erinnerung sein. Schon jetzt ließen sich meine Großeltern nur noch schwerlich einfügen.

Als ich vor ein paar Tagen hier gewesen war, hatte ich mich noch über jede Kleinigkeit gefreut, die ich für meinen eigenen Haushalt gebrauchen konnte. Endlich ein Pürierstab, eine gusseiserne Pfanne, ein Toaster, der neuer war als mein eigener – als hätte ich einen Einkaufsgutschein für ein Haushaltswarengeschäft gewonnen. Aber ich hatte kein schlechtes Gewissen. Sie wäre einverstanden gewesen. »Christinchen, nimm mit«, hätte meine Großmutter mit ihrer weichen Stimme gesagt und kaum merklich das linke Auge zusammengekniffen. »Mutter, lass doch«, hätte meine Mutter vorwurfsvoll eingeworfen, aber Großmutter und ich, wir waren immer zwei Verschworene gewesen. Meine Großmutter hatte mich verwöhnt, sie hatte nie gesagt, ich solle vernünftig sein und Rücksicht nehmen auf meinen kleinen Bruder. Sie hatte mich behandelt, wie es einem Kind guttat. Voller Liebe und Aufmerksamkeit und Zärtlichkeit. Nur bei ihr war ich die Nummer eins gewesen. Vielleicht hatte sie in mir sich selbst erkannt – ich hatte ihre lange, schmale Nase geerbt, ihr dünnes, hellbraunes Haar und sogar den dunklen Sprenkel quer durch mein linkes blaues Auge. »Der macht die Männer verrückt«, hatte sie mir zwinkernd prophezeit, doch ich war peinlich berührt ausgewichen, wenn sie darauf zu sprechen kam.

Natürlich hatte sie Tobias auch geliebt, aber insgeheim hatte er sie genervt. Er hatte uns immer alle Aufmerksamkeit abverlangt, auf eine hinterhältige, manipulative Weise, der man sich kaum entziehen konnte. Schon als Dreijähriger hatte er mit dem Kopf gegen die Wand oder den Türrahmen geschlagen, nur ein wenig, nur so, dass es aussah, als habe er sich verletzt. Meine Mutter hatte er damit sofort dazu gebracht, in ihrem Tun innezuhalten, um ihn zu trösten. Sie hat es bis heute nicht durchschaut.

Meine Großmutter, nahe dem östlichsten Ostseestrand geboren, hatte zeit ihres Lebens für alles, was mit dem Meer zu tun hatte, und insbesondere für Bernstein, geschwärmt. Deshalb fand ich die perlenbesetzte Goldbrosche, die ich nun zwischen dem Modeschmuck fand, untypisch für sie. Ich erinnerte mich nicht daran, sie je an ihr gesehen zu haben. Sie war groß, fast wie ein Handteller, aber fein gearbeitet, leicht ziseliert. Wie aus Goldfäden gesponnen wirkte der Körper und unsymmetrisch rund war er, als wäre der Goldschmied zu ungeschickt gewesen. Später entdeckte ich, dass die Künstlerin es zu ihrem Erkennungszeichen erhoben hatte, eine perfekte Form zu vermeiden. Auf dem durchbrochenen Goldgrund saßen kleine eingefasste Perlen, die hellblau oder grünlich schimmerten. Mondstein, nichts besonders Wertvolles, aber es verlieh der Brosche etwas Filigranes, was ein notwendiges Gegengewicht zur Größe darstellte. Ich steckte sie ein, denn sie war das einzige Stück, das mir einigermaßen gefiel, und die Perlen erschienen mir als Laien durchaus wertvoll zu sein. Eine Sekunde blitzte der Gedanke auf, dass ich es sein könnte, die etwas Kostbares zwischen all dem billigen Alltagskrimskrams gefunden hatte. Denn auf dem Konto meiner Großmutter war gerade genug geblieben, um die Beerdigungskosten zu decken. Nicht einmal die Seebestattung, die sie sich gewünscht hatte, war bezahlbar.

2

Früher dachte ich immer, es gebe keine Zufälle. Es war so ein beruhigendes Gefühl, den Geschehnissen eine Bedeutung zu verleihen, indem man sie als schicksalhaft bezeichnete. Als ob jemand existiere, dem man so wichtig sei, dass er Ereignisse für einen arrangierte. Inzwischen wünsche ich mir aus tiefstem Herzen, dass das Leben aus Zufällen besteht. Ich will nicht nach der Sinnhaftigkeit von Ereignissen forschen, will kein Opfer eines grausamen Schicksals sein. Allein dem Zufall vertraue ich mich an in der Hoffnung, es geht irgendwie weiter.

Damals jedoch hätte ich es als schicksalhaft bezeichnet, dass mich die Arzthelferin trotz Termin um etwa eine Stunde vertröstete. Weil ich keine Lust hatte, in dem engen Wartezimmer voller niesender und hustender Patienten zu sitzen, beschloss ich, einen Spaziergang zu unternehmen. Außerdem fühlte ich mich nicht so krank, wie ich dann werden sollte. Ich würde den Arzt nur um ein paar Medikamente bitten, Krankschreiben kam sowieso nicht infrage. Man hätte die Schneideräume rund um die Uhr besetzen können – die Termine reichten damals für die anfallenden Produktionen kaum aus.

Ich kannte Untergiesing nur wenig. Den Arzt hatte ich auf Empfehlung meiner Freundin Anna ausgewählt und weil er halbwegs auf dem Weg zum Sender lag. Viele Altbauten standen hier, riesige Klötze aus der Zeit um die Jahrhundertwende, mit abblätterndem Putz und angesplitterten Holztüren. Kleine Gemüseläden wechselten sich mit Stehausschänken und Bäckereien ab, eine der letzten Gegenden, die damals noch nicht der Gentrifizierung zum Opfer gefallen waren.

Ich blieb an einem Juweliergeschäft stehen, aus dem einzigen Grund, weil das Schaufenster mit Fischen dekoriert war und ich Fische liebe. Einfach so. Oder weil sie mich an das Meer und damit an meine Großmutter erinnern. Ansonsten habe ich keine Ahnung von Fischen, ich esse sie gern und finde ihre Gestalt hübsch. Hier hingen ziemlich kitschige, leicht stilisierte Pappmachéfische in einem Schaukasten. Goldene Armbänder quollen aus den Mäulern, ihre Flossen waren mit Perlenketten umwunden und ihre Körper von Ohrringen gepierct. Ganz sicher verbarg sich hinter der Eingangstür keiner dieser cool und schick gestylten Läden, die in meiner Ecke überall aus dem Boden sprossen. Aber nach dem Verkauf von eigenen, alternativ angehauchten Goldschmiedearbeiten sah er auch nicht aus. Auf eine gewisse Art wirkte der Laden altmodisch und passte damit in die Gegend.

Ich wollte schon weitergehen, da fiel mein Blick auf eine Goldkette mit Amulett, die von keinem Fisch gehalten wurde, sondern auf einem winzigen, samtenen Kissen etwas abseits ruhte. Verblüfft starrte ich das Amulett an. Es passte perfekt zur Brosche meiner Großmutter. Der Korpus war aus verschlungenen Goldfäden gefertigt und wirkte zierlich und zerbrechlich. Kleine gefasste Mondsteine schienen ihn zu umtanzen. Ich suchte in meiner Tasche nach der Brosche. Meine Mutter hatte mir geraten, sie aufarbeiten zu lassen, und ich hatte sie eingesteckt, um sie bei passender Gelegenheit bei einem Juwelier abzugeben. Ein wenig ungelenk hielt ich den Schmuck so dicht wie möglich ans Schaufensterglas und es sah tatsächlich so aus, als ob die beiden Stücke aus ein und derselben Kollektion stammten.

Kurz entschlossen drückte ich gegen den handtellergroßen, mattgoldenen Türgriff, trat ein und blickte mich verwundert um. Niemand zu sehen. Der mit dunklen Schieferplatten verkleidete kleine Raum gab mir das Gefühl, in das Innere einer Grabkammer getreten zu sein. Nur zwei kerzenförmige Lampen rechts und links der Tür zum Hinterzimmer streuten etwas diffuses Licht über die Preziosen, die in einer hüfthohen Vitrine in der Mitte des Raumes aufbewahrt oder eher aufgebahrt lagen. Mir kam es vor, als näherten sich die Wände mit jedem Atemzug millimeterweise. Als hätte ich kein Recht, mich hier aufzuhalten. Schon hatte ich die Hand wieder auf der Türklinke. Da raschelte ein schwarzer Samtvorhang und der Juwelier erschien. Hinter dem Vorhang erkannte ich ein kleines Büro, einen überquellenden Briefkorb, ein Faxgerät, die Ecke eines Monitors.

nichtWährend