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Ondragon: Grauzone

Anette Strohmeyer

Originalausgabe

»Band 5«

1. Auflage © 2019

ISBN 978-3-942261-79-1

Lektorat: Nadine Buranaseda

Cover-Gestaltung: bürosüd, München

© 2019 Psychothriller GmbH

www.psychothriller.de

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Ein Buch zu schreiben, dauert Monate. Es zu kopieren, nur Sekunden. Bleiben Sie deshalb fair und verteilen Sie Ihre persönliche Ausgabe bitte nicht im Internet. Vielen Dank und natürlich viel Spaß beim Lesen! Ivar Leon Menger

*
Nichts ist grausamer als ein Genie, das über etwas Idiotisches stolpert.

– Friedrich Dürrenmatt –

Prolog

Kairo – 1977

Die Hitze stand als flimmernde Fata Morgana über dem breiten Nafak-al-Azhar-Boulevard. Die Autodächer glommen in der Sonne wie die blechernen Schuppen einer riesigen Schlange. Der Lärm, das Hupen und die nervös brummenden Motoren – Kairos ewiger Pulsschlag war niederschmetternd. Eigentlich wie immer. Desgleichen der gelbliche Schleier der Abgase, der sich einem zwar auf die Schleimhäute legte, aber immerhin die ranzigen Ausdünstungen der Abfälle übertünchte, die in kleinen Haufen auf dem Asphalt vor sich hin gammelten. Einige davon brannten. Träge kräuselte sich bläulicher Qualm und verströmte einen stechenden Gestank.

Per Gustav und Paul Eckbert Ondragon hielten sich die Hand vor den Mund und beschleunigten ihre Schritte. Die Schule war aus, und sie hatten Hermann, den Chauffeur, überredet, sie nicht bis nach Hause ins Diplomatenviertel zu fahren, sondern etwas früher rauszulassen. Hermann war nur widerwillig auf ihre Bitte eingegangen, denn ihr Vater, Botschafter Siegfried Ondragon, mochte es nicht, wenn sich seine beiden Söhne unbeaufsichtigt in der Stadt herumtrieben. Er war der Ansicht, es sei zu gefährlich für Kinder wie sie.

Kinder wie sie? Was sollte das eigentlich heißen?

Paul fand das alles total übertrieben. Er war zehn und konnte schon jetzt sehr gut Arabisch, besser als sein Zwillingsbruder Per, und er fand sich in den Gassen Kairos prima zurecht. Was sollte da schon passieren?

Es war seine Idee gewesen, früher aus der klimatisierten Mercedes-Limousine auszusteigen und einen Abstecher zum Khan-el-Khalili-Basar zu machen, und Per war sofort Feuer und Flamme gewesen. Sie hatten beide genug Taschengeld gespart, um sich auf dem Basar Süßigkeiten zu kaufen und vielleicht auch eine dieser kleinen altägyptischen Fayencefiguren, die es an den Ständen gab und auf die Paul schon seit Längerem ein Auge geworfen hatte. Sie hatten Hermann versprechen müssen, in exakt einer Stunde wieder da zu sein, damit der Chauffeur keinen Ärger bekam. Dass sie heute so lange von der Deutschen Schule nach Hause brauchten, konnte man leicht mit dem Verkehr erklären, der an manchen Tagen so schlimm war, dass man zu Fuß schneller nebenher laufen konnte. Hermann würde die Stunde bei arabischem Tee und Zigaretten in einem Café in der Nähe verbringen und sie dann an verabredeter Stelle abholen. Paul war es schon immer leichtgefallen, solch ausgefuchste Pläne zu entwerfen, um sich heimlich aus dem Haus zu stehlen. Leider fiel der Apfel nicht weit vom Stamm, und sein Vater durchschaute ihn nur allzu oft, was drakonische Strafen nach sich zog. Die schlimmste Bestrafung war, mit dem Stock Schläge auf die Handrücken zu bekommen und in die Bibliothek gesperrt zu werden. Die Aufgabe war es, mit schmerzenden Fingern eines der Bücher durchzuarbeiten und seinem Vater später eine Inhaltsangabe zu liefern. Aber auch dafür hatte sich Paul einen Plan zurechtgelegt und eine Reihe Reader’s-Digest-Ausgaben der gängigsten Gegenwartsliteratur in der zweiten Reihe im Bücherregal hinter der verstaubten Gesamtausgabe vom Brockhaus versteckt.

Er fand immer eine Lösung für Probleme.

Sein Vater leider auch.

Vor ein paar Wochen hatte Siegfried Ondragon den Schwindel mit den Heftchen aufgedeckt. Es hatte weitere Schläge auf das Hinterteil gehagelt und einen Monat Stubenarrest gegeben. Per Gustav war bei diesen ganzen Manövern immer nur Mitläufer, ein williger Soldat, der die Befehle von Paul ausführte. Per war der Bravere von ihnen, obwohl sie einander bis auf die Wimpern glichen und in der Schule oft verwechselt wurden. Dort trieben sie ihre Späße mit den Lehrern, doch zu Hause klappte das nicht. Selbst ihre arabische Haushälterin Fawzia konnte sie gut auseinanderhalten. Wie auch immer sie das anstellte.

Paul zog den vor sich hin träumenden Per am Ärmel seiner Schuluniform in eine Seitengasse, die vom Boulevard tiefer in das Viertel mit den alten Moscheen und Läden führte. Hier schien die Zeit stehen geblieben zu sein. Der Luftzug allerdings auch. Zwischen den ockerfarbenen Mauern war es noch stickiger und heißer als auf den Hauptstraßen, dafür verlor sich in den Gassen allmählich der Lärm der Autos. Zum Khan-el-Khalili-Basar war es nicht mehr weit, und bald schwammen Paul und Per in einer nach Eselsdung, Tabak und Harissa riechenden Menschenmenge in Richtung des großen Marktes. Viele der Männer trugen die traditionellen Berbergewänder und die Frauen den Schador in gedeckten Farben. Ihre Sandalen klatschen über das staubige Pflaster, während sie leere Taschen zum Basar und volle zurückschleppten. Esel, beladen mit Palmzucker und Datteln, schlurften träge am Seil hinter ihren Besitzern her, von ihrem struppigen Fell schwirrten ganze Schwärme von Fliegen auf, die auf der Haut kitzelten.

Als die beiden Jungen den Eingang des Basars erreichten, schlugen ihnen Stimmengewirr und ferne Klänge arabischer Musik entgegen. Jetzt fühlte sich Paul vollends verzaubert. Fast meinte er, das Alte Ägypten spüren zu können, für das er sich so sehr begeisterte. Mit weit geöffneten Sinnen schlenderte er an den verschiedenen Auslagen der Ladenzeile vorbei. Gepunzte Messingwaren, Gewürze in Säcken, bunte Glaslaternen und Goldschmiedearbeiten aller Art. Paul entdeckte, was er suchte, und steuerte zielstrebig darauf zu. Mit ehrfürchtig klopfendem Herzen nahm er eine der kalten, glatten Figuren in die Hand. Es war ein Horusfalke aus türkisfarbener Fayence. Eine wunderschöne Arbeit, vielleicht sogar antik. Er wendete die Götterfigur hin und her, spürte die verborgene Kraft, die davon ausging.

„Echt alt! Aus der Zeit der Pyramiden!“, sagte ein Mann in gebrochenem Englisch. Vermutlich der Besitzer des Ladens, denn er stand mit verschränkten Armen im Eingang und sah auf den Jungen in Schuluniform hinab. Er trug einen gestreiften Kaftan und einen rot gefärbten Bart. Er lächelte nicht.

„Wirklich? Oder ist das nur eine billige Kopie?“, fragte Paul selbstbewusst und in reinstem Arabisch.

Der Mann hob überrascht die Brauen. „Du sprichst meine Sprache?“

„Wieso nicht?“

„Du siehst nicht so aus, Junge.“

„Wie muss man denn aussehen?“

Der Mann runzelte die Stirn. „Mein Großvater hat das Ding jedenfalls aus dem Wüstensand gegraben. Mit seinen eigenen Händen. Direkt bei den Pyramiden.“

„Ach so?“ Paul blickte zu dem Mann auf. „Das ist aber verboten.“

„Weiß ich, ist mir aber egal. Was ist jetzt? Willst du die Figur kaufen?“

„Vielleicht.“

„Du hast gar kein Geld, Knirps. Stimmt’s?“ Der Mann verzog das Gesicht, der rote Bart an seinem Kinn wackelte.

„Ich hab wohl Geld.“

„So? Dann lass mal sehen.“

„Aber vorher müssen wir feilschen.“

„Da hast du natürlich recht.“ Jetzt grinste der Mann, und ein erstes freundliches Leuchten trat in seine Augen. Er hatte ein wirklich braun gebranntes Gesicht, als sei er selbst jeden Tag in der Wüste unterwegs. Was er dort wohl für Abenteuer erlebte? Wenn Paul mal groß war, wollte er auch um die Welt reisen und archäologische Schätze ausgraben.

Der Mann beugte sich zu ihm hinab und flüsterte verschwörerisch: „Na, dann mache ich den Anfang: Die Figur des Horus kostet fünfhundert Ägyptische Pfund. Das ist ein ganz spezieller Preis, extra für dich.“

Paul überlegte. Sein Bruder stand neben ihm und blickte gelangweilt auf eine Auswahl von Skarabäen aus Speckstein. „Hm, weißt du was?“, meinte er nach einer Weile. „Ich gebe dir zweihundert Pfund.“

„Was?“ Der Mann stemmte die Hände in die Hüften. Seine Empörung war nur gespielt, das sah Paul ganz genau. „Aber das ist weniger als die Hälfte!“

„Es ist auch weniger als die Hälfte der Wahrheit, die du mir über den Falken erzählt hast. Dein Großvater hat diese Figur gar nicht ausgegraben.“

„Natürlich hat er das ...“

„Und warum ist dann auf der Unterseite der Name von Ramses III eingraviert? Soviel ich weiß, liegt der im Tal der Könige und nicht bei den Pyramiden von Gizeh.“

„Du kannst Hieroglyphen lesen?“

„Ja, kann ich.“ Paul war stolz darauf, es sich selbst beigebracht zu haben, die alten Schriftzeichen zu entziffern. Wozu eine ganze Woche Arrest in der Bibliothek doch alles gut sein konnte.

„Nun ja ... Hm, du hast recht. Mein Großvater hat die Figur gar nicht ausgegraben. Ich habe sie von einem Händler. Aber sie ist echt antik. Machen wir vierhundertfünfzig Pfund, weil du es bist.“

„Dreihundert!“

„Vierhundert. Ich muss zwei Frauen und zehn Kinder ernähren.“

„Glaub ich dir nicht. Das war doch wieder nur halb wahr.“

„Na schön, ich hab vier Kinder und eine Frau, aber auch die wollen essen. Nun? Mach dein Angebot.“

„Dreihundertfünfzig.“

„Du bist aber hartnäckig, Knirps. Dreihundertachtzig.“

„Dreihundertsiebzig. Deal?

Der Mann zögerte und rieb sich dabei den Bart. Schließlich schlug er in Pauls ausgestreckte Hand ein. „In Ordnung!“

Paul verzog keine Miene. Man musste beim Feilschen professionell bleiben und nicht zeigen, dass man ein gutes Geschäft gemacht hatte. Er zählte die Scheine von seinem gesparten Taschengeld ab und drückte sie dem Mann in die Hand, der sie in die Brusttasche seines Kaftans steckte. Dann überreichte er Paul die Figur. Der Mann musste nicht wissen, dass sie in Wahrheit um ein Vielfaches mehr wert war als bloß fünfhundert Pfund. Der Horusfalke war tatsächlich echt, das hatte Paul, der sich viel im Ägyptischen Museum herumtrieb, gleich erkannt.

„So, bitte schön, junger Mann. Es war mir eine Freude, mit dir Geschäfte zu machen. Du darfst gerne wiederkommen.“

„Danke.“ Paul drehte sich zu seinem Bruder um. „Sieh mal, ist der Falke nicht ...?“ Verwundert sah er sich um. Per war weg.

„Wo ist mein Bruder?“, fragte er den Mann, doch der zuckte nur mit den Schultern.

„Ich war zu sehr mit dem Feilschen beschäftigt, um zu sehen, wo er hin ist. Tut mir leid, Knirps.“

Paul setzte sich in Bewegung und wandte dabei den Kopf in alle Richtungen. „Per? Wo bist du? Per?“

Zwischen den Leuten in der Gasse war nicht viel zu sehen. Nirgendwo blitzte der Stoff seiner Schuluniform durch. Paul blickte in jeden Laden, an dem er vorbeikam.

„Per! Was soll das? Das ist nicht lustig!“ Doch er konnte ihn nicht finden. Als er eine Kreuzung erreichte, blieb er stehen und drehte sich einmal um die eigene Achse. Ungerührt zogen die Leute an ihm vorbei, einige von ihnen guckten den rufenden Jungen neugierig an. Ein mit Tuchballen bepackter Esel trottete an ihm vorbei und ein dürrer Mann ohne Zähne. Paul sah nur Arme und Beine und den wehenden Stoff von Kaftanen und Schleiern. Wo, zum Teufel, steckte Per?

Er lief die Gasse wieder zurück und die Angst, seinem Bruder könnte etwas zugestoßen sein, wuchs. Die Worte seines Vaters hallten in seinen Ohren: „Es ist zu gefährlich für Kinder wie euch.“

Hastig wandte Paul den Kopf, dass ihm ganz schwindelig wurde. Und erst als er in einen Laden mit alten Büchern hineinspähte, entdeckte er ihn endlich. Gereizt stieß Paul Luft aus.

Das sah ihm wieder ähnlich! Per, der Büchernarr. Das hatte er von ihrem Vater – im Gegensatz zu Paul, der regelrecht eifersüchtig auf die Bücher des Vaters war. Denn der schenkte den Leibern aus Papier manchmal mehr Aufmerksamkeit als seinen Söhnen aus Fleisch und Blut.

Paul lief in den Laden und gewahrte plötzlich den Mann, der neben Per stand. Er war sehr groß und dünn. Und er trug ausschließlich schwarze Kleidung. Anzug, Hemd, Schuhe, Haare, einfach alles an ihm war schwarz. Sogar seine Krawatte und der Stein an seinem Ring. Er wirkte wie ein Totengräber im Sonnenschein. Vollkommen fehl am Platz in diesem bunten Treiben des Basars. Ein Wesen aus einer anderen Welt. Der Welt der Schatten, irgendwo von der anderen Seite.

Paul blieb stehen und beobachtete den Mann, der mit Per sprach. Leider konnte er nicht verstehen, was er sagte. Sein Bruder antwortete ihm jedenfalls, begleitet von einem schüchternen Nicken. Dann beugte sich der Mann zu Per hinab und strich ihm mit seiner großen knochigen Hand übers Haar. Diese freundlich gemeinte Geste hatte etwas durch und durch Bedrohliches. Paul jagte ein kalter Schauer über den verschwitzen Rücken. Der dürre Schatten flüsterte Per etwas zu, und Paul sah, wie das Gesicht seines Bruders vor Schreck ganz starr wurde. Er lief auf Per zu, packte ihn am Arm und zog ihn mit sich aus dem Laden. Per protestierte nicht. Er folgte Paul, bis sie den Boulevard erreichten. Erst dort blieben sie stehen und atmeten tief durch. Stickige Abgase flossen in ihre Lungen und kratzten im Hals. Per musste husten.

„Wer war der Mann?“ Keuchend sah sich Paul nach Hermann und dem Wagen um.

„Keine Ahnung. Ich habe ihn nie zuvor gesehen.“

„Was wollte er von dir?“

Per zuckte mit den Schultern. „Er hat mich angesprochen und Per Gustav zu mir gesagt.“

„Hä?“ Paul stutzte. „Woher wusste der Mann, dass du es bist und nicht ich? Ich meine, uns kann man doch kaum auseinanderhalten. Erst recht, wenn man ein Fremder ist.“

„Vielleicht war er ein Freund von Vater.“

Paul schürzte die Lippen. Das glaubte er nicht. Der Mann hatte etwas Beunruhigendes an sich gehabt. Diese Figur, diese Kleidung. Unheimlich und irgendwie unwirklich. Wie ein Geist. Eine Erscheinung, die sie sich beide vielleicht nur eingebildet hatten.

„Hat er noch etwas zu dir gesagt?“

„Ja, aber das war seltsam.“ Per kratzte sich am Kopf. „Er hat gefragt, was mein Lieblingsessen ist.“

„Das verstehe ich nicht.“

„Ich auch nicht.“

„Und was hat der gesagt, als du so ängstlich geguckt hast?“, wollte Paul wissen.

„Nichts.“

„Nichts?“

Per druckste herum.

„Lüg mich nicht an. Ich hab genau gesehen, dass er dir noch etwas gesagt hat. Da bist du ganz blass geworden. Nun sag schon!“

„Ich ... ich hab Angst, dass du es Vater erzählst.“

Paul legte Per einen Arm um die Schultern. „Brauchst du nicht. Ich bin schließlich nicht blöd, sonst würde er ja erfahren, dass wir ohne seine Erlaubnis auf dem Basar waren.“

„Okay.“ Per leckte sich über die Lippen. „Also, der Mann ... er hat gesagt, er würde bald kommen und mich mitnehmen.“

„Mitnehmen? Wohin?“

„In sein Schloss.“

„Welches Schloss? Per, das hast du dir bloß ausgedacht!“

Per sah ihn an, zögerte, dann riss er den Arm hoch und zeigte auf die Straße. „Guck mal, da ist Hermann. Los komm, ins Auto. Ich will nach Hause.“

Noch auf dem Weg in ihr Wohnviertel grübelte Paul über den unheimlichen Mann nach. Es war ein spannendes Rätsel. Und das wollte er lösen. Er liebte Rätsel, genau wie Per seine Bücher liebte.

In jenem Moment hatte Paul nicht ahnen können, dass ihn dieses Rätsel jahrzehntelang quälen würde. Und auch nicht, dass er eine Stunde später keinen Bruder mehr haben würde.

Als sie endlich daheim ankamen, gab es fürchterlichen Ärger von ihrem Vater. Wie auch immer er ihre Lüge mit dem dichten Verkehr durchschaut hatte. Zuerst rügte er Hermann dafür, dass er die Jungen nicht sofort zurückgebracht hatte, und danach verteilte er Ohrfeigen an Paul und Per. Ihre Mutter versuchte zwar, die Wogen zu glätten, doch Siegfried Ondragon blieb hart und sperrte die beiden Brüder für den Rest des Tages in die Bibliothek. Dem Ort, der seitdem Anfang und Ende zugleich war.

1. Kapitel

Hamburg – heute

Paul Ondragon blinzelte durch seine Sonnenbrille gegen die grelle Oktobersonne an, deren Licht von der Außenalster zurück in den hanseatisch blauen Himmel reflektiert wurde. Vor dem Haupteingang des Hotel Atlantic war einiges los. Touristen, Neugierige und B-Promis schwirrten aufgeregt durch die Tür rein und raus, als residierte dort die Queen. Auf der Alster fuhr ein Kahn, der eine große Gruppe Schwäne vor sich her in Richtung Ufer trieb. Vermutlich sollten sie für den Winter eingefangen werden.

Plötzlich hörte Ondragon ein tiefes Brummen und wandte sich um. Neben ihm hatte ein dunkelgrauer Audi RS4 gehalten. Der Wagen sah nach nichts aus, hatte aber satte vierhundertfünfzig PS unter der Haube. Genau das Maß an Understatement, das Ondragon bevorzugte. Bei den Hotels hielt er es andersherum. Wer wollte schon in einer Absteige wohnen?

Die Fahrertür ging auf, und der Mann vom hoteleigenen Parkservice stieg aus, ein verhaltenes Grinsen auf dem Gesicht.

„Nettes Auto“, sagte er und überreichte ihm die Schlüssel.

„Mietwagen“, entgegnete Ondragon und stieg ein. Nachdem er die Adresse ins Navi eingegeben hatte, fuhr er los, bog zur Kennedybrücke ab und hielt sich in Richtung Norden. Die Fahrt nach Eppendorf würde keine zwanzig Minuten dauern, und er hätte sich dafür auch ein Taxi nehmen können, aber er blieb gerne unabhängig. In seinem Job wusste man nie, was als Nächstes passierte.

Ondragon steckte sich einen Kaugummi in dem Mund und betrachtete die Häuser, die an ihm vorbeizogen. Breite Chausseen wechselten zu kleineren Wohnstraßen mit prächtigen Altbauten. Hamburg schien äußerst lebenswert zu sein. Vielleicht sollte er mal über einen Umzug nachdenken ... Er lebte jetzt schon viel zu lange in L. A. Eigentlich war es längst an der Zeit, den Ort zu wechseln, allein schon aus Sicherheitsgründen. Als er jedoch an die Umstände dachte, die eine Relocation mit sich bringen würde, zog sich in seinem Inneren alles zusammen. Er hatte sich daran gewöhnt, den Amerikaner zu spielen, kannte die Stadt in- und auswendig, sein Büro, sein Haus. Schätzte das Vertraute. Verdammt. Er war bequem geworden. Und Bequemlichkeit tötete ...

„Sie haben Ihr Ziel erreicht. Es befindet sich auf der rechten Straßenseite“, quatschte das Navi mitten in seine Gedanken hinein, und er hielt an. Durch die Windschutzscheibe blickte Ondragon auf das große Backsteingebäude im Salomon-Heine-Weg. Am geschmiedeten Gartentor hing ein Messingschild, auf dem Seniorenresidenz Alsterblick stand. Buchsbäume, zu geometrischen Figuren geschnitten, flankierten den Weg zum Haupteingang.

Ondragon parkte den Wagen in einer Lücke gegenüber der Residenz und stellte den Motor ab. Bevor er ausstieg, checkte er noch einmal seine Waffe, die er in einem Holster unter dem Jackett trug und die ihm sein deutscher Mitarbeiter Dietmar Hegenbarth zuvor an die Hoteladresse geschickt hatte. Er glaubte zwar nicht, sie gebrauchen zu müssen, aber er ging wie immer lieber auf Nummer sicher.

Bei der Anmeldung im Eingangsbereich des Altenheims erkundigte er sich nach dem Weg. Es war ein feudaler Schuppen, in dem man nach sämtlichen Regeln der Kunst und in aller Ruhe vor sich hin altern konnte. Hier gab es keine klinische Zweckeinrichtung, sondern ein Mobiliar wie in einem Renaissanceschlösschen.

Tja, der Herr, den er zu besuchen gedachte, hatte eben einflussreiche Freunde.

„Sind Sie einer von Herrn Zimts Agentenfreuden?“, fragte die adrette Dame hinter dem Tresen, was Ondragon irritiert darüber nachdenken ließ, ob irgendetwas an seinem Outfit ihn verriet.

„Agentenfreunde? Wie soll ich das verstehen?“, gab er vorsichtig zurück.

Die junge Frau lächelte. „Nun, Herr Zimt glaubt, er arbeite für den Geheimdienst. Und falls Sie das nicht wissen: Er ist etwas speziell.“ Bei dem Wort legte sie einen Finger an ihre Schläfe, und Ondragon verstand. Wieder entspannt bedankte er sich und drehte sich zu der großen Freitreppe um, die von der Eingangshalle in den ersten Stock hinaufführte.

„Äh, Sie können auch den Aufzug nehmen“, rief ihm die Empfangsdame hinterher, woraufhin er lässig eine Hand hob und mit federnden Schritten die Stufen nahm. Oben sah er sich um. Eine umlaufende Galerie komplettierte den Eindruck eines hochherrschaftlichen Hauses wie aus einem Historienschinken. Ondragon blickte hinab in die Eingangshalle. Die Frau hinter dem Tresen hielt den Blick auf ihr Smartphone gesenkt. Irgendwie hatte ihn der Hinweis auf den Fahrstuhl gekränkt. Sah er so alt aus? Nun gut, er war jenseits der vierzig, aber noch gut in Schuss. Kein Rost weit und breit. Er fuhr sich durch die Haare, die heute Morgen im Spiegel seines Wissens nach noch kein Grau aufgewiesen hatten.

Als er kurz darauf den mit dickem tannengrünen Teppich ausgelegten Flur entlangmarschierte, überkam ihn ein gewisses Unbehagen. Mit der Farbe hatte er schon immer so seine Probleme gehabt. Kurz blitzten Erinnerungen an die Cedar Creek Lodge und ihre mordlustigen Bewohner auf. Diese Episode hatte seine ohnehin bereits angespannte Beziehung zur Farbe Tannengrün nicht unbedingt verbessert.

Das Zimmer, das er suchte, lag ganz am Ende des Flurs und hatte mit Sicherheit einen Blick auf den Fluss. Neben der Tür verriet ein Namensschild, wer hier residierte: Herr Jonathan Zimt.

J. Z.

Genau wie Jaakov Zafir.

Ondragon klopfte an, und eine wache, leicht amüsierte Stimme rief ihn herein. Er öffnete die Tür, und mehrere Eindrücke wirkten gleichzeitig auf ihn ein. Erstens, der Kaffeeduft, der von einer Kanne aus feinem Porzellan aufstieg. Zweitens, die leise klassische Musik, die aus einem alten Weltempfänger drang. Und drittens, das blaue Flimmern von einem halben Dutzend Computermonitoren, die an der Wand angebracht waren und auf denen diverse internationale Nachrichtenkanäle auf stumm geschaltet liefen. Mitten in dieser seltsamen Mischung aus Alt und Neu saß der Bewohner des Zimmers auf einem hypermodernen Ergonomiestuhl an einem Schreibtisch aus der Biedermeierzeit und rührte mit einem Lächeln Zucker in seine Kaffeetasse. Er war eingewickelt in einen karierten Morgenmantel, und sein schütteres Haar war streng zurückgekämmt.

„Nur hereinspaziert, junger Mann. Nehmen Sie doch Platz. Dass ich nicht aufstehe, müssen Sie entschuldigen, ich habe Probleme mit den Hüften. Mit Mitte achtzig läuft das Maschinchen nicht mehr ganz so rund, obwohl ich schon so einige Ersatzteile hab einbauen lassen.“ Lachend klopfte sich Jonathan Zimt auf den Oberschenkel, während sich Ondragon setzte und den Kaugummi in seine Wangentasche schob.

„Guten Tag, Herr Zimt. Mein Name ist ...“

„Paul Eckbert Ondragon. Ich weiß“, sagte der Alte glucksend. „Ihr Kommen wurde mir, wie soll ich sagen, angekündigt.“

Wider Willen verzog Ondragon das Gesicht. Also war ihm sein Vater schon wieder zuvorgekommen. Oder schnüffelte ihm noch jemand anderes hinterher? Nur, wer sollte das sein? Eigentlich hatte er alle Sicherheitsmaßnahmen ergriffen. Niemand außer seiner Assistentin Charlize wusste, dass er in diesem Altenheim in Hamburg war.

„Also, was führt Sie zu mir, Herr Ondragon?“

Dass Zimt seinen Namen richtig aussprach, bestätigte seine Vermutungen. Deshalb entschied sich Ondragon, gleich zum Punkt zu kommen. „Sie kennen also meinen Vater?“

„Nun ja.“ Zimt schob eine zweite Tasse, die leise klirrte, über den Tisch. „Kaffee?“

„Äh, danke.“ Aus Höflichkeit nippte Ondragon an dem erstaunlich guten Gebräu. Dann stellte er die Tasse ab.

„Das ist ein speziell gerösteter Kaffee aus dem Libanon. Der erinnert mich an meine jungen Jahre.“

Ondragon ließ sich nicht beirren. „Woher kennen Sie meinen Vater?“

„Nun, ich bin ihm ein paarmal begegnet.“

Ein paarmal. Welch Untertreibung.

„Das war vor vielen Jahren in West-Berlin und in Moskau. Oder war es Paris? Nein, jetzt weiß ich’s wieder. Es war Prag, nicht Moskau. Genau, Prag.“

„Wissen Sie auch noch, wann das war?“

Der alte Zimt legte den Kopf schief. „Ich glaube, in den Siebzigern. Ja, es war siebenundsiebzig.“

„Damals hießen Sie noch Jaakov Zafir, nicht wahr?“

Der Blick des Alten verfinsterte sich hinter seiner Nickelbrille. „Das ist lange her. Und ich möchte auch nicht gerne daran erinnert werden.“

„Weil Sie eigentlich israelischer Staatsbürger sind – und für den Mossad tätig waren ...“

Der Alte presste die Lippen aufeinander. „Man sagte mir, dass Sie unhöflich sein und mir solche Fragen stellen würden. Aber ich will sie gerne beantworten. Antwort Nummer eins: Für den Geheimdienst habe ich nie gearbeitet.“

„Nein? Ich habe aber einen Beweis dafür.“ Ondragon zog ein altes Schwarzweißfoto aus dem Jackett, wohl darauf bedacht, Zimt nicht die Sig Sauer sehen zu lassen. Zumindest noch nicht. Er hielt dem Alten die Aufnahme entgegen, die Nahil Hamid vor einem Jahr in Kairo aufgetan und ihm zugeschickt hatte, bevor der junge Ägypter spurlos verschwunden war.

Zimt starrte auf das Foto, das zweifelsfrei ihn und Siegfried Ondragon als vierzig Jahre jüngere Versionen bei einem geheimen Treffen in Prag zeigte. Der Jude vom israelischen Geheimdienst und der deutsche Botschafter aus Kairo, der während seiner Zeit im diplomatischen Dienst parallel für den BND tätig war. Schließlich drehte Zimt das Bild um und las die handschriftliche Notiz auf der Rückseite: Zielperson S. O. bei einem Treffen mit Mossad-Kontaktmann J. Z. – 29. April ’77, 15:30 Uhr.

„Und warum zeigen Sie mir das?“, fragte der Alte.

„Ich möchte, dass Sie sich daran erinnern, worum es bei dem Treffen ging.“

„Das geht Sie nichts an.“

„Dann sagen Sie mir wenigstens, ob Sie mit meinem Vater in dem Auto waren, als der Unfall passierte.“

„Welcher Unfall?“

„Na, der in Prag. Bei dem ein kleiner Junge verletzt wurde. Mein Vater saß am Steuer und hat hinterher Fahrerflucht begangen.“

„Ich habe keine Ahnung, wovon Sie sprechen.“

„Ich glaube, da ist etwas vertuscht worden, nur weil sich mein Vater mit Ihnen getroffen hat.“

„Davon weiß ich nichts.“

„Ich habe den Namen des Jungen herausbekommen. Es war nicht leicht, aber wenn Sie meinen Vater kennen, wissen Sie, dass auch ich meine Mittel habe.“

Der Alte blickte ihn an.

„Der Junge hieß Viktor Ivan Krylow“, fuhr Ondragon fort. „Und er ist ein paar Tage nach dem Unfall in einem Krankenhaus in Prag an seinen Verletzungen gestorben. Er war gerade mal zehn!“

„Das ist sehr traurig, ganz bestimmt. Aber ich verstehe noch immer nicht, warum Sie mir das erzählen.“

Weil mein Vater einen Jungen getötet hat und nie dafür zur Rechenschaft gezogen wurde. Und weil Sie mit ihm zur selben Zeit am selben Ort waren!

Ondragon hätte den Alten am liebsten über den Tisch gezerrt, um mehr aus ihm herauszubekommen, doch er blieb ruhig und atmete kontrolliert durch die Nase. Wenn Zimt weiterhin auf stur schaltete, würde er ein anderes Tanzliedchen auflegen. Ondragon lehnte sich so vor, dass Zimt die Sig Sauer unter seinem Jackett sehen konnte. Der Alte verzog keine Miene, aber Ondragon spürte, dass er sie genau registrierte. Als erfahrener Geheimdienstmann hatte Zimt bestimmt noch andere Tricks auf Lager. Gelernt war gelernt.

„Hören Sie ... Jaakov“, sagte Ondragon betont leise, „ich weiß zufällig, dass mein Vater Ihnen diesen hübschen Platz organisiert hat und dazu Ihre noch viel hübschere neue Identität samt deutschem Pass. Ich weiß, dass Sie zwei sich noch immer regelmäßig treffen, zum ‚Kaffeetrinken‘. Ich frage mich, was Sie da zu besprechen haben und wer bei wem auf der Lohnliste steht. Sie beim BND oder mein Vater beim Mossad?“

„Sie wissen gar nichts. Sie sind bloß ein dummer kleiner Junge.“

Dummer kleiner Junge. Ondragon kam sich vor, als spräche sein Vater zu ihm. Waren die beiden tatsächlich so dicke Kumpels, dass sie nicht nur den gleichen Wortschatz teilten, sondern auch ihre Meinung über ihn? Ondragon sah Zimt durchdringend an, dessen leicht gerötete Gesichtsfarbe verriet, wie aufgewühlt er war.

„Ich kann Sie auffliegen lassen, Herr Zimt.“

Der Alte rollte verächtlich mit den Augen. „Soll mich das einschüchtern? Was Sie können, können wir schon lange.“

Wen er mit „wir“ meinte, war nicht ganz klar. Sicher war jedoch, dass sich Zimt nur schwer aus der Defensive locken ließ. Ondragon tat so, als hustete er in die hohle Hand, wobei er unauffällig den Kaugummi ausspuckte. Danach ließ er die Hand unter den Tisch sinken. „Oder haben Sie so große Angst vor meinem Vater, dass Sie ihn bis heute decken?“

Zimt richtete sich auf seinem Stuhl auf. „Ich glaube, Sie gehen jetzt besser, Herr Ondragon. Ich habe Wichtigeres zu tun, als mich von Ihnen mit unhaltbaren Anschuldigungen überschütten zu lassen.“

„Und was ist das so Wichtiges?“, fragte Ondragon mit verächtlichem Blick auf die Monitore. „Ihre Tarnung als harmloser alter Trottel aufrechtzuerhalten? Oder so zu tun, als seien Sie noch im Dienst und spielten Ihre kleinen lächerlichen Agentenspielchen?“

Zimt starrte ihn an. „Lieber ein abgehalfterter Agent als ein Versager.“

Ondragon schwieg.

„Hab ich’s mir doch gedacht“, sagte Zimt selbstsicher. „Ihr Vater hatte recht, Sie haben kein Rückgrat. Und nun verlassen Sie mein Zimmer, sonst rufe ich den Sicherheitsdienst.“

Ondragon stand auf und ging in Richtung Tür. „Auf Wiedersehen, Herr Zimt. Und viele Grüße an Siegfried Ondragon. Richten Sie ihm aus, er möge bitte bald sterben und mich von seiner Anwesenheit auf diesem Planeten befreien. Danke.“

Damit verließ Ondragon den Raum und lief mit geballten Händen durch den Flur. Erst als er unten in seinem Auto saß, war er in der Lage, seine Finger wieder zu lockern. Mithilfe der Autospiegel prüfte er die Umgebung, aber alles schien normal zu sein.

Er holte Kopfhörer hervor und steckte sie in die Ohren. Schwere Atemzüge, untermalt von leiser Musik, versetzten ihn zurück in das Zimmer.

Er hatte Zimt eine kleine Wanze unter den Tisch geklebt. Mit dem Kaugummi.

Ein Taschenspielertrick, der vermutlich nicht lange unbemerkt bleiben würde. Aber bis dahin hoffte er, an Informationen zu gelangen, die der alte Mann ihm auf normalem Weg nicht hatte geben wollen.

Ondragon lauschte eine Weile. In dem Zimmer tat sich allerdings nicht viel, außer ein paar schwerfälligen Schritten, knackenden Gelenken und einem unterdrückten Fluchen. In diesem Punkt hatte Zimt ihm nichts vorgespielt, er war tatsächlich nicht in bester körperlicher Verfassung. Als der Alte jedoch die Nachrichten auf seinen Monitoren laut stellte, gab Ondragon es vorerst auf. Zimt war nicht so dumm, gleich zum Telefon zu greifen. Alte Agentengewohnheit. Na ja, er hatte Zeit. Ondragon ließ die Stöpsel im Ohr und startete den Wagen. Plötzlich überkam ihn das Gefühl, beobachtet zu werden, und er sah sich um. Doch die Straße war leer. Sein Blick huschte hinauf zu den Fenstern der Residenz. Im ersten Stock zuckte es kurz hinter einem der Vorhänge. Ondragon kniff die Augen zusammen, konnte aber niemanden hinter der spiegelnden Scheibe erkennen. Und Zimts Zimmer ging nach hinten raus, er konnte es also nicht gewesen sein. Vielleicht war es nur ein anderer netter Senior, der gerade aus seinem süßen Nichtstun erwacht war und etwas mehr Licht in seinem Raum haben wollte. Drauf geschissen!

Ondragon legte den Gang ein und fuhr zurück zum Hotel.

2. Kapitel

Enttäuscht riss sich Ondragon die Kopfhörer aus den Ohren. Er lauschte nun schon seit Stunden, doch der alte Trottel tat nichts anderes als Musik hören, vor sich hin summen und Nachrichten gucken. Kein Telefonat, kein Tastaturklappern. Nichts. Verdammt! Hatte es in dem Zimmer überhaupt einen Rechner gegeben? Ja klar. Da hatte ein Notebook auf dem Couchtisch gestanden. Und was, wenn Zimt über sein Smartphone kommunizierte, so wie Ondragon es tat? Mist. Er hatte gehofft, der rüstige Rentner wäre so oldschool, dass er früher oder später den Telefonhörer in die Hand nehmen würde. Da hatte er sich wohl geirrt. Er würde Rudee auf etwaige mobile Endgeräte des Alten ansetzen müssen.

Genervt schickte er seinem thailändischen Computerspezialisten Rudee eine Nachricht mit der Bitte, sich bei Jonathan Zimt einzuhacken. Danach legte Ondragon sein Handy auf den Nachttisch, wo auch noch die Reste seines Abendessens standen. Ein Gähnen presste seine Kiefer auseinander, und mit einem gereizten Seufzen rieb er sich die Augen.

Er war müde. Nein, er war nicht einfach nur müde. Er fühlte sich nach monatelanger Hast rund um den Globus vollkommen ausgelaugt. Und es war schwer, sich das einzugestehen. Wie man es drehte und wendete, er steckte mitten in einer Krise. Am liebsten hätte er sich die Decke über den Kopf gezogen und mindestens eine Woche lang geschlafen. Unerreichbar für alle, selbst für Charlize und Roderick.

Aber dann kam jedes Mal diese kleine Stimme dazwischen. Sein Ego, das herausfinden wollte, was damals mit seinem Bruder in der Bibliothek passiert war und inwiefern sein Vater seine Finger mit im Spiel gehabt hatte. Schließlich war er derjenige, der immer eine Lösung für jedes Rätsel parat hatte. Paul Ondragon, der coole Stratege, Bezwinger aller Geheimnisse. Doch seit dem Verschwinden von Nahil häuften sich auf seinem Konto die ungelösten Rätsel. Das war ein unhaltbarer Zustand. Ondragon konnte es nicht verwinden, dass der Ägypter einfach nicht aufzuspüren war. Nahil, einer der fähigsten Männer seines Freundes Roderick DeForce und dessen hoffnungsvoller Protegé. Was war bloß mit ihm geschehen? Ondragon hatte ihn damit beauftragt, mehr über die Vergangenheit seines Vaters herauszufinden. Im Zuge dessen hatte Nahil einen Flug von Kairo nach Berlin nehmen wollen, war aber nie in Berlin angekommen. Das war vor über einem Jahr gewesen. War Nahil entführt worden? Oder hatte man ihn beseitigt? Im Gegensatz zu Rod weigerte sich Ondragon bis heute, an Letzteres zu glauben. Denn es ergab überhaupt keinen Sinn. Wäre Nahil getötet worden, hätte der Killer ihm mit Sicherheit einen Beweis für den Mord zukommen lassen – als Warnung, sich nicht weiter einzumischen. So lief das doch normalerweise.

Ondragon war sich inzwischen sicher, dass sein Vater hinter Nahils Verschwinden steckte. Wer sonst konnte ein Interesse daran haben, die Geschehnisse der Vergangenheit, in denen Nahil herumwühlen sollte, im dunklen Sumpf des Vergessens behalten zu wollen?

Matt fuhr sich Ondragon durchs Haar. Die Erschöpfung und die ewig kreisende Gedanken-Zentrifuge ließen seine Kopfhaut jucken. In den letzten Monaten war er wie ein Getriebener mehrfach um die Welt geflogen, hatte unzählige Leute befragt oder observiert, hatte von Rudee Rechner hacken lassen und sich sogar in sein altes Wohnhaus in Kairo eingeschlichen. Dort hatte er eine ganze Nacht lang ausgeharrt, es aber nicht über sich gebracht, den Raum zu betreten, der einstmals die Bibliothek seines Vaters beherbergt hatte. Jenen Ort, an dem Per Gustav von einem Bücherregal erschlagen worden war.

Ondragon ließ die Hände sinken. Er sollte besser schlafen gehen. Er warf einen Blick auf die Uhr. 0:44 Uhr.

Das war durchaus eine Zeit, in der sein Ego ihm erlauben würde, ins Bett zu gehen. Er horchte in sich hinein und spürte ein leichtes Stechen in der Magengegend. Ein kleiner Protest, nicht genug getan zu haben?

„Morgen“, sagte er laut. „Morgen rücke ich dem alten Zimt ein weiteres Mal auf die Pelle. Ich werde nicht mit leeren Händen aus Hamburg abreisen.“

Das schmerzhafte Ziehen in seinem Bauch ließ nach und machte einem zufriedenen Schnurren Platz. Als hätte sein Ego die Krallen aus seiner Magenwand gezogen und sich nun friedlich eingerollt, um auf eine Streicheleinheit zu warten.

Ondragon löschte das Licht und schloss die Augen. Wenige Minuten später öffnete er sie wieder und schaltete das Licht an. Die Worte des alten Zimt wollten nicht aus seinem Kopf: „Was Sie können, können wir schon lange.“

Beunruhigt nahm Ondragon sein Handy vom Nachttisch und lief damit quer durchs Zimmer. Mithilfe einer speziellen App, die Rudee ihm programmiert hatte, suchte er wiederholt alles nach Wanzen ab.

Nachdem er auch diesmal nichts Verdächtiges hatte finden können, ließ er erschöpft die Schultern sacken. Vielleicht war er paranoid ... Vielleicht auch nicht.

Mit schwerfälligen Bewegungen kroch Ondragon unter die Bettdecke. Noch ein letztes Mal lauschte er über die Kopfhörer in Zimts Zimmer hinein, doch von dort kam nur gleichmäßiges Schnarchen. Dann löschte er das Licht und schlief mit den Knöpfen in den Ohren ein, während ihn sein Ego von innen heraus eindringlich beobachtete.

Ondragon erwachte, weil er etwas gehört hatte. Aber im Hotelzimmer war es dunkel und still. Rasch drückte er sich die Kopfhörer tiefer ins Ohr und lauschte angestrengt. Am anderen Ende hatte es Aktivität gegeben. Er war sich sicher. Aus dem Zimmer von Zimt war ein Räuspern gekommen oder ein Stöhnen, dazu ein metallisches Quietschen. Doch so sehr er auch horchte, bei dem Alten war alles ruhig. Er schloss die Augen und legte sich aufs Kissen zurück, versuchte, wieder einzuschlafen.

Aber ein erneutes Quietschen ließ ihn wiederholt aufschrecken. Es klang wie ein schlecht geöltes Rad an einem Servierwagen. An sich kein bedrohlicher Laut – bis auf die Tatsache, dass er nicht aus den Kopfhörern gekommen war.

Ondragons Hand fuhr unter das Kopfkissen zu seiner Waffe.

Sie war nicht da.

Gänsehaut prickelte über seinen nackten Rücken. Und erst jetzt registrierte er, dass er nicht allein im Zimmer war.

Neben seinem Bett saß jemand.