Bärbel Strothmann

Klara und das Geheimnis der Forscherin

Schatzensaga, dritter Teil

Für unsere Enkelkinder.
Wir werden nicht behaupten können,
wir hätten es nicht gewusst
.

Das Geheimnis der Forscherin

Von Bärbel Strothmann

Blanka starrte den mächtigsten Mann der Welt fassungslos an. Er wollte das wichtigste Forschungsprogramm seines Konzerns abbrechen? Das konnte nicht sein Ernst sein. Mit allem hatte sie gerechnet, als er sie an diesem wunderbaren, sonnigen Wintermontag in sein Büro gerufen hatte. Herzklopfend hatte sie sich ausgemalt, dass sie endlich zur Leiterin der gesamten Sheef-Forschungsgruppe befördert würde, endlich das bekam, was sie nach der ganzen Schufterei unter der Kuppel, in der sie die Baummenschen gefangen hielten, verdiente. Uneingeschränkte Leitungsfunktion. Mehr Geld für weitere Forschungen. Mehr Personal und Verantwortung. Einen besseren Vertrag und eine schönere Wohnung auf dem Werksgelände. Mehr Schutz vor der Bevölkerung und eine bessere Laborausstattung.

Doch jetzt zerplatzte dieser Traum. Sofortiger Abbruch. Sämtliche Forschungsprojekte sollten unverzüglich eingestellt, das gesamte Material archiviert und die noch lebenden Sheefs eingefroren werden. Ihr Mund war trocken, und sie schaffte es nur mit größter Mühe, die Zunge vom Gaumen zu entfernen, um wenigstens ein heiseres „Warum?“ hervorzubringen.

Peter Murt, der ihr an dem blankpolierten, gläsernen Besprechungstisch gegenüber saß und sie mit seinen wasserblauen Augen fixierte wie ein Falke eine kleine Maus, die seinen Appetit sowieso nicht stillen würde, verzog den für einen Mann in seinem Alter und seiner Position erstaunlich sinnlichen Mund zu einem eingeübten Lächeln.

«Schauen Sie, Blanka», setzte er an, um seinen Satz gleich wieder zu unterbrechen. «Ich darf Sie doch Blanka nennen?»

«Ja natürlich», beeilte sich Blanka etwas verwirrt zu versichern, denn mit diesem intimen Angebot des als sehr unnahbar geltenden Vorstandsvorsitzenden hatte sie nicht gerechnet. «Sicherlich. Gern. Nennen Sie mich Blanka.»

Wie dumm von ihr. Das hatte er doch gerade selbst gesagt. Sie hasste es, wenn Menschen einfach das wiederholten, was gerade gesagt worden war. Reine Zeitverschwendung. Unglaublich, wie dieser Mann es schaffte, sie aus der Fassung zu bringen. Dabei hatte sie sich fest vorgenommen, mutig und stark aufzutreten, genauso, wie sie es gegenüber ihrem Team geübt und durchgesetzt hatte. Sie richtete sich ein wenig auf ihrem Stuhl auf und befahl sich, die Schultern zu straffen. Das würde einen besseren Eindruck machen und mehr Autorität signalisieren.

«Es ist doch so, liebe Blanka», fuhr Murt fort, ohne sie aus den Augen zu lassen, «Sie leisten hervorragende Arbeit mit Ihrem Team. Sie haben es geschafft, Leben aus einfachen Körperzellen entstehen zu lassen, Körperzellen, die schon längst in ihrer Funktion festgelegt waren. Sie haben sie umprogrammiert zu kleinen Lebensspendern und sie angetrieben, zu neuen Wesen zu werden, ohne dass Sie auf das altmodische Samen-Eizelle-Modell zurückgreifen mussten.» Er sprach ihre Erfolge an, aus den Nierenzellen der Baummenschen lebende Embryone erschaffen zu haben, ein Projekt, auf das Blanka wirklich sehr stolz war. Sie konnte nicht verhindern, dass sich ein Anflug von Röte auf ihren Wangen ausbreitete. Sie zwang sich, tief ein- und auszuatmen, was das Erröten manchmal verhinderte. Zwecklos. Ihre Wangen mussten schon feuerrot sein. Doch Murt schien es gar nicht zu bemerken.

«Ein kleiner, beweglicher, lebensfähiger Embryo aus einer Nierenzelle, das ist unglaublich», fuhr er fort, «Sie sind eine Schöpferin, und dafür bewundere ich Sie zutiefst, liebe Blanka.» Hier machte er eine Pause und ließ ihr genüsslich Zeit, noch tiefer zu erröten.

Ja, sie war stolz auf ihre Entdeckungen, das konnte und wollte sie nicht leugnen. Es war ein gigantischer Durchbruch, zumal die aus den Nierenzellen des letzten Baummenschen, den sie verwendet hatte, entstandenen Embryone eine erstaunliche Lebenskraft an den Tag legten und sämtliche bisherigen Sheefs überlebt hatten. Sie wuchsen mit unbändiger, lebensbejahender Schnelligkeit, fast als ob sie wüssten, dass man sie andernfalls in den Müll geworfen hätte. Sie hatten etwas ganz Besonderes an sich, etwas… hier unterbrach Murt ihre Gedanken.

«Und genau deshalb müssen wir das Forschungsprogramm jetzt beenden», sagte er mit sanfter Stimme wie zu einem Kind, von dem er erwartete, dass es im nächsten Moment zu weinen beginnen würde. «Schauen Sie, Blanka», fuhr er fort, während er sich in seinem Stuhl nach vorne lehnte und die gefalteten Hände auf die Glastischplatte legte. Unter ihnen beschlug die Scheibe mit einem zarten Dunst. Bestimmt waren diese Hände wunderbar warm, während ihre eigenen vor Kälte zu zittern begannen. «Sie sind meine beste Forscherin. Ich kann Sie nicht länger für ein Programm einsetzen, das keine Zukunft hat. Sie haben Besseres verdient. Sie werden ab sofort das Alpha-Projekt leiten. Ich wüsste niemanden, der dieses äußerst wichtige Vorhaben besser vorantreiben könnte. Sie haben alle Voraussetzungen. Ihre hervorragenden Abschlüsse auf unseren besten Privat-Universitäten sprechen dafür, und natürlich ebenso ihre überragenden Erfolge in der Sheef-Forschung.» An dieser Stelle lehnte er sich noch etwas weiter vor und senkte verschwörerisch die Stimme. «Und außerdem», fügte er hinzu, «habe ich für Sie ein wunderschönes Haus in der Klugstadt reserviert!».

Blanka hielt den Atem an. Sie vergaß einfach, Luft zu holen. Die Zeit schien für einen Moment still zu stehen, als ob jemand einen Film angehalten hätte. Sie nahm Murts Gesicht wahr, seine kurzen, schon leicht ergrauten Haare, sein asketisch schmales Gesicht mit den unpassend weichen, jetzt zu einem Lächeln verzogenen Lippen, die fast gerade Linie seiner dichten Brauen über den durchdringenden Augen, die sie ohne zu blinzeln musterten. Dann erreichten seine Worte die richtige Stelle in ihrem Gehirn und sie atmete aus.

Die Klugstadt.

Sie konnte es kaum fassen.

Dort durften nur die obersten leitenden Angestellten mit ihren Familien wohnen. Es war ein geheimnisvoller Ort, dem unvorstellbare Annehmlichkeiten nachgesagt wurden, ein Wunderland modernster Technik, der Traum aller Mitarbeiter dieses mächtigen Konzerns. Und sie, die erst seit zwei Jahren hier beschäftigt war, nachdem sie ihre Abschlüsse in Biogenetik und Computerwissenschaften mit Bravour und vorzeitig bestanden hatte, sollte schon jetzt in diese wunderbare Stadt der grenzenlosen Möglichkeiten ziehen dürfen? Ihr Herz machte einen Freudensprung. Dafür würde sie das Sheef-Programm natürlich aufgeben, wenn auch ungern. Aber sie hatte ja noch ein kleines Geheimnis in der Hinterhand, von dem Murt nichts wusste. Wie gut, dass sie einen ihrer Sheefs in dieses aufsässige Schatzenmädchen implantiert hatte. Schade nur, dass dieses danach aus dem Labortrakt hatte entkommen können. Aber das machte gar nichts. Ihrem Sheef würde das nicht schaden, er entwickelte sich sicherlich gerade äußerst prächtig in der Gebärmutter dieses Baummädchens. Und die Pane, die zuverlässig skrupellosen Hauspolizisten des Konzerns, würden das Baummädchen sicherlich bald ausfindig machen. Dann könnte sie ihr Sheef-Programm als Privatvergnügen forstsetzen, während sie ihre eigentliche Arbeitszeit dem Alpha-Programm widmete. Zwei Fliegen mit einer Klappe, das gefiel Blanka. Sie strahlte Murt an. «Es ist mir eine große Ehre», sagte sie mit fester Stimme, «das Alpha-Programm zu übernehmen. Wann kann ich anfangen?»

Ein Brief

Über Nacht hatte es gefroren. Eine dünne Raureifschicht hatte sich auf die Rollladenlamellen gelegt, und ich wünschte, ich hätte Handschuhe angezogen, um sie hochzuschieben. Bei Kälte klemmte das Ding immer ein wenig, und so dauerte es etwas länger als gewöhnlich, bis alle Lamellen im Rollladenkasten verschwunden waren und den Blick auf die schönen Winterhüte in der Auslage freigaben. Da es hier draußen so früh am Morgen noch dunkel war, leuchtete das Schaufenster des kleinen Hutladens hell und einladend auf die noch stille Straße hinaus. Die anderen Läden im Ort machten noch keine Anstalten, zum Leben zu erwachen. Die meisten öffneten nicht vor halb zehn, mit Ausnahme des Zeitungskiosks an der Omnipedes-Haltestelle. Mittlerweile hatte ich mich an den Anblick der großen Tausendfüßler gewöhnt, die in dieser Welt als öffentliche Verkehrsmittel benutzt wurden und mit aufgeschnallten Waggons, in denen die Fahrgäste saßen, wie riesige Straßenbahnen auf Leitschienen durch die Stadt glitten. Ich nahm sie kaum noch wahr, so sehr gehörten sie für mich nun schon zum Stadtbild. Außerdem hatte mir Erich versichert, dass die Omnipedesse gut behandelt würden und ihre Laufarbeit gern verrichteten. Am Ende einer Einsatzfahrt würden sie ausgetauscht und dürften auf einer großen Wiese ausruhen, hatte er mir erklärt.

Fröstelnd zog ich die Schultern zusammen und ging zurück in den Laden. Fast hätte ich auf den braunen Umschlag getreten, der hinter der Ladentür auf dem Boden lag. Beim Hinausgehen hatte ich ihn gar nicht bemerkt, aber jetzt, als ich gerade auf die Fußmatte treten wollte, um mir die raureiffeuchten Schuhsohlen abzustreifen, sah ich ihn direkt hinter der Türschwelle liegen. Mein Name, Klara Saretzki, stand dort in fein säuberlicher Schreibschrift auf der Vorderseite. Ich hob den Brief auf und betrachtete ihn genauer. Das war doch Gertruds Handschrift, unverkennbar die kunstvollen Schnörkel, die die Großbuchstaben verzierten. Erfreut trug ich ihn die Treppe hoch in die Küche des Hutladens, die direkt an die Galerie angrenzte, auf der Gertruds schönste Stücke liebevoll dekoriert waren. Wie schön von ihr zu hören! Als wir uns das letzte Mal gesehen hatten, war keine Zeit für Gespräche gewesen. Wir hatten uns mitten in einer Schlacht befunden, tief im Wald beim Volk der Schatzen, diesen unglaublich sanftmütigen Baummenschen, die sich mit allen Kräften gegen die brutalen Pane zur Wehr setzten. Was für ein Albtraum. Im Nachhinein erschien mir die ganze Geschichte so unwirklich wie ein böses Märchen, in das ich unabsichtlich hineingerutscht war. Aber es war kein Märchen. Die Realität war, dass Gertrud mit Louis, dem Rebellenführer und der Liebe ihres Lebens, in den Süden geflohen war und wir nicht einmal Zeit gehabt hatten, uns zu verabschieden. Doch sie hatte mir damals hastig eine Botschaft auf einen Zettel gekritzelt und mir versprochen, sich bald zu melden. Ich sollte nur gut auf den Zylinder aufpassen.

Der Zylinder.

Eine Gänsehaut kroch meinen Rücken hoch, als ich an das pechschwarze Ding dachte. Gertrud hatte ihn für Peter Murt, den Chef der Bosenbosse, angefertigt, und nun befand er sich – gut verpackt in einer alten Hutschachtel – im obersten Regal der Abstellkammer. Die Herstellung von Zylindern gehörte zur hohen Kunst der Hutmacherei, und Gertrud hatte es in der kurzen Zeit, in der sie meine Hutmachermeisterin gewesen war, nicht geschafft, mir diese Kunst beizubringen. Dieser Zylinder, den sie für den obersten Bosenboss gemacht hatte, barg ein sehr dunkles Geheimnis. Gertrud hatte einen braunen Hutblitz hineinfließen lassen und war daraufhin in eine lange Bewusstlosigkeit gesunken. Als sie daraus erwachte, war sie nicht mehr dieselbe. Irgendetwas hatte sich in ihr verändert, aber wir hatten zu wenig Zeit miteinander verbracht, als dass ich es mit ihr hätte besprechen können. Nun war sie auf der Flucht, und die einzige Möglichkeit, mit ihr in Kontakt zu treten, war das Warten auf eine Nachricht von ihr.

Die ich nun in den Händen hielt. Ich setzte mich an den winzigen Küchentisch und riss ungeduldig den Umschlag auf.

Fellfetzen

Hans würgte ein wenig, als er den letzten Fellfetzen von dem blanken Stahlgestell abzog, das vor seinen Füßen auf dem Holzboden seines Gartenhäuschens lag. Sorgfältig legte der die Hautstücke in einen der großen Plastikbehälter, die Heinz und er im Laufe des Nachmittags mit den biologischen Überresten dieser hundeähnlichen Bestie vor seinen Füßen gefüllt hatten. Heinz verschloss den Behälter mit einem luftdichten Deckel und nickte zufrieden.

«So, mein Freund», sagte er grimmig, und Hans war sich nicht ganz sicher, ob er ihn oder das merkwürdige Wesen meinte, das sie gerade gehäutet hatten, «jetzt werden wir herausfinden, welches Geheimnis hinter diesem Ungetüm steckt.» Heinz‘ Augen funkelten im dämmrigen Schuppenlicht. «Die Fellreste nehme ich mit in mein Hobbylabor. Da werden wir sehen, was das für eine grauseliges Zeug ist.»

Heinz war leidenschaftlicher Biologe. Seine Stelle als Hans‘ Lehrerkollege am Gymnasium des Städtchens hielt er nur aus, weil sie ihm erlaubte, sich in seiner Freizeit seiner wahren Bestimmung zu widmen: Der Erforschung der wichtigsten Fragen dieses Universums – woher stammt das Leben? Wie hat es sich entwickelt? Und wo geht es hin? Hans selbst dachte auch gern über diese Dinge nach, schließlich war er Philosophielehrer. Doch die praktische Forschungsarbeit an lebender Materie wie diesen verwesenden, stinkigen Fellresten, bereitete ihm wenig Freude. Das überließ er gern seinem Freund. Heinz schaute auf seine Uhr und runzelte die Stirn.

«Ohje, schon so spät», sagte er besorgt, «ich muss mich schleunigst auf den Weg machen. Mein Hildchen wird sich schon Sorgen machen, wo ich stecke.» Hastig verstaute er die Behälter in einer großen Plastiktüte. «In letzter Zeit ist sie immer sehr beunruhigt, wenn ich nicht rechtzeitig nach Hause komme», fügte er entschuldigend hinzu, als er Hans‘ enttäuschten Blick sah. Eigentlich hatte Hans gehofft, dass sie noch ein wenig Zeit zum Plaudern hätten, vielleicht bei einem kühlen Hellen oder einem schönen Glas Rotwein. Doch er konnte auch verstehen, warum sich Heinz‘ Frau Sorgen machte. Schließlich waren sie alle nur knapp dem großen Gemetzel entkommen, das die Pane im Wald mit ihren Hundebestien bei dem friedlichsten Volk der Welt, den Schatzen, angerichtet hatten. Bis heute konnte Hans sich keinen richtigen Reim darauf machen, warum die Pane es plötzlich auf die Schatzen abgesehen hatten. Dass sie Louis suchten, war ihm natürlich klar, das hatten sie ihm ja auch oft genug gesagt, aber dieses friedliebende Volk anzugreifen, darin konnte er keinen Sinn sehen. Gut, sie hielten nicht das, was der Bosenboss-Konzern sich von ihnen erhofft hatte. Ihre Organe verholzten und dienten nicht dem perversen Wunsch des Konzerns, die Schatzen als lebendes Ersatzteillager zu missbrauchen, aber immerhin waren sie doch als gutmütige Diener und Hausangestellte zu gebrauchen. Warum also dann dieser Großangriff? Gerne hätte er darüber noch ein wenig mit Heinz diskutiert. Doch der stand schon in der Schuppentür und winkte ihm zu.

«Bis morgen, mein Freund», rief er, dann war er mit seiner Plastiktüte in der Abenddämmerung verschwunden. Gedankenverloren starrte Hans auf die Schuppentür, die mit einem lauten Krachen ins Schloss fiel. Dann wanderte sein Blick auf das seltsame Stahlgestell vor seinen Füßen. Was da lag, erinnerte an das Skelett eines großen Hundes. Stählerne Rippen bildeten einen massigen Brustkorb, der in eine kräftige Wirbelsäule mündete. An einem Ende dieses künstlichen Rückgrades aus Metall hing eine schädelähnliche Kugel, in deren Augenhöhlen zwei künstliche Linsen befestigt waren. Das andere Ende bildete ein dicker Schwanz, an dem zwei tellergroße Beckenknochen mit zwei langen Hinterbeinen hingen. Dort, wo ein richtiger Hund Gelenke hatte, hatte das Stahlgerüst fein verarbeitete Scharniere. Mit Schaudern dachte Hans an die Nacht zurück, in der er diese Biester in Aktion gesehen hatte. Zusammen mit dem Fleisch und dem Fell, das er und Heinz gerade von dem Stahl abgekratzt hatten, hatten diese Bestien absolut lebensecht gewirkt. Hans hatte keinen Augenblick daran gezweifelt, dass sie es mit bösartigen, zähnefletschenden, aggressiven Wolfstieren zu tun hatten. Sie hatten geknurrt, die Zähne gebleckt und zugebissen wie echte Tiere, und sie waren absolut gnadenlos vorgegangen. Das war vielleicht etwas, was er von richtigen Hunden nicht erwartet hätte. Aber es war keine Zeit für verhaltenswissenschaftliche Betrachtungen geblieben. Er war froh, dass weder ihm noch seinen Freunden bei dem nächtlichen Angriff im Wald etwas Schlimmes passiert war. Sie hatten alle überlebt, nur ein paar Kratzer davongetragen. Zum Glück. Schließlich hatte er jetzt, da seine Frau Karin schwanger war, auch eine große Verantwortung zu tragen. Er musste sehr vorsichtig sein. Die Bosenbosse würden ihn sicherlich weiter überwachen und jeden seiner Schritte beobachten, denn der Angriff war aus ihrer Sicht nicht von Erfolg gekrönt gewesen. Sie hatten Louis nicht erwischt. Und bestimmt würden sie sich nicht mit dieser Niederlage abfinden. Gedankenverloren drehte Hans den schwarzen Kasten in seinen Händen, den sie in der Brust des Tieres – oder dem, was von ihm übrig geblieben war – gefunden hatten. Er schien alle Geheimnisse zu bergen, die es zu lösen galt. Was hatte es bloß damit auf sich? Wen konnte er fragen?

Reise nach Klugstadt

Blanka ließ den Hosenträgergurt einrasten und zog ihn straff. Es war wichtig, dass die Gurte fest saßen, hatte ihr der grünhäutige Steward eingeschärft. Zuerst hatte sie sich gewundert, dass es in der Hyperlup-Kapsel Baummenschen gab, denn die Erzählungen über die Klugstadt ließen eher vermuten, dass dort Roboter die nötigen Dienstleistungen übernahmen, was die Anwesenheit von diesen Schatzenwesen eigentlich überflüssig machte. Jetzt, in der Enge der Kapsel, war es ihr allerdings ganz recht, dass sie von einem Wesen aus Fleisch und Blut betreut wurde. Beziehungsweise aus Fleisch, Blut und Holz, dachte sie grimmig. Was für ein Desaster diese Zuchtversuche waren, wurde ihr erst nach und nach klar. Kein Wunder, dass Murt sie nicht fortsetzen wollte. Sie versuchte, die bitteren Gedanken, die in ihr aufkeimten, beiseite zu schieben. Sie konnte sich später mit der Frage beschäftigen, was sie mit den ganzen Forschungsergebnissen machen sollte. Jetzt musste sie sich erst einmal auf die Hyperlupfahrt konzentrieren.

Schweißperlen bildeten sich auf ihrer Stirn, als sich die Türen mit einem leisen Zischen schlossen. Sie war jetzt mit neun weiteren Passagieren und dem Schatzensteward eingepfercht in einer Kapsel, die in wenigen Sekunden auf 1200 Stundenkilometer beschleunigt und durch eine unterirdische Röhre geschossen würde, in der ein Vakuum herrschte. Sollte also während der Fahrt etwas passieren und die Kapsel zerstört werden, würden alle lebenden Körper, die sich hier eingefunden hatten, unweigerlich implodieren. Blanka wusste das von einem ihrer Kollegen, der an der Entwicklung des Hyperlups mitgearbeitet hatte. Beim Mittagessen in der Bosenbosskantine hatte er genüsslich auf einer Rinderroulade herumgekaut und davon erzählt, was mit ein paar Versuchsschweibeinen passiert war. Eine Spezialkamera hatte einen inszenierten Unfall gefilmt. Die Körperteile, die Flüssigkeit enthielten, also so ziemlich alles außer den Knochen, hatten sich ausgedehnt und waren dann wie Luftballons, die man zu stark aufgeblasen hatte, geplatzt. Man musste die Kameralinse von den Überresten befreien. Kein schöner Anblick, hatte der Kollege kopfschüttelnd berichtet und ein weiteres Stück Roulade in den Mund gestopft.

Blanka kramte ein Taschentuch aus ihrem Rucksack hervor und tupfte sich die Schweißtropfen von der Stirn.

«Bitte, meine Dame», sagte eine melodische Stimme neben ihr, «es ist besser, wenn Sie sich jetzt ganz entspannt zurücklehnen. Wir starten in wenigen Sekunden.» Es war der Schatzensteward, der sich auf den Weg entlang der Schalensitze für die Passagiere zu seinem Klappbänkchen am Kapselende gemacht hatte und kurz bei ihr stehen geblieben war. «Ist es Ihre erste Fahrt im Hyperlup?»

«Ja», presste Blanka schwach hervor, «und ich bin froh, wenn sie vorüber ist.» Der Schatzensteward lächelte.

«Das wird sie bald sein», sagte er, «wir werden nicht länger als ein paar Minuten für die Strecke benötigen. Am besten schließen Sie einfach die Augen und entspannen sich.» Er klopfte ihr beruhigend auf die Schulter und ging dann zu der für ihn vorgesehenen Klappbank.

«Wir sind startbereit», hauchte er in ein Sprechgerät, das neben seiner Bank an einem gewundenen Kabel an der Wand hing. Er hängte es ein, und sofort ertönte leise Entspannungsmusik aus den Lautsprechern. Dann wurde die Kapsel in die dunkle Röhre geschossen und Blanka so heftig in ihren Schalensitz gepresst, dass ihr Blut in die Beine sackte und sie in einen schwarzen, endlosen Tunnel blickte.

Gertruds Brief

Meine liebe Klara, stand auf einem aus einem Notizbuch herausgerissenen Blatt Papier, das von oben bis unten in Gertruds zierlicher Handschrift dicht beschrieben war. Anscheinend hatte sie einen Ort gefunden, der es zuließ, ausführliche Briefe zu schreiben. Dann war sie wohl nicht mehr auf der Flucht. Erleichtert ließ ich mich an die Lehne meines Küchenstuhls zurücksinken. Ich trank einen großen Schluck Kaffee und las weiter. Gertrud berichtete von ihrer verzweifelten Flucht mit Louis durch die dichten Wälder, geführt von Nap, dem jungen Schatzenmann, der ihr schon so oft geholfen hatte.

Nap hatte einen der Waldomnipedesse gerufen, er nannte ihn Silf, schrieb Gertrud. Nap konnte mit einem Satz auf dieses riesige Tier hüpfen, dann zog er Louis und mich hinauf. Ich weiß nicht mehr, wie viele Stunden wir durch den Wald ritten. Mir war fürchterlich kalt, und ich nickte immer wieder ein. Ich war so erschöpft. Dieser Kampf gegen die Pane hatte mich völlig ausgelaugt. Es war fast so, als wollte diese Ohnmacht wieder Besitz von mir ergreifen. Aber Louis hielt mich fest und rüttelte mich immer wieder wach. Ohne ihn wäre ich sicherlich vom Rücken dieses Riesentieres gefallen. Nap trieb es zu größter Eile an, und als der Morgen graute, waren wir schon ziemlich weit im Süden. Wir steuerten ein kleines Schatzendorf an, wo wir uns ausruhen konnten. Nap kannte den Dorfältesten. Ich fiel sofort in einen tiefen Schlaf, bis Louis mich weckte und wir unsere Reise fortsetzten. Während ich geschlafen hatte, hatten die Schatzen und Louis einen weiteren Schatzenstamm jenseits der Grenze kontaktiert. Sie hatten sich sofort bereit erklärt, uns aufzunehmen. Dort sind wir jetzt. Meine liebe Klara, wir sind in Sicherheit, zumindest vorläufig!

Eine Hand legte sich auf meine Schulter.

«Was liest du da?» fragte eine sanfte Stimme. Sie gehörte Adnila, die sich auf ihren grünen Sohlen in die Küche geschlichen hatte. Sie konnte unglaublich leise sein, wie ein kleines Waldtier, das durch das Unterholz schleicht, ohne einen Laut zu erzeugen.

«Mein Gott, hast du mich erschreckt!» stieß ich aus, und fügte dann ein wenig vorwurfsvoll hinzu, «du sollst doch nicht in den Laden kommen.»

«Aber es ist doch noch dunkel draußen, und keine Menschenseele ist unterwegs», verteidigte sich Adnila. «Außerdem war ich ganz vorsichtig und habe erst ein paar Wurzeln gebildet und in die Erde gesteckt, bevor ich durch den Garten gelaufen bin. Bei dem Getrampel, das die Pane veranstalten, hätte ich gespürt, ob ein Trupp in der Nähe ist.»

«Und wenn sie Späher haben, die nicht durch die Gegend trampeln, sondern heimlich still und leise auf der Lauer liegen?»

«Dann hätte ich sie wahrscheinlich gerochen», konterte Adnila.

«Bitte, ich kann nicht die ganze Zeit nur im Haus sitzen.» Ihre großen grünbraunen Augen schimmerten mich an. Wer konnte ihnen schon widerstehen.

«Na gut, bleib hier», ließ ich mich erweichen, «aber sei auf der Hut. Ich bin mir sicher, dass sie immer noch ein Auge auf uns haben und uns beobachten. Du solltest ihnen nicht in die Hände fallen.»

«Ja, ich passe auf», versprach Adnila, «ich habe wirklich nicht die geringste Lust, nochmal in diesem Laborgefängnis zu landen, das kannst du mir glauben.»

Natürlich glaubte ich ihr. Schließlich hatte sie mir alles erzählt, was ihr bei den Bosenbossen widerfahren war, und es klang keineswegs plausibel, aber was war schon plausibel in dieser Welt? Wenn ich es nicht fertigbrachte, wenigstens ein paar Menschen – oder besser, Wesen –, die diese Welt bevölkerten, in der ich gelandet war, Vertrauen entgegen zu bringen, war ich sowieso geliefert. Also hatte ich mich entschieden, ihr die Geschichte abzunehmen und ihr zu helfen. Schließlich hatte sie auch schon sehr viel für Gertrud und mich getan, zum Beispiel ihr Leben auf‘s Spiel gesetzt. Sie war jetzt meine Freundin, Vertraute, Geschäftspartnerin, Unterstützerin, so lange Gertrud nicht hier war. Und so, wie es aussah, würde es wohl auch noch eine Weile dauern, bis Gertrud dauerhaft zurückkehrte. So lange mussten Adnila und ich das Geschäft am Laufen halten.

Und das schien uns trotz aller Widrigkeiten erstaunlich gut zu gelingen. Es ging auf das Jahresende zu, und anscheinend brauchten alle Bewohner der Stadt zur Feier des Altjahrestagfestes, wie sie es nannten, neue Hüte und neue Kleider. Wir hatten alle Hände voll zu tun, und neben den Hüten, die wir gemeinsam anfertigten, hatte Adnila begonnen, an Gertruds alter Nähmaschine wunderschöne Kleider zu nähen. Dafür hatte sie wirklich ein Händchen. Die Kleider waren zauberhaft und wurden uns aus den Händen gerissen.

«Also was liest du?» unterbrach Adnila meine Gedanken, wobei sie mir neugierig über die Schulter schaute.

«Ein Brief von Gertrud», antwortete ich, «er lag heute Morgen auf dem Fußboden. Anscheinend hat ihn jemand unter der Tür hindurchgeschoben.»

«Oh, was schreibt sie?» Adnilas olivfarbene Wangen röteten sich in Sekundenschnelle, und ihre Stimme stieg eine Oktave höher. «Geht es ihr gut? Wo ist sie?» Sie war Gertrud treu ergeben. Kein Tag verging, an dem sie nicht nach ihr fragte. Dieses war das erste Lebenszeichen unserer gemeinsamen Hutmachermeisterin seit der Schlacht im Wald, und ich konnte Adnilas Aufregung gut verstehen.

«Ich bin noch nicht weit gekommen», antwortete ich und reichte ihr den Brief. «Hier, lies selbst. Und ab Wir sind in Sicherheit, zumindest vorläufig, bitte laut.»

Ich beobachtete, wie Adnilas Augen über die Zeilen flogen. Als sie an der besagten Stelle angekommen war, entspannten sich ihre Gesichtszüge ein wenig. Doch was dann kam, ließ erhebliche Zweifel an der Richtigkeit des letzten Satzes in uns aufkeimen.