LICHTSCHLAG NR. 47

LICHTSCHLAG NR. 47

© Natalia Lichtschlag Buchverlag Grevenbroich 2017

Alle Rechte vorbehalten.

Umschlag: Lichtschlag Medien Düsseldorf

Printed in Germany.

ISBN: 978-3-939562-78-8

„Wenn es ernst wird, muss man lügen.“

„Wir beschließen etwas, stellen das dann in den Raum und warten einige Zeit ab, ob was passiert. Wenn es dann kein großes Geschrei gibt und keine Aufstände, weil die meisten gar nicht begreifen, was da beschlossen wurde, dann machen wir weiter.“

„Wer Entscheidungen zur Währung trifft, sollte das am besten hinter verschlossenen Türen, in geheimen dunklen Räumen tun.“

Jean-Claude Juncker, Premierminister Luxemburg

und Vorsitzender der Euro-Gruppe

„Eigentlich ist es gut, dass die Menschen unser Banken- und Währungssystem nicht verstehen. Würden sie es nämlich, so hätten wir eine Revolution noch vor morgen früh!“

Henry Ford

„Gebt mir die Kontrolle über die Währung einer Nation, dann ist es für mich gleichgültig, wer die Gesetze macht.“

Mayer Amschel Rothschild

„In der Politik geschieht nichts zufällig. Wenn etwas geschieht, dann kann man sicher sein, dass es auf diese Weise geplant war.“

früherer US-Präsident Franklin D. Roosevelt

„… eine Regierung, der es an Autorität fehlt, wird wenig Möglichkeiten haben, es sei denn über eine kataklysmische Krise, von ihrer Bevölkerung die Opfer zu verlangen, die vielleicht notwendig sind.“

Samuel Phillips Huntington, Historiker und Autor („The Clash of Civilizations and the Remaking of World Order“)

Inhaltsverzeichnis

  1. Kapitel
  2. Kapitel
  3. Kapitel
  4. Kapitel
  5. Kapitel
  6. Kapitel
  7. Kapitel
  8. Kapitel
  9. Kapitel
  10. Kapitel
  11. Kapitel
  12. Kapitel
  13. Kapitel
  14. Kapitel
  15. Kapitel
  16. Kapitel
  17. Kapitel
  18. Kapitel
  19. Kapitel
  20. Kapitel
  21. Kapitel
  22. Kapitel
  23. Kapitel
  24. Kapitel
  25. Kapitel
  26. Kapitel

1.

Schweiz, Kanton Wallis, Fiesch

Er hätte nicht gedacht, dass er sich derart gegen das Sterben stemmen würde. Oder dagegen, nicht mehr zu leben. Er wusste nicht, was von beidem es war. Auch nicht, welcher Teil von ihm gegen die Entscheidung ankämpfte. Die blutigen Fersen in das gestemmt, was an Grund übrig war. Es war viel. Mehr, als vermutet.

Man hätte diese Entscheidung längst fällen sollen. Mehr als einmal, hatte er vorhin beim Aufstellen des Fliegers gedacht. Man wäre möglicherweise klüger gewesen. Reicher. Es spielte keine Rolle mehr.

Jetzt war er allein hier oben.

46° 24‘ 16.23‘‘ N

8° 5‘ 40.87‘‘ O

Startplatz Eggishorn, Fiesch. Das Fliegermekka.

Als er gegen Mittag mit der Seilbahn auf den Berg gekommen war, hatten fünf andere Piloten ihre Flügel bereits aufgestellt gehabt, hatten herumgesessen. Essend, plaudernd, an GPS-Geräten rumfingernd.

Man hatte sich gegrüßt. Er hatte sich zu ihnen gesellt, zugehört.

Das Wetter heute, gestern, morgen. Die Luftverhältnisse, die Thermik, der Weltcup im kommenden Jahr am selben Ort, das Fliegen gestern und im Jahr zuvor:

Es war immer dasselbe. An jedem Startplatz der Welt. Immer dasselbe. Vor- und Nachspiel eines jeden Flugs. Sich Mut machen, auch wenn von Furcht selten die Rede war, Erfahrung teilen, warnen, einander schützen.

Jetzt waren sie in der Luft, die anderen. Er saß allein auf der Startrampe, sah jenen beim Aufsteigen zu, die seinem Blick noch nicht entschwunden waren.

Er stellte fest, dass er sich auf den bevorstehenden Flug freute. Als wär‘s einer wie jeder andere. Die Wetterverhältnisse waren optimal. „Hammerwetter“, wie vorhin einer gesagt hatte. Selten zu dieser Zeit im Jahr. Die besten Tage hätten längst vorbei sein müssen.

Er fühlte das Adrenalin, das weitete und beengte, die Ungeduld, die Rampe hinter sich zu bringen. Stark zu starten. Stark zu fliegen. Stark zu landen.

Er wunderte sich über die beiden in Gegenrichtung laufenden Mechanismen, die in seinem Innern und nebeneinander her präziser, schärfer, deutlicher funktionierten als je zuvor. Mechanismen, die nach bisherigem Ermessen unmöglich nebeneinander funktionieren können, sich gegenseitig ausschließen sollten, in die Luft jagen. Irgendwas. Aber das war nicht der Fall. Im Gegenteil: Je entschlossener er sich seine Entscheidung vor Augen hielt, desto schneller rotierte das parallel laufende Gedankenzahnrad, das von einem normalen Flug sprach und von der Möglichkeit, zu spät zu starten, nicht hochzukommen, die Sache auf morgen zu verschieben.

Er schob alles Denken von sich, stieg von der Rampe, ging zu seinem Drachen und machte sich systematisch an den Check von Flieger, GPS und Gurtzeug.

Erst einmal würde er fliegen.

Das war es, was er immer gewollt hatte. Nur das. Auch damals schon, vor bald 20 Jahren. Leben, Geld verdienen, irgendwie durchkommen: Alles, um fliegen zu können.

Jeanne, seine damalige Freundin und spätere Frau, hatte ihm den Job im Laboratorium vermittelt. Aber auch das stimmte nicht, wie er heute wusste. Nicht irgendeine Arbeit – er selber war vermittelt worden. Er hatte gedacht, es sei einfach nur Glück: Jeanne, der Job, der Jackpot.

Jenen, die ihn angestellt hatten für das Labor, war es egal gewesen, ob er tagsüber zu den regulären Zeiten seine Arbeit erledigte oder nachts. Dass er keinen festen Wohnsitz vorzuweisen hatte und stattdessen in einem Wohnmobil hauste. Auch dass er mit seinen langen Haaren, unrasiert und in Funktional-Klamotten daherkam wie der Tarzan des Nanotechnologie-Zeitalters, hatte nicht interessiert.

Er hatte seinen Ohren nicht getraut, als sie ihm das Anfangsgehalt genannt hatten. Er sei gut, war ihm gesagt worden. Es sei selten, dass einer parallel in Mikrobiologie und Medizin mit Bestnoten abschließe. Sie wollten die Besten. Er gehöre dazu.

Er hatte das nie so gesehen. Es war ihm zugefallen. Leicht. Er mochte, was er tat. Es interessierte ihn. Dass Interesse soviel wert sein konnte, hätte er nie gedacht. Interesse und Verschwiegenheit.

Er hatte ein Lachen nicht ganz zurückhalten können, als sie auf einem separaten Blatt die Maulkorbklausel neben den Vertrag gelegt hatten. Den Code of Compliance. Eine Reihe freiwilliger Kodizes, zu denen sich das Unternehmen und jeder, der für es arbeitete, verpflichteten. Ein Regelwerk im Rahmen der Corporate Governance, wie jedes Unternehmen es heute kannte. Von Risikominimierung war die Rede am Tisch gewesen, Effizienzsteigerung, Umgang mit Ausnahmesituationen und so weiter.

Er hatte damit kein Problem gehabt. Im Gegenteil. Darum auch sein Lachen. Er mochte es nicht, zu sprechen. Er wusste nicht, warum. Das war schon immer so gewesen. Sie taten ihm hier einen Gefallen. Einen mehr.

Das Lachen war auf der anderen Tischseite erwidert worden. Die Stimme indes war vollkommen frei davon gewesen:

„Werden diese Bedingungen nicht eingehalten, dann werden Sie auf der ganzen Welt keinen Job mehr kriegen, Herr Bernoulli. Auch nicht als Reissackschlepper im Hafen von Pjöngjang. Glauben Sie mir. Wir können das.“

Kurz hatte er gestutzt. Dann hatte er unterschrieben. Und sich daran gehalten.

Der Job war gut. In seinem Weltbild hieß das: Er war interessant. Nie hätte er gedacht, jemals die Möglichkeit zu solchen Forschungen zu bekommen. Auch die Mittel spielten keine Rolle.

„Was brauchen Sie? Material, Räume, Personal? There you go.“

So lief das. Mit dem Gehalt war es genauso, auch wenn er der Meinung war, bloß seine Arbeit zu tun. Jahr für Jahr. Nicht mehr, nicht weniger. Eine Arbeit, an der er Spaß hatte. Dennoch verdiente er mittlerweile soviel wie der CEO einer großen Regionalbank.

Er hatte sich gesagt, es sei wegen des Risikos. Große Risiken können hohe Renditen abwerfen. Das war schon immer so gewesen. Seine Arbeit musste in den Augen von Leuten, die nicht tagtäglich mit diesen Dingen zu tun hatten, lebensbedrohlich wirken. Was sie ja auch war – bloß, dass er eben gut war.

Dasselbe hatte er sich gesagt, als er herausgefunden hatte, dass auch das Putzpersonal des Laboratoriums dieselben Knebelverträge zu unterzeichnen hatte wie er und dass deren Einhaltung von einer externen Sicherheitsfirma überwacht wurde. Aithon. Und damit nicht genug: Die Firma überwachte die Einhaltung der Verträge und die Menschen gleich mit. Ihn ebenso wie jeden anderen, der irgendwas mit dem Labor zu tun hatte.

Normalerweise sind solche Überwachungsstellen Teil der strategischen Corporate Governance des Unternehmens. Mit klar definiertem Auftrag und Stoppschild an der Abzweigung ins Private. Nicht so im Fall des Laboratoriums. Der weltweit operierende Agrochemie-Konzern, zu dem es gehörte, hatte wohl eine Compliance-Abteilung. Allerdings erstreckten sich deren Befugnisse nicht auf das Labor. Der Grund dafür war denkbar einfach: Es existierte auf keinem Organigramm. Stoppschilder gab es keine.

Aber dieses Wissen war später dazugekommen. Begonnen hatte alles, das heute hier enden würde, mit der Aufforderung aus der Etage der Konzernleitung, über seine Arbeit, die Forschung, die Ergebnisse zu sprechen.

Wie einen schnell vorschiebbaren Verschluss hatte er im Lauf der Jahre eine sichernde Reserve an Wendungen, Worten und Wirklichkeiten entwickelt, um bei entsprechender Fragestellung seine Tätigkeit zu umschreiben. Wurde er danach gefragt, was genau er denn tue und für wen, wovon er lebe, wie er die vielen Freiheiten finanziere, hatte ein Teil seiner selbst automatisch das Schott zur Realität für die Dauer von ein paar Minuten dichtgemacht und auf interne Luftumwälzung umgestellt. Er war Erbmillionär. Arbeitete nur ein wenig zum Spaß, wie er jeweils behauptete, um nicht ganz zu verblöden. Die Reaktionen der Fragenden gingen von Konsternation über stillneidvolle Bewunderung bis zu unverhohlener Verachtung. Damit konnte er leben.

Und dann sollte er auf einmal ein Referat halten. Irgendwelchen Leuten die Möglichkeiten und Gefahren der erforschten biologischen Stoffe erläutern. Es war ihm vorgekommen wie die Aufforderung zum Selbstmord. Was war mit der Klausel, mit der Drohung?

Er hatte wissen wollen, wer die Leute seien, zu denen er sprechen solle. Man hatte ihm zu verstehen gegeben, diese Informationen seien für seinen Beitrag nicht relevant. Er hatte nicht lockergelassen, hatte sich rundheraus geweigert, den Job zu erledigen, wenn er nicht die Möglichkeit habe, das Referat dem Wissens- und Interessenstand des Auditoriums entsprechend vorzubereiten. Nachdem auch die Andeutung, er riskiere mit seinem renitenten Nachfragen seine Stelle, nicht gefruchtet hatte, war eingeräumt worden, die Organisation des Anlasses liege nicht in der Hand der Firma. Das vorhandene Wissen dies betreffend beschränke sich auch auf Konzernleitungsebene auf Datum, Zeit und Örtlichkeit:

15. Juni, 17.00 Uhr, Suvretta House, St. Moritz. Der genaue Ablauf, also der genaue Zeitpunkt seines Referats, würde kurzfristig bekannt gegeben. Und nein: Er müsse sich keine Sorgen machen wegen der Schweigeklausel. Gegen die Sicherheitsvorkehrungen und -prüfungen bei der Konferenz sei sie ein Klacks.

Er hatte seinen direkten Vorgesetzten, den Leiter des Labors, Paul Minkowski, darauf angesprochen.

„Was soll das, Paul? Sind wir jetzt das neue Polterabend-Programm, oder was? Soll ich dort vielleicht als Bakterium verkleidet aus einer Torte steigen oder nach dem Dinner mit Petrischalen jonglieren? Ich will verdammt noch mal wissen, wem ich das hier“ – er hatte mit dem Kinn eine Geste gemacht, die das ganze Labor umfasste – „zu erklären habe. Und wozu.“

Paul Minkowski, ein Mann um die 60, einer jener zerzausten Wissenschaftler, die wenig auf Äußeres geben, deren Haare auf Kragenlänge und deren Bartwuchs ins Ungepflegte grassieren, hatte seinerseits mit der offenen Hand eine müde Kreisbewegung angedeutet, die einen ganzen Berg von Schwierigkeiten beschreiben konnte. Zu langwierig, zu mühselig, zu sinnlos, darauf einzugehen.

„Okay – andersrum“, hatte der Jüngere nachgehakt. „Stehen wir zum Verkauf? Ist es das, worum‘s geht? Brautwerbung?“

„Jetzt setz dich erst mal hin und komm‘ wieder runter, Tom.“

Bernoulli hatte sich auf einen Schemel in der Nähe gesetzt, die Schultern an die Kante der Laborküche gelehnt, den rechten Fuß auf dem linken Knie. Minkowski hatte seine Pfeife gestopft, schweigend und umständlich. Die Pfeife, deren Inhalt er nach einem Gespräch sorgfältig wieder in den Tabakbeutel zu leeren pflegte. Bernoulli hatte ihn noch nie rauchen sehen.

„Was interessiert dich das überhaupt, Tom?“, hatte er schließlich angesetzt. „Tu doch einfach, was die dir sagen. Geh dahin, erzähl ihnen, was sie hören wollen, und vergiss es wieder. Das ist manchmal das beste. Und wenn‘s deiner Beruhigung dient: Nein, wir stehen nicht zum Verkauf. Wenn du so willst, dann hast du gar nicht mal unrecht mit deiner Polterabend-Idee: Man hat uns dort gebucht. Du bist also schon so was wie ein Special Act. Und glaub mir: Man lässt sich deinen Gig dort sehr viel Geld kosten.“

Und bevor er hatte auffahren, sich empören können:

„Kein Grund, dich aufzuregen, Tom. Take it or leave it. Und frag mich nicht, wer ‚man‘ ist. Ich weiß es nicht. Ich habe die Gesichter, oder zumindest einige von ihnen, ein paar Mal selbst gesehen. Politiker, Unternehmer, was weiß ich – mich interessiert außerhalb dieser Wände wenig, wie du weißt. Ein Haufen in die Jahre gekommener Herren in Anzügen, oder solche auf dem Weg dahin. Frauenanteil gleich null. Nein – falsch. Beim letzten Mal, vor vier Jahren in Griechenland, war eine Frau dabei. Wie dem auch sei – jedenfalls fahren die am jeweiligen Ort eine Woche vor Konferenzbeginn – so nennen sie diese Veranstaltungen – auf und riegeln Luft und Land systematisch von der Außenwelt ab. Das WEF in Davos oder ein G20-Treffen kommen einem dagegen in puncto Sicherheitsdispositiv vor wie eine Bahnhofstoilette. Geh‘ dahin, Tom. Du wirst sehen: Das ganze entbehrt nicht einer gewissen Komik. Wenn du mich fragst, dann hält dort eine Gruppe gelangweilter Eine-Welt-Strategen mit zuviel Geld ein Klassentreffen ab. Nicht mehr und nicht weniger. Durchaus interessant, diese Spezies mal aus der Nähe zu sehen. Sehr wahrscheinlich kann von denen bei sich zu Hause keiner den Kühlschrank öffnen, ohne vorher eine Kapuze überzuziehen und ein Codewort an die Tür zu klopfen. Die kaufen sich ein Wochenende Suspense, weil sie‘s sich leisten können, wo andere sich mit Bungee-Jumping begnügen müssen. Geh‘ hin, amüsier dich und vergiss es wieder.“

Er hatte es versucht. Der Sand, in den er seinen Kopf gerammt hatte, war in die Gedanken eingedrungen, hatte verklebt, blockiert, ihn zu ersticken gedroht. Er hatte in Panik um sich geschlagen, sich befreit, Fragen gestellt, gesucht. Und er hatte Antworten erhalten: darauf, wie das Laboratorium und seine Arbeit finanziert wurden, darauf, wer hinter der Fassade öffentlichkeitstauglicher Organigramme in Wahrheit sein Arbeitgeber war, und schließlich darauf, was hinter den Begriffen „Forschung“ und „Sicherheit“ der Zweck seiner Arbeit war.

Möglich, dass er diesen Antworten standgehalten, weitergemacht, sich an den Sand gewöhnt hätte. Aber dann war Material aus dem Labor verschwunden. Kulturen eines pathogenen Virenstamms. Kurz darauf waren die ersten Fälle eines bis daher unbekannten hämolytisch-urämischen Syndroms mit Durchfall aufgetreten: die EHEC-Epidemie, an der 855 Menschen in Europa erkrankten und 53 starben.

Vielleicht hätte er sich auch das erklären können. Irgendwie. Hätte die behördliche Erklärung, wonach aus Ägypten importierte Bockshornkleesamen als Quelle des Virus identifiziert worden seien, glauben und weitermachen können. Hätte sich sagen können, ein Laborassistent habe geschludert, die Kulturen seien durch einen Irrtum abhandengekommen. Vielleicht entsorgt worden. Er hatte es nicht gekonnt. Das Zusammentreffen der Ereignisse hatte es ihm nicht erlaubt. Er war verantwortlich. Er war schuldig. Es reichte nicht, dass er sämtliches Material, Forschungsunterlagen, Berichte und Protokolle zerstört hatte. Das Wissen blieb. Das war es, was ihn dahin geführt hatte, wo er jetzt war. Hier hoch und bereit, den abgeänderten Öffnungsmechanismus seines Gurtzeugs zu betätigen. Er würde sterben. Und mit ihm das Wissen. Und vielleicht ein Teil der Schuld.

***

Möglicherweise hätte Tom Bernoulli gelacht, hätte er gewusst, was seinetwegen noch vor der Morgendämmerung desselben Tages in die Wege geleitet worden war. Gelacht deshalb, weil es umsonst wäre. Alles.

Es war kurz vor fünf Uhr, als Joseph Burger, eines von fünf Mitgliedern des ständigen Gremiums Sicherheit, das Telefon auf die Ladestation zurückstellte und das Fenster, das hier am Rand der Siedlung auf die Terrasse und den Wald hinausging, öffnete. Der Name – „Gremium Sicherheit“ – vermochte leicht darüber hinwegzutäuschen, dass hier sämtliche Entscheidungen betreffend die interne und externe Sicherheit des Landes vorbereitet wurden. Das Gremium war allein dem Bundesrat rechenschaftspflichtig und wurde zur Zeit von Jacques Panetta präsidiert.

Burger war im Pyjama. Aber abgesehen von dieser Tatsache wirkte der Mann, der jetzt in der Fensteröffnung stand, eher wie einer, der, seines Wissens und der Wirkung seines pockennarbig gealterten Gesichts gewiss und nicht ohne Freude gleich vor die versammelte Meute der nationalen Medien zu treten hätte, als einer, der eben durch ein Telefonat der horizontalen Verdammung im Bett entkommen war. Die kurzgeschorenen Haare, die sich der Anzahl der Lebensjahre entgegenstemmten und sich weigerten, zu ergrauen, vielmehr irgendwo zwischen stetig dreckiger werdendem Gelb und Silber herumeierten, waren gekämmt. Die zerklüftete Landschaft des Gesichts wirkte, soweit sie das konnte, rasiert und gewaschen.

Ein Schwall schwerfeuchter Luft drängte sich durch die Öffnung und um ihn herum ins Zimmer, presste ihm Nässe auf Gesicht und Arme. Es war ein seltsamer Herbst. Der Regen vom Tag zuvor hatte keinerlei Abkühlung gebracht. Das Vogelgezwitscher wollte weder zur Schwere des bleiernen Tagesanbruchs noch zur Jahreszeit passen. Trotzdem machte er den Schritt über die Schwelle und setzte sich auf das regennasse Gitter des einzigen Stuhls hier draußen. Er hatte selten Besuch. Und wenn Brun vorbeikam, pflegte der mit seinem Bier auf der Schwelle, die er eben überschritten hatte, zu sitzen.

Es war kurz nach fünf Uhr. Wenigstens die kaum vorhandene Beleuchtung schien sich den saisonalen Gepflogenheiten anzupassen – es war dunkel, und Burger empfand diese Tatsache gerade jetzt als tröstlich.

Er wusste nicht, was er von dem Anruf halten sollte. Er kannte den Mann, der vor zwei Monaten zum Bundesrat gewählt worden war und jetzt dem eidgenössischen Finanzdepartement vorstand, nicht. Zwar hatte er die Fakten im Kopf, die man – wobei es sich bei „man“ um den Inlandsnachrichtendienst handelte –, sobald ein Name für ein politisches Amt herumgereicht wird, zu sammeln beginnt. Beschaffung und Auswertung.

Dieser Name war jedoch nicht im üblichen Sinn herumgereicht worden. Wohl war er von seiner Partei als Bundesratskandidat nominiert und dem Parlament vorgeschlagen worden. Mit seiner Wahl hatte indes keiner gerechnet.

Wo andere, um Bewahrung ihrer Pfründen bemüht oder in vorauseilender Begeisterung für eine mindestens vier Jahre dauernde ministeriale Labe an den medialen und finanziellen Honigtöpfen des Landes, bereits Monate im Vorfeld der Wahlen den Kleinkrieg um Aufmerksamkeit, Prestige und politischen Beistand pflegten, war von diesem Mann nichts zu hören oder zu lesen gewesen. Er hatte sich dem öffentlichen Schaulaufen und dem Wettbewerb um die höchste Anzahl an Erwähnungen im Medienkanon verweigert. Der Mann hatte sich darauf beschränkt, weiter seinen Job als kantonaler Finanzdirektor zu machen, wo andere magistrale Volksverbundenheit beim Jodlerfest zelebrierten und gleichzeitig nicht müde wurden, den eigenen glühenden Draht zur Welt, zu Europa und in jedes einzelne Wohnzimmer des Landes zu beschwören.

Mittels überstürzter Beschlüsse und alarmistisch gefärbter Interviews wurde das Image unermüdlicher Schaffer und tüchtiger Umsetzer kultiviert, wo besagter Nicht-Kandidat sich auf seine kantonalen Dossiers beschränkte, die außer ihn keinen interessierten. Fast hatte es den Eindruck vermittelt, es gäbe eine unausgesprochene Vereinbarung zwischen ihm und der publizierenden Zunft: Du brauchst nicht auf meinem Foto zu lächeln und ich nicht auf deinem, dann haben wir alle unsere Ruhe.

Der Mann war schlicht kein Knaller, kein Quotenrenner, kein Auflagetopper. Er war in Burgers Augen der totale Anti-Kandidat gewesen.

Dann war er zum Bundesrat gewählt worden. Zum Chef des prestigeträchtigsten und wichtigsten Ministeriums. Beinahe hörbar hatten hektisches Treiben und die panische Suche nach irgendwas Verkäuflichem über den Mann die Redaktionsstuben der nationalen und internationalen Medien erfüllt. In Ermangelung des Echten hatte sich das größte Boulevardblatt des Landes als erstes und auf entwaffnend ehrliche Weise dem gewidmet, worin seine Stärke lag: ausgiebigem und vor Häme triefendem Personen-Bashing. Auch Unterhaltung genannt. Der Mann sei eine „Sprit-Krähe“ hatten die „Blick“-Schlagzeilen gegeißelt. Ein investigativer Journalist hatte sich demnach, seine geistige und physische Gesundheit riskierend, am Waldrand, der an den Garten des neuen Bundesrats grenzte, während ein paar Stunden buchstäblich in die Nesseln gesetzt. Ausbeute der Tortur, nach der sich Haut und Hirn des Jungjournalisten wie Hackfleisch anfühlen mussten: Der Minister hatte während der in Frage kommenden Zeit drei Gläser Rotwein konsumiert, was gemäß Bundesamt für Gesundheit bei regelmäßiger Wiederholung das Kriterium der Alkoholkrankheit erfüllte. „Wird unser Land von Alkis regiert?“, war tags darauf zu lesen gewesen. Die anderen Medien hatten – leise und in gepflegter Sprache, fast so, als wäre es ihnen peinlich – nachgezogen. Halbherzig nur. Dann war nichts mehr gekommen. Schweigen war dem kurzen Aufbäumen gefolgt. Fast schien es, als sei man allenthalben bemüht, die Person selbst und vor allem die eigene Inhaltslosigkeit zu vergessen.

Von Inhaltslosigkeit konnte indes im Zusammenhang mit Oskar Ludwig nicht die Rede sein. Aber wer will im Gratisblatt seiner Wahl morgens früh bei minimaler Neuronentätigkeit schon von einem lesen, der seit Jahrzehnten freiwillig und täglich um vier Uhr morgens aufsteht, um zu arbeiten, der sieben Sprachen fließend spricht, der vor dem Verkauf seines Unternehmens als einer der erfolgreichsten Businessconsultants in Nordund Südamerika, in Europa und im arabischen Raum tätig gewesen war und der seit fünf Jahren mit demselben Engagement und mit Erfolg die Finanzen seines Kantons auf Vordermann bringt?

Burger war es gewesen, der die vom Research-Team des NDB ausgegrabenen Informationen zu öffentlichen oder potentiell öffentlichen Personen zu prüfen gehabt hatte, um sie erst seinen Kollegen im Gremium und anschließend der Regierung zu präsentieren. Beim Studium der Akte Ludwig hatte er sich einer Regung, die Sympathie sein konnte, nicht erwehren können.

Das Ludwig-Dossier war umfangreicher, als es solche Dossiers in der Regel waren. Dies zum einen aufgrund der langjährigen Auslandstätigkeit des Mannes, zum anderen aufgrund seiner Familienverhältnisse.

Ludwig kam aus gutem Haus. Sicher hatte der Name das Seine zum geschäftlichen und später politischen Erfolg beigetragen, Türen geöffnet, Wohlwollen vorgeschossen, Kredit. Fakt war allerdings, dass er – im Gegensatz zu anderen Familienmitgliedern – nicht den sanft auf ruhigem Wasser gleitenden Kahn ererbter Hofhalterschaft bestiegen, sondern sich auf der eigenen Barke ins unsicher Offene gewagt hatte. Trotzdem waren Geldflüsse und Konti der letzten Dekaden auf ihre Ableitbar- und Nachvollziehbarkeit zu prüfen gewesen, Reisetätigkeit, Geschäftspartner, Verträge, Personal, Krankenakten – ein Leben.

Es war Burgers Job gewesen, beziehungsweise der seiner Leute, den Mann zu durchleuchten. Was dabei herausgekommen war, ließ sich in einem Wort zusammenfassen: korrekt. Der Mann, sein Reden und sein Tun waren vollständig deckungsgleich.

Je mehr Burger aus der Akte erfahren hatte, desto öfter hatte er sich gefragt, ob Ludwigs potentielle Kollegen-Truppe im Bundesrat und die Parlamentarier sich bewusst waren, mit wem sie es im Fall einer Wahl zu tun bekämen, oder ob sie dem auf den ersten Blick harmlosen Eindruck eines Leisetreters auf den Leim gegangen waren. Er vermutete letzteres. Das Telefonat von vorhin hatte ihn in dieser Annahme noch bestärkt.

Er war nicht erstaunt gewesen, als das Telefon kurz nach vier Uhr geklingelt hatte. Sein Job brachte es mit sich, dass es Dinge wie Arbeitszeit oder sogenannte freie Zeit nicht gab. Weder Wochenenden noch Feiertage. Sein Leben, sein Job waren ein einziges Ganzes; ein steter Ablauf periodisch wechselnder Varianten desselben in verschiedenen Belichtungen die einzigen Indikatoren, die einen Bezug zum fließenden Zeitlichen herstellten.

Es war das abhörsichere Telefon gewesen, ein leises Piepen. Die Seltenheit, mit der dieses auftrat, ließ hohe Lautstärke überflüssig sein – nur sehr wenige Leute hatten die Nummer.

„Ja?“

„Joseph Burger?“

„Ja.“

„Hier Oskar Ludwig. Finanzministerium.“ Kurze Pause, als zolle der Sprecher der frühen Stunde Respekt. Eine Entschuldigung oder Erklärung folgte nicht. Wozu auch.

„Herr Minister. Guten Morgen.“ Auch Burger verzichtete auf laute Interpunktion, beschränkte sich auf das, was war: morgens früh, vier Uhr, ein Finanzminister am Telefon.

Erst jetzt im Nachhinein fiel ihm auf, dass am anderen Ende der Leitung ebenfalls Vogelgezwitscher zu hören gewesen war. Ein anderer alter Mann an einem anderen Waldrand.

„Lassen wir das mit den Titeln, Burger. Viel zu früh am Tag für solches.“

Burger hatte nun seinerseits mit Schweigen geantwortet. Es war verstanden worden.

„Warum ich anrufe – ich brauche Ihren Rat. Möglicherweise Ihre Hilfe. Eine Angelegenheit, die ich, um offen zu sein, nicht verstehe.“

„Worum geht‘s?“

„Sagt Ihnen der Name Thomas ‚Tom‘ Bernoulli etwas?“

„Nein.“

„Das wundert mich nicht. Ich habe ihn auch erst gestern abend zum ersten Mal gehört. Und dies von einer Person, die im Auftrag eines Unternehmens handelt, von dem ich nun definitiv nicht zu hören erwartet habe.“

Erneut entstand eine Lücke zwischen den Worten. Das singend aufgeregte Erwachen der Natur auf beiden Seiten der Leitung hatte in Burger, ohne dass er es bewusst wahrgenommen hatte, den Eindruck erweckt, Ludwig stünde direkt neben ihm.

„Syngenta.“ Das Wort hatte die Blase platzen lassen.

„Wie bitte?“

„Syngenta“, hatte Ludwig wiederholt. „Thomas Bernoulli arbeitet in der Forschung für den Agrochemiekonzern Syngenta. Die Person, die mich kontaktiert hat, ein gewisser Michael Kron, von dem ich ebenfalls noch nie gehört habe, ist gemäß eigenen Angaben als Berater im Bereich Kommunikation sowohl für Syngenta als auch für den Pharma-Multi Novartis tätig. Beide in Basel.“

Burger hatte darauf verzichtet, zu fragen, was das alles mit ihm oder mit dem Dienst zu tun habe. Oder mit dem Finanzministerium. Er hatte gewartet.

„Ich habe die letzten Stunden mit den Mitteln, die mir zur Verfügung stehen, versucht, diesen Kron ausfindig zu machen. Oder wenigstens einen Zusammenhang zwischen der Person und den genannten Firmen herzustellen. Ohne Erfolg. Unter uns, Burger: Mit dem Wissen, das mir nach dieser Nacht zur Verfügung steht, könnte ich mich ohne weiteres in den Aufsichtsrat eines dieser Unternehmen wählen lassen. Aber von einem Michael Kron keine Spur. Der Mann scheint von außerhalb tätig zu sein. Das ist mein erstes Problem. Das zweite ist Thomas Bernoulli. Er ist gemäß Krons Aussagen verschwunden. Nun – das allein kümmert mich nicht. Bernoulli ist Kron zufolge im Forschungsteam von Syngenta in leitender Funktion tätig. Jedoch nicht als F&E-Verantwortlicher und offenbar auch nicht als Laboratoriumsleiter. Aber was den Gegenstand seiner Forschung anbelangt eine Schlüsselfigur. Kron wollte da nicht ins Detail gehen, hat aber angedeutet, dass es sich um ‚heikle‘ Inhalte handle.“

Auch bei dieser kurzen Leerstelle, die sich hier aufgetan hatte, war von Burger weder ein Beitrag noch eine Frage erwartet worden. Vielmehr hatte er den Eindruck gewonnen, sein Gesprächspartner überfliege ein gedankliches Skript, bevor er die fragliche Stelle, von der aus es weitergehen sollte, gefunden und den Faden wiederaufgenommen hatte.

„Die Tatsache, dass dieser Bernoulli verschwunden ist, scheint jemanden dort zu beunruhigen. Allerdings nicht in dem Maß, dass Krons Anruf zu rechtfertigen gewesen wäre. Der Grund für die interne Aufregung ist ein anderer. Und jetzt wird es wirr: Gemäß Aussagen Krons soll Bernoulli vor seinem Verschwinden – was, nebenbei gesagt, erst gestern war, warum ich die Aufregung erst recht nicht verstehe – versucht haben, eine Person aus Ihren Kreisen zu finden. Eine gewisse Anja Sanders.“

Diesmal war die Leerstelle mit einem Fragezeichen versehen gewesen.

„Sagt mir auch nichts.“ Burger hatte darauf vertraut, dass die Lüge nicht zu hören war. 40 Jahre Business des Schweigens mussten irgendwas Gutes haben. Gut im Sinn von nützlich.

Er wusste sehr wohl, wer Anja Sanders war. Oder besser: wessen Legende. Es war eine von vielen Tarnidentitäten einer externen Mitarbeiterin des NDB unter Führung von Carl Brun: Jezreel Vidali.

„Na ja – mir ebenso wenig, wie Sie sich vorstellen können“, hatte Ludwig gesagt. „Aus einem mir nicht bekannten Grund gehen die Leute, die sich um die Angelegenheit kümmern, Kron mit eingerechnet, davon aus, dass besagte Anja Sanders im Bereich Sicherheit zu suchen sei. Polizei, Bundesbehörde, Geheimdienste. Sie befürchten des weiteren, dass Bernoulli aus unbekannten Gründen vorhat, seine vertraglich geregelte Schweigepflicht zu brechen, und aus diesem Grund abgetaucht ist, was offenbar einer Katastrophe gleichkäme.“

„Sie wollen also von mir, dass ich eins unserer Teams auf Kron, Bernoulli und auf diese Anja Sanders ansetze“, hatte Burger unaufgefordert zusammengefasst, dem Finanzminister dabei um ein Haar ins Wort fallend. „Das ist kein Problem. Solches machen wir täglich. Ich verstehe allerdings nicht, warum sich diese Leute an Sie gewandt haben. Sie sind Finanzminister.“

Es hatte sich angehört, als wäre die letztgenannte Tatsache bis zu diesem Punkt des Gesprächs einem der daran Beteiligten nicht klar gewesen. Burger hatte zu relativieren versucht: „Wo ist da die Schnittstelle? Ich verstehe es nicht. Aber okay – das geht mich nichts an. Wie gesagt: Kron, Sanders und Bernoulli – kein Problem. Bis wann brauchen Sie die ersten Informationen?“

Burger war davon ausgegangen, dass das Gespräch damit beendet sei, und hatte sich einmal mehr gewundert, wieviel unnötiges Drumherum für viele Leute vonnöten war, bevor sie zum Kern einer Sache vordringen konnten. Wieviel Zeit verschwendet wurde. Lebenszeit, Arbeitszeit, freie Zeit, Leidenszeit. Alles eins. Er ärgerte sich längst nicht mehr darüber. Auch das: Zeitverschwendung. Von Ludwig hatte er es nicht erwartet. Er hatte irgendwo zwischen Brust und Luftröhre ein Lächeln sich recken gefühlt: Alter Idealist, was hast du denn gedacht?

„Unwichtig, Burger“, war es von Ludwig gekommen. „Ich glaube nicht, dass es eilt. Aber das ist nicht der springende Punkt. Wie Sie richtig gesagt haben, macht die Kontaktaufnahme von Kron mit mir als Finanzdepartementsleiter keinen Sinn. Auf den ersten Blick jedenfalls nicht. Und auf den zweiten auch nicht. Ich bin aber überzeugt, dass es einen Grund dafür gibt. Und je länger ich darüber nachdenke, desto überzeugter bin ich außerdem, dass mir dieser Grund nicht gefallen würde. Das ist es, worum es mir geht, Burger. Darum brauche ich Sie und Ihre Leute. Ich will wissen, was da für ein Zusammenhang besteht zwischen meinem Ministerium und der Forschungsabteilung der Syngenta. Denn sofern da einer besteht, wovon dieser Kron zu sprechen scheint, dann können wir davon ausgehen, dass es sich erstens um Finanzmittel handelt, die nicht oder falsch ausgewiesen sind, und dass zweitens, sollte hier etwas nicht koscher sein, ich dafür verantwortlich gemacht werden würde. Ich will wissen, was da auf mich zukommt.“

Das Lächeln auf Burgers Gesicht hatte sich zu voller Größe aufgerichtet. Er hatte sich doch nicht getäuscht. Ludwig war nicht eines dieser Heißluftgebläse. Es gab einen Grund für den Rundumschlag. Burger ergänzte das Offensichtliche:

„Sie wollen, dass wir die nötigen Informationen beschaffen.“

„Zumindest das, ja. Und noch etwas: Ich möchte, dass Carl Brun sich darum kümmert.“

Keine Frage, ob dies möglich sei. Eine Forderung.

Burger hatte gar nicht erst erwogen, zu verhandeln, eine mögliche Nichtverfügbarkeit Bruns, dessen Abneigung gegen alles, was nach Öffentlichkeit roch, ihm allzu vertraut war, aufgrund anderer Jobs zu erwähnen. Ludwig wollte Brun, und Ludwig war die Regierung. Punkt.

„Sie kennen sich?“, fragte er stattdessen nur.

„Er ist mein Sohn. Und um Ihre Frage zu beantworten: Nein – wir kennen uns nicht. Allerdings habe ich in Erfahrung gebracht, dass Sie beide sich gut kennen. Und Ihnen vertraue ich.“

„Danke.“ Es hatte sich hilflos angehört, dieses schüttere „Danke“, fand er im Nachhinein. Ludwig hatte sich, sofern er es ebenso empfunden hatte, nichts anmerken lassen:

„Nichts zu danken, Burger. Finden Sie raus, was hier los ist. Ich kann in der aktuellen wirtschaftlichen Lage keine unangenehmen Gerüche gebrauchen. Und hier stinkt‘s gerade gewaltig, wenn Sie mich fragen.“

„Sie hören von mir.“

„Ich glaube, es ist besser, wenn ich mich bei Ihnen melde. Ich weiß ja jetzt, wann Sie am besten erreichbar sind. Apropos: Entschuldigen Sie bitte die unmögliche Uhrzeit. Ich hoffe, ich habe Sie nicht geweckt.“

Und bevor Burger noch irgendwas hatte erwidern können, war am anderen Ende aufgelegt worden.

„Nein, Sie haben mich nicht geweckt, Ludwig“, hatte Burger laut in die Leere des dunklen Wohnzimmers gesagt, während er das Telefon zur Ladestation trug. „Ich schlafe schlecht, und wenn, dann nie mehr als drei Stunden. Offenbar sind wir uns da ähnlich. Muss am Alter liegen, Freund.“

Dann war er auf die Terrasse herausgetreten, wo er auf der karierten Nässe des Stuhls zu sitzen gekommen war.

Die Angelegenheit – denn dass es eine solche war, schien festzustehen –, wie Ludwig sie geschildert hatte, war seltsam. Es hörte sich fast danach an, als würde von Kron, beziehungsweise von jemandem innerhalb oder oberhalb der Syngenta, an Schuldigkeiten erinnert, von denen der frischgewählte Bundesrat offensichtlich noch nichts wusste und von denen man sich wünschte, dass sie ihm bekannt würden. Im Umkehrschluss hieß das, dass man auf der anderen Seite davon ausging, dass Ludwig genau das tat, was er eben getan hatte: Informationen beschaffen, Leute kontaktieren und damit ihm noch unbekannte Zusammenhänge bestätigen. Und mit dem Wissen würde er schuldig. So einfach.

Ja – Jo Burger ging mit Ludwig einig: Es roch nicht gut. Und das schon seit Ludwigs Wahl und der Departementsübergabe nicht.

Ludwigs Vorgängerin im Finanzdepartement, Carla Brunner-Del Vecchio war nicht freiwillig gegangen. Im Gegenteil: Auch hier schien es eine stillschweigende Vereinbarung mit den Medien gegeben zu haben. Bloß unter umgekehrten Vorzeichen wie im Fall Ludwig. Hatte man den Vorwahl-Schlagzeilen, Wahlbarometern, Expertenmeinungen geglaubt, dann war die Frau bereits Monate vor der Wahl so gut wie gewählt gewesen. Oder besser: im Amt bestätigt. Wahlkampf war keine Notwendigkeit. Man saß fest im Sattel. Doppelseitige und wohlwollende Interviews fernab der politischen Realitäten in den Spalten der Sonntagsmedien kamen Huldigungen näher als journalistischer Interrogation.

Als dann alles anders gekommen war, als die doppelt und dreifach gesicherten Seilschaften sich als schwächer erwiesen hatten als die Parteiinteressen, war die Frau abgetaucht. Gerade noch für ein Foto, auf dem sie Ludwig lächelnd die Hand schüttelte, hatte es gereicht. Dann Leere. Und ein paar Tage lang banges Warten in den personellen Reihen des verlassenen Departements. Man hatte das erwartet, was man selbst zu inszenieren geholfen hatte beim Antritt der Ministerin vor vier Jahren: Altes raus, neues rein. Das Halali eines neugewählten Veränderers, das damals vor dem Mobiliar, der IT-Infrastruktur und den baulichen Gegebenheiten ebenso wenig haltgemacht hatte wie vor dem Personal oder störenden Etatlimits. Dies mit dem nach vier Jahren in Politsendungen des öffentlich-rechtlichen Fernsehens nicht diskutierten Resultat, dass durch endlose Reorganisation, personelle und finanzielle Aufstockung und laufendes externes Monitoring außer finanzieller Schieflage, Grabenkämpfen und dem Verlust jeglicher Effizienz in der Bewältigung der Kernaufgaben des Departements nichts erreicht worden war.

Das Schlimmste und Schockierendste für Ludwig war allerdings etwas anderes gewesen: Man schien von ihm die einzig der Selbstinszenierung dienende Wiederholung desselben zu erwarten. Es war schließlich nicht das eigene Geld, das hier in Abgründen intriganten Gegeneinanders geschreddert wurde.

Aber Ludwig war anders: Er dachte nicht daran, die Leute auf die Straße zu setzen, ohne ihnen die Chance gegeben zu haben, sich in ihrem Job zu bewähren. Ohne wenigstens das an Dossierwissen aus ihnen herauszuholen, was sich allem magistralen Größenwahn zum Trotz hatte festsetzen können.

Mit einem Mal wurde gearbeitet hinter den Mauern des Finanzdepartements.

Die einzige Neueinstellung war Steffen Sauter gewesen, Ludwigs Pressesprecher. Eine Partnerschaft, die sich über Jahre bewährt hatte. Burger und seine Leute hatten dagegen nichts einzuwenden gehabt. Auch Sauter schien sauber zu sein.

Unter den gegebenen Umständen war es nicht erstaunlich, dass Vereinbarungen, Details der hängenden Dossiers oder mündliche Absprachen unter den Tisch gefallen waren. Oder eben Schuldigkeiten. Eine Departementsübergabe hatte nicht stattgefunden. Allein dafür gehörte Ludwigs Vorgängerin Burgers Meinung nach hinter Gitter. Oder besser gleich abgeschoben. Davon war sie allerdings weit entfernt: Nur um Haaresbreite einer Abwahl entgangen, hatte sie sich im Ämter-Schacher, der der Wahl unmittelbar gefolgt war, die Leitung des Justiz- und Militärdepartements gesichert. Völlig problem- und hindernisfrei.

Dennoch: Die von Ludwig geschilderte Story war dem Chaos eines departementalen Neuanfangs zum Trotz seltsam. Burger hätte am liebsten gleich angefangen, Licht in die Angelegenheit zu bringen, ein paar Telefonate zu führen und die Fühler auszustrecken. Er zwang sich, es nicht zu tun.

Er würde nicht bestmögliche Denkarbeit leisten, solange er die andere Sache nicht von allen Seiten betrachtet und soweit möglich vermessen hätte: Carl Brun war Oskar Ludwigs Sohn. Ludwig war Carls Vater.

Für Burger hörte sich das in etwa so an, als hätte ihm einer gesagt, der Kaffee, den er vor sich stehen hatte, sei der Regentonne entnommen. Es passte nicht. Mehr noch: Es war gegen die Natur. So zumindest kam es ihm vor.

Nicht, dass er die Tatsache, dass auch Carl Brun einen Vater hatte, ausgeblendet hätte. Wobei: „Vater“ war ein großes Wort in diesem Zusammenhang. Ein Wort, das er, wenn er es denn verwenden müsste, eher auf sich selbst bezogen hätte, wenn es um Carl ging. Ja – so war das. Zumindest hier draußen auf der nassen Pyjamahose sitzend sollte er ehrlich sein. Er hatte Brun im Lauf der Jahre zu einem Sohn gemacht. Und: Er hatte ihn nie gefragt, ob er das gutheiße. Oder gar ebenso empfinde.

„Alter Idealist“, knurrte er. „Träumer.“

Dann tauchten Ludwigs Worte wieder auf: „Um Ihre Frage zu beantworten: Nein – wir kennen uns nicht.“

Burger ließ los. Und obwohl das „eigentlich“ ihn störte – es musste reichen.

Er erhob sich, nahm den Schritt über die Schwelle und blieb einen Moment im Dunkeln stehen. Der Tag war noch nicht stark genug, gegen die Mauern des Hauses anzutreten. Und er selber noch nicht stark genug, Brun zu wecken. Das hatte Zeit.

***

Tom Bernoulli hatte die Rampe hinter sich. Die Luft hieß ihn willkommen, war übermütig, spielte ungelenk, grob fast wie ein steifbeiniges Fohlen mit den 13 Metern Spannweite seines Flügels. „Labil“ war der korrekte Terminus. Die Bedingungen waren perfekt. Er brauchte sie nur auszunutzen. Auszufliegen.

Ein aufsteigendes Luftpaket, das sich aufgrund seiner relativen Wärme auch mit zunehmender Höhe weniger schnell abkühlt als die es umgebenden Luftschichten, diese überholt, durchsteigt, übersteigt. Er brauchte einen Bart, und er fand ihn bereits an der ersten Waldkante, wo der Boden den ganzen Vormittag über von der Sonne aufgeheizt worden war und wo der vom Tal kommende Wind sie abriss und zum Steigen zwang, so sehr sie auch klammern mochte. Der Lift war gigantisch, nahm mit jedem Höhenmeter noch zu. Fünf Meter pro Sekunde, sieben, acht, 9,5 in der Spitze. Der Steigmesser kreischte an seinem linken Ohr. Kein schönerer Sound auf dieser Welt. Der Ton war in ihm wie das pochende Blut, das auch das Rauschen des Fahrt- und Steigwinds sein konnte, die rasende Leere im Innern, die Fülle war. Jede Faser wusste, warum er da war, warum er flog – und doch schien alles Wissen ausgelöscht zu sein. Oder reduziert. Reduziert auf die Essenz dessen, was Leben in der ganzen Fülle war. Alles Denken, alles Fühlen, jede Bewegung, jeder Atemzug auf eine einzige Sache ausgerichtet, von der man Teil war. Winziger Teil. Ausgesetzt, ausgeliefert, geborgen. This is what we call a serious focus, babe!

Er hatte den Bart gut zentriert, stieg jetzt regelmäßig kreisend leicht vom Wind nach Nordwesten versetzt dem Gebirgskamm entgegen, gleich würde sich der Blick auftun auf den Aletschgletscher. Bewusst entspannte er sich im Gurtzeug, ließ Schultern und Beine in die vertraute Enge sacken, genoss die Tatsache, dass der Flügel die Zentrierung hielt, sich nicht sträubte, rein- oder rauskippen wollte aus dem Bart. Er nahm einen Schluck aus dem Wasserschlauch.

Der Gedanke hatte gelauert, hatte die erste Konzentrationspause abgewartet und schlug jetzt mit einer Kraft zu, die ihm schier den Atem raubte. Auf einmal erschien es ihm unmöglich.

Das ist es jetzt also, dachte er. Das ist die Angst.

Entweder hatte er sie bis hierher erfolgreich verdrängt gehabt, oder sie war nicht da gewesen. Er wusste es nicht. Aber er hatte immer mit ihr gerechnet. Dass sie so widerlich war, so hässlich ihre Fratze, so schmutzig, darauf war er nicht gefasst gewesen. Ihre dreckigen Schlieren breiteten sich wie ein platzender Sack voll Fäkalien in seinem Denken aus, das Fühlen erstickte im Gestank, der Ort, die Zeit, alles kontaminiert von etwas, das nur das Leben allein wieder reinwaschen konnte. Landen.

Aber das war ausgeschlossen. Die Entscheidung stand fest. Dennoch: So sollte es nicht sein, so durfte es nicht sein.

Kollidierende Luft- oder Windmassen rissen ihn los. Für Sekunden, Minuten war er gerettet. Die Luft „bockte“, wie man unter Piloten zu sagen pflegte. Sein Flügel wurde hin und her geworfen, an Luftmauern geschleudert, ins Leere katapultiert. Er riss die Basis nach hinten, um zu beschleunigen und die Turbulenzen zu durchfliegen. Mit 110 Stundenkilometern bretterte er über den Grat, querte das enge Tal und gelangte in ruhigere Luftmassen. Trotzdem hielt er den Speed aufrecht. Es war nicht nötig, jeden Bart „mitzunehmen“, das Risiko, einmal keinen mehr zu finden, wenn es nötig wäre, war kalkulierbar, solange Landemöglichkeiten in Gleitnähe waren.

„Du darfst heute nicht absaufen“, ermahnte er sich, während alles in ihm hoffte, es doch tun zu müssen. Irgendwo landen zu müssen, weil weit und breit keine einzige Mücke mehr bereit war, einen Furz zu tun, der ihn möglicherweise wieder in die Höhe trug.

Langsam ließ er den Zug auf die Basis lockerer werden, ließ sie in ihre Ausgangsposition zurückkehren, dehnte seine Gedanken aus bis zu den Flügelspitzen, den Winglets, fühlte nach Bewegung, die einen Bart anzeigte. Es dauerte nicht lange, bis er einen hatte, eindrehen konnte, weiter steigen.

Auf 4.000 Höhenmetern tat er etwas, das er immer tat. Nicht aus Sucht, nicht aus einem physischen Bedürfnis heraus, sondern einfach, weil es möglich war: Er fummelte eine Zigarette aus dem Gurtzeug, das Sturmfeuerzeug, das an einer Schnur befestigt war, und steckte sich die Fluppe über dem Helmrand so in den Mund, dass beim Anzünden nicht das Helmfutter mit abgefackelt wurde. Das Feuerzeug ließ er fallen. Er konnte das nach all den Jahren so gut, dass er es schaffte, die Kippe zu rauchen, ohne Helm oder Handschuhe anzusengen. Wobei: Rauchen war viel gesagt. Zwei Züge waren normalerweise drin – der Rest wurde vom Fahrtwind getilgt. Dennoch: Er empfand jedes Mal eine ungetrübt kindliche Freude an diesem Ritual ohne Zeugen.

Er versuchte, sie zu schützen, diese Freude. Wenigstens sie, wenn schon nicht sich selber. Sie sollte nicht beschmutzt werden von der Angst, nicht angesogen von dem stinkenden Dunkel, durch das er hindurchzumüssen schien.

Nein, er konnte da nicht durch. Angst vor der Angst und dem, was danach kommen würde, packte ihn, hielt ihn im Griff. Er nahm nicht länger wahr, wohin er flog, auf welcher Höhe, ob er stieg oder sank.

„Landen“, schrie es in ihm. „Landen, landen, landen. Dann wird alles gut. Du kannst auch anders verschwinden. Neu anfangen.“

Hell und klar und sauber lockte die Stimme, versprach Wärme, Liebe allem zum Trotz. Reinheit. Vergebung.

You will be forgiven.

Er nahm nicht wahr, dass sein Gesicht nass war in der eisigen Luft, dass die Kraft nicht mehr reichte, um die körperlichen Funktionen zu kontrollieren, dass jeder Muskel seine Kraft abgab an diesen einen Satz. Er fühlte nicht einmal das Zittern, das ihn schüttelte, das verzweifelte Ringen und Aufbäumen des Körpers, das eigene Schreien und Stöhnen, als er den Reißverschluss des Gurtzeugs öffnete, die Beine aus der Hülle zog, den oberen Verschluss öffnete, die Arme und Schultern aus der Enge des windschlüpfrigen Anzugs zwängte. Sein Sichtfeld engte sich ein. Er fühlte das Herz in seinem Kopf. Die Worte, die ihn retteten.

Er drückte den Knopf, der den Hauptverschluss unter Zug öffnete. Freier Fall.

Die Meldung über einen abgestürzten oder notgelandeten Drachenflieger ging am selben Nachmittag im TBB Goms in Fiesch ein. Ein anderer Pilot hatte den Flügel entdeckt und noch aus der Luft den Notruf abgesetzt. Die Schweizerische Rettungsflugwacht, deren Nervenzentrum für In- und Auslandsrettungsflüge sich am Flughafen Zürich befindet, war acht Minuten nach Erhalt des Notrufs von der Basis Wilderswil aus in der Luft. Das Aufgebot von der Einsatzzentrale wurde routinemäßig per Funk übermittelt. An Bord des Helikopters, eines AugustaWestland Da Vinci, befanden sich der Pilot, ein Rettungssanitäter sowie ein Notarzt. Unmittelbar nach dem Start funkte der Rettungssanitäter und Kopilot den Polizeiposten in Fiesch an.

Postenchef Markus Borel stand zusammen mit zwei Leuten des Abschleppdienstes beim Bahnhof in Fiesch, als ihn die Meldung der Rega erreichte. Man hatte gemeinsam eine geraucht, sich über Nichtigkeiten unterhalten und – ohne dass es abgesprochen gewesen wäre – gewartet, dass die Situation sich klären und der Halter des Fahrzeugs doch noch auftauchen und das Abschleppen überflüssig machen würde. Markus Borel hielt nichts von solchen Aktionen und versuchte sie nach Möglichkeit zu verhindern. Wo käme man da hin? Fiesch war ein 1.000-Seelen-Dorf, das mit Ferienwohnungen und Chalets mehr als 4.000 Gästebetten zählte. Hier wurden die Autos zu Dutzenden falsch geparkt. Nur eben nicht so falsch. Der Audi A6 stand am Bahnhof mitten auf dem Bushalteplatz. Die Postautos und Busse waren gezwungen, auf der Bahnhofstraße anzuhalten, der Verkehr wurde komplett blockiert. Die Parkplätze beim Bahnhof waren bis auf den letzten Meter besetzt und boten keine Ausweichmöglichkeit.

Markus Borel, der den Funkruf stehend neben seinem Auto entgegengenommen hatte, schippte seine Kippe weg und kam zurück zu der kleinen Gruppe, zu der sich in der Zwischenzeit die Kioskfrau und ein paar Anwohner gesellt hatten.

„Sieht aus, als kämen wir heute nicht drum herum. Aufladen und ab mit ihm in die warme Stube“, sagte er zu den beiden Fahrern.

„Gibt‘s einen Notfall, Markus?“

Der Frage folgte ein Grinsen, das sich auf den Gesichtern der anderen spiegelte. Borels Mimik zog mit, während er kehrtmachte und etwas von „gefährlicher Szenebildung in der ‚Walliser-Kanne‘“, von „SEK-Einsatz“ und „stürmen“ knurrte.

In seinem Rücken machte Heiterkeit die Runde.

Ein Außenstehender hätte den Eindruck gewinnen können, der Postenchef würde von seinesgleichen nicht für voll genommen. Der Eindruck wäre falsch gewesen. Borel wurde von den Leuten hier ernst genommen. Er war einer von ihnen. Die meisten aus der Runde hatten ihn schon in den Windeln gekannt. Das Piesacken überschritt nie die Grenzen seiner Funktion. Und wenn einer doch mal persönlich wurde, dann saß der Betreffende meist stänkernd wie ein Kleinkind neben ihm im Wagen, roch wie ein Schnapsfass und fragte sich am kommenden Morgen, wie um alles in der Welt er vom Stammtisch weg und in den „Krachen“ zurückgekommen war, den er sein Zuhause nannte.

Borel war weit weg von derartigen Überlegungen, als er jetzt das Gaspedal seines Subaru durchdrückte und das Dorf Richtung Bellwald hinter sich ließ. Der Rega-Helikopter würde ihn beim „Baschi“ an Bord nehmen.