Karl Heinz Brisch, Wolfgang Sperl, Katharina Kruppa (Hrsg.)

Early Life Care

Frühe Hilfen von der Schwangerschaft bis zum 1. Lebensjahr

Das Grundlagenbuch

Impressum

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Klett-Cotta

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Printausgabe: ISBN 978-3-608-98186-5

E-Book: ISBN 978-3-608-19181-3

PDF-E-Book: ISBN 978-3-608-29159-9

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Karl Heinz Brisch

Vorwort

Die Entwicklung eines Universitätslehrgangs »Early Life Care«, wie er in der Einführung von Peter Braun und Michaela Luckmann beschrieben wird, ist weltweit einmalig und ebenso das Forschungsinstitut »Early Life Care« an der Paracelsus Medizinischen Privatuniversität Salzburg, das ich in den letzten Jahren aufbauen durfte. Da sich immer mehr Studierende für den Lehrgang »Early Life Care« interessieren, zudem viele andere Professionen, etwa aus dem Bereich Frühe Hilfen, an uns Anfragen zu den Themen von »Early Life Care« richten, entstand die Idee, ein Grundlagenbuch zu schreiben, das auf einige zentrale Themen eingeht, und auf diese Weise dem Interesse entgegenzukommen.

Grundlegend für das neue übergreifende Themengebiet »Early Life Care« ist das bio-psycho-sozio-spirituelle Modell, das sehr differenziert von Katharina Kruppa und Wolfgang Sperl beschrieben und an berührenden Fallbeispielen erläutert wird. Die Komponente »Spiritualität« ist neu, dabei unverzichtbar, wenn es um die Bereiche »Schwangerschaft«, »Geburt« und »erste Lebensjahre der kindlichen Entwicklung« geht. Angesichts der weltweiten Klimakrise wird das Modell wahrscheinlich in der nächsten Auflage um den Bereich »Ökologie« erweitert werden müssen.

Eng hiermit verbunden sind in dieser frühen Zeit vielfältige zentrale ethische Themen, da der Lebensbeginn nicht selten bereits mit schwierigen, ethisch herausfordernden Fragen im Zusammenhang mit dem Lebensende verknüpft ist und ethische Dilemmata bedingt. Ruth Baumann-Hölzle spricht die Leserinnen und Leser mit ihren vielen Beispielen unmittelbar an und fordert sie zum Nachdenken sowie zum ethischen Diskurs auf.

Lange Zeit wurde in der Wissenschaft darüber gestritten, ob der Mensch in seiner Entwicklung und seinem Verhalten nun mehr durch seine Gene oder durch die Umwelterfahrungen bestimmt ist, hier besonders in der frühen Entwicklungszeit. Heute wissen wir, dass wichtige Schritte der durch Umwelteinflüsse bedingten Entwicklung schon während der Schwangerschaft durch die sogenannte »fetale Programmierung« und durch epigenetische Veränderungen bestimmt werden. Jörg Bock forscht auf diesem Gebiet und beschreibt in seinem Beitrag gut verständlich diese faszinierenden sowie beunruhigenden neuen Erkenntnisse und ihre Bedeutung für die Phase der Schwangerschaft und der frühkindlichen Entwicklung.

Welche Möglichkeiten zur Entwicklung bestehen dann in den ersten Lebensjahren, wie verstehen wir Störungen in der Entwicklung, welche Modelle helfen uns, diese zu beschreiben, und welche Ansätze für Prävention und Intervention ergeben sich daraus? Diesen Fragen geht Klaus Fröhlich-Gildhoff in seinem Beitrag nach und vermittelt zusätzlich anhand von Abbildungen, wie komplexe innere psychische Vorgänge – etwa in der Mutter-Kind-Interaktion – besser verstanden werden können.

Karl Heinz Brisch beschreibt Szenarien einer sicheren Bindung sowie einer Bindungsstörung, um auf diesem Hintergrund die Grundlagen der Bindungstheorie sowie die Entstehung von Bindungsstörungen durch frühkindliche traumatische Erfahrungen näher zu erläutern. Aus den Forschungsergebnissen entstehen bindungsorientierte Ansätze für »Early Life Care« und Prävention.

Frühe Hilfen nehmen inzwischen seit einigen Jahren in Deutschland sowie in Österreich eine zentrale Stellung ein mit dem Ziel, Eltern mit Säuglingen und Kleinkindern möglichst schon ab der Schwangerschaft bestmöglich zu unterstützen und eine gesunde kindliche Entwicklung zu ermöglichen, wie Sabine Haas für Österreich und Alexandra Sann für Deutschland in ihren Beiträgen sehr differenziert und anschaulich anhand von Studienergebnissen vermitteln.

Gerade im Bereich von »Early Life Care« ist eine multiprofessionelle interdisziplinäre Vernetzung und Kooperation aller Berufsgruppen grundlegend. Christian Blank beschreibt an eindrücklichen Beispielen, wie eine gelingende Kommunikation und Vernetzung, die so oft gefordert wird, unter bestimmten Bedingungen gut zu realisieren ist.

Für eine solche Zusammenarbeit benötigt jede Berufsgruppe eine ausreichende Möglichkeit zur Selbsterfahrung und auch zur Selbstreflexion, wie Katharina Kruppa und Manuela Werth uns wiederum an berührenden Beispielen näherbringen.

Wenn alle Hilfen der Prävention und der Frühen Hilfen nicht ausreichen, kann ein Kind in seinem Kindeswohl gefährdet sein. Dann sind alle Fragen und Probleme des Kinderschutzes berührt, die Andrea Holz-Dahrenstaedt für Österreich – auch noch aus dem Blickwinkel der UN-Kinderrechtskonvention – und Miriam Rassenhofer für Deutschland in ihren Beiträgen sehr differenziert darstellen.

Die Herausgeberin und die Herausgeber danken allen Autorinnen und Autoren, dass sie Beiträge für diesen Band verfasst haben. Dank der ausgezeichneten Arbeit von Herrn Thomas Reichert konnten die einzelnen Manuskripte rasch editiert werden. Wir danken Herrn Dr. Heinz Beyer sowie Frau Ulrike Wollenberg vom Verlag Klett-Cotta, dass sie sich mit großem Engagement für die Herausgabe dieses Buches und die rasche Herstellung beim Verlag eingesetzt haben.

Wir hoffen, dass dieses Buch allen, die Schwangere, werdende Väter, Eltern mit Säuglingen und Kleinkinder durch Begleitung, Beratung, Therapie, in Pädagogik, Sozialer Arbeit sowie bei der Prävention von frühen Entwicklungsstörungen unterstützen – wie etwa Geburtshelfer und -helferinnen, Hebammen, Familienhebammen, Familienbegleiterinnen und -begleiter, Kinderärzte und -ärztinnen, Krankenschwestern, Psychiater, Psychologinnen und Psychologen, Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter, Pädagoginnen und Pädagogen, Heilpädagogen, Krankengymnasten, Ergotherapeutinnen und -therapeuten, Kinder- und Jugendpsychiater, Psychotherapeuten und -therapeutinnen, aber auch Richterinnen und Richter sowie Politikerinnen und Politiker –, zahlreiche Anregungen gibt, die sie in ihrer täglichen Arbeit im Bereich von »Early Life Care« fruchtbar machen und umsetzen können.

Für die Herausgeberin und die Herausgeber,

Salzburg, im Januar 2020

Karl Heinz Brisch

Dank an das Land Salzburg für die finanzielle Unterstützung

Peter Braun und Michaela Luckmann

»Early Life Care« – Einführung

Dieses Kapitel gibt eine Einführung in die Entwicklung von »Early Life Care« (ELC), die Definition, die Verortung in den Frühen Hilfen, die Bedeutung für die wissenschaftliche Community und beschreibt Perspektiven für die Weiterentwicklung eines Phasenmodells der »Early Life Care«-Versorgung.

Warum »Early Life Care«?

Stellen Sie sich vor, Sie sind schwanger. Es ist Ihr erstes Kind und in Ihrem Umfeld sind Sie und Ihr Partner die Ersten, die ein Baby erwarten. Alles ist neu, ungewiss, Sie sind unsicher und gleichzeitig in froher Erwartung: Wird sich das Kind gesund entwickeln, wo finden wir eine Hebamme, einen guten Platz für die Geburt, werden wir gute Eltern sein, machen wir alles richtig, können wir uns das überhaupt leisten? Viele Fragen und Sorgen beschäftigen Sie und Sie wenden sich an Freunde, konsultieren Fachbücher und das Internet, und dann konsultieren Sie Fachleute – und stehen auf einmal im Zentrum von Meinungen und Ratschlägen, die einander oft widersprechen. Alle Eltern wollen das Beste für Ihr Kind – aber in der Frage, was das Beste ist, gehen die Meinungen oft weit auseinander.

Von solchen und ähnlichen Erfahrungen berichten Eltern seit vielen Jahren, die im Bildungszentrum St. Virgil1 Eltern-Kind-Gruppen besucht haben – Mütter, die bereits mit ihrem vierten Kind eine Gruppe besuchen, wie auch Väter, die mit ihrem ersten Kind »kurz« vorbeischauen. In den Phasen der Angst und Unsicherheit haben sie erlebt, dass die Expertinnen und Experten zwar meist empathisch zugewandt reagierten, die fachlichen Meinungen sich aber oft widersprachen und so die Unsicherheit und Angst eher verstärkt wurden: »Für uns wäre wichtig, wenn es eine gemeinsame Sprache der Spezialistinnen und Spezialisten gäbe, wenn sie mehr voneinander wüssten und sich mehr austauschten, wenn sie gemeinsam für uns und unsere Anliegen da wären!«

Am Lebensbeginn sind Eltern und Systeme phasenweise überfordert. Viel Wissen ist notwendig und professionelle Begleitung von allen Seiten wird gebraucht. »Frühe präventive Angebote und Hilfen sind eine interdisziplinäre und systemübergreifende Angelegenheit, die nicht mit einer isolierten Maßnahme und nicht mit den Kompetenzen einer einzelnen fachlichen Disziplin oder Zuständigkeit allein abgedeckt und gelöst werden können.« (Ziegenhain et al. 2011, S. 38)

Was ist mit »Early Life Care« gemeint?

Hier die Definition, die in intensiver Auseinandersetzung von Fachleuten aus den unterschiedlichen Disziplinen (aus Wissenschaft und Praxis) entstanden ist:

»Early Life Care ist ein international anerkanntes interdisziplinäres und integratives Konzept der Gesundheitsförderung und -versorgung. Dabei geht es um Beratung, Begleitung, Diagnostik, Therapie und Versorgung am Lebensbeginn. Ziel ist die Schaffung optimaler Bedingungen für Kinder und Eltern bzw. Familien rund um Kinderwunsch, Schwangerschaft, Geburt und frühe Kindheit mit besonderem Blick auf Risikosituationen.

Diesem Konzept zugrunde liegen die vielfältigen Erkenntnisse über die entscheidende Bedeutung dieser Lebensphase für die Entwicklung eines Menschen. Zum gesunden Aufwachsen von Kindern beizutragen, benötigt neben dem entsprechenden Fachwissen multiprofessionelle, kooperative Strukturen und eine respektvolle und lebensfördernde Haltung.

Early Life Care umfasst vor allem zwei Dimensionen:

  1. die Verbesserung des Angebots der Gesundheitsförderung (Ressourcenorientierung) und der universellen Prävention (Risikoreduktion) durch die Weiterentwicklung kooperativer lokaler, regionaler und überregionaler Unterstützungssysteme, die insbesondere einen Beitrag zur Förderung der Beziehungs- und Erziehungskompetenz von (werdenden) Müttern und Vätern leisten;

  2. die Verbesserung der Versorgung im Bereich der [. . .] Prävention für

    • Säuglinge und Kleinkinder mit Entwicklungsrisiken, Behinderungen, chronischen Krankheiten

    • junge und hier insbesondere minderjährige Mütter und Väter

    • psychosozial besonders und vielfältig belastete Familien

    • Familien in schwierigen Lebenslagen

    • Personen, die im Umgang mit Schwangerschaft bzw. Mutter- oder Vaterschaft unsicher oder überfordert sind.

Die Qualität der Versorgung wird insbesondere durch entsprechende interdisziplinäre forschungsgeleitete, multiprofessionelle Zugänge in Aus- und Weiterbildung entwickelt. Basis dafür ist das integrative Konzept von fachlicher, sozialer und ethischer Kompetenz.« (Vgl. https://www.earlylifecare.at/studium/prinzip-leitbild-nutzen/)

Gemeinsames Ringen um die Verbesserung der Situation von Familien und Kindern

Im deutschen Sprachraum existiert seit langer Zeit eine Vielzahl von Organisationen und Initiativen, die sich in unterschiedlicher Weise mit Familienplanung, Schwangerschaft, Geburt und früher Kindheit befassen. Sie besetzen verschiedene Schwerpunkte, Themen, Anliegen, organisieren fachliche Diskurse, machen politische Lobbyarbeit, bieten Beratungs-, Therapie- und andere Hilfeangebote für Familien und Kinder an, vernetzen Eltern mit ihren jeweiligen Anliegen miteinander und vernetzen diverse Berufsgruppen in diesem großen Themenfeld. Diese zivilgesellschaftliche Buntheit leistet unglaublich viel für Kinder und Familien und hat viel zur Sensibilisierung und Bewusstseinsbildung, zur Unterstützung von Kindern und Familien, zur Weiterentwicklung von Institutionen rund um die frühe Kindheit, zur Weiterbildung der in diesen Feldern tätigen hauptberuflichen und ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und zur gesellschaftlichen Debatte beigetragen. Ein Beispiel ist die vor gut 50 Jahren durch eine Frankfurter Frauengruppe erfolgte Gründung des Aktionskomitees Kind im Krankenhaus e. V. (AKIK) in Deutschland (ähnliche regionale und überregionale Initiativen gab es später auch in anderen Regionen und Ländern), mit dem Ziel, den Eltern-Kind-Kontakt von Geburt an zu sichern (vgl. https://www.akik.de). In den darauf folgenden Jahren und Jahrzehnten hat sich in diesem Bereich erkennbar viel weiterentwickelt. Es gibt auch heute dankenswerterweise einige Initiativen, die in diesem Feld aktiv sind.

Andere Beispiele sind die rund um Einrichtungen der Erwachsenenbildung von selbständigen Hebammen, Vereinen und Geburtskliniken in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts entwickelten Angebote zur Geburtsvorbereitung, die ebenfalls in dieser Zeit entstandenen Einrichtungen für Kinder mit Behinderungen oder die Kinderschutzzentren, die es seit gut 40 Jahren im deutschen Sprachraum gibt.

Die ersten öffentlichen gesundheitspolitischen Initiativen galten mit den Vorsorgeuntersuchungen bei Schwangeren vor allem der Gesundheit der Mutter und der Reduzierung der Säuglingssterblichkeit, bevor dann auch in den 80er Jahren in Deutschland und Österreich mit der Einführung des Mutter-Kind-Passes (bzw. in Deutschland ein Pass für die Mutter plus einer fürs Kind) die Kindervorsorgeuntersuchungen mit eingetragen wurden. Damit wurde auch der gewachsenen Aufmerksamkeit im Blick auf eine normale körperliche und geistige Entwicklung des Kindes und im Bedarfsfall der Einleitung entsprechender Therapien Rechnung getragen. Damit verbunden war auch der Gedanke der Sicherung des Kindeswohls. Fälle von Vernachlässigung, Verwahrlosung, Kindesmisshandlung oder sexuellem Missbrauch sollten erkannt werden und durch Korrektur von Fehlverhalten der Eltern bzw. der Erziehungsberechtigten oder durch andere Interventionen reduziert werden.

Nach der Jahrtausendwende wuchs der politische Druck enorm an, nachdem die Zahl der Anzeigen von Vernachlässigung von Kindern und sexueller Gewalt gegenüber Kindern, ferner die Zahlen der »familienunterstützenden Maßnahmen« bei überforderten Eltern und des Entzugs des elterlichen Sorgerechts deutlich angestiegen waren. Das Ganze wurde durch die mediale Aufmerksamkeit bei einzelnen – in höchstem Maß tragischen – Fällen von sexueller Gewalt gegenüber Kindern verstärkt. So kam es schließlich 2007 in Deutschland und 2015 in Österreich zur Gründung »Nationaler Zentren Frühe Hilfen« und dem Aufbau entsprechender regionaler und lokaler Netzwerke. Dabei ging es vor allem um die Verzahnung des Gesundheitswesens mit der Jugendhilfe und die Entwicklung von Ansätzen und Angeboten der Familien- und Gesundheitsförderung, aber auch um selektiv-präventive Maßnahmen für Familien in belasteten Lebenslagen (vgl. die beiden Artikel in diesem Buch zu den Frühen Hilfen in Deutschland und Österreich von Alexandra Sann und Sabine Haas). In einer Pressemitteilung des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend vom 10. 07. 2007 wird die damalige Ministerin von der Leyen wie folgt zitiert:

»Hinter jedem Fall von Verwahrlosung und Misshandlung steht die Leidensgeschichte eines Kindes. Wir müssen Hilfen früher und besser aufeinander abstimmen, damit der Teufelskreis von Isolation und Gewalt innerhalb einer Familie gar nicht erst entsteht. Wenn die Geburtshelfer, Hebammen, Kinderärzte oder die Jugendhilfe die einzigen Anlaufstellen sind, bei denen gefährdete Kinder kurzfristig wahrgenommen werden, dann müssen wir diese beiden Systeme zum Schutz der Kinder verknüpfen und stark machen. Das vom Bundesfamilienministerium eingerichtete Nationale Zentrum Frühe Hilfen soll die Systemgrenzen zwischen Gesundheitswesen und Jugendhilfe überwinden durch Fehleranalysen und Forschung. Es soll deutschlandweit und international Fachwissen bündeln und dieses in den Kommunen systematisch verbreiten.« (BMFSFJ 2007)

Übrigens gibt es auch in der Schweiz Ansätze und Initiativen in diesem Bereich, allerdings beschränkt auf die Ebene der Kantone und Gemeinden, wobei auch der Ruf nach nationalem Handeln wächst (vgl. Netzwerk Kinderbetreuung 2019).

Ringen um Vernetzung und um Verbesserung der Aus- und Weiterbildung

Nachdem wir im Bildungszentrum St. Virgil Salzburg eine Reihe von Erfahrungen zum Themenfeld »Lebensende – Hospiz und Palliative Care« gemacht hatten, haben wir uns zum Ziel gesetzt, auch ein Projekt zum Lebensbeginn zu starten. Im Mittelpunkt standen zunächst Überlegungen, den öffentlichen Diskurs zum Thema, die Vernetzung von Einrichtungen, Initiativen und Experteninnen und Experten zu beleben und mittelfristig Angebote zur wissenschaftlichen Weiterbildung zu entwickeln.

Im Mai 2007 haben wir Initiativen sowie Experteninnen und Experten zu einem ersten Vernetzungstreffen eingeladen, um ein erstes größeres Symposium zu aktuellen Fragen der pränatalen und perinatalen Medizin und Psychologie zu planen. Schwerpunkte sollten sein:

Im Dezember 2008 veröffentlichte das inzwischen gegründete »Netzwerk Lebensbeginn« (dem mittlerweile 22 Organisationen beigetreten waren) sein erstes Positionspapier und veranstaltete dann unter dem Motto »Mit Würde ins Leben treten« ein erstes Symposium, an dem 350 Personen aus dem deutschen Sprachraum teilnahmen.

Das inzwischen weiter gewachsene Netzwerk hatte sein Augenmerk vor allem auf die interdisziplinäre Gesundheitsförderung rund um Schwangerschaft, Geburt und frühe Kindheit gelegt. Beim zweiten Symposium hat es Entwürfe für Qualitätsstandards vorgelegt, die für Einrichtungen sowie für Familien gelten sollten, besonders im Bereich von Schwangerschaft, Geburt und früher Kindheit. In einem weitgehend vom damaligen österreichischen Bundesministerium für Wirtschaft, Familie und Jugend geförderten Projekt hatten zuvor Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aus dem Netzwerk Qualitätsstandards entwickelt, die

gelten sollten. Diese wurden auf dem Symposium diskutiert, danach überarbeitet und Anfang 2013 in einer Broschüre publiziert (Netzwerk Lebensbeginn 2013).

Im Anschluss an die Publikation der Standards stand die Leitung von St. Virgil vor der Frage, was in Zukunft realistisch leistbar wäre: den Diskurs mit großen Symposien weiterzuführen, das Netzwerk Lebensbeginn zu managen und die familienpolitische Lobbyarbeit zu verstärken oder eine umfangreiche wissenschaftliche Weiterbildung für die Professionen zu entwickeln und anzubieten, die im Zusammenhang mit dem Lebensbeginn tätig sind. Diese für uns sehr schwierige Entscheidung fiel gegen das Management des Netzwerks Lebensbeginn; eigentlich hätte diese Aufgabe eine der damals fast 30 Mitgliedorganisationen übernehmen sollen, was leider nicht geschah, so dass unser Entschluss nun das Aus für das Netzwerk bedeutete. Es bleibt ein wenig Wehmut, weil die Weiterentwicklung des »Netzwerks Lebensbeginn«, einer die familien- und gesundheitspolitische Lobbyarbeit koordinierenden Initiative, zumindest erst einmal unterbrochen ist. Andererseits sind viele der damals formulierten Themen in der Arbeit der »Österreichischen Liga für Kinder- und Jugendgesundheit«2 gut aufgehoben und werden dort weiterverfolgt.

Entsprechend dem Kernauftrag eines Zentrums für Fort- und Weiterbildung haben wir seinerzeit entschieden, mit einer multiprofessionellen Gruppe von 14 Experteninnen und Experten in einem zweijährigen Prozess (2012 – 2014) einen Universitätslehrgang »Prä-, Peri- und Postnatale Psychologie, Medizin und Gesundheit« (Arbeitstitel) zu entwickeln. Dieser wurde vor der Fertigstellung und Einreichung zur Akkreditierung noch von zehn weiteren ausgewiesenen Fachleuten aus Wissenschaft und Praxis begutachtet.

Heute heißt der von der Paracelsus Medizinische Privatuniversität (PMU) und St. Virgil Salzburg angebotene berufsbegleitende Universitätslehrgang »Early Life Care. Frühe Hilfen rund um Schwangerschaft, Geburt und erstes Lebensjahr«. Er wurde im November 2014 von der Agentur für Qualitätssicherung und Akkreditierung Austria (AQ Austria) akkreditiert und läuft nun seit Herbst 2016. Zeitgleich wurde auch ein Forschungsinstitut – das »Institut für Early Life Care« – gegründet. Nach dem 4. Semester haben 30 Studierende bereits den Abschluss »Akademische Expertin in Early Life Care« verliehen bekommen. Im Mai 2020 werden nach dem 7. Semester die ersten Masterabschlüsse (MSc: Master of Science) folgen. In dem Lehrgang wird genau das verwirklicht, was für die Praxis dringend vonnöten ist: das gemeinsame interdisziplinäre Lernen von Personen aus den Berufen, die rund um Schwangerschaft, Geburt und erstes Lebensjahr mit den Müttern, Vätern und Familien arbeiten. Die Qualität und der Erfolg dieser Tätigkeit für die Eltern hängen vor allem von einer guten Kooperation ab.

Die wesentlichen Basisthemen des Universitätslehrgangs werden in diesem Buch dargestellt.

Parallel zum Lehrgang werden alle zwei Jahre »Early Life Care«-Konferenzen zu unterschiedlichen Schwerpunkten angeboten und die Beiträge publiziert. Diese Konferenzen werden gemeinsam vom »Institut für Early Life Care« an der PMU und von St. Virgil Salzburg realisiert.

Was zeichnet den Lehrgang »Early Life Care« aus?

In den letzten Jahren hat das Thema »Frühe Hilfen« in der Gesundheitspolitik großes Interesse gefunden. Die Zahl der Initiativen, die Eltern bzw. Familien in den Lebensphasen »Schwangerschaft«, »Geburt« und »erstes Lebensjahr« Unterstützung bei der Bewältigung des Alltags anbieten, hat sich vermehrt. Ein wesentlicher Fokus ist die vernetzte Vorgehensweise aller beteiligten Berufsgruppen, die gemeinsam daran arbeiten, die Umfeldbedingungen bestmöglich an der gedeihlichen Entwicklung von Kindern auszurichten – also der generalistische Blick. Nur so können sich deren Potentiale in Richtung eines gelingenden Lebens und einer konstruktiven Lebensperspektive optimal entwickeln. Damit eine Kooperation der erwähnten Initiativen immer besser umgesetzt werden kann, sind ein kooperatives Arbeiten und ein vernetztes Lernen aller am Beginn des Lebens tätigen Personen erforderlich. »Early Life Care« ist ein Bildungsangebot, um diese unterschiedlichen Professionen fachlich interdisziplinär weiterzubilden und die multiprofessionelle Zusammenarbeit und Kommunikation zu fördern.

»Institut für Early Life Care«

2016 wurde das »Institut für Early Life Care« an der PMU mit Univ.-Prof. Dr. med. Karl Heinz Brisch als Vorstand gegründet. Es ist weltweit die erste Einrichtung dieser Art. Die dort behandelten Forschungsfragen decken ein weites Feld an Grundlagen- sowie Interventionsforschung ab; dabei geht es um die Entwicklungszeiten von der Zeugung über die Schwangerschaft bis zur Geburt und frühkindlichen Entwicklung. Die ausgezeichnete Kooperation zwischen Institut und Studiengang (Prof. Brisch gehört auch zur wissenschaftlichen Leitung des Universitätslehrgangs) schlägt sich auch in der Lehre und der Begleitung von Forschungsprojekten, Promotionen bzw. Master-Arbeiten nieder.

Das Institut hat z. B. folgende Forschungsbereiche:

Wir wissen heute allzu gut, dass die dem Konzept von »Early Life Care« zugrunde liegenden vielfältigen Erkenntnisse auf die entscheidende Bedeutung dieser Lebensphase für die Entwicklung eines Menschen hinweisen. Nachdem die Entwicklungspsychologie lange Zeit in ihrer Forschung und Theorieentwicklung mit der Adoleszenz endete, hat sich nun mit großer Selbstverständlich eine Psychologie der Lebensalter etabliert, die neben der Betrachtung einzelner Lebensphasen auch die Zusammenhänge wieder in den Blick nimmt. Entsprechend wird es immer offensichtlicher, dass es gilt, in den nächsten Jahren und Jahrzehnten ein interdisziplinäres Fachgebiet einer Psychologie und Medizin über alle Lebensphasen zu etablieren, um Entwicklungen über eine Lebensspanne hinweg besser verstehen zu können.

»Early-Life-Care-Zentren«

Ziel der »Early-Life-Care-Zentren« ist ein System, das Belastungen und (potentielle) Fehlentwicklungen möglichst früh erkennt und ein lokales, regionales und überregionales System der bedarfsgerechten Unterstützung mit sog. Frühen Hilfen anbietet: Gesundheitsförderung auf breiter Basis. Im Aufbau sind »Early-Life-Care-Zentren«, die einerseits die regionale Versorgung im Blick haben (angebunden u. a. an die Praxen von Kinderärztinnen und -ärzten, Gynäkologinnen und Gynäkologen, Hebammen, Familienberatungsstellen). Andererseits beginnt die Planung ebenfalls an Kliniken, wo es um die Zusammenarbeit der einzelnen Stationen wie auch die Vor- und Nachsorge geht.

Im Mittelpunkt stehen:

Um all dies zu erreichen, ist ein interdisziplinäres und integratives Konzept der Gesundheitsförderung und -versorgung notwendig.

Early Life Care – von Qualitätskriterien der Netzwerkarbeit zu einem abgestuften, qualitätsgesicherten System der Frühen Hilfen

Die große Herausforderung und mittlerweile auch Stärke der lokalen, regionalen und nationalen Arbeit mit Frühen Hilfen sind die Überwindung von Systemgrenzen und die Schaffung disziplin-, institutionen- und verbandsübergreifender Netzwerke sowie die Entwicklung überprüfbarer Qualitätsmerkmale für diese Arbeit (vgl. NZFH 2014).

In dem aktualisierten wissenschaftlichen Ergebnisbericht Frühe Hilfen. Eckpunkte eines »Idealmodells« für Österreich 2017 (Haas & Weigl 2017) werden für die regionalen Frühe-Hilfen-Netzwerke drei Kernelemente aufgezeigt, und zwar Familienbegleitung, Multiprofessionalität der Netzwerke und Netzwerkmanagement (vgl. ebd., S. 4 – 13). Gerade im Aufbau dieser neuen Netzwerkstrukturen ist in den letzten Jahren viel Positives geschehen, Probleme bestehen in manchen Regionen bei den personellen Ressourcen und in der politischen Absicherung der Weiterentwicklung.

Ein nächster Schritt der Weiterentwicklung dürfte nun in der Konzeption und Entwicklung eines qualitätsgesicherten Phasenmodells der »Early Life Care«-Versorgung bestehen. Hier geht es vor allem darum, nicht nur die Qualität der Netzwerke zu sichern, sondern Module mit entsprechenden Strukturqualitätskriterien sowie ihren Bezug zueinander zu definieren. Dies ist natürlich aufgrund der größeren Anzahl der beteiligten Institution und Professionen sehr viel aufwendiger als in Bezug auf das Lebensende, in der Hospiz- und Palliativversorgung, wenngleich sich einiges aus der Entwicklung und den Erfahrungen mit diesem Konzept lernen lässt (Gesundheit Österreich GmbH 2014).

In der Konzeption wären drei Handlungsfelder zu unterscheiden:

  1. Grundversorgung in den Frühen Hilfen: Als Einrichtungen und Dienstleister in diesem Bereich wären u. a. anzusehen:

    • niedergelassenen Ärztinnen und Ärzte (Gynäkologie, Kinderheilkunde), frei praktizierende Hebammen, Krankenhäuser (Frauenheilkunde und Geburtshilfe, Kinderheilkunde);

    • Tageseltern, Krabbelstuben, Kindergärten, Eltern-Kind-Zentren;

    • Weiterbildungseinrichtungen, Vereine, Familienbildungseinrichtungen mit Angeboten zu Themen rund um Schwangerschaft, Geburt und frühe Kindheit;

    • Basisangebote von Frühe-Hilfe-Einrichtungen.

  2. Spezialisierte Versorgung in den Frühen Hilfen. Hier sind zwei Bereiche zu unterscheiden:

    1. Unterstützende Angebote und Maßnahmen:

      • »Early Life Care«-Zentren und »Early Life Care«-Teams, Familienbegleitung;

      • Ehe- und Familienberatungsstellen, Psychologeninnen und Psychologen, Psychotherapeuteninnen und Psychotherapeuten;

      • Einrichtungen für Menschen mit Behinderung;

      • Kinder- und Jugendhilfe: Erziehungshilfe; Familienhebammen.

    2. Betreuende Angebote und Maßnahmen:

      • Pflegefamilien;

      • Krankenhäuser (Frühgeburtenstationen);

      • Einrichtungen für Menschen mit Behinderung;

      • Pflegeeltern bzw. -familien

      • Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe (z. B. Kinderdörfer).