Kornbichler, Sabine Majas Buch

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© dieser Ausgabe, Piper Verlag GmbH, 2020
© Sabine Kornbichler 2012
© der deutschsprachigen Erstausgabe:
Knaur, München 2002/2003
Covergestaltung: FAVORITBUERO, München
Covermotiv: Bilder unter Lizenzierung von Shutterstock.com genutzt

 

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1 – Manchmal muss man …

Manchmal muss man an einen Ort zurückkehren, damit ein Kreis sich schließen kann und Frieden einkehrt. Diese Weisheit stammt nicht von mir, sondern von meiner Freundin Lilly. Sie meinte, ich müsse die widerstreitenden Bilder, die ich nicht loswerden könne, endlich einmal in Einklang bringen. Es mache keinen Sinn, sie länger als Ballast mit mir herumzuschleppen, damit sei niemandem gedient, am wenigsten mir selbst. Deshalb sollte ich dorthin zurückkehren, wo alles begann. Sie hatte mich überzeugt.

Als sich das schmiedeeiserne Tor vor mir öffnete und ich langsam die Auffahrt zwischen den hohen Hecken hindurchfuhr, war mir, als wäre es gestern gewesen, dass ich zum ersten Mal hierherkam. Dabei war ein Jahr vergangen. Hier hatte es jedoch keine Spuren hinterlassen. Alles war so, wie ich es in Erinnerung hatte, sogar die Junihitze mit ihren fast dreißig Grad. Nur das Zimmer war neu für mich. Die Tür zum Garten stand offen. Ich zog mir eine der Liegen in den Schatten und streckte mich der Länge nach darauf aus. Die lange Fahrt hatte mich ebenso erschöpft wie aufgekratzt. Da ich zum Lesen zu müde war, lag ich einfach nur da, während sich mein Blick auf Wanderschaft begab, hinauf zu den Baumkronen über mir. Das von leisem Rauschen begleitete Spiel der Blätter hatte etwas Beruhigendes, sodass mir langsam die Augen zufielen. Vor meinem inneren Auge wurden die Geschehnisse wie auf einer Filmrolle zum Anfang zurückgespult.

Ich hatte endlich die Festschrift zum fünfundzwanzigjährigen Firmenjubiläum eines Kunden fertiggestellt und den Text für meine regelmäßige Kolumne in der Isabelle abgeschickt. Die nächsten Aufträge hatten noch so viel Zeit, dass ich guten Gewissens zwei Wochen Urlaub einschieben konnte. Was ich mir so lange vorgenommen hatte, sollte endlich wahr werden: Ich würde meine Seele baumeln lassen, und zwar an der Mecklenburgischen Seenplatte. Als ich vor drei Jahren, rechtzeitig zu meinem fünfunddreißigsten Geburtstag, meinem Freiheitsdrang nachgegeben und bei der Zeitung gekündigt hatte, um mich fortan als freie Journalistin zu versuchen, war es notorischer Geldmangel gewesen, der sämtliche Reisepläne torpediert hatte. Inzwischen war die Durststrecke überwunden und ich so gut im Geschäft, dass aus dem Mangel an Geld ein Mangel an Zeit geworden war. Aber dieses Mal, hatte ich mir vorgenommen, würde nichts dazwischenkommen.

Alles lief nach Plan: Mein Koffer war gepackt, meinen Kunden hatte ich E-Mails geschickt, damit sie nicht vergebens versuchten, mich zu erreichen, und mein Auto stand vollgetankt vor der Tür. Sogar das Wetter spielte mit: An diesem Tag war das Thermometer bereits um acht Uhr morgens über die Zwanzig-Grad-Marke geklettert. Durch die geöffneten Fenster wehte eine angenehm milde Morgenluft in meine Wohnung. Anfangs war es ungewohnt gewesen, meinen Arbeitsplatz aus den belebten Redaktionsräumen in meine ruhige Zwei-Zimmer-Altbauwohnung zu verlegen. Aber schon nach kurzer Zeit hätte ich nicht mehr tauschen wollen. Das Gefühl von Freiheit und Unabhängigkeit wog vieles auf, was auch bei dieser Arbeitsform nicht ideal war: die Ungewissheit von Folgeaufträgen, die manchmal sehr zähe Akquisition von Neukunden oder das Eintreiben der Rechnungen. Bei alldem war ich jedoch mein eigener Herr und musste niemandem Rechenschaft ablegen.

Meinem Schreibtisch würde ich nun für zwei Wochen den Rücken kehren. Er sah so aufgeräumt aus wie schon lange nicht mehr. Diesmal würde auch mein Laptop zu Hause bleiben, damit ich gar nicht erst in Versuchung kam. Ich hatte ihn gerade in einer Schublade verstaut, als es an der Tür klingelte. Das musste Lilly sein. Wir wollten noch zusammen frühstücken, bevor ich mich auf den Weg gen Norden machte.

Kurz nachdem ich vor fünf Jahren meine Wohnung in Frankfurts beliebtem Stadtteil Sachsenhausen bezogen hatte, fand Lilly gleich um die Ecke Räume für ihre lange geplante Physiotherapiepraxis und ließ sich dort nieder. An manchen Tagen bestellte sie die Patienten erst später, um vorher noch bei mir zum Frühstück einzukehren. Zum Aufwärmen für den Tag, wie sie es nannte. So auch an diesem Tag. Als ich den Hörer der Sprechanlage ans Ohr hielt, tönte mir schon ihr fröhliches Guten Morgen! entgegen.

Lilly ist im Gegensatz zu mir ein Morgenmensch, was unserer Freundschaft jedoch keinen Abbruch tut. Seit dem Tag, an dem wir uns im Gymnasium zum ersten Mal gegenüberstanden und beschlossen, unsere Pause gemeinsam mit Gummitwist zu verbringen, ist sie meine beste Freundin. Und umgekehrt. Ich freute mich sehr, sie vor meiner Fahrt noch kurz zu sehen. Die Wohnungstür hatte ich angelehnt, Lilly würde einen Moment brauchen bis zu mir in den zweiten Stock. In der Zwischenzeit füllte ich schon einmal unseren Kaffee und die geschäumte Milch in Tassen und streute noch ein wenig Kakaopulver darüber. Den Tisch hatte ich bereits auf meinem zu dieser Zeit noch sonnenbeschienenen Minibalkon gedeckt.

»Hallo, Ellen!«, hörte ich Lillys Stimme hinter mir und drehte mich zu ihr um.

Sie stand samt Henriette und Brötchentüte im Türrahmen meiner Küche und strahlte mir entgegen.

»Guten Morgen!« Gegen die Spüle gelehnt, schaute ich die beiden an. Seitdem Lilly zwei Jahre zuvor Henriette von ihrem Nachbarn, der nach England versetzt worden war und dem Hund die endlose Quarantäne nicht zumuten wollte, übernommen hatte, erschienen die beiden nur noch im Doppelpack.

Henriette ist eine fast siebzig Zentimeter große und vier Jahre alte große Schweizer Sennenhund-Dame mit einem überaus wachen Blick. Insgeheim nenne ich sie nur das Kalb. Lilly gegenüber würde ich Derartiges jedoch nie verlauten lassen, sie liebt Henriette und lässt nichts auf sie kommen. Zum Glück hat Lilly ein unglaublich gutes Gespür für Hunde, sodass ihre ständige Begleiterin erstklassig erzogen ist. Nach einer kurzen Begrüßung verzog sie sich auch an diesem Morgen auf ihren gewohnten Platz neben meinem Sofa und beschränkte sich darauf, uns zu beobachten.

Lilly leerte die Brötchentüte in einen Korb und ging mir Richtung Balkon voraus. Ich folgte vorsichtig mit den randvoll gefüllten Cappuccino-Tassen. Unsere kleine Prozession führte an meinem alten Spiegel im Flur vorbei. Ein kurzer Blick reichte aus, um mich wieder einmal in Staunen zu versetzen. Innerlich empfinde ich Lilly fast als Schwester, äußerlich könnten wir unterschiedlicher nicht sein, lässt sie doch jedes gängige Schönheitsideal vergessen. Über eine Länge von einhundertundachtzig Zentimetern hat sich ein Körper entwickelt, der sich sehen lassen kann und den auch niemand übersieht, vor allem kein Mann. Ihre fast barocken Formen, deren Konturen sie mit ihrer eng anliegenden Kleidung noch unterstreicht, wiegt sie ebenso gelassen wie sinnlich durch die Gegend. »Alles Natur«, pflegt sie zufrieden zu betonen, wenn sich ein Blick etwas länger in ihnen verfängt. Ihr flachsblondes Haar, das meist in einem dicken Knoten endet, bedeckt zudem einen überaus eigenwilligen Kopf. Neben ihr wirke ich wie ein Hänfling, obwohl ich nur fünf Zentimeter kleiner bin als sie. Der entscheidende Unterschied liegt jedoch nicht in der Größe, eher in der Breite, obwohl ich nie auf die Idee käme, Lilly als mollig zu bezeichnen. Sie hat einfach von allem ein bisschen mehr.

Auf dem Balkon zwängte sie sich an dem runden Bistrotisch vorbei und ließ sich in ihrem Stuhl nieder. So großzügig meine Wohnung auch sonst geschnitten ist, am Balkon wurde eindeutig gespart. Für mehr als einen kleinen Tisch und zwei Stühle ist dort kein Platz, und selbst das ist schon ein Wunder. Aber bei diesem Wetter hätten mich keine zehn Pferde am Küchentisch gehalten.

»Meinst du wirklich, die haben bei der Statik dieses Balkons Menschen wie mich berücksichtigt?« Lilly sah mich zweifelnd an.

Ich kannte die Frage bereits, sie kommt immer wieder. Lilly fühlt sich am wohlsten, wenn sie soliden Boden unter ihren Füßen spürt. Ein Balkon im zweiten Stock zählt in ihren Augen eher zu den windigen Angelegenheiten.

»Ganz sicher«, brachte ich kauend heraus. Am besten war es, nicht weiter darauf einzugehen. Waren wir erst einmal in eine derartige Diskussion verstrickt, schlug Lilly mich regelmäßig mit Beispielen, die bewiesen, dass es immer wieder Ausnahmen gibt. Was hieß, dass irgendein Bauingenieur gerade bei meinem Balkon gepfuscht haben könnte. Durch Lilly habe ich überhaupt erst eine Vorstellung davon bekommen, was einem im Leben alles widerfahren könnte. Mir wird heute jedoch gar nichts widerfahren, dachte ich übermütig. Nichts außer Urlaub.

»Freust du dich?« Lilly hatte sich mit beiden Ellenbogen auf den kleinen Tisch gelehnt und ihr Kinn in die Hände gestützt und ahnte allem Anschein nach nicht, dass die Statik des Tisches in diesem Moment viel eher gefährdet war als die des Balkons.

»Und wie!« Mit der Vorstellung, in den nächsten zwei

Wochen nichts anderes zu tun, hielt ich mein Gesicht in die Sonne. »In den letzten Tagen habe ich gebetet, dass keiner meiner Kunden auf die Idee kommt, mir noch ganz schnell einen brandeiligen Auftrag unterzujubeln. Hätte mir das jemand vor drei Jahren prophezeit …«

Lilly biss gerade ein beachtliches Stück von ihrem Brötchen ab, was ihre zustimmenden Laute etwas verzerrte. Ich sah in ihr Gesicht, in dem ich einmal mehr die Eigenschaften erkannte, die ich an ihr so schätze. Lilly ist geradlinig und unverfälscht. Und sie hat ein großes Herz mit vielen Kammern. Davon ist allerdings kaum eine für die Vertreterinnen des weiblichen Geschlechts über achtzehn vorgesehen. Lilly ist äußerst kommunikativ, wenn es um Männer, Tiere und Kinder geht. Bei Frauen hört der Spaß auf, wie sie selbst sagt. Ich bin eine der wenigen Ausnahmen. Den großen Rest ignoriert sie geflissentlich. Das war nicht immer so. Seit sie sich jedoch unübersehbar zu einem Vollweib entwickelt hat, ist sie meist unverhohlen abgeschossenen Giftpfeilen ihrer Geschlechtsgenossinnen ausgesetzt gewesen. Gleiches mit Gleichem zu vergelten, liegt ihr jedoch fern. Sie will nicht einmal den nahe liegenden Vergleich mit Ziegen und Schnepfen anstrengen. Das sei ungerecht – den Tieren gegenüber, versteht sich.

Und da Lilly einer der wenigen Menschen ist, die nie versucht haben, meine Unabhängigkeit und mein Bedürfnis nach Freiheit einzuschränken, nimmt auch sie mit wenigen Ausnahmen eine Art Sonderstellung in meinem Leben ein.

»Schade, dass du nicht mitkommen kannst«, seufzte ich aus tiefster Seele. »Dir würde es da oben bestimmt auch gefallen – und Henriette erst.« Als diese ihren Namen hörte, robbte sie etwas näher zu uns heran. »Stell dir vor, wie es da jetzt …«

»Lieber nicht, Ellen«, unterbrach sie mich entschieden. »Du weißt doch, ich reise nicht gern.« Lilly muss man zu einer Urlaubsreise über die Grenzen von Hessen hinweg mehr oder weniger zwingen. Am liebsten bleibt sie in der Nähe ihres Hutzelhäuschens in Falkenstein, das sie von ihrer Großmutter geerbt und zu einem kleinen Schmuckstück ausgebaut hat.

»Wie lange warst du jetzt nicht mehr weg?«

Zum Zeichen, dass sie es selbst nicht wusste, zog sie ihre Schultern hoch. Es interessierte sie auch nicht weiter. Sie hatte mir oft genug von der Weisheit ihrer inneren Stimme erzählt. Die warne sie angeblich davor, sich allzu weit von ihren Wurzeln zu entfernen. Sie ist der festen Überzeugung, dass ein Mensch, der nicht einem Nomadenvolk angehört, nur dann sein inneres Gleichgewicht bewahren kann, wenn er sein Leben in der Nähe seiner Geburtsstätte verbringt. Lilly ist der einzige Mensch, den ich kenne, der glaubt, durch einen Urlaub aus dem Gleichgewicht zu geraten.

»Keine Lust auf etwas Neues?« Ich hatte in all den Jahren den Versuch nicht aufgegeben, Lilly doch noch einmal über die hessischen Grenzen hinauszulocken.

»Dazu muss ich nicht verreisen. In meinem Mikrokosmos lässt sich genauso viel erleben wie in deinem Makrokosmos.«

Ich war aufgestanden, um uns in der Küche noch einen Cappuccino zu holen. »Und was, bitte?«, rief ich in Richtung Balkon.

»Ellen, kannst du nie mit diesem blöden Fragespiel aufhören?«, fragte sie mich unwillig, als ich mit vollen Tassen zurückkam.

»Schon, aber nicht mittendrin. Wenn ich so schnell aufgeben würde, könnte ich meinen Job an den Nagel hängen.« Ohne meine Hartnäckigkeit, die Lilly gern als Terriermanier bezeichnet, wäre ich nicht so weit gekommen. »Sieh mal, der Zeitpunkt könnte idealer nicht sein: Du könntest sozusagen als unbemanntes Raumschiff meinen Begleitschutz übernehmen.« Lilly war gerade mal wieder Single, was bei ihr nie lange anhält, da ihr die Männer die Tür einrennen. Wobei einrennen vielleicht das falsche Wort ist, denn dazu müsste die Tür geschlossen sein.

Sie grinste, als hätte ich ihr einen hintergründigen Witz erzählt. »Seit wann brauchst du Schutz?« Lilly findet, ich sei eine Mogelpackung. Ich sähe so zerbrechlich aus: von außen nichts als Knochen – dazu Rehaugen, eingerahmt von kurzen dunkelbraunen Locken. Da erwarte doch jeder ein Reh und keinen Terrier. Aber ich verzeihe ihr, schließlich weiß ich, wie sehr sie Terrier mag. Sie hält sie für außergewöhnlich kluge und vor allem treue Hunde.

»Die Betonung liegt eher auf Begleitung«, stellte ich fest.

»Ich werde dich mit E-Mails virtuell begleiten.« Virtuell ist für Lilly alles, was mit dem Computer zusammenhängt. Nachdem sie es jahrelang abgelehnt hatte, ihr Umfeld mit Elektronik zu vergiften, war sie vor einiger Zeit den Segnungen der elektronischen Datenverarbeitung mit Haut und Haaren erlegen. In Bezug auf Mikrowelle und Handy ist sie sich allerdings bis heute treu geblieben.

»Geht nicht«, sagte ich fest, »ich lasse meinen Laptop hier, diesmal mache ich wirklich Ferien.« Würde ich den Reisecomputer mitnehmen, konnte mir nicht nur Lilly ihre E-Mails schicken, sondern auch alle anderen. Und so diszipliniert, sie nicht zu öffnen, war selbst ich nicht. »Und nach meinem Urlaub wird sich einiges ändern«, verkündete ich stolz. »Ich werde nicht mehr jeden Auftrag annehmen, sondern mal wieder ein bisschen mehr leben.«

»Bravo!« Lilly schien zufrieden mit mir. Sie hatte oft genug auf meinen Ehrgeiz geschimpft, der ihrer Ansicht nach all meine anderen Bedürfnisse niederwalze.

Und irgendwie hatte sie recht. Ich hatte mir zwar in den vergangenen drei Jahren ein stabiles berufliches Fundament geschaffen, dafür jedoch viele andere Dinge schleifen lassen. Außer für das tägliche Joggen, regelmäßige Treffen mit Lilly und sporadische Besuche bei meinen Eltern hatte ich mir selbst keinerlei Freiräume gelassen. Das musste anders werden, schließlich wollte ich beides: arbeiten und leben.

»Bei mir«, holte Lilly mich aus meinen Gedanken, »gibt es demnächst auch eine kleine Veränderung.«

»Wie heißt er?« Ich sah sie über meine Tasse hinweg neugierig an.

»Kein Mann«, kam ihre Antwort wie aus der Pistole geschossen. »Was du immer denkst, Ellen!«

»Das hat weniger mit Denken als mit einem reichhaltigen Erfahrungsschatz zu tun. Also sag schon, wenn es kein Mann ist, was dann?«

Lilly ist ein Vollweib ohne die typisch weiblichen Zicken, zu denen ohne Zweifel das rasant schnelle Einschnappen zählt. Deshalb antwortete sie gelassen: »Ich werde nur noch halbtags in die Praxis gehen und an den Nachmittagen Hausbesuche machen.«

»Aber das wolltest du doch nie.« Lilly litt schon so genug unter dem Elend, das sie teilweise in ihrer Praxis zu sehen bekam. Die war für sie jedoch neutraler Boden, auf dem sie die nötige innere Distanz wahren konnte.

»Ich mache ja auch nicht die Art von Hausbesuchen«, warf sie ein. »Ich probiere etwas ganz Neues, eine Herausforderung gewissermaßen.«

»Was?« Ich war gespannt wie der viel zitierte Flitzebogen. Auf Lilly ist absolut Verlass, wenn es um Ortswechsel geht – die finden nicht statt, aber in ihrem Mikrokosmos ist sie unberechenbar. Für eine Weile vergaß sie, dass sie von irgendetwas leben muss, und behandelte notleidende Patienten umsonst, was sich wie ein Lauffeuer herumsprach. Oder sie ignorierte die humane Ausrichtung ihrer Praxis und kurierte so ganz nebenbei auch das Rückenleiden von Nachbars Hund. Auch hier entwickelte die Mund-zu-Mund-Propaganda ein Eigenleben.

»Wird nicht verraten, erst wenn es so klappt, wie ich es mir vorstelle. Im Moment ist es eher noch so eine Art Versuchsballon, und den würdest du mir mit ein paar gezielten Pfeilen abschießen.«

»Würde ich nicht«, verteidigte ich mich vehement, obwohl ich mir da insgeheim nicht so sicher war.

»O doch, ich kenne deine Fragen, die so harmlos beginnen.«

»Lilly, das ist unfair.«

»Ich weiß«, sagte sie unbeeindruckt.

»Umschreibe es mir wenigstens«, bettelte ich. Irgendjemand musste doch auf sie aufpassen und sie vor neuem Unheil in Form von bösen Briefen der Konkurrenz bewahren.

»Ellen! Hab doch einmal in deinem Leben Geduld. Du wirst es schon noch erfahren.«

»Wann?«

»Wenn die Zeit reif ist.«

Meine Fantasie ist überschäumend und bisweilen skurril, aber ganz bestimmt nicht geduldig, deshalb machte sie sich selbstständig und entwarf in Windeseile mögliche Lösungen für das Rätsel, vor das Lilly mich stellte. Da sie sich ganz sicher nicht entschlossen hatte, Tupperware an den Hausmann zu bringen oder Kindern das rückengerechte Sitzen vor dem Fernseher zu demonstrieren, blieb nicht viel übrig als Inhalt für Hausbesuche.

»Lilly, du machst doch nichts Schweinisches, oder?«

»Ich würde es eher animalisch nennen.« Dabei richtete sie sich auf ihrem Stuhl zu voller Größe auf und lächelte vieldeutig.

So gucken Gewerbetreibende, überlegte ich. »Du weißt, ich habe keine Vorurteile.« Irgendwie musste ich ihr den Boden bereiten.

»Genauso wenig wie ich«, sagte sie ungerührt.

Ich gab auf. »Lilly, wie soll ich herausfinden, was du tust, wenn du mir wie ein Aal durch die Hände glitschst?«

Sie lachte schallend. »Mit einem so stromlinienförmigen Wesen hat mich noch nie jemand verglichen.«

»Ich meinte auch weniger die Form als die Konsistenz. Und ebenjene hast du gerade wieder bewiesen. Du weichst mir aus.«

»Nur auf der Zeitachse.«

Ich hätte zu gerne noch etwas weitergebohrt, doch wurden wir in diesem Augenblick vom Läuten des Telefons unterbrochen.

»Henriette, hol das Telefon!« Lillys auffordernder Ton brachte das Kalb dazu, sich suchend im Raum umzusehen, mit den Vorderpfoten auf meinem Schreibtisch zu landen und dann das Telefon zwischen seinen Zähnen zu platzieren.

»Wie hast du das geschafft?«, fragte ich staunend in Lillys Richtung, als Henriette zum Glück ihr und nicht mir das vor Hundespucke triefende Telefon in den Schoß fallen ließ.

»Geduld«, verriet sie mir stolz, während sie gleichzeitig dem Kalb lobend über den Kopf strich. Nachdem sie das Telefon mit ihrer Papierserviette trocken gerieben hatte, hielt sie mir das immer noch klingelnde Teil hin. Allem Anschein nach war die Verbindung weder durch Henriettes Zähne noch durch Lillys Finger unterbrochen worden.

Ich hatte jedoch nicht vor dranzugehen, was ich mit einem definitiven Kopfschütteln und vor der Brust verschränkten Armen mehr als deutlich machte. »Ich bin im Urlaub!«

»Ich habe aber einem Patienten gesagt, dass er mich hier erreichen kann.«

»Dann geh du auch dran«, forderte ich Lilly auf.

»Lilly Vogler bei Bertram«, meldete sie sich denn auch prompt, wobei ein erwartungsvolles Fragezeichen in ihrem Tonfall mitschwang. »Ja … mhm … aha … nein … mhm … verstehe … mhm … ich reiche Sie mal weiter, Frau Bertram sitzt neben mir.«

Ich schoss meiner besten Freundin drohende Blicke entgegen und zeigte in überdeutlichen Gesten erst auf meine Uhr und dann über die Balkonbrüstung hinweg auf mein Auto.

»Da ist jemand von der Roberta dran.« Lilly reichte mir den Hörer.

»Ellen Bertram«, sagte ich mit fester Stimme. Seit drei Jahren versuchte ich, bei meiner Lieblingszeitschrift einen Fuß in die Tür zu bekommen. Bislang vergeblich. Sie waren dort ausreichend versorgt mit freien Mitarbeitern.

»Guten Morgen, Frau Bertram!«, hörte ich am anderen Ende eine mir unbekannte Stimme. »Hier ist Michaela Mohr, eine Kollegin hat mir Ihre Nummer gegeben. Wir haben hier ein kleines Problem, bei dem Sie uns vielleicht helfen können.«

»Wenn ich kann, gerne.« Ich wartete gespannt.

»Eine unserer freien Autorinnen ist heute Nacht mit einer Blinddarmentzündung ins Krankenhaus gekommen, sie wird erst einmal ausfallen. Deshalb kann sie auch die Geschichte nicht schreiben, mit der wir sie beauftragt haben. In den Unterlagen, die wir hier von Ihnen haben, steht, dass eines Ihrer Spezialgebiete Personenporträts sind. Trifft das nach wie vor zu?«

»Ja.« Mehr denn je, hätte ich am liebsten hinterhergeschickt. So weit ich zurückdenken kann, habe ich wissen wollen, was die Menschen bewegt und warum. Darüber zu schreiben macht mir einfach Spaß.

»Dann könnten Sie einspringen und die Story übernehmen?«

»Sehr gerne«, erwiderte ich freudig.

»Prima. Ihre Arbeitsproben haben mir nämlich gut gefallen.« Für Michaela Mohr schien das erste Problem des Tages gelöst zu sein. »Es geht um Philip Sanden, den Maler«, klärte sie mich auf.

»Aha.« Das Einzige, was ich zufällig über ihn wusste, war, dass er in Wiesbaden wohnte. »Bevor Sie weiterreden, Frau Mohr«, hakte ich ein, »ich verstehe nicht sehr viel von Kunst. Eigentlich nicht mehr als ein Laie.«

»Das brauchen Sie auch nicht. Unsere Leser sollen etwas über den Menschen Philip Sanden erfahren, die Bilder lassen wir für sich sprechen.«

»Okay.« Innerlich atmete ich auf.

Lilly verfolgte das Ganze voller Spannung. Ich sah ihr an, dass sie am liebsten mitgehört hätte. Sie wusste, was die Roberta für mich bedeutete.

»Sie können mir dann ja alle Daten, wie Umfang, Kontaktanschrift etc. schicken«, schlug ich vor. »Meine E-Mail-Adresse müsste in den Unterlagen stehen.« Was für ein schönes Urlaubsgeschenk, dachte ich aufgekratzt.

»Ja«, bestätigte sie. »Ich schicke Ihnen heute noch alles zu.« Ich hörte, wie sie in ihren Unterlagen blätterte. »Den Interviewtermin hat die Kollegin übrigens bereits vereinbart. Das Ganze soll in Obermais stattfinden, wo Philip Sanden den Sommer verbringt. Kennen Sie Obermais?«

»Nein«, gab ich ehrlich zu.

»Das liegt oberhalb von Meran, in Südtirol. Sehr hübsch. Na, Sie werden es ja kennenlernen. Wenn sich das Wetter hält, erleben Sie die Gegend von ihrer besten Seite.«

Beim Stichwort Wetter wurde ich noch wacher, als ich es ohnehin schon war. Ich verstand eigentlich genauso wenig davon wie von Kunst, ich wusste nur, dass es sich täglich ändern konnte. »Für wann ist denn der Interviewtermin mit Philip Sanden ausgemacht?« Ich hatte meine Frage bewusst vorsichtig formuliert.

»Für den Zwölften, vormittags um elf Uhr. Sie müssten also bereits am Elften anreisen.«

»Juli?«

»Juni«, korrigierte mich Frau Mohr, als wäre es das Selbstverständlichste von der Welt.

»Ah so.« Ich überlegte blitzschnell. »Der zwölfte Juni also.«

»Gibt es da ein Problem?«

»Nein«, log ich. Der Tag, der mein erster Urlaubstag hätte sein sollen, war der zehnte Juni. Am nächsten Tag würde ich mich bereits Richtung Südtirol aufmachen und damit der Mecklenburgischen Seenplatte den Rücken kehren müssen. »Ich freue mich über den Auftrag.« Und das war die Wahrheit.

»Na, dann ist ja alles in Ordnung.« Sie atmete erleichtert auf. »Die Unterlagen gehen in der nächsten Stunde an Sie ab.« Damit verabschiedete sie sich und legte auf.

Ich hob den Kopf und begegnete Lillys ungläubigem Blick.

»Du hast doch nicht etwa …?«

»Der Roberta sagt man nicht ab«, hielt ich Lillys berechtigtem Einspruch kategorisch entgegen. Mir war gleichzeitig zum Lachen und zum Heulen zumute. Ich hatte mich so sehr auf den Urlaub gefreut, hatte so gute Vorsätze gehabt, alles so genau geplant. Aber wenn ein Wunschtraum schon erfüllt wird, dachte ich, ist es vielleicht ein bisschen undankbar, auch noch das richtige Timing zu erwarten. »Hattest du nicht gerade von der Zeitachse gesprochen, als das Telefon läutete?« Ich lächelte sie schief an.

»Ja.« Lilly hüllte mich in ihren mitfühlenden Blick. »Offensichtlich haben sich dort zwei deiner sehnlichsten Wünsche ein Rennen geliefert.«

»Und die Roberta hat mit zwei Längen Vorsprung gewonnen. Mein Urlaub ist Zweiter geworden.«

»Wäre ich nur nicht drangegangen«, sagte sie ernst. Sie hätte es lieber gesehen, wenn mein Urlaub den Sieg davongetragen hätte.

»Das hätte ich dir nie verziehen.« Über diese Unlogik mussten wir beide lachen.

Mit einem Blick auf ihre Uhr gab Lilly mir zu verstehen, dass es Zeit für sie war aufzubrechen. »Mein erster Patient kommt in zehn Minuten.« Sie zwängte sich vorsichtig wieder zwischen Stuhl und Tisch hervor. Das Kalb reckte und streckte sich und nahm dann startbereit neben seiner Herrin Aufstellung. »Deinen Koffer kannst du ja wenigstens gepackt lassen«, stellte Lilly trocken fest, nachdem ich ihr ganz kurz skizziert hatte, worum es ging.

»Das finde ich ein wenig übertrieben«, stellte ich ebenso trocken fest, »da drin steckt die Hoffnung auf einen zweiwöchigen Urlaub. In Südtirol werde ich kaum länger als zwei Tage bleiben. Aber E-Mails kannst du mir schicken, mein Laptop kommt ja nun doch mit.«

»Wenigstens etwas.«

Ich brachte Lilly und Henriette zur Tür.

»Pass auf dich auf!« Sie nahm mich in ihre Arme, in denen ich wie immer fast verschwand. Als sie mich aus ihren weichen Fängen entließ, wuschelte sie mir liebevoll durch meinen kurzen Lockenkopf. »Das ist zwar auch nicht ohne Reiz, aber gib ihnen doch bei Gelegenheit mal wieder eine Chance. Du hattest so herrliche lange Haare.«

»Ich werde darüber nachdenken«, versprach ich, »aber nicht jetzt.« In meinem Kopf überschlugen sich die Dinge, die ich vor meiner Abreise noch tun wollte. Dazu zählte jedoch ganz bestimmt nicht das Nachdenken über meine Frisur. »Ich melde mich bei dir von unterwegs.«

Als die Tür hinter den beiden zugefallen war, ging ich zum Schreibtisch und schaltete meinen Computer ein. Bis die Informationen von Michaela Mohr eintrafen, konnte ich mich schon einmal im Internet auf die Suche nach Philip Sanden machen. Das eine oder andere würde dort bestimmt über ihn stehen. Tatsächlich wurde ich ziemlich schnell fündig. Seine Kurzbiografie und eine Übersicht über sein künstlerisches Schaffen sollten zunächst einmal reichen, entschied ich und ließ mir beides ausdrucken.

Aus der Kurzbiografie erfuhr ich, dass Philip Sanden in Wiesbaden geboren wurde, in Düsseldorf zur Kunstakademie gegangen war und es ihn im Anschluss daran nach Wiesbaden zurückgezogen hatte. Es folgten Erfolge über Erfolge, ein fast kometenhafter Aufstieg, der offensichtlich durch keinerlei Rückschläge gebremst worden war. Der Dreiundsechzigjährige war verheiratet und hatte eine Tochter.

Inzwischen waren auch die Informationen von der Roberta eingetroffen. Der Abgabetermin für das Porträt war in zwei Wochen. Vom Umfang her würde das durchaus zu schaffen sein. Offenbar war über das Büro von Philip Sanden nicht nur der Interviewtermin zustande gekommen, man hatte von dort sogar gleich ein Zimmer in dem Hotel gebucht, in dem er selbst auch abgestiegen war. Schloss Rubein, las ich und dachte: Wie nobel. Ein ausgiebiger Blick in meinen Straßenatlas verriet mir, dass ich den kommenden Tag im Auto verbringen würde. Mit sieben bis acht Stunden würde ich bestimmt bis Meran rechnen müssen. Das war jedoch immer noch besser als die elf Stunden, die die Bahn laut Bahnhofsauskunft brauchte.

Während ich den Frühstückstisch abräumte, überlegte ich, was noch zu tun war. Es war gerade erst zwölf Uhr, vielleicht konnte ich mir am Nachmittag zur Einstimmung noch einige seiner Bilder ansehen. Auf halbem Weg in die Küche stellte ich das Geschirr auf meinem Schreibtisch ab und wählte die Nummer von Philip Sandens Büro.

»Atelier Philip Sanden – Frohwein«, meldete sich eine weibliche Stimme.

»Guten Tag«, begann ich. »Mein Name ist Ellen Bertram, ich bin bei der Roberta für das geplante Interview mit Herrn Sanden eingesprungen.«

»Ah, ja, stimmt, ich hatte auch einen anderen Namen in Erinnerung.« Dem Geräusch am anderen Ende der Leitung nach zu urteilen, blätterte sie in einem Kalender.

»Die Kollegin ist leider krank geworden«, klärte ich sie kurz auf.

»Ich werde es Herrn Sanden ausrichten. Frau Bertram, ist das richtig?« Ich versuchte, mir die Frau vorzustellen, deren Ton eine Mischung aus Geschäftsmäßigkeit und freundlichem Entgegenkommen verriet.

»Ja«, antwortete ich und holte gleichzeitig Luft, um mein eigentliches Anliegen loszuwerden, bevor sie wieder auflegte. »Wenn möglich, würde ich mir gerne heute Nachmittag noch ein paar Bilder von Herrn Sanden ansehen.«

»Das ist kein Problem. Am besten kommen Sie hier ins Atelier. Passt Ihnen fünfzehn Uhr?«

»Sehr gut.«

Sie gab mir die Adresse in Wiesbaden und eine kurze Wegbeschreibung. Das Haus könne ich gar nicht übersehen, es habe ein Glasdach. Als das Gespräch beendet war, legte ich zufrieden meine Beine auf den Schreibtisch: Das ließ sich ja alles sehr gut an.

2 – Als ich in …

Als ich in mein Auto stieg, traf mich fast der Hitzschlag. Der Wagen hatte in der prallen Sonne gestanden und war aufgeheizt wie ein Backofen. Da ich es immer noch nicht geschafft hatte, eine Klimaanlage einbauen zu lassen, klebten mir im Nu meine Sachen am Körper. Da nützte auch der Fahrtwind nichts, der durch die hinuntergedrehten Scheiben ins Auto wehte. Zum Glück hatte ich mich für einen weißen Anzug mit weiter Hose und einem ebensolchen Oberteil entschieden. So fühlte ich mich zwar verschwitzt, sah jedoch nicht so aus. Trotz der inzwischen dreißig Grad machte ich auf dem Weg nach Wiesbaden kurz bei meinem Computerladen halt, um mir für meinen Laptop ein Kabel zu besorgen, das in italienische Telefonsteckdosen passte. Während sich Lilly gern gegen alle möglichen Katastrophen wappnet, sind es bei mir die Eventualitäten meines Jobs, die mich ausreichend vorsorgen lassen.

Kurz vor drei hielt ich vor Philip Sandens Atelier, einem weißen Haus mit Erkern und einem zylindrischen Glasdach. So ungewöhnlich, wie es zwischen den anderen Villen auf diesem Hügel aussah, war es wirklich nicht zu übersehen. Die kleinen Ecktürmchen, die bei den umliegenden Häusern stilgetreu erhalten waren, hatten bei dem Haus, vor dem ich nun stand, offensichtlich dem Lichtbedürfnis des Malers weichen müssen. Links neben dem Eingang fand ich eine blank polierte Messingtafel mit Klingel und Namen des Hausbesitzers. Auf mein Läuten hin tat sich die schwere alte Holztür vor mir auf.

»Frau Bertram?«

Mir gegenüber stand eine Frau, die ich auf Anfang fünfzig schätzte. Ihrem aschblonden, kinnlangen Haar hatte sie einen modernen Zickzackscheitel verpasst. Kluge graublaue Augen, stellte ich fest, in einem ebenmäßigen, klassisch schönen Gesicht. Ihr Äußeres setzte nahtlos den stilvollen Rahmen des Hauses fort.

»Ja.« Ich streckte ihr meine Hand entgegen.

Ihr fester Händedruck entsprach ihrem sicheren Auftreten. »Constanze Frohwein«, stellte sie sich vor. »Ich bin die persönliche Assistentin von Philip Sanden. Kommen Sie bitte herein.«

Ich folgte ihr durch eine angenehm kühle, offene Halle mit Marmorfußboden zu einer eisgrauen Sitzgruppe. Auf einem niedrigen Tisch, der von drei großzügigen Sofas eingerahmt wurde, lagen verschiedene Kunstzeitschriften und Kataloge.

Sie bat mich Platz zu nehmen. »Möchten Sie etwas trinken?«

»Gerne. Bei der Hitze am liebsten Mineralwasser«, kam ich ihrer nächsten Frage unaufgefordert zuvor.

Während sie sich um die Getränke kümmerte, sah ich mich in Ruhe in dem riesigen Raum um. Die hohen Wände waren nur sehr spärlich, dafür jedoch umso wirkungsvoller bebildert. Ich nahm an, dass es sich um Kunstwerke des Hausherrn handelte. Mit meinem Laienblick konnte ich nichts anderes erkennen, als dass es sich um abstrakte Kunst handelte. Ich konnte die Bilder weder einordnen, noch traute ich mir eine Wertung zu. Sie sprachen mich jedoch in ihrer Farbintensität und offensichtlichen Dynamik sehr an. Es war, als würde der gesamte Raum von ihrer Energie gespeist.

Das unüberhörbare Klackklack der Absätze von Frau Frohwein ließ mich in ihre Richtung schauen. Sie kam quer durch die Halle mit einem Tablett zurück. Ich nutzte die Zeit, um meinen optischen Eindruck von ihr zu vertiefen. Die Farbe ihres überaus feminin geschnittenen, ärmellosen Kostüms erinnerte mich an Elfenbein und bildete einen gelungenen Kontrast zu ihrer sonnengebräunten Haut. Nachdem sie mir Wasser eingeschenkt hatte, setzte sie sich mir gegenüber.

»Ich habe Ihnen ein paar Unterlagen über das Werk von Philip Sanden zusammengestellt.« So selbstverständlich, wie sie seinen Namen aussprach, zählte sie zu jenen persönlichen Assistentinnen, die ihren Chefs auf gleicher Ebene gegenüberstehen und sie nicht auf ein Podest stellen. »Sie können sich das Material mitnehmen, wenn Sie wollen.« Dabei zeigte sie auf einen bemerkenswerten Stapel auf dem Tisch zwischen uns. Allem Anschein nach war bereits viel über ihn geschrieben worden.

»Ich würde es gern kurz sichten«, ging ich auf ihr Angebot ein. »In dem Porträt für die Roberta geht es jedoch eher um den Menschen Philip Sanden, weniger um den Künstler.«

»Glauben Sie, dass Sie das trennen können?« Sie sah mich schmunzelnd an. In ihrem Blick erkannte ich die Überzeugung, dass ich mich auf dem Holzweg befand, wenn ich die menschlichen Züge ihres Chefs wiedergeben wollte, ohne auf seine künstlerischen Anteile einzugehen. »Schließlich kommt er in seinen Bildern zum Ausdruck.«

»Menschen kommen vor allem in ihren Überzeugungen zum Ausdruck, in ihren Ängsten, Leidenschaften und Marotten, in ihrem Verhältnis zu ihrer Umwelt, im Umgang mit anderen Menschen.« Ich nahm den obersten Katalog vom Stapel, der anlässlich einer Ausstellung von Philip Sanden gedruckt worden war. »Natürlich ist er auch in seinen Bildern erkennbar«, fuhr ich unbeirrt fort, »aber bei der Interpretation lässt jeder Betrachter sich selbst einfließen. Und schon ist das Bild von dem Menschen dahinter verfälscht, es ist ein subjektives.«

Sie schien in Ruhe abzuwägen, was sie gerade gehört hatte, um dann schließlich in einem spöttischen Unterton zu kontern. »Und Sie trauen sich ein objektives Bild zu?«

Wie immer, wenn jemand meine Kompetenz infrage stellte, lehnte ich mich amüsiert lächelnd zurück. Ich kenne all die Tricks und Einschüchterungsversuche, die darauf abzielen, mich zu verunsichern. Nur funktioniert das bei mir nicht. Ich bin in einem so stabilen Gefüge aufgewachsen, dass es weit mehr als ein paar hochgezogene Brauen oder spöttische Untertöne braucht, um mein Selbstbewusstsein ins Wanken zu bringen. »Sonst hätte ich den Auftrag der Roberta nicht angenommen«, antwortete ich ihr gelassen.

»Na dann …«, sagte sie vage.

Ich hatte sie nicht überzeugt, das spürte ich, aber es störte mich nicht weiter. Eines der Credos meiner Eltern lautet, dass nur zählt, wovon man selbst überzeugt ist. Es sei nicht wichtig, andere zu überzeugen, außer man ist Politiker oder Missionar. Mit diesem Satz bin ich aufgewachsen, er hat mich davor bewahrt, jedes Mal in einer Verteidigungsstellung zu landen, wenn meine Fähigkeiten angezweifelt werden. Und das empfinde ich als ein wertvolles Geschenk. Es hilft, den Blick auf das Wesentliche zu lenken. Natürlich habe ich mir damit nicht nur Freunde gemacht, denn was in meinen Augen ein gesundes Selbstvertrauen ist, sehen manche Menschen als unangenehmen Größenwahn an. Oder einfach als unweiblich. In welcher Schublade ich bei Frau Frohwein landete, war noch nicht abzusehen. Ich hatte sie zwar nicht überzeugt, aber sie schien auch keine vorschnellen Schlüsse daraus zu ziehen. Und dafür erntete sie in meinem Brett einen Stein der Anerkennung.

Ich legte die Unterlagen zurück und bat sie um eine ausführliche Vita von Philip Sanden, ein paar ausgewählte Fotos seiner Bilder sowie um ein Porträtfoto von ihm. Während sie mir die beiden ersten Dinge umgehend aus einem kleinen Nebenzimmer holte, versprach sie, mir das Porträtfoto zu schicken, da sie vor ein paar Tagen neue Abzüge bestellt habe, diese jedoch noch nicht eingetroffen seien. Anschließend folgte ich ihr auf eine kurze Führung durch Galerie und Atelier. An die Halle grenzte ein weiterer großer Ausstellungsraum, in dem sich außer acht riesigen, farbstarken Ölbildern nur vier graue Sessel befanden, die zum Niederlassen und Verweilen einluden. Auch in diesem Raum spürte ich die Energie, die die Bilder ausströmten. Ich konnte nirgends ein Preisschild entdecken, also fragte ich sie danach.

»Die Bilder sollen unbeeinflusst wirken, der Preis muss zunächst einmal nebensächlich sein«, erklärte sie mir mit einer Mimik, aus der tiefe Überzeugung sprach.

»Und ist er tatsächlich eine Nebensache?«, fragte ich mit einem Hauch Ironie.

»Nicht immer«, gab sie lächelnd zu.

Nachdem sie mir für einige der Bilder die Preise genannt hatte, wunderte ich mich über ihre Definition einer Nebensache. Unter vierzigtausend Mark war hier nichts zu haben.

Im ersten Stock liefen wir über knarrendes Parkett durch drei miteinander verbundene Räume. Der puristische Stil setzte sich konsequent fort: Es gab nichts Überflüssiges, nur ausdrucksstarke Leinwand und ausgewählte Sitzgelegenheiten. Philip Sanden hatte offensichtlich weder Angst vor Größe noch vor leerem Raum. Er musste nichts sinnlos füllen. Ich spürte den interessierten Seitenblick von Constanze Frohwein.

»Beeindruckend«, antwortete ich bereitwillig auf ihre unausgesprochene Frage. Und damit meinte ich nicht nur die Bilder, sondern die gesamte Komposition.

Sie schien damit zufrieden und lotste mich eine weitere Treppe hinauf ins eigentliche Atelier, das in gleißendes Licht getaucht war. Von dem riesigen Raum unter dem Glaszylinder war offensichtlich noch ein separater Raum abgeteilt.

Frau Frohwein war meinem Blick gefolgt. »Das ist ein Privatraum.«

Zum Glück gab es hier oben eine perfekt funktionierende Klimaanlage. Neugierig sah ich mich um. Ich hatte ein Durcheinander von Staffelei, Farben, Pinseln und an die Wand gelehnten Bildern erwartet, einen Fußboden voller Farbkleckse und künstlerische Unordnung. Entweder war jedoch die Vorstellung, die ich im Kopf hatte, ein fürchterliches Klischee, oder aber das, was ich hier sah, war die Ausnahme. Der gesamte Raum strömte eine geordnete Ästhetik aus. Es gab mehrere Staffeleien mit unfertigen Bildern, ein dunkelbraunes Ledersofa und rundherum Bücherregale. Aber es gab nichts, was achtlos herumlag. Es fiel mir schwer, mir den Menschen vorzustellen, der hier Tag für Tag arbeitete. Mir fehlten die persönlichen Dinge, die wie Mosaiksteine Teile vom Ganzen sind. Und genau das machte mich neugierig. Ich hatte schon oft Räume betreten, die so lebhaft von ihren Bewohnern erzählten, dass ich diese fast nicht mehr hätte treffen müssen, um sie zu porträtieren. Bei Philip Sanden war das anders. Als ich genug gesehen hatte, ging ich langsam zur Treppe zurück.

»Vielen Dank, dass Sie sich die Zeit genommen haben.«

Constanze Frohwein ging mir voraus. »Das ist meine Aufgabe«, entgegnete sie schlicht. Mit einem weiteren festen Händedruck entließ sie mich in die flirrende Hitze. Sowenig das Haus mit überflüssigen Dingen gefüllt war, sowenig versuchte diese Frau, ein Gespräch mit überflüssigen Floskeln zu füllen oder zu beenden. Und das gefiel mir. Ich kann nicht sagen, dass sie mir auf Anhieb sympathisch war, aber ich fand sie interessant.

Glücklicherweise hatte ich mein Auto im Schatten geparkt, sodass mir auf der Rückfahrt die Sauna erspart blieb. Zurück in meiner Wohnung, stornierte ich zunächst das Hotel, das ich mir für meinen Urlaub ausgewählt hatte. Zwar stieß meine kurzfristige Absage dort verständlicherweise nicht auf Begeisterung, aber es war Hauptsaison, sodass mein Zimmer kaum länger als eine Nacht leer stehen würde. Für diese Nacht würde ich zahlen müssen, aber das war zu verschmerzen. Viel schwerer wog meine Enttäuschung über den versäumten Urlaub. Aber, so überlegte ich, vielleicht lässt sich der Auftrag in ein paar Tagen erledigen, sodass ich doch noch fahren kann.

Nachdem ich an diesem Abend den mehrseitigen Lebenslauf von Philip Sanden durchgeblättert hatte, entwarf ich einen ausführlichen Fragenkatalog, um seiner Person auf die Spur zu kommen. Dann packte ich schweren Herzens meinen Koffer wieder aus, da für die nächsten paar Tage eine kleine Tasche ausreichend war. Schließlich ging ich früh ins Bett, um am nächsten Tag in aller Herrgottsfrühe aufzubrechen. Als jedoch am anderen Morgen um halb fünf der Wecker klingelte, hätte ich meine eigene Entscheidung am liebsten wieder verworfen. Allein die Vorstellung einer mehrstündigen Fahrt in einem glühend heißen Auto brachte mich dazu, nach und nach meine Augen zu öffnen. Den Rest besorgte meine in ähnlichen Fällen erprobte Kombination aus heiß-kalten Wechselduschen und starkem Kaffee. Als ich eine halbe Stunde später auf die A3 Richtung Süden fuhr, war ich zumindest so wach, dass ich keine Verkehrsgefährdung mehr darstellte.

Und da mir größere Verkehrshindernisse erspart blieben, schaffte ich die Strecke bis Meran tatsächlich in acht Stunden. Von dort aus fragte ich mich erfolgreich nach Obermais durch. Michaela Mohr hatte recht gehabt, es war wirklich ein hübscher kleiner Ort. Auf der Suche nach Schloss Rubein fuhr ich durch enge Gassen, die während der Mittagszeit fast verlassen wirkten. Erst durch Nachfragen bei Passanten stellte ich fest, dass ich bereits zweimal am Schloss vorbeigefahren war. Es lag verborgen hinter einer hohen Steinmauer. Hierher konnten nur Absicht oder Zufall führen, denn außer einem dezenten Hinweis neben der Klingel wies nichts weiter auf das dahinterliegende Anwesen hin. Das schmiedeeiserne Tor war verschlossen. Auf mein Klingeln hin wurde ich über eine Sprechanlage freundlich nach meinen Wünschen gefragt. Einlass!, schrie es in mir, denn ich sehnte mich nach der langen Fahrt nach einer erfrischenden Dusche. Mein Name genügte, damit sich das elektrische Tor langsam öffnete. Zwischen hohen Hecken hindurch folgte ich der Auffahrt, bis sich mir der Blick auf ein wunderschön restauriertes mittelalterliches Schloss öffnete.

Hier residiert also Philip Sanden, überlegte ich gerade, als eine junge Frau zu mir ans Autofenster trat. Sie begrüßte mich in Südtiroler Dialekt, stellte sich als Maria vor und bat mich, ihr zu folgen, damit sie mir mein Zimmer zeigen konnte. Eine vorausschauende Seele hatte gleich zwei Übernachtungen für mich gebucht, denn Interview und Rückfahrt würden an einem Tag nicht zu schaffen sein. Ich nahm meine Tasche und folgte der dunkelhaarigen Frau durch einen wunderschönen Innenhof. Die Sonnenstrahlen, die das riesige Blätterdach eines Walnussbaumes durchbrachen, vollführten ein faszinierendes Spiel aus Licht und Schatten. Ich entdeckte herrlich blühende Pflanzen in ausladenden Kübeln, während mich das Geräusch eines plätschernden Brunnens an meine Sehnsucht nach einer Dusche erinnerte. Die junge Südtirolerin ging mir voraus eine Steintreppe hinauf und durch eine Galerie mit Wandmalereien und riesigen Bogenfenstern mit kleinen Facetten aus Bleiglas. Am Ende des Ganges hielt sie vor meinem Zimmer, beschrieb mir die Lage des Schwimmbads im Park ebenso wie die des Frühstückszimmers im Schloss und drückte mir zum Abschied den Sender fürs Tor sowie einen riesigen, mindestens fünfzehn Zentimeter langen Zimmerschlüssel in die Hand. Solche Schlüssel hatte ich bisher nur als Kind in meinen Märchenbüchern gesehen.

Ich öffnete die Tür, hinter der sich ein blau dominierter, antik eingerichteter Raum mit einem großen alten Kachelkamin verbarg. Wer auch immer die Stoffe für Gardinen, Stühle und Bett ausgesucht hatte, wollte eine anheimelnde Atmosphäre schaffen. Und das war gelungen. Obwohl ich selbst zum Einfarbigen tendiere, gefiel mir mein Zimmer auf Anhieb. Ich verstaute meine Sachen in einer knarrenden Intarsienkommode, deponierte meine Unterlagen samt Laptop auf dem geöffneten Sekretär neben dem Fenster, um dann endlich in der Dusche zu verschwinden. Für einige Augenblicke vergaß ich meinen Auftrag und gab mich einem wundervollen Gefühl von Urlaub hin. Gar nicht so übel, dachte ich versöhnt. Immerhin hatte ich noch den Rest dieses Tages, ich würde ihn in vollen Zügen genießen.

Zuallererst brauchte ich jedoch etwas zu essen, ich war völlig ausgehungert. Maria hatte mir erklärt, dass es in Schloss Rubein nur Frühstück gebe. Also machte ich mich auf Erkundungstour ins Dorf, wo ich unter freiem Himmel noch einen Platz in einer Pizzeria fand. Nachdem die Dusche das Ihrige getan hatte, weckte der Teller Nudeln, den ich bestellte, den Rest meiner Lebensgeister. Um mich herum saßen augenscheinlich Urlauber, deren beredten Blicken ich hin und wieder begegnete. Durch meinen Job bin ich oft unterwegs und daran gewöhnt, allein essen zu gehen. Ich stelle aber immer wieder fest, dass dies für viele Menschen nicht so selbstverständlich ist. Ich konnte die Reihenfolge ihrer Gedanken in ihren Gesichtern ablesen: Zuerst warteten sie gespannt, auf wen ich wartete. Wenn jedoch niemand auftauchte, erntete ich von den einen Mitleid, weil sie dachten, ich sei versetzt worden. Die anderen stellten Spekulationen über den Grund dieses einsamen Essens an.

Ich fühlte mich jedoch alles andere als einsam, sondern genoss diesen Moment des Luftholens, bevor ich am nächsten Tag meine volle Konzentration brauchen würde. Auf der Fahrt hatte ich mir noch einige Gedanken über das Interview gemacht. Es musste ganz besonders gut werden, damit es nicht mein einziges für die Roberta bliebe. Ich hoffte nur, dass der Mann, über den ich schreiben sollte, genügend Ausstrahlung besaß, um dem Porträt das nötige Leben einzuhauchen. Nicht zuletzt hing das Gelingen eines solchen Projektes aber auch von der Kooperationsbereitschaft des Gesprächspartners ab. Würde er meinen Fragen ausweichen, fehlte mir das »Futter«.

Aber diese Frage stellt sich erst morgen, holte ich mich in die Gegenwart zurück. Die letzten Stunden dieses Tages gehörten ganz allein mir. Nachdem ich gezahlt hatte, schlenderte ich zum Hotel zurück. Das Wetter war viel zu schön, um im Zimmer zu bleiben, deshalb beschloss ich, den Nachmittag am Schwimmbad zu verbringen. Auf dem Weg dorthin bekam ich einen kleinen Eindruck von dem riesigen Park, der Schloss Rubein umgab. Ein Eldorado für jeden Botaniker, dachte ich voller Bewunderung und wünschte mir gleichzeitig, die gewaltigen, uralten Bäume benennen zu können. In Erinnerung an meine laienhafte Annäherung an die Bilder von Philip Sanden fielen mir einmal mehr die Lücken in meiner Allgemeinbildung auf.

Der Weg unter den Bäumen entlang endete am Rand einer großen, gepflegten Rasenfläche. Überall um mich herum blühten Rosen in den unterschiedlichsten Farben und verströmten einen lieblichen Duft. Um das gegenüberliegende Schwimmbecken herum standen bequeme Liegen und ausladende Sonnenschirme. Bisher hatte ich noch keine anderen Gäste gesehen, kein Wunder, denn sie hatten die gleiche Idee gehabt wie ich und tummelten sich im Wasser. Eine Weile sah ich dem Treiben zu, um dann selbst schwimmen zu gehen. Ich ließ mich im Wasser treiben und genoss das Bergpanorama, das sich hinter dem Park auftat. Als ich später auf meiner Liege lag, lullten mich die Stimmen der anderen Gäste in einen Kurzschlaf, aus dem ich erst durch einen lauten Platscher aus Richtung des Schwimmbades wieder erwachte.

Einer der Gäste durchquerte das Becken in kräftigen Zügen. Er musste gekommen sein, während ich schlief, denn ich hatte ihn vorher nicht bemerkt. Als er aus dem Wasser stieg, konnte ich ihn genauer betrachten. Nicht schlecht für das Alter, dachte ich. Er war ungefähr Anfang fünfzig, hatte graues, kurz geschnittenes Haar und einen durchtrainierten Körper, um den ihn mancher Dreißigjährige beneidet hätte. Gepflegte Erscheinung, vermerkte ich automatisch, während ich gleichzeitig versuchte, ihn beruflich einzuordnen. Immobilienmakler? Investmentbanker? Architekt? Er konnte eigentlich alles sein, nur in einer Hinsicht war ich mir ganz sicher: Er war erfolgreich.