Die Autorin

Karine Tuil – Foto © JF Paga

KARINE TUIL, geboren 1972, Juristin und Autorin mehrerer gefeierter Romane, darunter Die Gierigen. Zuletzt erschien ihr vielbeachteter Roman Die Zeit der Ruhelosen, der in zahlreiche Sprachen übersetzt wurde.
Karine Tuil lebt mit ihrer Familie in Paris.

Das Buch

Sie sind brillant und erfolgreich, eine scheinbar perfekte Familie, doch schon bald werden die Abgründe offenbar: Jean und Claire Farel führen seit Jahren ein Doppelleben, und ihr Wunderkind Alexandre hat bereits einen Selbstmordversuch hinter sich. Der Preis des gesellschaftlichen Aufstiegs ist hoch, der Druck enorm.
Anlässlich einer Zeremonie zu Ehren Jeans im Elysée-Palast inszeniert sich die Familie ein letztes Mal als ideales Trio, danach trennen sich die Wege: Jean verführt die Praktikantin seines Senders, Claire fährt zu ihrem neuen Lebensgefährten, Alexandre treibt es auf eine Party, die im Exzess endet.
Am nächsten Morgen klingelt die Polizei bei den Farels, es liegt eine Anzeige wegen Vergewaltigung vor. In der Folge soll ein aufreibender Gerichtsprozess klären, was nach den Feierlichkeiten im Elysée an jenem Abend geschah.

Karine Tuil

Menschliche Dinge

Roman

Aus dem Französischen
von Maja Ueberle-Pfaff

Ullstein

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© Karine Tuil et Éditions Gallimard, Paris, 2019
© der deutschsprachigen Ausgabe 2020 by Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin
Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: Claudia Marquardt
Umschlaggestaltung: BÜRO JORGE SCHMIDT, München
Umschlagabbildung: © Jarek Puczel, Lovers (Split up), 2019
Autorenfoto: © JF Paga / Grasset
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ISBN: 978-3-8437-2276-6

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Widmung

Zum Gedenken an meinen Vater

Motto

Was suchst du? Halbautomatische? Pumpgun? Das da ist eine Beretta 92. Leicht zu bedienen. Oder du nimmst eine Glock 17, Generation 4, eine Neun-Millimeter mit ergonomischem Griff, stabil in der Handhabung, sie muss gut anliegen, Daumen da, der Abzug wird mit der Zeigefingerkuppe betätigt, Achtung, die Waffe muss eine Linie mit dem Arm bilden, man schießt mit gestreckten Armen, musst immer einplanen, dass der Schuss dich überrascht, jetzt nur noch das Magazin laden, wenn das getan ist, zielst du, und wenn du das Ziel genau im Visier hast, drückst du ab, und der Schuss löst sich. Wie sieht’s aus, willst du’s mal probieren? Siehst du den fetten Köter da? Nur zu, leg ihn um.

Titelblatt

Diffraktion

»Wer die Wahrheit über den Menschen sucht, muss sich seines Schmerzes bemächtigen.«
Georges Bernanos, Die Freude

1

Sex war unbestreitbar der wirksamste Brandbeschleuniger, löste das ultimative Inferno aus – Schluss mit der Maskerade: Das hatte Claire Farel verstanden, als sie mit neun Jahren den Zerfall ihrer Familie miterlebte, weil ihre Mutter der magnetischen Anziehungskraft eines Medizinprofessors verfallen war, den sie auf einem Kongress kennengelernt hatte; sie hatte es verstanden, als sie, schon im Beruf, zusah, wie Personen des öffentlichen Lebens in kürzester Zeit alles verloren, was sie sich über Jahre hinweg aufgebaut hatten: Position, Ruf, Familie – gesellschaftliche Strukturen, die nur unter großen Mühen und mit Zugeständnissen-Lügen-Versprechungen, der Dreieinigkeit der haltbaren Ehe, stabil geblieben waren, sie hatte erlebt, wie sich die klügsten Vertreter der politischen Klasse für lange Zeit, manchmal sogar für immer, ins Aus beförderten, für nichts als ein flüchtiges Abenteuer, das Ausagieren einer Fantasie, den unbezwingbaren Drang des sexuellen Begehrens – alles, sofort. Sie selbst war ungewollt mitten in einen der größten Skandale der US-amerikanischen Geschichte geraten, als sie mit dreiundzwanzig ein Praktikum im Weißen Haus absolvierte, zur gleichen Zeit wie Monica Lewinsky, die Frau, die sich dadurch einen Namen machte, dass sie die Karriere von Präsident Bill Clinton ins Wanken brachte – und wenn nicht Claire den Platz der rundlichen Brünetten eingenommen hatte, die der Präsident liebevoll »mein Mädchen« nannte, dann nur, weil sie nicht dem damaligen Schönheitsideal des Oval Office entsprach: Sie trug ihr blondes Haar zu einem Zopf geflochten, war mittelgroß, eher schmächtig und erschien immer im maskulin geschnittenen Hosenanzug – nicht sein Typ.


Sie fragte sich häufig, was wohl geschehen wäre, wenn der Präsident sie auserwählt hätte, die kopfgesteuerte und impulsive Frankoamerikanerin, die das Leben am liebsten durch den Filter ihrer Lektüre erkundete, und nicht die pummelige, dunkelhaarige Monica mit ihrem Raubtierlächeln, die kleine jüdische Prinzessin, die in den begüterten Wohngegenden Brentwood und Beverly Hills aufgewachsen war. Ja, sie wäre dem Eros der Macht erlegen, hätte sich wie eine Dilettantin verliebt und wäre von Sonderstaatsanwalt Kenneth Starr befragt worden, dem sie endlos immer dieselbe Geschichte hätte erzählen müssen, die dann der ganzen Welt Gesprächsstoff lieferte und in die vierhundertfünfundsiebzig Seiten des Berichts einfloss, der die Schleimer in den oberen Machtetagen in Angst und Schrecken versetzte und alle Neurosen eines Volkes zum Vorschein brachte, das aus Entrüstung und Apathie nach noch mehr Sitte und Moral rief, und sie wäre sicherlich niemals die respektable Intellektuelle geworden, die viele Jahre später eben diesem Bill Clinton anlässlich der Veröffentlichung seiner Memoiren bei einem Essen begegnete und ihn unverblümt fragte: »Mister Clinton, warum haben Sie sich für dieses demütigende Sündenbekenntnis hergegeben und sich vor Ihre Frau und Ihre Tochter gestellt, ohne auch nur ein Wort des Mitgefühls für Monica Lewinsky zu verlieren, deren Privatleben durch den Dreck gezogen wurde?« Clinton hatte die Frage mit einer Handbewegung vom Tisch gewischt und mit geheuchelter Distanziertheit zurückgefragt: »Und wer bitte sind Sie?« Er erinnerte sich nicht an sie, was ganz normal war, denn ihr Kontakt lag zwanzig Jahre zurück, und wenn er ihr, die man an ihrem präraffaelisch anmutenden rotblonden Haar leicht wiedererkannte, damals in den Fluren des Weißen Hauses begegnet war, hatte er nie das Wort an sie gerichtet – ein Präsident hatte keinen Grund, mit einer Praktikantin zu reden, es sei denn, er hatte Lust, sie zu ficken.


Es war einundzwanzig Jahre her, 1995, dass sie zu dritt das Weiße Haus betreten hatten, dank vorzüglicher Schulzeugnisse und zahlreicher Empfehlungen. Die erste, Monica Lewinsky, funkelte mit fünfundzwanzig für kurze Zeit meteoritengleich am internationalen Medienhimmel, wobei ihre einzigen Großtaten in einer Fellatio und einem erotischen Spiel mit einer Zigarre bestanden. Die zweite und jüngste, Huma Abedin, eine junge Frau pakistanisch-indischer Abstammung, deren Vater das Institut für Angelegenheiten muslimischer Minderheiten gegründet hatte, war Hillary Clintons Büro zugewiesen worden und im Lauf von gut zehn Jahren deren engste Mitarbeiterin geworden. Die First Lady verriet ihre große Zuneigung sogar durch einen Satz, den sie bei der Hochzeit ihres Schützlings mit dem demokratischen Kongressabgeordneten Anthony Weiner äußerte: »Hätte ich eine zweite Tochter, wäre es Huma.« Sie hatte Huma unterstützt, als der frischgebackene Ehemann ein Jahr später irrtümlich auf Twitter Fotos von sich selbst in anzüglichen Posen veröffentlichte, mit nacktem Oberkörper und deutlich ausgebeulter Unterhose, die mehr zeigte als verbarg. Sie war da gewesen, als der flatterhafte Ehemann erotische Textnachrichten an eine Minderjährige schickte, während er sich gleichzeitig um eine Nominierung für die Demokraten bei der Wahl zum Bürgermeister der Stadt New York bewarb. Einer der aussichtsreichsten jungen Politiker! Trotz warnender Stimmen, die Huma Abedins Entlassung forderten, weil sie Gift für ihre politische Karriere sei, hatte Hillary Clinton, zu jener Zeit demokratische Präsidentschaftskandidatin, an ihr festgehalten. Willkommen im Club der betrogenen, aber stets würdevollen Gattinnen, der Hohepriesterinnen des amerikanischen Pokerface: Lächelt, ihr werdet gefilmt.


Als Einzige aus dem ehrgeizigen Praktikantinnen-Trio war Claire Davis-Farel noch jedem Skandal aus dem Weg gegangen, Tochter des Juristen und Harvard-Professors Dan Davis und der Englisch-Übersetzerin Marie Coulier, einer Französin. Die Familienlegende besagte, dass ihre Eltern sich vor der Sorbonne begegnet waren und nach einer mehrmonatigen Fernbeziehung in den USA geheiratet hatten, in einem Vorort von Washington, wo sie anschließend ein ruhiges, eintöniges Leben führten. Marie hatte auf all ihre Träume von einem emanzipierten Dasein verzichtet, um sich ganz ihrer Tochter zu widmen, und war das geworden, was sie nie hatte werden wollen, eine Hausfrau, deren einzige Sorge darin bestand, die Pille nicht zu vergessen; sie hatte die Mutterschaft als Entfremdung erlebt, für so etwas war sie nicht geschaffen, sie war nicht urplötzlich von mütterlichen Gefühlen überwältigt worden, die Geburt hatte sie sogar in eine tiefe Depression gestürzt, und hätte ihr Mann ihr nicht ein paar Übersetzungsaufträge verschafft, hätte sie ihr Leben im Nebel von Antidepressiva beschlossen, sie hätte ein künstliches Lächeln aufgesetzt und aller Welt beteuert, ihr Leben sei fantastisch, sie sei als Mutter und Ehefrau wunschlos glücklich, und eines Tages hätte sie sich im Keller ihres kleinen Bungalows in Friendship Heights erhängt. Stattdessen hatte sie nach und nach wieder angefangen zu arbeiten und sich neun Jahre nach der Geburt ihrer Tochter Hals über Kopf in einen englischen Mediziner verliebt, für den sie bei einem Kongress in Paris übersetzte. Sie hatte Mann und Tochter praktisch über Nacht in einer Art Liebeswahn verlassen und war zu diesem Unbekannten nach London gezogen, doch nach acht Monaten, in denen sie ihre Tochter nur zwei Mal gesehen hatte, setzte der Mann sie vor die Tür mit dem Argument, sie sei »unerträglich und hysterisch«. Ende der Geschichte. Die nächsten dreißig Jahre versuchte sie zu rechtfertigen, was sie ihre »geistige Verwirrung« nannte; sie sei, erklärte sie, einem »perversen Narzissten« zum Opfer gefallen. Die Realität war nüchterner und weniger romantisch: Sie hatte eine sexuelle Leidenschaft erlebt, die keinen Bestand gehabt hatte.


Claire lebte bei ihrem Vater in Cambridge, Massachusetts, bis dieser in sehr kurzer Zeit an einem aggressiven Krebsleiden starb – da war sie gerade dreizehn. Danach zog sie zu ihrer Mutter nach Frankreich, in ein kleines Bergdorf in der Nähe von Grenoble. Marie arbeitete halbtags für französische Verlage und widmete sich fortan, um »die verlorene Zeit nachzuholen und ihren Fehler wettzumachen« mit verdächtiger Hingabe der Erziehung ihrer Tochter. Sie brachte ihr mehrere Sprachen bei, lehrte sie Literatur und Philosophie, und ohne sie wäre Claire womöglich nicht die bekannte Essayistin und Autorin geworden, deren viertes von sechs Büchern, Die Macht der Frauen, das sie mit vierunddreißig verfasste, die Kritik in Begeisterung versetzte. Claire studierte erst an der Pariser ENS, anschließend in New York an der Philosophischen Fakultät der Columbia University. Dort knüpfte sie Kontakt zu alten Bekannten ihres Vaters, die ihr halfen, das Praktikum im Weißen Haus zu ergattern. In dieser Zeit lernte sie in Washington bei gemeinsamen Freunden den berühmten französischen Politikjournalisten Jean Farel kennen, der ihr Ehemann werden sollte. Der siebenundzwanzig Jahre ältere Star des öffentlich-rechtlichen Fernsehens war frisch geschieden und stand auf dem Höhepunkt seines Medienruhms. Neben einer großen Politshow, die er moderierte und produzierte, führte er täglich zwischen 8 und 8 Uhr 20 ein Radiointerview – sechs Millionen Zuhörer, Morgen für Morgen. Ein paar Monate später verzichtete Claire auf eine Karriere in der amerikanischen Regierung, kehrte nach Frankreich zurück und heiratete ihn. Der charismatische Farel wirkte auf die ehrgeizige junge Frau, die sie damals war, geradezu unwiderstehlich, und er war noch dazu so ungeheuer bissig und schlagfertig, dass die eingeladenen Politiker über ihn sagten: »Wenn Farel dich interviewt, fühlst du dich wie ein Vögelchen in den Klauen eines Adlers.« Er katapultierte Claire in ein soziales und intellektuelles Milieu, zu dem sie in so jungen Jahren und ohne ein eigenes Netzwerk nie Zugang gefunden hätte. Er war ihr Ehemann, ihr Mentor, ihr treuester Unterstützer; seine gönnerhafte Dominanz, die durch ihren Altersunterschied verschärft wurde, hielt sie längere Zeit in einer unterlegenen Position, aber mittlerweile, mit dreiundvierzig, war sie entschlossen, ihr Leben nach eigenen Regeln zu führen. Über zwanzig Jahre hinweg hatten sie und Jean sich erfolgreich die geistige Übereinstimmung und gegenseitige Wertschätzung langjähriger Paare erhalten, die bewusst ihre Interessen auf ein gemeinsames Ziel richteten, als Schutzmaßnahme gegen eine feindselige Außenwelt, und gern beteuerten, dass sie die allerbesten Freunde seien. Eine höfliche Umschreibung der Tatsache, dass sie nicht mehr miteinander schliefen. Sie unterhielten sich stundenlang über Philosophie und Politik, zu zweit oder mit Freunden, die sie häufig zum Essen in ihrer großen Wohnung in der Avenue Georges-Mandel einluden. Was sie jedoch am stärksten verband, war ihr Sohn Alexandre. Der Einundzwanzigjährige studierte nach einem Abschluss an der École polytechnique an der Universität Stanford in Kalifornien weiter. Während seiner Abwesenheit, Anfang Oktober des Jahres 2015, verließ Claire abrupt ihren Mann: Ich habe jemanden kennengelernt.


Der Sex und sein destruktives Potenzial, der Sex und seine unbändige, tyrannische, unstillbare Triebkraft. Claire war ihm erlegen wie alle anderen, und sie riss praktisch über Nacht in furiosem Überschwang das Gebäude ein, das sie sich geduldig aufgebaut hatte – eine Familie, emotionale Sicherheit, eine stabile Verankerung –, für einen Mann ihres Alters namens Adam Wizman, der an einer jüdischen Schule im Département 93 Französisch unterrichtete und seit drei Jahren mit seiner Frau und den beiden Töchtern Noa und Mila, dreizehn und achtzehn, in Pavillons-sous-Bois wohnte, einer friedlichen kleinen Gemeinde in der Banlieue Seine-Saint-Denis. Er hatte Claire in seine Abschlussklasse eingeladen, und nach dem Gespräch, das in einem der Konferenzräume des Gymnasiums stattfand, gingen sie noch auf ein Glas in ein Café im Zentrum. Ihre Unterhaltung beschränkte sich auf die Formeln einer aufgesetzt höflichen Kameraderie, mit der man das Begehren zu tarnen glaubt, die aber in Wahrheit alles verrät: Beide blieben höchst gesittet an ihrem Platz, und dennoch wussten sie schon in dem Moment, als sie sich in dem leeren Bistro zusammen an einen Tisch setzten, dass sie sich wiedersehen würden, sie würden miteinander schlafen und in die Falle tappen. Als Adam sie in seinem alten mintgrünen Golf nach Hause fuhr, weil das reservierte Taxi nie aufgetaucht war, sagte er ihr, er wolle sie wiedersehen; und so verwandelte sich durch diese sporadische Affäre (sie trafen sich nur ein- bis zweimal im Monat, doch jede ihrer überwältigend intensiven Begegnungen stärkte aufs Neue die berauschende Überzeugung, dass sie sich »gefunden« hatten) die etwas rigide Intellektuelle, die an der ENS Paris Vorträge über Themen wie Die ontologische Grundlage des politischen Individualismus und Die unpersönliche Emotionalität des Fiktionalen hielt, in eine rettungslos verliebte Frau, deren Hauptbeschäftigung darin bestand, erotische SMS zu verfassen, ständig wiederkehrenden Tagträumen nachzuhängen und sich Rat zu holen, weil sie eine Antwort auf die für sie einzig wichtige Frage suchte: Kann man nach vierzig sein Leben noch einmal von vorn beginnen? Sie rief sich zur Vernunft: Arbeite und schiebe dein Privatleben beiseite. Leidenschaft, ja, gut, mit zwanzig, aber mit über vierzig? Du hast einen einundzwanzigjährigen Sohn, einen Beruf, durch den du im Licht der Öffentlichkeit stehst, ein zufriedenstellendes Leben. Ein erfülltes Leben. Du bist mit einem Mann verheiratet, der dir alle Freiheiten lässt und mit dem du stillschweigend einen Sartre-Beauvoir-Pakt geschlossen hast: Hier die notwendige Liebe, da Zufallslieben, hier der Ehepartner als Fixpunkt, da sexuelle Abenteuer, die dein Weltwissen erweitern. Du hast diese Freiheiten bisher nie genutzt, nicht, weil du an die Treue glaubst, nein, für die moralische Keule hattest du nie etwas übrig, sondern aus einer angeborenen Vorliebe für Ruhe und Frieden. Du hast dein Leben mit einem makellosen Sinn für Ordnung und Diplomatie geregelt. Du hattest größere Schwierigkeiten, beruflich Fuß zu fassen, als ein Mann, aber am Ende ist es dir gelungen, und du fühlst dich am rechten Platz. Du hast ein für alle Mal beschlossen, dich selbst zu akzeptieren und kein Opfer zu sein. Dein Mann ist oft weg, und wenn er da ist, umgibt er sich mit immer jüngeren Frauen, aber du weißt, dass er an dir hängt. Claire, die Frau, die den Medien gegenüber unentwegt auf ihre Unabhängigkeit pochte, unterwarf sich privat allen möglichen gesellschaftlichen Geboten: Begnüge dich mit dem, was du hast. Lass dich nicht auf gefährliche Abhängigkeiten, sexuelles Verlangen, erotische Trugbilder ein, sie werden dich brandmarken und schwächen. Dich ins Verderben reißen. Verzichte. Sie hatte lange gezögert, eine Trennung ins Auge zu fassen, plagte sich mit Schuldgefühlen, weil sie einen Mann verließ, der auf seinen Lebensabend zuging, wurde zurückgehalten von Gewohnheiten und dem Bedürfnis nach Sicherheit, von unsichtbaren Fäden: der Angst vor dem Unbekannten, ihren privaten Wertvorstellungen, einem gewissen Konformismus. Sie und ihr Mann gehörten zu den Power-Paaren, die die Mediengesellschaft bewunderte, doch in dem permanent neu austarierten Kräftespiel ihrer Ehe war unschwer erkennbar, wer wen beherrschte. Im Falle einer Scheidung würden sich ihre Freunde und Geschäftskontakte auf die Seite des einflussreicheren Jean schlagen. Sie selbst wäre isoliert, geächtet; die Zeitungen würden seltener und weniger positive Besprechungen ihrer Bücher abdrucken, dafür würde Jean mit indirektem Druck schon sorgen, er müsste nicht einmal zum Telefonhörer greifen, denn sein Netzwerk funktionierte von allein. Claire kannte die Verlockungen der Medienmacht, wusste, dass Omnipotenz Kriecherei nach sich zog, und sie kannte die Unfähigkeit mancher Menschen – nicht einmal unbedingt der Schwächsten –, dem standzuhalten. Und genau so war es gekommen. Allerdings war Claire fünf Jahre zuvor erkrankt, man hatte bei ihr Brustkrebs diagnostiziert. Als sie erfuhr, dass sie geheilt war, beschloss sie, mit einer Intensität zu leben, wie sie nur das Bewusstsein der eigenen Vergänglichkeit ermöglicht. Wandel durch eine Krise – typisch, voraussehbar, aber wahr. Verzichten? So schnell nicht.


»Eine Frau in deinem Alter und in deiner Lage« – sprich, eine Frau, die durch Krankheit geschwächt ist – »darf sich nicht in Gefahr bringen«, redete ihre Mutter ihr ins Gewissen, das unterstrich die Gesellschaft mit düsterer Autorität, das bestätigte sogar die Literatur, die unglücklich verheiratete Frauen in den Rang klassischer Heldinnen erhob, ruiniert und verzehrt von der Leidenschaft, manchmal sogar in den Selbstmord getrieben, das rief ihr die ganze soziale Landschaft vehement in Erinnerung, aber eine Frau wie Claire, die sich auf eine breite Lektüre stützen konnte, eine Frau, für die Autonomie und Freiheit Grundthemen ihrer Existenz und ihres beruflichen Erfolgs waren, eine Frau, die mit dem Tod konfrontiert worden war, gelangte dann doch schnell zu der Überzeugung, dass es keine größere Katastrophe gab als den Verzicht auf Leben und Liebe, und so packte sie eines Morgens die Koffer und ging, nachdem sie auf den Esstisch eine Ansichtskarte mit einer Gebirgslandschaft gelegt hatte, auf deren Rückseite sie Worte schrieb, deren Banalität von Eile und Aufbruchsstimmung zeugten, von dem Wunsch nach einem schnellen Abgang, einem letzten Dolchstoß, einem Schlachtopfer ohne Betäubung, hart und scharf, wie bei einem Tier: Es ist vorbei.

2

Durchhalten – so lautete das Verb, das die ganze Lebenseinstellung von Jean Farel auf den Punkt brachte: bei seiner Frau bleiben, sich die Gesundheit erhalten, lange leben, aus dem Sender so spät wie möglich ausscheiden. Mit siebzig Jahren, zehn davon als TV-Ikone, sah er die jungen Ehrgeizlinge mit der Aggressivität alter Raubtiere herandrängen, die unter ihrer Maske der Ausdruckslosigkeit nichts von ihrem Kampfgeist verloren hatten. An seinem Körper registrierte er die ersten Anzeichen von Schwäche, aber er hatte sich die mentale Stärke eines Athleten bewahrt, und dazu einen beweglichen Verstand, der mit genauso viel Härte zum Angriff überging wie seine jüngeren Gesprächspartner, die, weil sie Jeans Kraftreserven unterschätzten, sehr schnell an die Grenzen ihrer intellektuellen Fähigkeiten und ihrer Arroganz gerieten. »Ich habe gute Gene«, antwortete er bescheiden, wenn jemand ihn nach dem Geheimnis seiner Kondition fragte. Jeden Vormittag kam ein Personal Trainer ins Haus, den er sich mit einem berühmten französischen Schlagerstar teilte. Außerdem kümmerte sich ein Ernährungsberater, dem die Pariser Prominenz zu Füßen lag, um sein Wohlbefinden. Jean wog seine Nahrungsmittel ab, gestattete sich keinen Ausrutscher und verkehrte regelmäßig in zwei, drei ausgewählten Restaurants, in denen sich die Medienprominenz drängte. Das Geheimnis seiner schlanken Figur? Er hatte es einmal in der Zeitung gelüftet: »Ich versäume keine Gelegenheit, eine Mahlzeit auszulassen.« Jedes Jahr zog er sich unauffällig in eine Schönheitsklinik zurück, die nur wenige Meter von seinem Arbeitsplatz entfernt im 8. Arrondissement, in der Rue de Ponthieu, lag. Er hatte bereits am Hals und am Bauch eine Fettabsaugung vornehmen und sich die Augenlider korrigieren lassen, das Gesicht war leicht geliftet, er hatte Laserbehandlungen und Hyaluronspritzen bekommen – Botox nie, weil dadurch die Gesichtsmuskulatur starr wurde und man hinterher wie eine Wachspuppe aussah. Er wollte natürlich aussehen. Darüber hinaus hielt er sich drei Wochen im Jahr in den Bergen auf, eine im Winter und zwei im Sommer, wo er unter der Aufsicht eines Kardiologen und eines Heilpraktikers strenge Diät hielt und sich den Freuden des Bergsteigens und Wanderns widmete. Danach hatte er die Herzfrequenz eines Teenagers. Auf das Schwimmen verzichtete er mittlerweile, seine Mitgliedschaft im Ritz Club hatte er gekündigt und ließ sich damit die Gelegenheit entgehen, sich am Indoor-Pool an bildhübsche Schauspielerinnen heranzumachen. Angesichts des kalten Windes der Sittenstrenge, der neuerdings durch die Welt der Politik und der Medien wehte, schien größere Vorsicht geboten. Im Wettbewerb der Denunziation, den die sozialen Netzwerke angezettelt hatten, setzte er auf die Karte der Diskretion und Mäßigung.


Dreimal im Jahr konsultierte er seinen Hausarzt und ließ seine Laborwerte überprüfen. Er konnte das genaue Ergebnis der Blutsenkung herunterbeten, den CRP-Wert und den GOT-Wert nennen und kannte alle erdenklichen Tumormarker, besonders seit bei Claire Brustkrebs festgestellt worden war. »Ich bin eben ein Hypochonder«, behauptete er zu seiner Rechtfertigung. Er wollte unbedingt weitermachen, beim Sender bleiben. Immer zu Sommerbeginn ließ er sich von einem bekannten Fotografen für das Cover von Paris Match ablichten – ein jährliches Ritual, das ihm Publicity, die Bewunderung der großen Masse und die Gunst des Senders einbrachte. Man sah ihn stets beim Ausüben einer sportlichen Aktivität – Fahrradfahren, Joggen, Nordic Walking –, und die Botschaft lautete: Seht mich an, ich bin immer noch energiegeladen. Dieses Jahr hatte er sich bereit erklärt, an der Spielshow Fort Boyard teilzunehmen, damit die Fernsehzuschauer sich von seiner hervorragenden körperlichen Leistungsfähigkeit überzeugen konnten.


Um seinen Beruf, den er »meine Passion« nannte, kreiste sein gesamtes Dasein. Politik und Journalismus waren die Triebfedern seiner Existenz. Er, der mit nichts angefangen hatte, ohne Abschluss, ohne Beziehungen, hatte nach und nach alle Sprossen der Erfolgsleiter erklommen. Mit zwanzig hatte er als einfacher Praktikant beim ORTF angefangen, zehn Jahre später war er Nachrichtenmoderator im Ersten. Nach einem längeren Zwischenspiel als Programmdirektor eines großen überregionalen Radiosenders kehrte er zum öffentlich-rechtlichen Fernsehen zurück und moderierte erst zehn Jahre lang die Nachrichten, dann übernahm er im Rundfunk eine Morgensendung. Seine zupackenden, bissigen, fundierten, anspruchsvollen und gründlich recherchierten Interviews brachten ihm schnell den Ruf eines wendigen Kampfhahns ein. In dieser Zeit erfand er auch die Politshow Grand Oral mit jeweils einem Politiker, den Farel interviewte, aber nicht nur er, sondern auch Schriftsteller, Schauspieler und andere Vertreter des kulturellen Lebens, die sich durch furchtlose Unangepasstheit hervorgetan hatten. In jeder Sendung wurde polemisiert, immer kam es zu einer Viertelstunde gewollter Konfrontation mit gegenseitigen Beschimpfungen und der Androhung einer Verleumdungsklage, und tags darauf berichteten die wichtigsten Medien und sozialen Netzwerke darüber. Lange moderierte er die Sendung live, aber mit siebenundsechzig erlitt er zu Hause einen leichten Schlaganfall und konnte vorübergehend nicht sprechen. Ein Vorfall von nur wenigen Sekunden, es blieben keinerlei Langzeitschäden zurück, und er behielt die Sache für sich, um seine Karriere nicht zu gefährden, aber nun bestand er auf einer Aufzeichnung der Sendung, offiziell aus Gründen der Gestaltungsfreiheit und Bequemlichkeit, in Wahrheit, weil ihn die Vorstellung, den nächsten Schlaganfall vor laufender Kamera zu haben und eine Bilderbuchkarriere auf YouTube zu beenden, maßlos entsetzte. Er hatte nicht die geringste Absicht, sich vom Sender zu verabschieden oder aufzugeben, was ihm die Kraft zum Weiterleben verlieh: sein leidenschaftliches Interesse an Politik, den Adrenalinkick bei seinen Fernsehauftritten, seine Popularität und seine Privilegien – und die Macht, das Gefühl von Überlegenheit und Bedeutung, das die hohen Einschaltquoten und sein Bekanntheitsgrad ihm verschafften.


Die narzisstische Aufladung, die manische Beschäftigung mit dem Image, mit der Kontrolle: Jean Farel war vom Bildschirm nicht wegzudenken, und nun lauerte er jeden Morgen vor dem Spiegel auf Anzeichen des vorprogrammierten Verfalls. Dabei fühlte er sich nicht alt. Seine Verführungskünste – denn er wollte immer noch gefallen – setzte er allerdings nur noch bei Essensverabredungen mit Kolleginnen ein, vorzugsweise unter vierzig, oder mit Debütantinnen der Literaturszene, die er jeden Herbst in der Presse aufspürte. Er schrieb ihnen enthusiastische Briefe: Ihr erster Roman gehört mit zum Besten, was die Gegenwartsliteratur zu bieten hat. Sie antworteten immer, und er umgarnte und hofierte sie, schlug vor, sich zum Essen zu treffen, in einem Restaurant, wo man sah und gesehen wurde. Dass sich eine TV-Legende mit ihnen unterhalten wollte, schmeichelte den Frauen, und Jean hatte tausend aufregende Anekdoten auf Lager. Ihre Blicke gaben ihm die Gewissheit, dass er noch lebendig war, weiter ging die Sache nicht, und alle waren zufrieden.

In den Räumen des Senders wimmelte es geradezu von Frischfleisch: Journalistinnen, Praktikantinnen, Besucherinnen, Redakteurinnen, Moderatorinnen, Rezeptionistinnen. Manchmal ertappte er sich dabei, wie er davon träumte, mit einer von ihnen noch einmal von vorn zu beginnen, ihr ein Kind zu machen. Viele Frauen waren nur allzu gern bereit, ihre Jugend gegen materielle Sicherheit einzutauschen. Er wäre ihr Türöffner in die Welt der Medien, mit ihm hätten sie zehn Jahre Vorsprung vor der Konkurrenz, während er sich an ihrer Seite um Jahre verjüngen und eine neue, vitale Sexualität erleben könnte. Er wusste das alles sehr genau, aber er brachte es nicht fertig, seine Schattenfrau zu verlassen, die Zeitungsjournalistin Françoise Merle, die in den 1960er-Jahren für ihre herausragende Reportage Die Vergessenen von Palacio den Albert-Londres-Preis erhalten hatte. Sie hatte als Journalistin im Ressort Stars & Society bei einer Tageszeitung angefangen, war dann in rascher Folge Reporterin, Chefredakteurin, stellvertretende Redaktionsleiterin und Redaktionsleiterin geworden und erst bei der Wahl zur Chefredakteurin gescheitert. Heute nannte sie sich Redaktionsberaterin, eine abstruse Berufsbezeichnung, die das eigentliche Thema verschwieg, das sie seit zwei Jahren verfolgte: Man hatte sie aufs Abstellgleis gedrängt und damit inoffiziell ihren Rückzug in den Ruhestand angekündigt, eine furchtbare Situation, die dazu geführt hatte, dass sie unter Depressionen litt und Psychopharmaka schluckte, um die Schmach zu ertragen, in Richtung Ausgang geschoben zu werden, obwohl sie sich immer noch tatkräftig und kompetent fühlte.


Jean war Françoise Merle drei Jahre nach der Geburt seines Sohnes Alexandre begegnet, in den Räumen der von ihm gegründeten Vereinigung »Ambitionen für alle«, in der sich Journalisten zusammenschlossen, die Schülern aus unterprivilegierten Familien bei ihren Bewerbungen für Journalistenschulen halfen. Françoise war eine schöne, kultivierte, großzügige Frau, mit der er seit fast achtzehn Jahren ein Doppelleben führte. Er hatte ihr geschworen, eines Tages würden sie als Paar zusammenleben, inzwischen war sie darüber achtundsechzig geworden. Sie hatte nie geheiratet, keine Kinder bekommen und tatsächlich auf ihn gewartet, aber er hatte nicht den Mut gehabt, sich scheiden zu lassen, weniger aus Liebe zu seiner Frau – sein Interesse an Claire beschränkte sich schon lange auf das Familiäre – als aus dem Wunsch heraus, seinen Sohn vor Schaden zu bewahren, ihm einen stabilen, sicheren häuslichen Rahmen zu bieten. Alexandre war ein ungewöhnlich frühreifes Kind gewesen, er war zu einem hochintelligenten jungen Mann und hervorragenden Sportler herangewachsen, aber im Privatleben wirkte er auf Jean immer noch recht unerfahren.

Alexandre war vor Kurzem nach Paris gekommen, um im Élysée-Palast an einer Ordensverleihung zur Würdigung seines Vaters teilzunehmen – Jean sollte zum Großoffizier der Ehrenlegion ernannt werden. Seit Claires Auszug hatte Jean seinen Sohn nur ein einziges Mal gesehen. Dabei hatte er Alexandre versichert, das letzte Wort sei noch nicht gesprochen, solange die Trennung nicht offiziell bekannt gegeben worden war. Insgeheim hoffte er, seine Frau werde wieder in die eheliche Wohnung zurückkehren, sobald sie ihre neue Beziehung leid war, die sich in den Niederungen des Alltags gewiss bald abnutzte. Deshalb hatte er auch Françoise nichts davon erzählt. Sie hätte bestimmt die Chance gewittert, ihn zu einer Bindung zu nötigen, die er nicht mehr wollte. Er liebte sie, er war so eng mit ihr verbunden, dass er sich nicht von ihr lösen konnte, ohne sich selbst zu verletzen, aber er wusste mit schuldbewusster Gewissheit, dass ihre Zeit vorüber war. Sie war fast genauso alt wie er, er konnte sich mit ihr nicht zeigen, ohne sein gesellschaftliches Image zu beschädigen. Sie würde ihm den Todesstoß versetzen – er wäre mit einem Schlag alt. Seine Frau flößte Intellektuellen Respekt und Bewunderung ein, ihm dagegen wurden häufig Opportunismus und Demagogie vorgeworfen. Claire war eine Trumpfkarte, er hatte sich immer gern mit seiner Familie fotografieren lassen und sich der Öffentlichkeit als treuer Ehemann, fürsorglicher Vater, häuslicher Mensch und Bewunderer der Arbeit seiner jungen Frau präsentiert, und Claire hatte das Spiel mitgespielt, weil sie wusste, wie positiv sich eine sorgfältig orchestrierte Medieninszenierung auf ihre eigene Karriere auswirken würde. Françoise entdeckte solche Artikel dann in der Presse, vergaß in ihren Anfällen von Verzweiflung die Rolle, die ihre amouröse Dreieckskomödie erforderte, und erklärte, sie ertrüge den Platz nicht mehr, den er ihr zugewiesen hatte: Fahr zur Hölle!, schrie sie ihn in solchen Momenten an. Du suchst eine Mutter und keine Frau, geh zum Psychiater! Und lief türenknallend aus dem Zimmer. Das war natürlich armselig. Und es kam immer häufiger vor …

Seine Mutter war tabu. Anita Farel, Exprostituierte und Junkie, hatte von drei verschiedenen Vätern vier Söhne, die sie in der Gegend von Montmartre großzog. Jean hatte sie eines Nachmittags, als er aus der Schule kam, tot in der Wohnung gefunden. Er war neun Jahre alt. Von da an übernahm das Jugendamt die Betreuung der Brüder. Damals hieß Jean noch John, Spitzname Johnny, als Hommage an John Wayne, für dessen Filme seine Mutter schwärmte. Ein Ehepaar aus der Pariser Vorstadt Gentilly nahm ihn und seinen kleinen Bruder Léo bei sich auf und adoptierte sie. Der mittlerweile einundsechzigjährige Léo, von Beruf Boxer, war Jeans engster Vertrauter, der Mann fürs Grobe, der im Hintergrund all die Kleinigkeiten regelte, mit denen sich Jean in seiner Position die Hände nicht schmutzig machen konnte. In der Pflegefamilie kümmerte sich die Ehefrau um die Kinder, der Mann arbeitete als Sporttrainer. Die beiden liebten die Brüder, als wären sie ihre leiblichen Kinder. John studierte nicht, sondern kletterte ganz allein die Leitern des Erfolgs empor, denn es war eine Zeit, in der man als Autodidakt mit Dreistigkeit und Ehrgeiz noch vorankam. Als ihn der Rundfunk einstellte, legte er sich eine neue Identität zu und französisierte seinen Vornamen, weil ihm Jean eleganter und gutbürgerlicher vorkam. Über seine Vergangenheit sprach er so gut wie nie. Einmal im Jahr, zu Weihnachten, lud er seine Adoptiveltern, seinen Bruder Léo und die beiden anderen Brüder Gilbert und Paulo, die in einer Bauernfamilie im Gard aufgewachsen waren, zu sich ein. Das musste genügen.


Jean hatte mit zweiunddreißig zum ersten Mal geheiratet, die Tochter eines Industriellen, aber die Ehe hatte nur wenige Jahre gehalten, und seine zweite Ehe war von seiner zweiten Frau beendet worden. Claire, die er etwas später kennenlernte, war zwar noch sehr jung, aber viel reifer als andere Frauen ihres Alters, und sie war schnell schwanger geworden. Er hatte ihr eine Zeitlang vorgeworfen, ihm »hinterrücks« ein Kind angedreht zu haben, doch dann beglückte ihn die Weitergabe seiner Gene auf unerwartete Weise: Er sah sein Kind und liebte es. Er war entzückt von diesem Jungen mit dem goldblonden Haar und den blauen Augen, von seiner makellosen Schönheit, von dem Sohn, der ihm, dem dunkelhaarigen Vater mit den schwarzen Augen, so wenig ähnelte. Wenn er ihn heute betrachtete, wusste er, dass er mit seinem Entschluss, der emotionalen Stabilität seines Sohnes Vorrang zu geben, die richtige Entscheidung getroffen hatte. Alexandre übertraf all seine Erwartungen. Jedem, der es hören wollte, erzählte Jean stolz, dass er, als Autodidakt, einen Eliteschüler gezeugt hatte. Gab es etwas Befriedigenderes im Leben? Sein Sohn sei »seine größte Leistung«, verkündete er gern. Eine recht vermessene Behauptung aus dem Mund eines Mannes, der in seinem Berufsleben sämtliche Trophäen eingeheimst hatte und dessen erklärtes Lebensziel die immerwährende Medienpräsenz war. Er galt als egozentrisch, eitel, impulsiv, streitsüchtig, aufbrausend – seine Wutanfälle waren berüchtigt –, aber auch als energisch und kämpferisch, ein Arbeitstier, dem seine Karriere über alles ging. Nachdem Claire nun fort war, konnte er sich ihr voll und ganz widmen. Immerhin ein kleiner Trost.


Doch sein Alter brachte es mit sich, dass er trotz guter Einschaltquoten allmählich in die Turbulenzzone geriet und sich mit aller Macht an seinen begehrten Schleudersitz klammerte. Er übernachtete häufig im Sender, wo er sich mehrere Räume als Privatwohnung eingerichtet hatte; es gab ein Schlafzimmer, einen Ankleideraum, ein Arbeitszimmer mit einer Sitzecke und einer Küchenzeile. An jenem Morgen war Françoise bei ihm, sie war am Vorabend gegen zehn Uhr gekommen, begleitet von dem großen Hund, den Jean ihr acht Jahre zuvor geschenkt hatte, einem aristokratischen, sanftmütigen, stoischen Tier, das sie Claude getauft hatten. Jean hörte, wie Françoise im Nebenzimmer umherging, sie verfolgte im Radio die Morgensendung einer verhassten jungen Konkurrentin. Er radelte gerade auf seinem Heimtrainer, als sie ins Zimmer trat, noch im blauseidenen Nachthemd und ungeschminkt. Sie war eine hübsche Frau mit kurzem blonden Haar, deren energischer Gang auf den ersten Blick ihre außerordentliche geistige Wachheit verriet.

»Ich muss los«, sagte sie, während sie ihre Sachen zusammensuchte, den riesigen Hund auf den Fersen.

Die Redaktionssitzung begann um 7 Uhr 30, sie war aber immer schon eine Stunde früher da. Jean dagegen ging erst um 8 Uhr mit seinem täglichen Interview auf Sendung.

Jean stieg vom Heimtrainer und wischte sich das Gesicht mit einem weißen Handtuch ab, auf das seine Initialen gestickt waren.

»Warte, ich mach dir einen Kaffee.«

Er zog sie in die kleine Küche, der Hund trottete hinterher. Sie setzte sich an die Kücheninsel, während er für sie eine George-Bush-Tasse füllte – er besaß eine ganze Kollektion origineller Becher.

»Ich muss wirklich gehen, ich bin knapp dran.«

»Bleib sitzen! Die Zeit muss sein, ich habe heute Morgen auch ein Interview.«

»Ja, aber du hast gestern schon alles vorbereitet, du überlässt nichts dem Zufall, ich kenne dich.«

»Nur noch zwei Minuten.«

Um seinen Worten Nachdruck zu verleihen, drückte er sie sachte auf den Barhocker zurück und ergriff ihre Hand.

»Du bist also doch wie ich«, sagte er augenzwinkernd, »du kannst nie loslassen.«

Er setzte sich zu ihr und schenkte sich einen Kaffee ein.

»Ich liebe meinen Beruf«, antwortete sie. »Der Journalismus ist ein wesentlicher Teil von mir.«

»Ich habe auch nie aufgehört, diesen Beruf zu lieben.«

»Aber du bemühst dich nicht um den Respekt deiner Kollegen, du willst vom Publikum geliebt werden, das ist der Unterschied zwischen uns beiden.«

»Von Millionen Menschen geliebt zu werden, bringt eine enorme Verantwortung mit sich, verstehst du.«

»Es bedeutet auch eine gewaltige Verantwortung, von Millionen Menschen gelesen zu werden.«

»Ja, aber die Leser beurteilen hauptsächlich deine Arbeit. In meinem Fall ist das anders, sie sehen mich auf dem Bildschirm, ich bin ein Teil ihres Alltags, es entsteht eine gefühlsmäßige Verbindung, ich gehöre ein bisschen zu ihrer Familie.«

Er neigte sich vor und strich ihr über die Wange. Ihre Haut war schlaff und von Fältchen durchzogen. Auch wenn sie durchaus auf ihr Äußeres achtete, widersetzte sie sich dem Diktat der Jugendlichkeit und ließ sich die Spuren des Alters nicht wegretuschieren.

»Kommst du heute Abend? Bitte …«

Sie fuhr abrupt zurück und entzog sich Jeans Zärtlichkeiten.

»Damit ich zusehen kann, wie du unter Applaus deinen Orden in Empfang nimmst? Nein, du solltest inzwischen wissen, dass ich mich von solchem Flitterkram nicht beeindrucken lasse.«

»Ja, ja, du bist integer, du hast eine saubere Weste!« Dann fuhr er weicher fort: »Wenn du nicht kommst, hat das alles keinen Sinn für mich … Mein Sohn wird da sein. Er ist extra meinetwegen angereist …«

Françoise stand auf.

»Ich habe wirklich keine Lust, mir die Lobgesänge auf deine Frau anzuhören, ohne die du niemals so weit gekommen wärst, und ihr Gesicht zu sehen, wenn der Präsident ihr vor ganz Paris einen Strauß Rosen überreicht.«

Sie hatte recht: Claire hatte ihr Kommen zugesagt, um ihn nicht bloßzustellen.

»Meine Ehe ist nur noch ein soziales Aushängeschild, und das weißt du.«

»Ja, aber du trennst dich nicht davon.«

Er zögerte kurz. Jetzt könnte er ihr erzählen, dass Claire ihn verlassen hatte. Dass sie seit drei Monaten mit einem anderen Mann zusammenlebte, einem Juden. Doch dann müsste er auch zugeben, dass er hoffte, Claire würde zu ihm zurückkommen.

»Ich will meinem Sohn nicht wehtun, wo er doch gerade eine so wichtige Lebensphase durchläuft und noch so verletzlich ist.«

Er stand ebenfalls auf, trat auf sie zu und küsste sie zärtlich.

»Ich liebe dich.« Er drückte sie an sich.

»Heute bin ich nach der Sendung mit Ballard verabredet, dem neuen Programmdirektor«, sagte er, während Françoise aufs Schlafzimmer zuging.

Er folgte ihr, und in seinem Bedürfnis, Françoise körperlich nahe zu sein, offenbarte sich ihre große Vertrautheit.

»Es wird schon gutgehen.«

Jean setzte sich auf die Bettkante und sah zu, wie Françoise anmutig ihr Nachthemd abstreifte und eine schwarze Hose und einen leuchtend blauen Pullover überzog.

»Wenn du meine Sendung nicht magst, dann magst du auch mich nicht, oder? Und dieser neue Direktor mag mich nicht. Er findet mich zu alt, so sieht die Realität aus. Er denkt: ›Der Alte klammert, der Alte will nicht loslassen.‹ Das ist echt brutal.«

»Angesichts der Nachrichten aus aller Welt würde ich Brutalität etwas anders definieren.«

Françoise zog die Augenbrauen zusammen und schüttelte ungehalten den Kopf. »Doch, ich kann es mir vorstellen. In gewisser Weise bedeutet Journalismus, mit Druck umgehen zu können. Ich muss mich auch mit Beschwerden von Leuten herumschlagen, denen bestimmte Artikel nicht passen oder die sich durch die leiseste Kritik diffamiert fühlen, mit Politikern, die anrufen oder ihre Lakaien anrufen lassen, mit aufgebrachten Zuschriften von Lesern, die mit der Kündigung ihres Abos drohen, mit bockigen Journalisten, mit Männern, die keine Frau als Chefin ertragen, mit Kollegen, die auf meinen Posten scharf sind … Von der Macht der sozialen Netzwerke ganz zu schweigen. Heute muss ein guter Journalist mindestens zwanzigtausend Abonnenten auf Twitter haben, also muss man einen großen Teil des Tages darauf verwenden, auch wenn man das, wie ich, für Zeitverschwendung hält. Für die junge Generation verkörpere ich den Journalismus von Oma, sie haben keine einzige meiner Reportagen gelesen, sie betrachten mich als Relikt der Vergangenheit. Jenseits der fünfzig sind Frauen unsichtbar, so ist es nun mal, ich bin deswegen nicht verbittert.«

»Ich sehe einfach nur klar: Eines Tages wirst du mich wegen einer anderen Frau verlassen, sie wird viel jünger sein, und sie wirst du heiraten.«

Sie hing ihren Gedanken nach und hörte nicht zu.

»Warum sollte ich den Sender verlassen?«, fragte er, in seine Gewohnheit verfallend, alles auf sich zu beziehen. »Ein Jahr vor der Präsidentenwahl? Ich war noch nie so gut wie heute, so offensiv, so frei.«

»So frei, bist du dir da sicher? Bei jeder Kabinettsumbildung, bei jeder Wahl setzt du all deine Energien ein, um der neuen Regierung zu gefallen.«

»Welches Kräfteverhältnis? Sie mischen sich nicht in den Inhalt unserer Zeitung ein. Was glaubst du denn? Dass eine Redaktion mit über vierhundert Journalisten wie ein Hund Männchen macht?«


Schweigen Sie, denn wenn Sie reden, spielen Sie den Faschisten in die Hände.

»Ich hatte ganz vergessen, dass ich in eine islamophile Linke verliebt bin«, sagte Jean mit einem Grinsen.

Claude fing an zu bellen und umkreiste sie unruhig.

»Im Gegenteil, man muss darüber reden! Ich empfange heute in meiner Sendung den Innenminister, mein Team hat gerade eine Reportage gemacht, die beweist, dass die Stadtverwaltung von Köln versucht hat, die Angelegenheit unter den Teppich zu kehren. Das gibt mir die Möglichkeit, auf die Stellung des Islams in Europa zu sprechen zu kommen.«

»Es gibt so viele, die auf meinen Posten aus sind.«

»Mehr als du glaubst.«

Jean lachte. »Zu allem.«