Jean G. Goodhind

Mord zur Geisterstunde

Honey Driver ermittelt

Kriminalroman

Aus dem Englischen von Ulrike Seeberger

 

Aufbau-Verlag

Impressum

Die Originalausgabe unter dem Titel

»Walking with ghosts« erschien 2009

bei Severn House Publishing Ltd., Sutton, Surrey.

 

ISBN E-Pub 978-3-8412-0153-9

ISBN PDF 978-3-8412-2153-7

ISBN Printausgabe 978-3-7466-2616-1

 

Aufbau Digital,

veröffentlicht im Aufbau Verlag, Berlin, 2010

© Aufbau Verlag GmbH & Co. KG, Berlin 2010

Copyright © 2008 by J. G. Goodhind

 

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jegliche Vervielfältigung und Verwertung ist nur mit Zustimmung des Verlages zulässig. Das gilt insbesondere für Übersetzungen, die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen sowie für das öffentliche Zugänglichmachen z.B. über das Internet.

 

Umschlaggestaltung Mediabureau Di Stefano

unter Verwendung mehrerer Motive von iStockphoto:

© Viktoriya Yatskina, © Brandi Powell und © Bill Noll

 

Konvertierung Koch, Neff & Volckmar GmbH,

KN digital – die digitale Verlagsauslieferung, Stuttgart

 

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Inhaltsübersicht

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Honey Driver war sich ihrer eigenen Sterblichkeit nur zu bewusst. Ihr war sonnenklar, dass sie eines Tages sterben müsste. Allerdings hatte sie nicht damit gerechnet, sich bereits in den nächsten paar Jahren aus dem irdischen Dasein zu verabschieden – bis heute Abend. Denn eigentlich war doch heutzutage das Alter von fünfundvierzig das, was früher einmal Ende zwanzig gewesen war? Der Gespensterspaziergang war Mary Janes Idee gewesen.

»Ich schau mal in meinem Terminkalender nach«, hatte Honey auf den Vorschlag erwidert. Alles zwecklos. Da war keine Eintragung. Kein geplanter Kneipenbummel durch Bath mit Kollegen aus dem Hotelgewerbe. Auch keine Einladung von Steve Doherty auf einen Drink. Wo war der Kerl, wenn man ihn mal brauchte?

»Und ich habe doch heute Geburtstag.«

Mary Jane war eine gute Seele. Mary Jane war eine Freundin. Aber sie war auch nicht ganz von dieser Welt. Sie glaubte an Poltergeister, Gespenster, Tischrücken, Schutzengel und Feen im Garten.

»Es regnet.«

»Gespenstern macht so ein Tröpfchen Regen nichts aus.«

Tröpfchen? Es regnete Bindfäden, und inzwischen waren Honeys Turnschuhe völlig durchweicht. Eines der Tröpfchen hing ihr an der Nasenspitze. Sie hatte zu niesen begonnen: nicht einmal oder zweimal, mit genug Zeit dazwischen, um in der Handtasche nach Papiertaschentüchern zu wühlen. Nein, die Nieser reihten sich aneinander wie Perlen an einem Rosenkranz, einfach endlos. Dieser Spaziergang würde noch ihr Tod sein.

Ringsum gluckerte das Wasser durch die Regenrohre, sprudelte |6|in die Gullys, tropfte von Fensterbrettern und ergoss sich im bernsteingelben Licht der Straßenlaternen in schimmernden Kaskaden. Hätte Honey einen Schirm dabeigehabt, so hätte der Regen wie mit Hammerschlägen darauf gedonnert. Endlich hatte sie die Papiertaschentücher gefunden, zog eines heraus und stopfte den Rest wieder in die Tasche. Auch in die tröpfelte das Wasser. Grauenhaft! Sie rief sich ins Gedächtnis, dass Mary Jane Geburtstag hatte. Immer schön fröhlich bleiben! Wie um alles in der Welt konnte sie das bewerkstelligen?

Regen, Regen, nichts als Regen. Und Schirme. Sie dachte an Gene Kelly und »I’m singing in the rain …«. Ohne Regenschirm und ganz gewiss ohne die richtige Tonart patschte sie über die Straße.

»Pass auf!«

Mary Jane hatte das gerufen. Und sie gerade noch am Kragen gepackt und zurückgerissen.

Ein Motorrad verfehlte sie um Haaresbreite.

»Idiot!«, brüllte Honey. Der Fahrer verschwand so schnell, wie er aufgetaucht war, wieder in der Dunkelheit und hinterließ eine Gischtfontäne.

»Ich hab sein Nummernschild nicht lesen können. Sonst wäre der Kerl geliefert«, grummelte Mary Jane mit grimmiger Miene.

»Macht nichts. Du hast mich gerade noch rechtzeitig zurückgezerrt. Das ist das Wichtigste.«

»Der ist einfach nicht ausgewichen!«

»Wirklich?«

»O ja.«

Mary Jane war quietschvergnügt und quicklebendig. Sie war Doktor der Parapsychologie und erst kürzlich ganz von Kalifornien in das Green River Hotel in Bath übergesiedelt, um näher bei ihren Verwandten zu sein – ihren toten Verwandten, wohlgemerkt. Die alten Herrschaften hatten schon vor einigen Jahren, nämlich im achtzehnten Jahrhundert, das Zeitliche gesegnet. Mary Jane selbst war auch bereits ein wenig über siebzig, und sie hielt viel von guter Zukunftsplanung.

»Es wird nicht mehr allzu lange dauern, bis ich mich ebenfalls |7|in die Geisterwelt begebe. Ich mag es gar nicht, irgendwo die Neue zu sein. Das hat mir bereits in der Schule und auf dem College überhaupt nicht gefallen. Es kann nie schaden, wenn man schon vorher ein bisschen Kontakt mit den Leuten aufnimmt, ehe man sich zu ihnen gesellt.«

Es war, als hörte man einer netten alten Tante zu, die einen Besuch bei verschollen geglaubten Verwandten in Australien plante.

Honey erkundigte sich, wie lange der Geisterspaziergang dauern würde. »Mindestens zwei Stunden«, versicherte ihr Mary Jane. Honeys Lebensgeister ermatteten vollends.

»Aber doch bestimmt nicht heute Abend. Bei dem Wetter?«

Mary Janes Antwort traf sie wie ein Hammerschlag. »Doch, ganz bestimmt. Vielleicht sogar länger. Der Spaziergang ist besonders bei Senioren sehr beliebt.«

Das war wirklich eine schlechte Nachricht. Nicht alle Senioren waren so fit wie Mary Jane. Vor Honeys geistigem Auge tauchten Spazierstöcke und – schlimmer noch – Rollatoren auf. Nebel senkte sich über die Welt. Sogar die fröhlichen Lichter des Theatre Royal neben dem Pub Garrick’s Head schienen schwächer zu leuchten, als hätte diese Nachricht sie genauso entmutigt wie Honey.

In der breiten Gasse neben dem Haupteingang des Pubs hatte sich eine kleine Gruppe von Menschen versammelt. Die Stadtführerin für den Gespensterspaziergang, ein schmales Ding mit strähnigem Haar und bleichem Teint, lächelte der Gruppe nervös zu. Sie schien in noch schlechterer Verfassung zu sein als alle anderen. Es sah ganz so aus, als würde dieses arme, nasse Hühnchen vom schlechten Wetter langsam weggespült. Der Regen prasselte auf ihren rosa Schirm, prallte vom Stoff ab und sprühte in alle Richtungen.

Mit einem Kopfschütteln vertrieb Honey jeden Gedanken an warme Betten und heiße Getränke. Sie schaltete auf einen Gesichtsausdruck um, den man beinahe als aufmerksam hätte durchgehen lassen können. Die Stadtführerin begann mit ihrem Vortrag.

|8|»Ich heiße Pamela Windsor, und ich mache das hier noch nicht lange. Bitten haben Sie also Geduld mit mir. Leider waren unsere erfahreneren Gästeführer heute Abend alle unabkömmlich. Ich hoffe auf Ihr Verständnis.«

Wasser triefte von Honeys Kapuze, während sie nickte. Klar hatte sie Verständnis. Warum waren sie nicht alle ebenso vernünftig gewesen und zu Hause geblieben?

»Würden Sie mir jetzt bitte Ihre Namen sagen«, fuhr die unglückselige junge Dame fort. »Sie bekommen dann von mir ein Schildchen, das Sie bitte anheften, damit ich weiß, wer Sie alle sind. Ich möchte nämlich einen Artikel über heute Abend schreiben – wenn auch nur für eine Lokalzeitung, müssen Sie wissen.« Sie lachte nervös. Keiner hatte etwas dagegen einzuwenden.

Pamela notierte sämtliche Einzelheiten auf einem aufgeweichten Blatt Papier, das an einem Klemmbrett festgemacht war. Der Regenguss verwandelte es zusehends in Papiermaché, und die Tinte verlief bereits, aber Pamela hielt tapfer durch. Volle Punktzahl für Ausdauer!

Die Mitglieder der Gruppe nannten nacheinander ihre Namen. Die meisten waren unter Kapuzen oder Regenschirmen oder sogar beidem verborgen.

Während Mary Jane sich vor Begeisterung beinahe überschlug, schaute sich Honey die übrigen Spaziergänger an und betete, dass alle, die Stöcke oder Gehhilfen brauchten, zu Hause geblieben waren.

Außer Mary Jane und ihr bestand die Gruppe noch aus vier Männern plus dazugehörigen Ehefrauen. Zwei der Paare waren Amerikaner, eines kam aus Deutschland und das vierte aus Schweden. Dann waren noch zwei Australierinnen mittleren Alters dabei, die zusammenzugehören schienen. Sie kicherten wie Schulmädchen. Sie waren als Letzte aus der Bar des Garrick’s Head aufgetaucht. Ein zarter Hauch von Gin umwehte sie. Neben ihnen stand ein junger Mann mit einem grünen Regencape, der mit einem Akzent sprach, den Honey nicht recht einordnen konnte.

Hurra, keine Spur von einem Rollator! Honeys Freude sollte jedoch nur kurz sein. Ein Taxi fuhr heran. Die vordere Beifahrertür |9|ging auf. Ein Regenschirm wurde aufgespannt, hinter dem eine Dame ehrwürdigen Alters mit flachen Gesundheitsschuhen und Spazierstock auftauchte.

Das Taxi fuhr fort, und die roten Rücklichter verschwammen im Regendunst. Die alte Dame drängelte sich in die Mitte der Gruppe.

»Ich bin Lady Templeton-Jones.«

Mit diesen Worten reckte sie der jungen Stadtführerin ihre Faust mit der Gebühr für den Spaziergang entgegen.

»Hi. Ich bin Hamilton George«, erwiderte einer der Amerikaner und streckte ihr die Hand hin. »Nennen Sie mich Hal. Und wie nennen wir Sie?«

»Lady!«

Honey wechselte einen überraschten Blick mit Mary Jane, soweit das möglich war, wenn man unter einer Plastikkapuze hervor jemanden anschaute, der unter einer anderen Plastikkapuze verborgen war.

»Habe ich da einen Akzent aus dem Mittleren Westen vernommen?«, zischte Honey aus dem Mundwinkel.

»O ja, Mittlerer Westen der USA. Wahrhaftig, Gottes Garten ist groß«, murmelte Mary Jane zurück.

Das war er wirklich. Bath war ein Mekka für Touristen aus aller Welt. Die meisten kamen der Atmosphäre wegen, wollten auf Jane Austens Spuren wandeln, durch die Römischen Bäder spazieren und sich in lüsternen Bildern vorstellen, dass hier irgendwann einmal ein Zenturio nackt im schwefeligen Wasser gebadet hatte – so etwa als Gladiator im Stil von Russell Crowe.

Nun teilte die Stadtführerin die Namensschildchen aus. »Damit ich mich dran erinnern kann, wer Sie alle sind«, erklärte sie zum wiederholten Male.

Obwohl das Schildchen recht winzig war, hatte Ihre Ladyschaft darauf bestanden, dass ihr Titel voll ausgeschrieben wurde. »Lady Templeton-Jones, so möchte ich angeredet werden.«

»Toller Abend für Enten«, gluckste eine der Australierinnen, als wäre das der originellste Witz der Welt.

»Meinst du damit nicht alte Gänse?«, erwiderte ihre Freundin mit |10|einem Kichern. Einen kurzen Augenblick lang kam nicht einmal der Regen gegen die Schwaden von Gordon’s Gin an.

Na, zumindest diese beiden amüsierten sich.

»Gut«, sagte die Stadtführerin und verstaute das Klemmbrett unter ihrem weiten rosa Regenmantel. »Wir fangen gleich hier beim Garrick’s Head an. Wie die meisten von Ihnen sicher wissen, war David Garrick ein berühmter Schauspieler seiner Zeit, und viele alte Pubs, die in der Nähe von Theatern liegen, tragen seinen Namen …«

Nun berichtete sie von seltsamen Begebenheiten im Theatre Royal selbst, bezog sich auf verschiedene Aufführungen der neueren Zeit und nannte jeweils die Anzahl von Zuschauern, die die Geister gesehen oder gehört hatten.

»Die Graue Dame ist tatsächlich während einer Vorstellung vor achthundertsiebenundfünfzig Menschen erschienen!«

Da war die Gruppe aber beeindruckt! So eine präzise Zahl! Nicht achthundertfünfzig, sondern achthundertsiebenundfünfzig! Das musste doch stimmen.

»Ich habe gar nicht gewusst, dass Geister so dreist sein können«, bemerkte jemand aus der Gruppe.

Mary Jane war leicht pikiert. »Hier geht es nicht um einen Geist. Hier haben wir es mit einem Gespenst zu tun, dem Ergebnis einer traumatischen Begebenheit. Geister sind etwas völlig anderes. Die existieren einfach in einem parallelen Universum und nehmen Kontakt auf, wenn ihnen danach ist.« Sie sagte das so, als sei sie daran gewöhnt, regelmäßig Besuch aus dem Jenseits zu bekommen.

Pamela Windsor nickte respektvoll. »Nun, wenn noch jemand auf die Toilette gehen möchte …« Gleich trottete die Hälfte der Gruppe in den Pub zurück. Als sie endlich wieder vollzählig waren, gab die Stadtführerin eine ausführliche Geschichte des Pubs und des Theaters zum Besten. So erzählte sie unter anderem von dem Jasminduft, der stets dem Erscheinen der Grauen Dame vorauswehte.

»Als Nächstes gehen wir über den Queen Square zum Circus …«

|11|Die Gruppe patschte hinter ihr her wie eine Reihe triefnasser Entenküken.

Das Gespenst vom Queen Square kam und ging – vielmehr: es kam nicht.

»Nichts gesichtet.« Mary Jane klang enttäuscht.

»Das muss am Wetter liegen«, zischelte Honey ihr zu.

Während sie eine kleine Steigung hinter sich brachten, die sie zum nächsten Halt führen sollte, beugte sich Mary Jane dicht an Honeys Ohr. »Ich denke nicht, dass wir heute irgendwas Interessantes zu sehen bekommen. Ich empfange von dieser Gruppe ganz negative Schwingungen. Diese Leute sind überhaupt nicht auf spirituelle Dinge eingestellt.«

»Auf Spirituosen manche schon,« erwiderte Honey. Sie schaute zu den beiden Australierinnen hinüber, die wie kleine Schulmädchen über die Pfützen hüpften. Eine der beiden hatte einen Flachmann dabei. Wer die größten Spritzer machte, nahm einen Schluck.

»Diese Leute brauchen dringend spirituelle Beratung«, tadelte Mary Jane.

»Und ich brauche ein Paar neue Turnschuhe.« Honey schaute zu ihren Füßen hinunter und sah, wie das Wasser in Strömen aus den Schnürlöchern troff. Zu allem Überfluss lösten sich immer wieder die Schnürsenkel, schleiften durch die Pfützen und wurden dabei noch nasser. Alle paar Minuten musste Honey stehen bleiben und die Schuhe neu zubinden. Langsam fiel sie immer weiter hinter die Gruppe zurück.

Mary Jane war mit Feuereifer bei ihrem Lieblingsthema und hielt tapfer Schritt mit der Stadtführerin.

Honey bemerkte, dass sie neben der Lady mit dem Spazierstock durch den Regen patschte. Sie fühlte sich verpflichtet, Konversation zu machen. »Sie haben also einen Adelstitel. Wie kommt das?«

»Das geht Sie gar nichts an!«

»Tut mir leid. Nichts für ungut.«

Sie stapften weiter über den leicht erhöhten Kiesweg, auf dem früher die feinen Herrschaften ihre noblen Gewänder zur Schau |12|gestellt hatten. Die vor Nässe triefenden Blätter der Bäume rauschten in der Dunkelheit.

Von weitem hörte Honey die Bemerkung: »Das raschelt wie ein gestärkter Taftrock.«

In Honeys Kopf hatten derlei elegante Gedanken keinen Platz. Vor ihrem geistigen Auge schwebten Bilder von einer heißen Schokolade und einer Wärmflasche, da konnte die Mode des achtzehnten Jahrhunderts nicht mithalten.

Auf dem Rasen in der Mitte des Circus gesellten sich Honey und Ihre Ladyschaft zum Rest der Gruppe.

Pamela erzählte von allerlei seltsamen Begebenheiten, aber all das rauschte weit über Honey hinweg. Ihre Schnürsenkel schleiften schon wieder auf dem Boden. Resigniert beugte sie sich hinunter.

»So, nun geht es weiter. Als Nächstes zu den Assembly Rooms.«

Pamela stach energisch ihren Regenschirm in die Luft.

Die Gruppe trottete hinter ihr her. Honey bildete die Nachhut.

Große Gebäude rechts und links der Straße warfen schwarze Schatten, gegen die auch die Straßenlaternen nicht ankamen. Zunächst ging es zur Gay Street zurück, dann rechts in eine kleine Gasse, die an der Hinterseite der Antiquitätenmärkte vorbeiführte.

Dank ihrer Schnürsenkel war Honey wieder weit hinter der Gruppe zurückgeblieben. Irgendwann konnte sie die anderen nicht mehr sehen oder hören. Nur die Lady aus dem Mittleren Westen war noch in der Nähe. Honey schien es, als würden die Schritte der armen alten Dame immer langsamer. Sie blieb stehen, damit die Frau zu ihr aufschließen konnte, und erhaschte tatsächlich ein Lächeln, als sie mit ihr gleichgezogen hatte. »Ich nehme an, Sie sehen auch keine Geister?«

»Ganz gewiss nicht!«

Honey versuchte es noch einmal. »Und Sie fürchten sich nicht vor Gespenstern?«

»Fürchten muss man sich vor den Lebenden, nicht vor den Toten.«

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Bildete sie sich das ein, oder wollte Ihre Ladyschaft sie abhängen? Honey war sich ziemlich sicher, dass das alte Mädchen jedes Mal, wenn sie zu ihr aufschloss, ihre Schritte beschleunigte.

Sie verspürte das dringende Bedürfnis, der Dame zu erklären, dass sie nicht so wirr im Kopf war wie all die anderen. »Ich hatte gerade nichts Besseres zu tun. Meine Freundin hat mich zu diesem Spaziergang eingeladen. Die ist ganz wild auf so etwas.«

Ihre Ladyschaft reagierte mit einem undeutlichen Knurren.

»Ich bin keine Psychotante. Ich habe ein Hotel«, platzte Honey heraus. »Ein Hotel in Bath.«

»Sie betreiben ein Hotel?« Auf einmal klang die Dame interessiert.

»Schlimmer noch. Es gehört mir. Und das wiederum bedeutet, dass ich der Bank gehöre«, ergänzte Honey mit einem traurigen kleinen Lachen.

Einerseits war es ein Witz – und doch auch wahr. Ihre Begleiterin lachte jedoch nicht.

»Haben Sie zufällig ein Zimmer frei?«

Es hatte ganz den Anschein, als meinte sie es bitterernst.

»Ja. Wann brauchen Sie es denn?«

»Heute Nacht.«

So schnell!

Sie inspizierte im Geiste die Spiegel, schüttelte Kissen auf und zog die Kreditkarte durch die Maschine. »Prima. Geht in Ordnung. Ich nehme an, Sie müssen Ihre Sachen noch in dem Hotel abholen, wo Sie im Augenblick abgestiegen sind …«

»Nein! Nicht nötig. Ich komme gleich mit Ihnen mit, sobald wir diesen absurden Spaziergang hinter uns gebracht haben.«

|14|»Ja, sicher.«

Ihr lag die dringende Frage auf der Zunge, was denn an diesem Spaziergang so besonders absurd war.

Sicher unter der Kapuze versteckt, richtete Honey die Augen fest auf ihre Füße, die durch die Pfützen patschten. Na ja, einem geschenkten Gaul schaut man nicht ins Maul. Wie wahr! Sie sollte sich freuen, dass ein Zimmer mehr vermietet war – ohne dass sich der potenzielle Hotelgast auch nur nach dem Preis erkundigt hatte! Das würden sie schon irgendwann klären. Gewöhnlich versuchten Leute mit Adelstiteln nicht zu feilschen. Es war gar nicht gut fürs noble Image, wenn es aussah, als wäre man knapp bei Kasse.

Inzwischen hatte der Regen noch etwas zugelegt. Honey hing weit hinter den anderen zurück. Na ja, auch gut, dann hatte sie eben die Gruppe aus den Augen verloren. Es widerstrebte ihr, auch nur die Nasenspitze unter der Kapuze hervorzustrecken, um einen besseren Überblick zu bekommen. Zum Glück ging es bergab. Die Tour war wohl bald zu Ende.

Entlang der kleinen Gässchen standen eng gedrängt verschieden hohe Gebäude. Zumeist waren darin kleine, eingeschossige Läden untergebracht, die aus der gleichen Zeit stammten wie das uralte Kopfsteinpflaster. Früher einmal waren hier vielleicht Werkstätten von Handwerkern angesiedelt gewesen, oder man hatte Pferde darin untergestellt. Jetzt herrschte Dunkelheit, und selbst bei Tageslicht war nicht viel los. Über einer Tür hing an einem Winkelträger eine alte kupferne Gaslaterne. Dann erregte die flackernde Flamme einer Kerze, die im elegant gewölbten Schaufenster eines Geschäftes brannte, Honeys Aufmerksamkeit. Kurz schoss ihr der Gedanke durch den Kopf, dass eine unbeaufsichtigte offene Flamme durchaus ein Feuer verursachen konnte. Hoffentlich nicht. Jedenfalls hatte sie keine Lust, etwas dagegen zu unternehmen. Ein warmes Getränk, sich mit einem Frotteehandtuch abrubbeln, danach stand ihr jetzt der Sinn.

Plötzlich fiel die Gasse steil nach unten ab. Honey konnte ins Obergeschoss der Gebäude zu ihrer Linken hineinsehen. Aus |15|den Fenstern drang warmes Licht und spiegelte sich in goldenen Rechtecken auf den nassen Pflastersteinen. Die glänzten, als hätte sie jemand mit Silikon überstrichen.

Das war ja alles sehr idyllisch, aber das Kopfsteinpflaster war wirklich glitschig. Honey versuchte, sich in schräger Linie nach links zu tasten, um sich an einer Mauer festhalten zu können.

»Seien Sie vorsichtig!«, rief sie ihrer Begleiterin zu.

Keine Antwort. Aufgeblasene Ziege! Hoffentlich rutscht sie aus und zerbeult sich dabei ihr würdevolles Ego ein wenig, dachte Honey.

Sie hielt die Augen weiterhin starr auf die Pflastersteine vor ihren Füßen gerichtet. Es war keine Menschenseele zu sehen. Wie hatte es die Gruppe nur geschafft, diese abschüssige Straße so rasch hinunterzugehen? Vor ihr glänzte der Weg nass – und menschenleer. Sehr menschenleer. Konnte es denn sein, dass sie die Gruppe überholt hatte, ohne es zu bemerken?

Sie schaute über die Schulter zurück. Auch da war niemand. Schatten, die flackernde Kerze, strömender Regen. Keine untersetzte Frau mit hochmütiger Miene und Spazierstock!

Plötzlich peitschte der Wind das Regenwasser aus einem übervollen Rinnstein hoch. Honey schaute auf – und bekam einen Schwall Wasser ins hochgereckte Gesicht. Sie prustete und zwinkerte, fuhr sich mit dem Ärmel über die Augen. Eine Kontaktlinse glitt heraus und fiel zu Boden, war nun kaum mehr als ein winziges Ruderboot für Insekten.

»Verdammt!«

Als Honey unter ihrer Kapuze auftauchte, stellte sie fest, dass sie inzwischen auf ebenem Terrain war und gerade noch vor einer Riesenpfütze zum Stehen gekommen war.

Sie schaute zurück auf die steil aufsteigende Gasse. In langen Bindfäden pladderte der Regen durch den Lichtschein der Straßenlaternen. Honey glaubte, wieder das gleiche Motorrad gesehen zu haben wie früher am Abend. Aber sonst war nichts und niemand zu erspähen, nicht einmal Ihre Mittwestliche Ladyschaft. Wahrscheinlich hatte die sich längst wieder dem Rest der Gruppe angeschlossen. Wie sie das geschafft hatte, konnte |16|Honey sich beim besten Willen nicht vorstellen. Aber heute Abend war ihr das wirklich egal.

»Na gut, wenn es unbedingt sein muss«, seufzte sie und beugte sich hinunter, um mal wieder ihre Schuhe zuzubinden.

Eine Kontaktlinse zu verlieren, das war beinahe so schrecklich, als hätte man zeitweilig ein Bein verloren. Alles war schief. In der Nähe war es ja nicht so schlimm. Aber wenn man in die Ferne blickte, war es der reinste Albtraum.

Plötzlich erregte eine Bewegung am anderen Ende der Gasse Honeys Aufmerksamkeit. Ein paar Leute sprangen fröhlich in einer Pfütze herum, die sich zwischen der Straße und dem Bürgersteig gebildet hatte. Zweifellos waren die beiden Australierinnen auch dabei.

Kaum hatte Honey diesen Gedanken gehabt, da schlenderte ein Paar glänzender Schuhe an ihr vorüber. Sie schaute auf und erblickte einen Hut mit breitem Rand, den sich jemand tief ins Gesicht gezogen hatte.

»Guten Abend«, sagte sie. Wer es auch war, er gab keine Antwort. Das war eigentlich schade, denn sie brannte darauf, eine Bemerkung über die Lackschuhe zu machen.

Glänzende Schuhe?

Lackschuhe?

Bei dem Wetter?

Wie kam es, dass sie nicht nass waren – oder gar völlig durchweicht? Und wieso hatte sie keine Schritte gehört? Das war kein Gespenst. Nein. Das konnte einfach nicht sein. Oder doch? Das Blut gefror ihr in den Adern – und diesmal hatte es nichts mit dem Wetter zu tun!

Honey zischte los wie eine Concorde in Heathrow, rannte und schlitterte über die nassen Pflastersteine, rumpelte in die kleine Gruppe am unteren Ende der Gasse hinein.

»He!«

Die verschwommenen Gestalten wurden deutlicher. Gesichter. Junge Gesichter schauten sie stirnrunzelnd an. »Wir ziehen durch die Clubs«, war deutlich von ihren Mienen abzulesen.

»Tut mir leid! Falsche Gruppe!«

|17|3

Nachdem sie endlich ihrer Begleiterin entwischt war, machte sich Lady Wanda Templeton-Jones – geborene Carpenter – rasch auf denWeg zu dem Laden, in dessen Schaufenster die Kerze flackerte.

Ehe sie am Türgriff drehte, warf sie noch einen raschen Blick über die Schulter. Eine einsame Frauengestalt ging zur Hauptstraße hinunter, ganz darauf konzentriert, nicht auf den glitschigen Pflastersteinen auszurutschen. Ansonsten war die Gasse menschenleer.

Mylady schob die Tür auf und trat in die Dunkelheit hinein. Im Laden roch es nach Spinnweben und Staub. Die Kerze im Fenster trug nicht sonderlich zur besseren Sicht bei. Lady Templeton-Jones tastete mit dem Stock, um zu erkunden, was vor ihr war, machte ein paar Schritte vorwärts und blinzelte in die Finsternis. Über ihr knarrte ein Dielenbrett. Sie schaute hoch. Jede andere hätte es mit der Angst zu tun bekommen. Sie jedoch nicht. Der Zweck ihres Besuchs verbot jede Furcht, die sie vielleicht empfunden hätte. Außerdem war es eine Frage der Ehre.

»Ich muss mit Ihnen reden«, rief sie. »Aber vielleicht wird Ihnen nicht gefallen, was ich zu sagen habe.«

Ihre Stimme klang in ihren eigenen Ohren laut und deutlich, wurde aber immer schwächer, während sie von den getünchten Wänden widerhallte.

Wieder knarrte eine Diele. Hinter ihr flackerte die Kerze. Der Laden stand leer, und zwar schon eine ganze Weile. Der Strom war abgestellt, daher die Kerze. Warum hatte sie nicht daran gedacht, eine Taschenlampe mitzubringen?

»Also los«, ermunterte sie sich selbst leise. Sie war fest entschlossen, die Sache durchzuziehen.

Sie glaubte in der Ecke den Umriss einer Tür auszumachen und |18|ging in diese Richtung. Sie tastete mit dem Stock am Fußboden entlang. Da war ein Absatz – nein – eine Treppe! Die Tür führte zu einer Wendeltreppe und in die tintenschwarze Dunkelheit. Lady Templeton-Jones hielt inne, einen Fuß auf der untersten Stufe, die Hand um den Griff ihres Spazierstocks geklammert – wenn es sein musste, konnte er auch als Waffe dienen.

»He! Sind Sie da oben?«

Vielleicht gab es da noch eine Tür. Vielleicht hatte sie nicht laut genug gerufen. Sie hatte nur die Dielen knarren hören, keine Stimme vernommen.

Sie setzte den Fuß auf die zweite Stufe, beugte sich vor, verrenkte den Kopf und die Schultern, um den oberen Teil der Treppe sehen zu können. Sie konnte einen schwachen Lichtschein ausmachen, der aber sofort wieder verschwunden war. Möglicherweise hatte die Person, mit der sie sich treffen wollte, eine Tür geöffnet und gleich wieder geschlossen.

Gerade wollte sie noch einmal rufen, als sie spürte, wie etwas an ihrem Gesicht entlangstrich. Spinnweben! Spinnen!

Seit ihrer Kindheit hatte sie eine Heidenangst vor Spinnen. Die Panik übermannte sie. Nun setzte sie den Stock, mit dem sie ihren Weg ertastet hatte, als Hiebwaffe ein. Dabei verlor sie kurz das Gleichgewicht, schwankte zurück, dann wieder vor. Sie holte erneut Schwung, stieg nun schneller die Treppe hinauf. Ihr Atem kam in raschen Stößen. Ihre Lungen ächzten und pfiffen.

Es konnte nicht mehr weit sein! Sie musste oben an der Treppe angekommen sein, zumindest kurz davor.

Wieder strich etwas sanft über ihre Brust. Sie nahm weiter Stufe um Stufe, den Stock vor sich ausgestreckt.

Diesmal hörte sie, wie eine Tür ins Schloss fiel. Dann wurde die Dunkelheit erhellt.

Sie hatte ihr Ziel erreicht. Es hatte sich alles gelohnt! Mit letztem Schwung erklomm sie den oberen Treppenabsatz. Was immer ihre Brust umfangen hatte, zog sich jetzt um ihren Hals zu. Sie vernahm noch ein letztes leises Ächzen, ihren eigenen gepressten Atem, als ihr die Luft abgewürgt wurde.