Charlaine Harris

Der Vampir, der mich liebte


Roman

Deutsch von Britta Mümmler

 

dtv digital

 

Deutsche Erstausgabe 2005
© der deutschsprachigen Ausgabe:
dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

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eBook ISBN 978 - 3 - 423 - 41083 - 0 (epub)
ISBN der gedruckten Ausgabe 978 - 3 - 423 - 20982 - 3

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Der Brief klebte an meiner Tür, als ich von der Arbeit nach Hause kam. Ich hatte im Merlotte’s die Schicht vom Lunch bis zum frühen Abend gehabt, und da es fast Ende Dezember war, wurden die Tage bereits ziemlich früh dunkel. Also musste mein Exfreund Bill – Bill Compton oder Bill der Vampir, wie die meisten Stammgäste im Merlotte’s ihn nennen – seine Nachricht innerhalb der letzten Stunde hinterlassen haben. Er kann nämlich nicht aufstehen, ehe es dunkel ist.

Ich hatte Bill seit über einer Woche nicht gesehen, und unsere Trennung war nicht gerade so gelaufen, dass ich sie freundschaftlich nennen würde. Trotzdem fühlte ich mich ganz elend, als ich den Umschlag mit meinem Namen darauf berührte. Und jetzt glaubt sicher jeder, ich hätte vorher – obwohl schon sechsundzwanzig – noch nie einen richtigen Freund gehabt oder eine echte Trennung durchgemacht.

Tja, stimmt.

Normale Typen wollen eben nicht mit einer ausgehen, die so seltsam ist wie ich. Schon seit ich in die Schule kam, sagen die Leute, dass ich irgendwie einen Knall hätte.

Tja, stimmt ebenfalls.

Das heißt allerdings nicht, dass nicht auch ich gelegentlich an der Bar angegrapscht werde. Die Typen betrinken sich. Ich sehe gut aus. Und dann vergessen sie schon mal, dass ihnen mein seltsamer Ruf und mein immerwährendes Lächeln nicht ganz geheuer sind.

Doch nur mit Bill bin ich je so richtig zusammen gewesen, so ganz intim. Die Trennung von ihm hat mir sehr wehgetan.

Ich öffnete den Briefumschlag erst, als ich an meinem alten, zerkratzten Küchentisch saß. Ich trug immer noch meinen Mantel, nur meine Handschuhe hatte ich in irgendeine Ecke gefeuert.

Liebste Sookie, ich wollte bei dir vorbeischauen und mit dir reden, wenn du dich etwas von den unglückseligen Ereignissen der letzten Zeit erholt hast.

»Unglückselige Ereignisse« – dass ich nicht lache. Die blauen Flecken waren irgendwann wieder verblasst, aber eins meiner Knie schmerzte immer noch bei Kälte, und ich fürchtete, dass das auch auf Dauer so bleiben würde. Und all meine zahlreichen Verletzungen hatte ich mir zugezogen bei dem Versuch, meinen treulosen Freund aus der Gefangenschaft einer Gruppe von Vampiren zu retten, zu denen auch seine frühere Flamme Lorena gehörte. Ich hatte immer noch nicht begriffen, wieso Lorena eine solche Macht über Bill besaß, dass er ihrer Aufforderung gefolgt und nach Mississippi gegangen war.

Wahrscheinlich hast du viele Fragen zu dem, was passiert ist.

Verdammt richtig.

Wenn du mich persönlich sprechen möchtest, komm an die Haustür und lass mich ein.

Au weia. Darauf war ich nicht gefasst gewesen. Ich dachte eine Minute lang nach. Dann hatte ich mich entschieden. Zwar vertraute ich Bill nicht mehr, aber ich konnte mir nicht vorstellen, dass er mich körperlich angreifen würde, und so ging ich zurück durchs Haus zur Eingangstür. Ich öffnete und rief: »Okay, komm rein.«

Er trat aus dem Wald, der die Lichtung umgab, auf der mein altes Haus stand. Es gab mir einen Stich, als ich ihn sah. Bill war breitschultrig und schlank, immerhin hatte er sein Leben lang den an mein Grundstück angrenzenden Grund und Boden landwirtschaftlich bearbeitet. Und er war hart und zäh geworden in seinen Jahren als Soldat der Konföderierten, bevor er 1867 starb. Bills Nase glich haargenau dem auf griechischen Vasen abgebildeten Ideal. Sein Haar war dunkelbraun und seine Augen waren ebenso dunkel.

Er sah noch ganz genauso aus wie zu jener Zeit, als wir einander kennen lernten, und so würde er auch immer aussehen.

Er zögerte, ehe er über die Schwelle trat. Aber ich hatte es ihm ja erlaubt, und so trat ich zur Seite, um ihn in mein picobello aufgeräumtes Wohnzimmer mit den alten, gemütlichen Möbeln zu lassen.

»Danke«, sagte er mit seiner kühlen ruhigen Stimme, eine Stimme, die mir noch immer Schauer schierer Lust bescherte. Vieles zwischen uns war schief gelaufen, aber im Bett hatte es garantiert nicht seinen Anfang genommen. »Ich wollte dich noch sprechen, bevor ich gehe.«

»Wohin gehst du?« Ich versuchte, so ruhig zu klingen wie er.

»Nach Peru. Auf Anordnung der Königin.«

»Arbeitest du immer noch an deiner, äh, Datenbank?« Ich wusste fast gar nichts über Computer, aber Bill war durch intensive Fachlektüre zum Computerspezialisten geworden.

»Ja. Aber ich muss noch etwas mehr Recherche betreiben. Ein sehr alter Vampir in Lima besitzt umfassendes Wissen über jene unserer Art auf seinem Kontinent. Ich habe mich zu einem Gespräch mit ihm verabredet. Und ich werde auch ein wenig Sightseeing machen, während ich dort unten bin.«

Ich bezwang den Impuls, Bill eine Flasche synthetisches Blut anzubieten, wie es eigentlich die Gastfreundschaft gebot. »Setz dich doch«, sagte ich und nickte zum Sofa hinüber. Ich selbst setzte mich auf die Kante des alten Lehnsessels dem Sofa gegenüber. Dann herrschte Schweigen, ein Schweigen, das mir noch bewusster machte, wie unglücklich ich war.

»Wie geht’s Bubba?«, fragte ich schließlich.

»Im Moment ist er in New Orleans«, sagte Bill. »Die Königin hat ihn von Zeit zu Zeit ganz gern um sich, und hier in der Gegend war er im letzten Monat so oft zu sehen, dass es angeraten schien, ihn woanders hinzubringen. Er kommt aber bald zurück.«

Wer Bubba sah, erkannte ihn sofort. Jeder kennt sein Gesicht. Sein »Übergang« war nicht so ganz gelungen. Wahrscheinlich hätte der Aufwärter im Leichenschauhaus, zufällig ein Vampir, den winzigen Funken Leben, der noch in ihm war, ignorieren sollen. Aber als echter Fan von ›Love Me Tender‹ hatte er der Versuchung nicht widerstehen können; und jetzt schob die gesamte Südstaaten-Vampir-Gemeinde Bubba herum, damit er nirgends auffiel.

Wieder herrschte Schweigen. Ich hatte eigentlich vorgehabt, meine Schuhe und die Kellnerinnenuniform abzustreifen, mir ein gemütliches Hauskleid anzuziehen und mich mit einer Pizza vor den Fernseher zu setzen. Kein besonders ambitioniertes Vorhaben, aber immerhin mein eigenes. Stattdessen saß ich nun hier und litt vor mich hin.

»Wenn du mir etwas zu sagen hast, fängst du am besten jetzt gleich damit an«, erklärte ich.

Er nickte, fast wie zu sich selbst. »Ich muss dir das erklären«, sagte er. Seine weißen Hände arrangierten sich wie von allein in seinem Schoß. »Lorena und ich –«

Unwillkürlich zuckte ich zusammen. Diesen Namen wollte ich nie wieder hören. Wegen Lorena hatte er mich fallen gelassen.

»Ich muss dir das erzählen«, sagte er, beinahe verärgert. Mein Zucken war ihm nicht entgangen. »Gib mir doch eine Chance.« Einen Augenblick zögerte ich, dann nickte ich.

»Ich bin nach Jackson gefahren, als sie mich rief, weil ich nicht anders konnte«, sagte er.

Ich zog die Augenbrauen hoch. Das hatte ich doch schon mal gehört. Das hieß so viel wie »Ich konnte mich nicht beherrschen« oder »Ich konnte keinen Gedanken oberhalb der Gürtellinie mehr fassen«.

»Vor langer Zeit ist sie meine Geliebte gewesen. Eric hat dir ja schon erzählt, dass Affären unter Vampiren nicht lange andauern, obwohl sie sehr intensiv verlaufen. Allerdings hat Eric dir nicht erzählt, dass Lorena die Vampirin war, die mich herüberholte.«

»Auf die dunkle Seite?«, fragte ich, biss mir aber gleich auf die Lippe. Dies Thema sollte ich besser nicht leichtfertig anschneiden.

»Ja«, bestätigte Bill ernst. »Und danach waren wir zusammen, als Liebespaar, was nicht immer der Fall ist.«

»Aber du hattest sie verlassen …«

»Ja, vor ungefähr achtzig Jahren waren wir an dem Punkt angelangt, wo wir uns gegenseitig nicht länger ertrugen. Seitdem hatte ich Lorena nie wieder gesehen, obwohl ich natürlich von ihren Taten wusste.«

»Oh, natürlich«, sagte ich ausdruckslos.

»Aber ich musste ihrer Aufforderung gehorchen. Das ist ein absoluter Befehl. Wenn dein Schöpfer ruft, musst du Folge leisten.« Seine Stimme klang eindringlich.

Ich nickte und versuchte verständnisvoll zu wirken. Ich schätze, allzu gut ist mir das nicht gelungen.

»Sie befahl mir, dich zu verlassen«, sagte er. Mit seinen dunklen Augen starrte er mich an. »Sie sagte, wenn ich es nicht täte, würde sie dich töten.«

Langsam verlor ich die Beherrschung. Ich biss in die Innenseite meiner Wange, ganz fest, um mich zu konzentrieren. »Also hast du ohne Erklärung oder Gespräch mit mir einfach entschieden, was das Beste für mich und dich wäre.«

»Das musste ich«, sagte er. »Ich musste ihrem Befehl gehorchen. Und ich wusste auch, dass sie fähig war, dir etwas anzutun.«

»Nun, da hast du immerhin Recht.« Lorena hatte tatsächlich alle Schikanen ihres untoten Daseins aufgeboten, um mich direkt ins Grab zu verfrachten. Doch ich hatte sie zuerst erwischt – okay, nur mit ziemlich viel Glück. Aber immerhin.

»Und jetzt liebst du mich nicht mehr«, sagte Bill, den Anflug eines fragenden Tonfalls in der Stimme.

Darauf hatte ich selbst keine eindeutige Antwort.

»Keine Ahnung«, sagte ich. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass du zu mir zurückkommen möchtest. Nach all dem, was passiert ist. Schließlich habe ich deine Schöpferin umgebracht.« Und in meiner Stimme schwang ebenfalls der Anflug eines fragenden Tonfalls, doch im Grunde überwog bei mir bittere Enttäuschung.

»Dann sollten wir uns eine Zeit lang nicht sehen. Nach meiner Rückkehr können wir miteinander reden, das heißt, wenn du möchtest. Gibst du mir einen Abschiedskuss?«

Zu meiner Schande muss ich gestehen, dass ich Bill nur zu gern geküsst hätte. Doch selbst der Wunsch danach erschien mir falsch. Wir standen auf, und ich berührte mit den Lippen flüchtig seine Wange. Seine weiße Haut hatte dieses besondere Leuchten, das die Vampire von den Menschen unterscheidet. Es hatte mich ziemlich überrascht, als ich bemerkte, dass nicht jeder es so deutlich sah wie ich.

»Triffst du dich noch mit dem Werwolf?«, fragte er, als er schon fast aus der Tür war.

»Wen meinst du?«, fragte ich zurück und widerstand der Versuchung, mit den Augenlidern zu klimpern. Er verdiente keine Antwort, und das wusste er auch. »Wie lange wirst du denn weg sein?«, fragte ich etwas zu lebhaft, und er warf mir einen nachdenklichen Blick zu.

»Das steht noch nicht genau fest. Zwei Wochen vielleicht«, antwortete er.

»Vielleicht reden wir dann«, sagte ich und wandte das Gesicht ab. »Ich gebe dir aber deinen Schlüssel wieder.« Ich zog mein Schlüsselbund aus der Handtasche.

»Nein, bitte behalte ihn«, sagte er. »Vielleicht brauchst du ihn, während ich weg bin. Geh im Haus ein und aus, wie du willst. Meine Post wird im Postamt gelagert, und ich glaube, alle anderen offenen Angelegenheiten habe ich auch geklärt.« Also war ich seine letzte offene Angelegenheit. Ich schluckte die aufsteigende Wut hinunter, die in letzter Zeit nur allzu bereitwillig in mir brodelte.

»Ich wünsche dir eine gute Reise«, sagte ich kühl, schloss die Tür hinter ihm und rannte in mein Schlafzimmer. Schließlich hatte ich vorgehabt, ein Hauskleid anzuziehen und ein bisschen fernzusehen. Und genau das würde ich jetzt, zum Teufel noch mal, auch tun.

Während ich meine Pizza in den Ofen schob, musste ich mir allerdings doch ein paarmal die Wangen trocknen.