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1. Auflage 2011

Copyright © Karin Buchholz 2005-2011

www.karin-buchholz.com

Es handelt sich um ein Werk der Fiktion. Ähnlichkeiten mit tatsächlichen Begebenheiten oder Personen, tot oder lebendig, sind nicht beabsichtigt und wären rein zufällig.

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie. Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Umschlagbild und Illustrationen: Karin Buchholz

Umschlaggestaltung: arobdesign.com

Sämtliche Rechte vorbehalten

Herstellung und Verlag: Books on Demand, Norderstedt

ISBN 978-3-8448-5547-0

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Strandgut 2

Frühmorgens,

wenn das erste Licht den Strand berührt,

wenn die Welt noch der vergang’nen Nacht nachspürt,

ist es Zeit,

auf die Suche zu gehen.

Frühmorgens,

wenn Meer und Möwen noch friedlich dösen,

wenn sich die ersten Sonnenstrahlen vom Horizont lösen,

ist es Zeit,

lang Verborg’nes zu finden.

Frühmorgens,

wenn sich Kiesel und Muscheln von der Nacht berichten,

wenn die ersten Fischerboote ihre Anker lichten,

ist es Zeit,

dem Strandgut und seinen Geschichten zu lauschen.

Willkommen...

Am frühen Morgen gehe ich gern am Strand entlang, der dann zumeist menschenleer daliegt und das Strandgut der Nacht preisgibt. Und genau so begegnen mir auf meinen Reisen und Spaziergängen auch die Geschichten, die vom Strandgut unseres Lebens erzählen – von Begegnungen, Entscheidungen, Gesprächen, von verklungenem Lachen, ungeweinten Tränen, großen und kleinen Wundern und Momenten puren Glücks.

Diese Geschichten sammle ich, wie es gute Strandgutsucher tun: Vorsichtig betrachte ich sie von allen Seiten, befreie sie sorgsam von Sand und Schmutz und lausche ihren leisen Stimmen.

Und wenn sie mich berühren, schreibe ich sie auf.

Auch in diesem zweiten „Strandgut“-Band führen die Geschichten an Strände und Küsten, in kleine, lebendige Fischerdörfer oder an stille Orte, in denen die Grenzen zwischen Meer und Himmel, zwischen Bewusstsein, Wunsch, Erinnerung und Traum verschwimmen.

Begleiten Sie mich noch einmal...

Ihre

Karin Buchholz

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Strandgut...

Strichmännchen

Dünensänger

Champagner am Kap

Wale

St. Michael in Öl

Muschelmenschen

Fundstücke

Uferfest

Regenbogentänzer

An Deck

Jonathan

Sturmvogel

Strichmännchen

Auf dem Deich, der von ihrem Fenster aus den Horizont begrenzt, laufen trotz des stürmischen Wetters Leute. In ihren farbigen Regenjacken sehen sie wie bunte Strichmännchen auf einer mit dem Zeichenstift gezogenen Linie aus. Sie stemmen sich gegen den Wind, bleiben von Zeit zu Zeit stehen und sehen hinüber ins Watt oder auch zur Landseite, wo sich die kleinen Reet-dachhäuschen beinahe aneinanderkuscheln, so als wollten sie sich gegenseitig wärmen gegen die beißende Novemberluft.

Es führen schmale Treppen zu beiden Seiten des Deiches hinunter, und hin und wieder verschwinden einige der Strichmännchen auf der anderen Seite, dort, wo das Watt im Sommer moorig an den nackten Füßen kleben bleibt. Doch jetzt ist es zu kalt, um barfuss durchs Watt zu gehen. Die Strichmännchen tragen bunte Gummistiefel, manche sogar Gummihosen, die sie vor Wind und Wasser schützen.

Die kleinen Wanderergruppen ziehen sich immer wieder unregelmäßig auseinander, schließen wieder zueinander auf, gestikulieren mit den Armen. Und auch der ein oder andere Einzelgänger setzt seinen mühseligen Weg gegen den böigen Wind fort.

Rosa steht am Fenster, dessen kleine, viereckige Scheiben halb von einer Häkelgardine verdeckt sind. Kleine gehäkelte Segelboote ziehen ihre Bahn über das schmale Fenster, das nur mühsam die Kälte von draußen abhält.

Der Teebecher in ihrer Hand dampft und wärmt sie zumindest ein wenig, während sich ihre Brust zum wiederholten Male in einem tiefen Seufzer hebt und wieder senkt.

Eines der Strichmännchen – es ist ein gelbes – winkt mit beiden Armen zu ihr herüber. Es trägt eine dunkle Pudelmütze und Handschuhe, die Hose ist in gelbe Gummistiefel gesteckt, und von einem Arm baumelt fröhlich eine Tragetasche. Rosa hebt langsam den Arm und winkt zurück.

Jorge. Er bringt die Einkäufe. Zweimal die Woche kommt er vom Dorf herüber und bringt ihr, was sie zum Leben braucht. Er ist ein guter Junge, der Sohn eines spanischen Fischers, dessen Familie es vor Jahren hierher verschlagen hat und der in dem kleinen Dorfladen arbeitet: Kisten stapelt, Gemüse putzt, Regale auffüllt und Besorgungen für einige Stammkunden erledigt.

Das Strichmännchen bewegt sich weiter den Deich entlang, bis es schließlich hinter den kapuzenartigen Reetdächern der Nachbarhäuser verschwindet.

Rosa stellt den Becher auf der schmalen Fensterbank ab, auf der sich Muscheln, Treibholz und anderes Strandgut aneinanderreihen, und öffnet die Tür. Jorges gelbe Regenjacke lugt schon zwischen den unbelaubten Bäumen der angrenzenden Gärten hervor. Er kommt mit seinem gewohnt forschen und von Tatendrang und Energie zeugenden Gang den schmalen Weg an den Gärten herunter. Schließlich öffnet er das leicht schief hängende Gartentor und kommt mit einem breiten Strahlen auf dem Gesicht über den kleinen Plattenweg auf sie zu.

Rosa unterhält sich eine Weile mit ihm, während er wie üblich ablehnt, hereinzukommen. Er gibt ihr die Einkaufstasche, und sie reicht ihm das Geld hinüber. Seine rechte Hand hat er vom Handschuh befreit und fingert das Geld in eine schmale Jackentasche auf seiner Brust. Wie üblich verneigt er sich bei der Verabschiedung mehrmals, während er gleichzeitig rückwärts die zwei Stufen vor ihrer Haustür hinunter tritt. Er streift den Handschuh wieder über, winkt noch einmal zum Gruß, schließt das Gartentor, und das Gelb seiner Jacke verschwindet bald danach aus Rosas Blick.

Langsam schließt Rosa die Haustür und kehrt in die Stube zurück. Die Einkaufstüte lässt sie auf einen der Stühle sinken, die an dem schmalen Tischchen vor dem Fenster stehen.

Sie streicht ihrer Tochter über den Kopf und seufzt. Manuela hat den Kopf schief gelegt und sieht sie mit verdrehten Augen an, in denen das Weiße überwiegt. Rosa streichelt sanft über ihre Wange und hört das fröhliche Glucksen ihres kranken Mädchens. Des Kindes, das niemals mit den anderen Strichmännchen über den Deich laufen wird. Manuela wird dieses Haus wohl nie verlassen, und auch für Rosa ist es ihre ganze Welt geworden. Sie lässt ihr krankes Kind nicht allein.

Jorge bringt ihr die Lebensmittel.

Jorge erzählt ihr, was im Dorf vor sich geht.

Jorge ist ihr Fenster zur Welt.

Rosa tritt ans Fenster zurück und schaut zum Deich hinüber. Dort steht ein winkendes gelbes Strichmännchen, und sie hebt langsam die Hand und winkt noch einmal zurück.

Manuela gluckst. Rosa betrachtet sie liebevoll. Auf dem mit bunten Stiften wild und willkürlich bekritzelten Zettel, der vor ihr auf dem Tischtuch liegt, ist die einzig erkennbare Figur ein Strichmännchen, das beide Arme in die Luft reckt.

Rosa lächelt. Manuela sieht wohl Dinge, die ihre Augen gar nicht sehen. Sie sieht sie wohl in ihrem Kopf, die Strichmännchen auf dem Deich…

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Dünensänger

Clara hatte ihr ganzes Leben hier auf der Insel verbracht. Ihr Kinderzimmer waren die langen breiten Sandstrände gewesen und im kleinen Strandbad, hinten bei den großen Dünen, hatte sie Schwimmen gelernt. Später war sie Lehrerin geworden und hatte fast auf den Tag genau dreiundvierzig Jahre lang die Kinder in der kleinen Dorfschule unterrichtet.

Seit ihrer Pensionierung arbeitete sie für das winzige Inselmuseum und erklärte den Touristen, wie sich das Leben der Insulaner im Laufe der Jahrhunderte verändert hatte. Einmal in der Woche, immer donnerstags, betreute sie obendrein die Inselbücherei. Zum Glück gab es noch genügend Touristen, die ihren Aufenthalt hier mit Lesen verbrachten – eine immer weiter aussterbende Tätigkeit, wie Clara fand, seit es diese grässlichen elektronischen Geräte gab, mit denen man außer zu telefonieren auch noch Musik hören und – überflüssigerweise – elektronische Bücher lesen konnte. Dabei ging doch wirklich nichts über das leise Geräusch, das eine raue Papierseite beim Umblättern machte und mit dem es den Leser weiter durch die Geschichte begleitete... Clara liebte Bücher. Schon immer hatte sie viel gelesen – als Kind schon war sie ständiger Gast in der Bücherei gewesen, und heute genoss sie es, die ein oder andere Neuerwerbung als eine der ersten mit nach Hause nehmen zu können.

Darüber hinaus hatte Clara eine Vorliebe für die monatlichen Bingo-Abende der Kirchengemeinde, an denen sie regelmäßig und ohne Ausnahme teilnahm. Sie war eine gute Spielerin und bei den anderen, ebenfalls zumeist älteren Teilnehmern sehr beliebt. Jeder auf der Insel kannte sie, und bisweilen traf sie bei den geselligen Abenden sogar ehemalige Schülerinnen und Schüler, die inzwischen selbst Familienväter oder – mütter waren.

Doch seit vorletzter Woche hatte Clara eine neue Vorliebe – eine, von der jedoch niemand etwas wissen sollte. Sie hütete ihr kleines Geheimnis vor jedem – selbst vor ihrer besten Freundin Helga, ihrer Schulfreundin aus alten Tagen. Mit ihr sprach sie sonst über alles – vor allem aber sprach Helga über alles mit ihr. Helga war ein Mensch, der nicht länger als ein paar Minuten den Mund halten konnte – eine bisweilen lästige Angewohnheit, zumal diese mit zunehmendem Alter auch ein ständiges Sich-Wiederholen einschloss. So gerieten die Unterhaltungen der beiden alten Damen gern zu einem „wiederkäuenden Erlebnis“, wie Clara es insgeheim nannte.

Gerade hatte Helga ihr wieder pausenlos am Telefon von der heutigen Begegnung mit ihren Kindern berichtet – unerzogene, vorlaute Menschen, die ihre Mutter schon seit langem rücksichtslos behandelten und gegen die sich Helga in all den Jahren nie zur Wehr zu setzen verstanden hatte. Ja, bisweilen war es auch ein Segen, keine Kinder zu haben, dachte Clara still bei sich.

Endlich – und trotz allen Mitleids mit ihrer Freundin – hatte Clara den Telefonhörer aufgelegt, nachdem sie Helga bereits mehrfach ins Wort gefallen war. „Meine Liebe, ich muss jetzt wirklich los. Es tut mir leid!“ hatte sie noch einmal nachdrücklich in den Hörer gerufen und dann kurzentschlossen aufgelegt.

‚Was für eine Quasselstrippe’, murmelte Clara, während sie ihren Haustürschlüssel aus der kleinen Schale auf der Kommode nahm, ihre Jacke überstreifte und schnellen Schrittes das Haus verließ.

Es war ein wundervoller früher Abend. Die Luft war mild und noch sommerlich, obwohl sich seit einigen Tagen schon ein recht herbstlicher Duft mit dem vertrauten Geruch von Meer und Seetang zu mischen begann. Es war Mitte September, und schon bald würde es stiller werden auf der Insel. Die Touristen kamen im Herbst und Winter nur spärlich hierher, und Clara freute sich bei dem Gedanken, die Insel dann wieder ganz für sich und die anderen Einheimischen zu haben. Dann saßen sie beisammen, die Insulaner, tranken Tee mit Rum, erzählten sich von ihren Familien, spielten Karten und genossen in einer der gemütlichen Wohnküchen der alten Häuser einen warmen Ofen und die nette Gesellschaft. So war es hier schon immer gewesen – als Kinder hatten sie dann bis spät abends mit den Erwachsenen zusammen gesessen, ihren Geschichten gelauscht und waren mit Dorfklatsch und Gemeinschaftssinn groß geworden.

Clara blickte auf die Uhr – sie musste sich wirklich beeilen. Sie wollte um nichts auf der Welt ihre liebste Verabredung des Tages verpassen!

Mit eiligen, festen Schritten ging sie die Dorfstraße hinunter in Richtung Düne, bog an dem alten Holzschild mit der abblätternden Aufschrift „Zum Strand“ ab und zog ihre Jacke vor der Brust zusammen, als der erste Seewind sie traf. Der Wind wehte hier immer, tagein, tagaus, aber Clara liebte das Gefühl, wenn er mit ihren Haaren spielte. Deshalb trug sie auch nie Kopftuch, Mütze oder Hut – schrecklich! Nein, sie wollte den Wind spüren, wollte sich den Kopf zerzausen und die Gedanken durcheinander wirbeln lassen. Herrlich war das! Dann fühlte sie sich wieder wie das junge Mädchen von damals, das jeden Abend zum Sonnenuntergang an den Strand gelaufen war und sich nicht hatte satt sehen können an den tausend Farben des Abendhimmels.

Etwas außer Atem erreichte sie schließlich die erste Düne, schlug den Fußpfad nach rechts in Richtung Leuchtturm ein, bog dann aber, noch bevor sie ihn erreichte, wieder nach links ab, wo sie zwischen Heidekraut und Strandhafer hindurch den Strand erreichte.

Hier hielt sie – wie immer – einen Moment lang inne. Dieser Blick - ihn liebte sie über alles. Und die salzige Luft, das Rauschen der Brandung... Langsam schloss sie für einen Atemzug die Augen und sog ihre Insel tief in sich auf.