Inhalt

Vorwort

Mein hochverehrter Lehrer G. W. Nishijima Roshi hat kürzlich seinen 90. Geburtstag gefeiert. In seiner Jugend hielt er den Buddhismus für eine pessimistische, lebensabgewandte Religion, bis er den großen Meister Kodo Sawaki kennenlernte und 20 Jahre unter seiner Anleitung Buddhismus studierte und praktizierte. Während dieser Zeit wurde ihm immer klarer, dass genau das Gegenteil richtig ist.

Japan, das damals von imperialistischen Militärs regiert wurde, befand sich in einer dunklen und schweren Phase seiner Geschichte, in der das Volk immer größere Not erleiden musste. In dieser Zeit hat der neue Zen-Buddhismus seine Feuertaufe bestanden – nicht zuletzt durch das Wirken der großen Meister wie Kodo Sawaki und Nishijima Roshi.

Nishijima Roshi schildert in diesem Buch unmittelbar und ungekünstelt seine eigene Jugend. In einem persönlichen Gespräch sagte er mir einmal, dass von seinem Jahrgang nur etwa jeder zehnte der eingezogenen jungen Männer den Krieg überlebt hätte und dass viele sogar an Hunger gestorben seien. Er vermittelt uns einen lebendigen Eindruck von der damaligen Zeit und schildert mit menschlicher Wärme die ungewöhnlichen Zen-Meister Kodo Sawaki und Rempo Niwa, seinen zweiten Lehrer, der ihm die Dharma-Übertragung und damit die Lehrbefugnis erteilte. Rempo Niwa war später der Leiter der Soto-Linie und Abt von deren Haupt-Kloster Eihei-ji.

Fast 70 Jahre studierte, praktizierte und lehrte Nishijima Roshi den authentischen Buddhismus und stützte sich dabei hauptsächlich auf das große Werk Meister Dogens, »Die Schatzkammer des wahren Dharma-Auges« (Shobogenzo), das wohl umfassendste und tiefgründigste Werk des Zen, aber sicher auch ein zentrales Werk des gesamten Buddhismus. Es gelang ihm durch gründliche, unermüdliche Studien, verbunden mit der täglichen Zazen-Praxis, die Kodo Sawaki so nachdrücklich gelehrt hatte, immer tiefer in dieses herausragende Werk einzudringen und die bedeutenden Schätze, die darin über viele Jahrhunderte verborgen waren, für die moderne Zeit zu heben. Er löste die scheinbaren Widersprüche und Paradoxien auf und brachte die Schrift in einer modernen Sprache heraus. Zusammen mit verschiedenen Schülern aus den westlichen Ländern übersetzte er das vierbändige Werk des Shobogenzo ins Englische und Deutsche. Ich habe selbst an der deutschen Fassung über acht Jahre intensiv mitgearbeitet. Die Übersetzungen ins Spanische und Französische befinden sich in Arbeit und werden demnächst fertiggestellt sein. Nishijima Roshis Editionen gelten heute unbestritten als die verlässlichsten Gesamtübersetzungen des Shobogenzo.

Nachdem er sich viele Jahre mit dem Shobogenzo befasst hatte, lernte er in einem Alter, in dem andere in den Ruhestand gehen, die altindische Sprache Sanskrit und studierte über 20 Jahre lang das Werk des indischen Meisters Nagarjuna »Der Gesang des tiefgründigen Mittleren Weges«. Als ich Nishijima Roshi zum ersten Mal begegnete, saß er gerade vor dem Computer bei der Arbeit der Übersetzung und Kommentierung und erklärte mir die Eckpunkte dieses Werkes. Mit der für ihn typischen Gründlichkeit verglich er den Urtext in Sanskrit mit den chinesischen, japanischen und englischen Übersetzungen, denn er beherrscht alle diese Sprachen, und kam zu dem Schluss, dass eine gänzlich neue Interpretation dieses großen Werkes erforderlich ist, um die bisherigen, zum Teil schwerwiegenden Fehler zu beseitigen. Wir können gespannt darauf sein, bald seine eigene Übersetzung mit den fundierten Kommentaren in Händen zu halten.

Das vorliegende Buch enthält sehr persönliche Erinnerungen und Beschreibungen Nishijima Roshis und gibt seine scharfsinnigen Analysen der europäisch-amerikanischen Kultur aus der Sicht eines Ost-Asiaten wieder. Er weist unter anderem die enge Verbindung des europäischen Humanismus mit dem Buddhismus nach. Mehrere Kapitel geben holzschnittartig seine großartigen buddhistischen Lehren und praktischen Erfahrungen wieder und bieten so einen ausgezeichneten Einstieg in den Buddhismus überhaupt. Er behandelt umfassend und tiefgründig die Frage der Verwirklichung des Menschen, also Erleuchtung und Befreiung von den Zwängen täuschender Gedanken und Emotionen. Dadurch werden positive Kräfte und Energien unseres Lebens und des wahren Selbst freigesetzt. Er scheut sich nicht, die gravierenden Fehlentwicklungen beim Streben nach Erleuchtung zu benennen und uns vor Sackgassen und schwerwiegenden Irrtümern zu bewahren.

Ein Leben im inneren und äußeren Gleichgewicht, die Vernunft und die Wirklichkeit sind neben dem ethischen Gesetz von Ursache und Wirkung zentrale Elemente des Buddhismus. Die eindimensionalen Lebensphilosophien des Idealismus und Materialismus müssen überwunden werden, da sie uns daran hindern, ein befreites Leben führen zu können. Nishijima Roshi räumt mit dem grassierenden Vorurteil auf, der Zen-Buddhismus fordere ein schmerzhaftes und asketisches Leben, und zitiert Meister Dogen, der im Gegenteil sagt: »Die Zazen-Praxis ist das Tor zum Frieden und zur Freude.« Diese Worte machen auch deutlich, dass Theorie allein unser Leben nicht dauerhaft verbessern kann, sondern wir sollten praktizieren, im Alltag handeln und versuchen, einen verlässlichen Lehrer zu finden.

Nishijima erklärt die philosophischen Grundlagen seines buddhistischen Lehr- und Praxisgebäudes in allgemein verständlicher und nachvollziehbarer Weise. Das ist bekanntlich nicht selbstverständlich. Einen besonderen Schwerpunkt dieses Buches bilden zwei neu übersetzte Originaltexte Meister Dogens, die Nishijima Roshi fachkundig erläutert: »Allgemeine Richtlinien zur Zazen-Praxis« (Fukan zazengi) und »Ratschläge für das Streben nach der Wahrheit« (Gakudo-yojin-shu). Letzteres ist wie eine Kurzfassung des umfassenden Werkes Shobogenzo zu verstehen.

Das Schlusskapitel stellt mehrere buddhistische Gedichte vor, die in den Klöstern im Tagesablauf zu verschiedenen Anlässen gemeinsam rezitiert werden.

Die von Nishijima Roshi verfassten Texte dieses Buches sind in einer ersten Fassung im Internet-Blog der Dogen Sangha in Englisch veröffentlicht worden. Ich habe sie ins Deutsche übersetzt und behutsam editiert, um aus den einzelnen Textbausteinen des Internet-Blogs ein zusammenhängendes, gut lesbares Buch zu erstellen. Aus meiner Sicht ist daraus ein Juwel der buddhistischen Literatur entstanden, das von der Lebendigkeit, Menschlichkeit und dem profunden Erfahrungsschatz dieses großen alten Zen-Meisters berichtet. Es ist auch mein Geburtstagsgeschenk für Nishijima Roshi, das ich in tiefer Dankbarkeit übergebe. Hoffentlich bringt es auch vielen Lesern Freude und ein tieferes Verständnis des wahren Buddhismus.

Berlin im Januar 2010

Y. J. Seggelke

Kalligrafie des Shobogenzo, Tokio im Jahr 2008

1. Meine Familie, der Buddhismus und ich

Ich bin jetzt 90 Jahre alt, und wenn ich über mein langes vergangenes Leben nachdenke, fühle ich mich sehr glücklich, dass ich dem Buddhismus begegnet bin und ihn seit vielen Jahren studiere und praktiziere. Ich habe meines Erachtens das Wesen des Buddhismus verstanden und möchte mein Verständnis nun auch durch dieses Buch allen interessierten Menschen vermitteln. Als junger Mann habe ich nicht im Entferntesten daran gedacht, dass es in der Welt nur eine einzige Wahrheit gibt, die das ganze Universum durchzieht. Aber nachdem ich die buddhistische Lehre kennengelernt hatte, die von Gautama Buddha entwickelt und an uns weitergegeben worden ist, begann ich, dem Buddhismus vollständig zu vertrauen. Seitdem habe ich mehr als 65 Jahre meines Lebens den Buddhismus studiert, ihn praktiziert, gelehrt und verbreitet. Ich bin auch sehr glücklich darüber, die buddhistische Lehre mit den neuen Technologien des Internets auf der ganzen Erde verfügbar machen zu können.

Sicherlich befinden sich die großen Weltreligionen gegenwärtig in einer schwierigen Situation und in der Tat bestehen außerordentlich ernste Probleme für den religiösen Glauben in der Welt. Dabei ist das Problem des fundamentalistischen Islam nur ein extremes Beispiel von vielen anderen. Die Lage auf der Erde ist erheblich komplizierter geworden, und obgleich viele ausgezeichnete Politiker, religiöse Führer und auch Wissenschaftler große Anstrengungen unternehmen, diese schwerwiegenden Probleme zu lösen, scheint es für die Menschen gegenwärtig überhaupt nicht einfach zu sein, ihre religiösen Unsicherheiten und Verwirrungen zu klären.

Der Buddhismus jedoch unterstreicht in aller Klarheit, dass wir die beiden einseitigen und daher nicht korrekten Lebensphilosophien, den Idealismus und den Materialismus, überwinden und die Wirklichkeit selbst annehmen müssen, so wie sie ist. Aus einer solchen Sichtweise würden sich zweifellos die besten Lösungen für die Menschheit ergeben. Ich werde dies später noch genauer darstellen.

Als ich die Lehre des Buddhismus zum ersten Mal hörte, erstaunte mich vieles und es schien mir fast unmöglich, ihr zu folgen und zu vertrauen. Der Buddhismus übte aber eine unerklärliche Anziehungskraft auf mich aus, und als ich ihn genauer studierte, fand ich heraus, dass er überaus vernünftig ist. Diese umfassende Lehre kann uns wirklich davon überzeugen, die einseitigen und unvollständigen Weltanschauungen des Idealismus und Materialismus aufzugeben. Wir können dann unsere Augen für die unmittelbare Wirklichkeit öffnen und das Leben mit seinen zahlreichen Problemen viel besser meistern. Mir erschien die buddhistische Lehre schon bald recht einfach und direkt, verglichen mit den komplizierten Philosophien, die im Westen entwickelt worden sind. Das hat mich immer wieder von Neuem überrascht. Schließlich war es für mich überhaupt nicht mehr möglich, die verständlichen und praktischen Lehren des Buddhismus anzuzweifeln oder abzulehnen.

Familie und Religion

Die Familie, in der ich aufwuchs, war nicht religiös. Mein Vater folgte zwar der japanischen Sitte jener Zeit und reinigte einen kleinen schintoistischen Altar, indem er die Blätter, das Wasser und die Sake am Anfang jedes Monats erneuerte. Aber er war kein gläubiger Anhänger des Schintoismus. Meine Mutter besuchte regelmäßig einen Schinto-Schrein in der Nähe unseres Hauses, aber sie war ebenfalls nicht sehr gläubig. Ich lernte durch meine Familie also keinen starken religiösen Glauben kennen, der mich nachhaltig beeinflusst hätte.

In den Jahren 1932 und 1936 kam es in Japan zu starken Auseinandersetzungen und politischen Konfrontationen zwischen dem nationalistischen Militarismus und dem marxistischen Kommunismus. Diese Weltanschauungen wurden immer schärfer und aggressiver, sodass ich den Drang verspürte, selbst für mich herauszufinden, welche wohl richtig sei. In dieser Zeit wurde für mich das Wesen der religiösen Sichtweise immer wichtiger und ich beschäftigte mich zunehmend ernsthafter mit spirituellen Fragen.

Dann bekam ich die Gelegenheit, an einem buddhistischen Sesshin teilzunehmen, der von Meister Kodo Sawaki geleitet und im Tempel Daichu-ji in der Tochigi-Präfektur im nördlichen Distrikt von Tokyo durchgeführt wurde. Damals hörte ich zum ersten Mal die klare Aussage von Meister Kodo Sawaki: »Die politische Rechte hat Unrecht und die politische Linke hat auch Unrecht.« Seine Worte gingen mir immer wieder durch den Kopf und ich kam zu dem Schluss, dass diese Ansicht richtig sein muss.

Meine Wurzeln

Da die Gene dem Gesetz von Ursache und Wirkung folgen, ist es sehr wahrscheinlich, dass ich von meinen Vorfahren beeinflusst bin. Deshalb möchte ich im Folgenden ganz kurz von meinen Großeltern und Eltern berichten und den Zusammenhang schildern, wie ich buddhistischer Mönch wurde.

Mein Großvater hieß Tanemi Koganemaru und war Soldat des feudalistischen Clans in Fukuoka. Obgleich sich dieser feudalistische Clan loyal gegenüber der Tokugawa-Regierung verhielt, begeisterte es ihn, dass eine neue imperiale Regierung gebildet wurde, die ein japanisches Weltreich errichten wollte. Bevor jedoch dieses Regime an die Macht kam, wurde mein Großvater von der Polizei des Clans gefangen genommen und in einer Festung ins Gefängnis gebracht.

Meine Großmutter arbeitete außerordentlich fleißig, um das dringend benötigte Geld zu verdienen, damit sie ihre beiden Söhne allein ernähren konnte, solange ihr Mann im Gefängnis war. Während dessen Inhaftierung entzog der Clan der Familie sogar ihren bisherigen Namen und gab ihr den neuen Namen Nishijima, sodass mein Vater von da an Iwao Nishijima hieß und ich diesen Namen übernommen habe.

Als das neue imperiale Regime schließlich die Macht übernahm, wurde mein Großvater plötzlich wieder freigelassen und konnte sein früheres Leben mit der Familie fortführen.

Westlich der Stadt Fukuoka stand ein kleiner Berg namens Kayaberg (Tsukushi Fuji), an dessen Fuß das Dorf Koganemaru lag, in dem fast alle Familien den gleichen Namen Koganemaru trugen. Dort lebte auch der Soldat Kuniomi Hirano mit der wichtigsten Familie des Dorfes zusammen. Er wurde später der Führer der Revolte bei der Ikuno-Silbermine in der Hyogo-Präfektur und kämpfte gegen die alte Tokugawa-Regierung. Wir können daher annehmen, dass mein Großvater von den Parolen des Soldaten Hirano für ein japanisches Weltreich und das neue imperiale Regime stark beeinflusst wurde, da er in demselben Dorf lebte.

Nachdem dieses Regime mit dem gigantischen Ziel eines japanischen Weltreichs die Macht ergriffen hatte, arbeitete mein Großvater als Assistent von Soho Tokutomi, der in jener Zeit ein berühmter Historiker war. Es scheint jedoch, dass mein Großvater nicht sehr zufrieden mit seiner finanziellen Lage war und zu wenig Geld zur Verfügung hatte.

Mein Großvater mütterlicherseits hieß Sukeyoshi Terai und war Soldat des alten Tokugawa-Regimes. Er kämpfte in dessen Armee gegen das neue imperiale Regime, nachdem sich dieses bei der Stadt Aizu im Nordostdistrikt von Japan festgesetzt hatte. Er glaubte sehr ernsthaft an einen personalen Gott mit Namen Sugawara Michizane, und als dieser ihm im Traum erschien und ihm sagte, er solle nach Tokyo zurückkehren, folgte er und ging wieder nach Tokyo. Später wurde er Offizier in der Stadt Yokohama und leitete dort eine Abteilung. Gleichzeitig war er Haiku-Lehrer im traditionellen alten Stil. Seine Frau starb, als meine Mutter noch sehr jung war, sodass sie nach der zweiten Heirat meines Großvaters mit einer Stiefmutter aufwuchs.

Das besondere Training durch meinen Vater

Wenn ich darüber nachdenke, was mich am Buddhismus so angezogen hat, obgleich ich doch wirklich nicht in einer besonders religiösen Familie aufgewachsen war, fällt mir immer ein, wie mein Vater mit mir in meiner Kindheit ein spezielles Lauftraining durchführte.

Mit sechs oder sieben Jahren war ich kein besonders kräftiger Junge, sondern eher klein und schmächtig und man konnte mich wirklich nicht als robust bezeichnen. Bei den sportlichen Wettkämpfen, die jedes Jahr in der Grundschule abgehalten wurden, schnitt ich meistens am schlechtesten ab. Mein Vater machte sich deshalb wohl Sorgen und schlug eines Abends nach dem Essen vor, dass wir einen gemeinsamen Spaziergang machen sollten. Nachdem wir ein wenig gegangen waren, fand er einen Ort, an dem sich nicht so viele Menschen aufhielten. Dann forderte er mich auf, bis zum nächsten Strommasten zu laufen, der nicht weit von uns entfernt stand, und wieder zurück. Ich konnte beim besten Willen den Grund dafür nicht verstehen, auf der anderen Seite gab es aber auch keine ernsthaften Argumente, das Laufen abzulehnen. Daher folgte ich der dringenden Bitte meines Vaters an diesem und an den folgenden Abenden.

Ohne dass ich es recht bemerkte, wurden die Strecken, die ich lief, immer länger. Außerdem machte ich mein Lauftraining nicht mehr am Abend, sondern am Morgen. Nach einiger Zeit lief ich jeden Tag bereits ungefähr drei Kilometer. Jedes Mal wartete mein Vater am Startpunkt auf mich; besonders im Winter war dies für ihn sicherlich unangenehm kalt. Er betreute mein Lauftraining mehrere Jahre lang sehr sorgfältig und ohne Unterbrechung.

In meinem persönlichen Leben führte dieses Training zu einem tief greifenden Wandel. Vom ersten bis zum dritten Jahr in der Grundschule hatte ich wie gesagt bei den sportlichen Wettkämpfen leider meistens den letzten Platz belegt. Aber zu meiner größten Überraschung war ich vom sechsten bis zum letzten Jahr in dieser Schule immer der Erste. Gleichzeitig traten auch noch andere wesentliche Veränderungen auf. Zum Beispiel bemerkte ich, dass mein eher kindliches Verhalten verschwand und ich mich in meinem täglichen Leben immer mehr wie ein Erwachsener verhielt, obgleich ich doch noch eindeutig im Alter eines Kindes war. Ich hatte den Eindruck, dass ich die üblichen kindlichen Eigenschaften ablegte, zum Beispiel einmal von überschießender Freude und ein anderes Mal von tiefer Trauer erfüllt zu sein. Ich wurde immer ruhiger und nicht mehr von unkontrollierbaren Emotionen überfallen. Mein gesamtes Denken wurde immer realistischer und die romantischen Ideen und gefühlsmäßigen Schwankungen, die für Kinder und Jugendliche typisch sind, verloren sich immer mehr. Obgleich ich diese Entwicklung damals durchaus bedauerte, war es eine Tatsache, die ich nicht leugnen konnte, und es war mir auch gar nicht möglich, dies zu ändern.

An einem kalten Wintermorgen bemerkte ich plötzlich, dass meine Hände überraschenderweise ausgesprochen heiß waren. Ich hatte ein ganz seltsames Gefühl und steckte sie in das kalte Wasser eines großen Kübels zum Feuerlöschen, der am Rande des Schulhofes stand, um sie abzukühlen. Wenn ich heute darüber nachdenke, erscheint es mir ganz natürlich, dass meine Hände so heiß und stark durchblutet waren, weil ich das intensive Lauftraining vor dem Frühstück absolviert hatte und mein Kreislauf dadurch stark angeregt war. Ich erinnere mich außerdem an weitere ähnliche besondere Begebenheiten in meiner Kindheit, die wohl ebenfalls mit dem Lauftraining zusammenhingen.

Mit etwa 13 Jahren beendete ich gegen den Willen meines Vaters leider das Training. Ich war damals ein scheuer Junge. Noch heute erscheint es mir eigenartig, wie stark mein Leben durcheinandergeriet, als ich mit dem Laufen aufhörte. Obwohl ich das damals nicht so klar erkannte, war es ganz eindeutig, dass ich mich von meinem vorherigen geordneten Tagesablauf immer mehr entfernte. Mein Leben verlief nun eher im Zickzack, mit Höhen, aber auch unangenehmen Tiefen. Weil ich meist unruhig war, hielt es mich nicht mehr länger zu Hause und so verbrachte ich immer mehr Zeit außerhalb, indem ich zum Beispiel ins Kino ging oder nach gebrauchten preiswerten Büchern suchte. Es wurde dadurch immer schwieriger für mich, ein geordnetes Leben zu führen. Obgleich ich mich damit überhaupt nicht wohlfühlte, sah ich keine Chance, mich selbst bewusst zu steuern und mich positiv zu verändern. Mein Leben wurde immer schmerzvoller, komplizierter und unangenehmer.

In dieser unerfreulichen Situation bereitete es mir jedoch noch eine gewisse Freude, so viel wie möglich erstklassige japanische Literatur zu lesen und große Mengen übersetzter Literatur aus dem Englischen, Französischen, Deutschen, Russischen und anderen Sprachen zu studieren. In jener Zeit war der Wert des Geldes sehr hoch, was es mir ermöglichte, viele gute gebrauchte Bücher zu ausgesprochen niedrigen Preisen zu kaufen. So las ich fast nach dem Prinzip des Zufalls die unterschiedlichsten Werke – und dies erwies sich später zusammen mit meiner Praxis des Zazen als besonders nützlich bei meiner Suche nach der Wahrheit.

Auch ausländische Filme aus Frankreich, Deutschland und anderen Ländern konnte ich anschauen, was mir eine ausgezeichnete Möglichkeit bot, den Humanismus Europas und Amerikas nicht nur über Bücher kennenzulernen und vertieft zu studieren.

Vor einer weiteren chaotisch verlaufenden Jugendzeit wurde ich dadurch bewahrt, dass ich mich für die schwierige Aufnahmeprüfung der Highschool vorbereitete, was viel Zeit in Anspruch nahm. In Japan gab es damals etwa 40 staatliche Highschools, aus denen ich diejenige von Shizuoka auswählte. Später erfuhr ich, dass ich das beste Ergebnis bei der Aufnahmeprüfung im Fach Literatur erzielt hatte.

Eines Tages lief ich auf der Straße entlang und bemerkte unvermittelt, dass ich wieder zu einem geordneten Leben zurückgefunden hatte. Mir wurde klar, dass das Laufen dafür außerordentlich wichtig und nützlich war. Unmittelbar nach der bestandenen Aufnahmeprüfung erhielt ich viele Einladungen von verschiedenen Sportvereinigungen, denen ich mich anschließen sollte. Aber ich wollte selbst bestimmen, wo und auf welchen Bahnen ich laufen wollte und welche Sportplätze für mich geeignet waren. In der Mittelschule hatte ich den schwarzen Gürtel im Judo erhalten und daher empfahl mir ein Mitglied der Judo-Liga mit großem Nachdruck, dort einzutreten und Judo als Wettkampfsport zu betreiben. Ich aber wollte lieber laufen, weil ich damit bereits ziemlich lange gute Erfahrungen gesammelt hatte.

Ich erinnere mich sehr deutlich daran, dass meine Physis für das athletische, anspruchsvolle Training zunächst verhältnismäßig schlecht ausgebildet war. Aber ich dachte, dass ich dieses Problem auf natürliche Weise lösen könnte, wenn ich nur hart genug trainieren würde. Die extreme Herausforderung durch das übermäßig harte Training, die ich damals suchte, erwies sich aber nicht als sehr sinnvoll, sondern im Gegenteil als töricht. Heute denke ich, dass ich damit einen sehr unklugen Versuch unternahm, an meine menschlichen Grenzen zu stoßen oder sogar darüber hinauszugehen. Dennoch hatte diese große sportliche Anstrengung auch etwas Reines und Wahrhaftiges für mich. Das klingt vielleicht ein wenig eigenartig, aber so war es wohl wirklich und das offenbarte sich im Handeln selbst in jedem Augenblick.

Nachdem ich den extremen Sport aufgegeben hatte, fing ich an, immer mehr darüber nachzudenken, welche brillanten und kraftvollen Philosophien und Religionen es in den menschlichen Kulturen gab und wie diese in einer langen Historie entstanden und gewachsen waren. Ich war fest davon überzeugt, bei genauem Studium dieser verschiedenen Philosophien und Religionen eine zu finden, die man ohne Bedenken als die Wahrheit selbst bezeichnen konnte. Damals entschied ich mich ganz klar, nach einer solchen höchsten Wahrheit in der menschlichen Kultur ernsthaft und konsequent zu suchen.

Mein hoch verehrter Lehrer Kodo Sawaki

Meine beiden hoch verehrten Meister

Zwei buddhistische Meister, die ich sehr verehre, lehrten mich auf sehr direkte Weise und umfassend: Meister Kodo Sawaki und Meister Rempo Niwa.

Im Oktober 1940 hatte ich das Glück, zu erfahren, dass Meister Kodo Sawaki einen Sesshin im Tempel Daichu-ji durchführen würde, an dem ich teilnehmen konnte. Für den Aufenthalt nahm ich mir Reis in einem Stoffbeutel mit, weil die Nahrungsmittel damals in Japan während des Krieges sehr knapp geworden waren.

Während des Sesshin standen wir morgens um drei Uhr auf und praktizierten zweimal 45 Minuten lang Zazen vor dem Frühstück. Nach dem Frühstück folgten zwei Sitzperioden, außerdem zwei am Abend und schließlich noch eine nachts. Meister Kodo Sawaki hielt zweimal am Tag einen buddhistischen Dharma-Vortrag, einen am Morgen und den anderen am Nachmittag. Als ich seinen Reden lauschte, war ich tief ergriffen, weil ich zum ersten Mal die wahre großartige buddhistische Lehre hörte. Seine Stimme klang laut und kräftig und was er sagte, war für mich außerordentlich einleuchtend und überzeugend.

In seinem Vortrag befasste er sich mit den »Allgemeinen Richtlinien zum Zazen« (Fukan zazengi). Meister Dogen hatte diesen Text geschrieben, nachdem er aus China zurückgekehrt war. Es war sein erstes Werk, das er zum Buddhismus verfasste.

Meister Kodo Sawaki hatte die buddhistische Lehre mit der Bezeichnung Hosso Gaku studiert, die in der Tan-Dynastie in China entwickelt worden war. Bereits in jungen Jahren hatte er sich sehr intensiv mit dem Buddhismus beschäftigt, sodass seine buddhistische Lehre außerordentlich genau und auch theoretisch sehr fundiert war. Daher waren seine Dharma-Vorträge umfassend und sehr exakt. Obgleich die Grundlage des Buddhismus bei Kodo Sawaki eindeutig die Zazen-Praxis bildete, lehrte er auch eine sehr logische philosophische Struktur des Buddhismus.

Ich denke, dass das wichtigste und hervorragendste Wesensmerkmal bei Meister Kodo Sawaki vor allem sein vollkommen reines Verhalten darstellte, immer der Wahrheit zu folgen. Das Shobogenzo von Meister Dogen enthält zum Beispiel Kapitel 5: »Regeln für die Halle der schweren Wolke« (Ju-un-do Shiki). Dogen beschreibt darin, dass jemand, der den Willen zur Wahrheit besitzt und sich entschieden hat, das Streben nach Ruhm und Profit aufzugeben, wirklichen Zugang zum Buddhismus gefunden hat. Ein Mensch, der keine Aufrichtigkeit bei der Wahrheit kennt, kann keinen Zugang zum Buddhismus finden. Wir sollten erkennen, dass wir vollkommen unabhängig von Ruhm und Profit werden, wenn sich der Wille zur Wahrheit bei uns voll entwickelt hat.

Wir können mit Sicherheit annehmen, dass Meister Kodo Sawaki diese grundlegende buddhistische Regel genau kannte und in seinem Leben verwirklicht hat. Er leitete niemals einen eigenen Tempel, weil er wusste, dass er mit dieser Aufgabe vollauf beschäftigt gewesen und ihm keine Zeit geblieben wäre, die wahre buddhistische Lehre gründlich zu studieren und zu lehren. Deshalb heiratete er auch nicht und widmete sich stattdessen sein ganzes Leben lang mit großer Kraft dem Buddhismus in allen Angelegenheiten.

Nach dem Zweiten Weltkrieg schrieb der Amerikaner Brian Victoria ein Buch, in dem er harsche Kritik an Meister Kodo Sawaki äußerte, weil dieser die Kriegspolitik der japanischen Regierung unterstützt habe. Wenn man jedoch das menschliche Verhalten und Handeln von Kodo Sawaki während des Krieges so wie ich selbst erlebt hat, wird ganz klar, dass er niemals in der behaupteten Art und Weise aktiv mit der damaligen Regierung zusammengearbeitet hat. Ich bin daher zu dem eindeutigen Schluss gekommen, dass der Autor die Tatsachen im Falle von Meister Kodo Sawaki verzerrt und unrichtig wiedergegeben hat. Warum Brian Victoria so handelte, weiß ich nicht und ich kann es auch nicht nachvollziehen.

Der andere Meister, von dem ich viel gelernt habe, war Meister Rempo Niwa. Weil er später der Abt des Haupttempels der Soto-Linie Eihei-ji wurde, möchte ich ihn gern als Abt bezeichnen und folge damit unserer Überlieferung der Bezeichnung der früheren Meister.

Seit meinem 16. Lebensjahr wuchs mein Interesse an der buddhistischen Lehre Dogens immer mehr und vor allem beschäftigte mich das Werk »Die Schatzkammer des wahren Dharma-Auges« (Shobogenzo), das ich dann sehr viele Jahre gründlich studiert habe. Nach intensiver und langer Auseinandersetzung mit dem Shobogenzo begann ich mit dessen Übersetzung aus dem Alt-Japanischen in die moderne japanische Sprache. Diese Arbeiten umfassten das intensive Studium des alten japanischen Textes, Kommentare zum verwendeten Vokabular sowie die Übersetzung in das moderne Japanisch selbst. Nachdem ich die Übersetzung fertiggestellt hatte, publizierte ich sie unter dem Titel: »Shobogenzo in modernem Japanisch« (Gendaigoyaku-Shobogenzo). Damals wollte ich auf dieser Grundlage gern an verschiedenen Orten mit Lehrreden und Vorträgen zum Shobogenzo beginnen. Daher fragte ich zunächst Dr. Akira Hirakawa, den Leiter der Vereinigung junger Buddhisten an der Imperial University von Tokyo. Er erteilte seine Zustimmung, dass ich an jedem Samstagnachmittag Lehrvorträge halten konnte.

Zu jener Zeit entschied ich mich auch, buddhistischer Mönch in der Soto-Linie zu werden. Deshalb war es für mich sehr wichtig, einen buddhistischen Meister zu finden, der mir die Zustimmung geben könnte, buddhistischer Mönch zu werden. Glücklicherweise fand ich den Namen des Abtes Rempo Niwa auf der Liste der graduierten Studenten der staatlichen Highschool von Shizuoka. Ich besuchte ihn in der Niederlassung des Tempels Eihei-ji in Tokyo und fragte, ob ich bei ihm buddhistischer Mönch werden könnte. Ich war tief beglückt darüber, dass er mich tatsächlich annahm. Als er meiner Bitte und meiner Begründung, buddhistischer Mönch zu werden, genau zuhörte, bemerkte ich, dass seine Augen feucht wurden und er sich einige Tränen aus den Augen wischte. Daraus schloss ich, dass es ihm wirklich eine besondere Freude bereitete, mich als Mönch anzunehmen. Er hatte seinen Abschluss an derselben Highschool von Shizuoka absolviert wie ich und war 14 Jahre älter als ich selbst. Zu jener Zeit hatte ich bereits die Funktion eines Abteilungsleiters bei einer japanischen Gesellschaft für Finanzversicherung inne. Mein Meister Rempo Niwa war mit großer Freundlichkeit und Sorgfalt darauf bedacht, dass für mich keine Schwierigkeiten in meinem weltlichen Beruf entstehen konnten.

Nach der Zeremonie, in der ich formal buddhistischer Mönch wurde, begann ich die Zazen-Praxis und Dogens Shobogenzo auch in der Eihei-ji-Außenstelle in Tokyo zu lehren. Weil die Vorträge dort am Mittwochnachmittag stattfanden, beendete ich meine berufliche Arbeit an diesem Tag etwas früher als üblich und ging in meiner normalen westlichen Kleidung als Privatmann zum Tempel. Nachdem ich das Jackett ausgezogen hatte, legte ich die buddhistische Kashaya über meinem weißen Hemd an und hielt so die buddhistischen Dharma-Vorträge im Tempel. Einige Mönche waren damit jedoch überhaupt nicht einverstanden, weil sie es für völlig unangemessen hielten, dass ein buddhistischer Mönch eine Dharma-Rede hielt und dabei die Kashaya über der westlichen Kleidung trug. Sie baten daher den Meister eindringlich, dass er die aus ihrer Sicht formal inkorrekte Kleidung im Tempel verbieten sollte. Meister Rempo Niwa sagte dazu aber: »Es ist nicht schlecht, weil er so wie ein indischer Mönch aussieht.« So konnte ich meine Vorträge im Tempel fortsetzen, ohne den Stil meiner Kleidung ändern zu müssen. Am Ende des Sommers leitete ich einen Sesshin im Tempel und dabei trug ich dann selbstverständlich die stilgerechte schwarze Kleidung eines buddhistischen Mönchs, ebenso bei Anlässen in der buddhistischen Vereinigung der Universität von Tokyo sowie bei ähnlichen formalen Treffen.

Schließlich leitete ich einen Sesshin in Meister Rempo Niwas damaligem Tempel Tokei-in bei Shizuoka. Dort führte ich später sechsmal im Jahr einen Sesshin durch: einmal für Japaner, einmal für Ausländer in englischer Sprache und viermal für die Angestellten der Ida-Company.

Mein hoch verehrter Lehrer Rempo Niwa

Rempo Niwa wurde in der Stadt Shuzenji in der Shizuoka-Präfektur als dritter Sohn von Katoda Shioya im Februar 1905 geboren. Sein Vater war dort Leiter mehrerer Schulen und hatte insgesamt zehn Söhne und Töchter. Seine Mutter Mura arbeitete hart in der Landwirtschaft, um ihre Familie nach besten Kräften zu unterstützen. Meister Niwa sagte mir, dass er damals ein kräftiger Junge war und Freude am Umgang mit Mädchen hatte. Als er aber den freundlichen und edlen Stil der buddhistischen Mönche kennenlernte, die im Tempel von Shuzenji ein- und ausgingen, fasste er den klaren Entschluss, selbst Mönch zu werden. Mit elf Jahren erhielt er dazu die Erlaubnis von seiner Familie.

Es traf sich gut, dass sein Onkel Butsu-an Niwa der Meister vom Tempel Tokei-in bei der Stadt Shizuoka war. Rempo Niwa ging vom Tempel aus in die dortige Grundschule. Weil er anschließend die Mittelschule von Nirayama besuchte, pendelte er von Tokei-in dorthin. Danach kam er zur Highschool in Shizuoka selbst, sodass er wieder ganz in den Tempel Tokei-in zurückkehren konnte.

Als Meister Rempo Niwa zum Studium an die Universität gehen wollte, bat ihn Meister Butsu-an, Jura zu studieren. Ich vermute, dass damals in der Soto-Linie viele juristische Probleme auftraten und dass Butsu-an daher auf diesem Gebiet einen guten Assistenten für sich benötigte. Rempo Niwa hoffte dagegen sehr, Buddhismus an der Universität studieren zu können, und da er diesen Wunsch immer wieder vortrug, erlaubte ihm Meister Butsu-an schließlich, in die Fakultät der indischen Philosophie einzutreten.

Tokei-in.Antai-jiEihei-jiIchjojiRyu-un-inTokei-in.Eihei-jiEihei-ji.