© Rolf Böttcher

Alle Rechte vorbehalten

Umschlagphotos: Ausschnitte aus dem Gemälde „Sindrome di

Stendhal 16" von Martin Figura

Herstellung und Verlag:

BoD - Books on Demand GmbH, Norderstedt, 2014

ISBN 978-3-7357-7267-1

Für

Hildegard Hofmann und Stefan Schnabel

„Was den Aberglauben der Logiker betrifft: so will ich nicht müde werden, eine kleine kurze Tatsache immer wieder zu unterstreichen, welche von diesen Abergläubischen ungern zugestanden wird- nämlich, daß ein Gedanke kommt, wenn »er« will, und nicht wenn »ich« will; so daß es eine Fälschung des Tatbestandes ist zu sagen: das Subjekt »ich« ist die Bedingung des Prädikats »denke«. Es denkt: aber daß dies »es« gerade jenes alte »Ich« sei, ist, milde geredet, nur eine Ausnahme, eine Behauptung, vor allem keine »unmittelbare Gewißheit«. Zuletzt ist schon mit diesem »es denkt« zuviel getan: schon dies »es« enthält eine Auslegung des Vorgangs und gehört nicht zum Vorgang selbst. Man schließt hier nach der grammatischen Gewohnheit »Denken ist eine Tätigkeit, zu jeder Tätigkeit gehört einer, der tätig ist, folglich - «. Ungefähr nach dem gleichen Schema suchte die ältere Atomistik zu der »Kraft«, die wirkt, noch jenes Klümpchen Materie, worin sie sitzt, aus der heraus sie wirkt, das Atom; strengere Köpfe lernten endlich ohne diesen »Erdenrest« auskommen, und vielleicht gewöhnt man sich eines Tages noch daran, auch seitens der Logiker ohne jenes kleine »es« (zu dem sich das ehrliche alte Ich verflüchtigt hat) auszukommen"

(Friedrich Nietzsche: Jenseits von Gut und Böse 17;
1885 geschrieben/1886 veröffentlicht)

Zehn Jahre später, 1895/96, legt Sigmund Freud die Fundamente zum Aufbau der Psychoanalyse.

Vorbemerkung

„die biographische Wahrheit ist nicht zu haben“1

(Sigmund Freud an Arnold Zweig)

Es entbehrt nicht des Witzes, dass es u. a. gerade eine Fehlleistung ist, die zeigt, wie sehr Freud und sein Werk im Bewußtsein der Menschen verankert sind. Der Begriff des „Unterbewußten“ ist zu einem festen und im Alltag gebrauchten, ja zu einem geflügelten Terminus geworden. Nur - Freud hat nie über das Unterbewußte gesprochen. Ihm ging es um das „Unbewußte“2, also nahezu dem vollständigen Gegenteil des populären, aber vulgären Lapsus vom Unterbewußten.3

Das Unbewußte (Ubw.), in welcher Form auch immer, ist aber nicht der einzige Begriff Freuds, der in das Selbstverständnis des Menschen geradeso wie in seine Alltagssprache eingegangen ist; Fehlleistung, Widerstand, Libido, Verdrängung, Übertragung, Ödipuskomplex und anderes mehr gehören ebenso dazu, wie die Vorstellung der kindlichen Sexualität oder das Schema vom „Ich, Es und Über-Ich“. Einer der Biographen Freuds schreibt zu Recht: „Freuds Denken ist in die eigentliche Textur der modernen Kultur verwoben“.4 Dabei gehen Bekanntheit und Missverständnis oft Hand in Hand, ebenso wie furchtsame Anerkennung und spöttelndes Misstrauen gegenüber allem, was einen psychoanalytischen Anklang zeigt.5

Aber diese Zwiespältigkeit ist bei weitem nicht die einzige, die sich, nahezu von Beginn an und bis heute anhaltend, um die Person und das Werk Sigmund Freuds gebildet hat. Schon die Frage, wo der Komplex der Psychoanalyse (ΨΑ) anzusiedeln ist, in der Medizin, bei der Naturwissenschaft oder eher bei den Kultur- und Geisteswissenschaften, bleibt merkwürdig offen.6

Gleiches gilt für die Person des Begründers der Psychoanalyse. War und ist Freud eher Arzt oder Kulturtheoretiker, eher Analytiker, Wissenschaftler oder gar Schriftsteller? In einem Artikel der Zeitschrift „Die Zeit“ formulierte Elisabeth von Thadden 2006 anlässlich Freuds 150ten Geburtstag treffend: „Freud ist ein historischer Plural“.7

Einzig drei Dinge scheinen sicher: Sigmund Freud ist zum einen einer der großen Stilisten der deutschen Sprache8 und die Lektüre seiner Werke ein genussreicher Gewinn, unter welchem Ansatz auch immer. Darüber hinaus ist er jenseits der Wissenschaft im Alltag der Menschen in einem Maße präsent, wie es nur eine Handvoll Wissenschaftler, wie es nur sehr wenige Dichter und noch weniger Denker für sich beanspruchen können, wobei dahingestellt sei, ob in einem richtigen oder einem falschen Verständnis. Und schließlich ist Freud und das Werk der Psychoanalyse trotz aller fast regelmäßig wiederkehrenden, trotz aller fast rituell zu nennenden Kritik und Anfeindung und trotz aller behaupteten Überholungsansprüche auch im Bereich der Wissenschaften aktuell wie eh und je, und nicht mehr beiseitezuschieben.

Zwar muss sich die Psychoanalyse als Therapie mittlerweile mit einem Platz unter vielen begnügen, ist der Inflation seelischer Heilungsversprechen ausgesetzt, unterliegt Alterserscheinungen9 und ist in sich als Fachrichtung aufs äußerste zersplittert. Andererseits aber hat sich die Aufregung und die Auseinandersetzung um sie innerhalb der Medizin längst in ruhigere Bahnen begeben und viele Stücke der psychoanalytischen Theorie sind in die Lehre der akademischen, orthodoxen Psychologie, ja sogar der Psychiatrie eingegangen, sei es namentlich, sei es anonym. Selbst die Erkenntnisse der Neurobiologen bestätigen mittlerweile wichtige Kernaussagen der Freudschen Wissenschaft.10 Und das geht noch weiter, denn sogar vor den Wehrtürmen der Physik haben die Freudschen Einflüsse nicht haltgemacht.11

Und im Bereich der Geisteswissenschaften, deren Vertreter zu den ersten Befürwortern ebenso wie zu den vehementesten und anhaltendsten Kritikern der Psychoanalyse und ihres Gründers gehörten? Hier ist die psychoanalytische Herangehensweise als Instrument inzwischen kaum mehr wegzudenken.12 Kaum eine Fachrichtung, in der sie nicht Anwendung findet.

Auch der Bereich der Kunst hat sich ihre Ansätze längst zu Eigen gemacht. Inwieweit solche jeweils berechtigt sind, kann nur von Fall zu Fall entschieden werden. An der Tatsache jedoch, dass die ΨΑ neben ihrer Eigenständigkeit als Fach zum methodischen Instrumentarium anderer Wissenschaften geworden ist, ist nicht vorbeizukommen.13

Der Diskurs der Psychoanalyse ist keineswegs ein auf sich selbst beschränkter, sondern ein sich ausbreitender, ein durchdringender und sich verbindender. Bis heute scheinen Freuds Erkenntnisse sowohl in den Natur- wie in den Geisteswissenschaften immer neue Türen zu öffnen, scheinen angelegte Möglichkeiten zu erweitern, alte Sicherheiten ins Wanken zu bringen und neue Überlegungen einzuleiten.

Aus all diesen Gründen, und sicherlich noch einigen mehr, scheint es angebracht, obwohl die Sekundärliteratur über die Psychoanalyse längst in der Lage ist, ganze Büchereien zu füllen, und obwohl Freud das Schicksal der Klassiker teilt, dass das Werk quantitativ in einem Meer der Sekundärliteratur versinkt, und obwohl auch Biographien über Freud mittlerweile reichlich zur Verfügung stehen, die sein Leben umfangreich und ausführlich beschreiben, aus all diesen Gründen scheint es angebracht, scheint es erlaubt, vielleicht sogar gefordert, doch noch einmal einen Blick auf den Lebensweg und die Person Freuds zu werfen und eine knappe Schilderung seines Lebens zu versuchen. Wobei, und dies wäre ganz im Sinne Freuds eigener Aussagen, solch eine Skizzierung seines Lebensweges immer nur einen Zielpunkt haben kann. Nämlich von diesem her auf sein Werk, die Psychoanalyse zu führen, auf diese weiterzuleiten. Aus dieser Verklammerung von Leben und Werk sind dann die Fragen und Antworten einzuschätzen, die die seinen waren und die in beträchtlichem Maße noch die unseren sind.

Aber das allein reicht vielleicht noch nicht aus, um ein solches Unternehmen zu rechtfertigen. Hinzu kommt ein Zweites, ein zweiter Grund, aus und auf dem noch einmal ein weiterer biographischer Abriss zur Person Sigmund Freuds als Schöpfer der Psychoanalyse sich legitimiert. Nicht weil damit bezweckt wäre, neue Erkenntnisse oder Bestandteile dieses Lebens zu liefern, zumindest ist dies nicht im vorliegenden Versuch der Fall. Dafür haben die meisten der bisherigen Biographen, denen Freud die Arbeit bekanntlich nicht allzu leicht machen wollte, und zahlreiche Forscher der verschiedensten Fachgebiete, bereits eine zu detaillierte Arbeit geleistet.14 Und leisten sie weiterhin bis in die „Grundtexte“ hinein, wie die 2011 begonnene Edition aller Briefe Freuds an und von Martha Bernays zeigt.15 Sondern weil jeder neue Versuch, jeder neue Ansatz, und somit jede neue Sammlung in ihrer Zusammenstellung vielleicht ein bestimmtes Moment, eine weiterführende Perspektive in dieser Zusammenstellung aufzureißen vermag, eine, die bislang nicht hervorgetreten war. Vielleicht mag eine neue Zusammenstellung, eine neue Gewichtung bekannter Fakten ein Moment auftun, das im Leser einen Assoziationsstrang in Gang setzt, der ansonsten unausgerollt geblieben wäre. Dieser war schon immer da, mag aber erst jetzt die sich auftuende Lücke einer neuen Darbietung nutzen, um zur Sprache zu kommen, um bedacht zu werden. Das im Text Gesammelte wirkt dabei ganz im Sinne des Collage- wie des Zitationsverfahrens.

Worauf also gesetzt wird, ist, eine Art „geheime Verabredung16 zwischen der im Leben Freuds sich entwickelnden Psychoanalyse und dem jeweiligen Leser herzustellen, diese zu ermöglichen. In gewisser Weise geht Freud damit natürlich durch die Subjektivität des Autors hindurch, der zum Sammler im Sinne Walter Benjamins wird. Zum Sammler der Stücke der Biographie, die ihm besonders wichtig erschienen, und zum Compositeur17, in der Hoffnung, dass in dieser neuen Zusammenstellung alter Fetzen der Leser etwas bisher nicht Gesehenes aufblitzen sieht. Etwas, das ihm, dem Leser zum Wichtigen wird und das auf Freud und die Einschätzung der Psychoanalyse zurückwirkt. Denn: „die biographische Wahrheit ist nicht zu haben “. Ein Leben kann immer nur in Bruchstücken festgehalten werden. Auf diese aber kommt es an.18

So darf der Leser dieses Buches in dessen Zeilen zwar keine neuen Erkenntnisse zum Leben und Werk Sigmund Freuds erwarten, vielleicht vermag er sie aber doch zwischen den Zeilen zu entdecken. Infolgedessen hat der Text gleich zwei Zielrichtungen, die sich in der Beschreibung des Lebens von Sigmund Freud kreuzen. Er soll über diese auf die Psychoanalyse verweisen und er hofft darüber hinaus, das eine oder andere Potential darin wirksam werden zu lassen. Letzteres vielleicht eben auch über die Psychoanalyse hinaus.


1Wer Biograph wird, verpflichtet sich zur Lüge, zur Verheimlichung, Heuchelei, Schönfärberei und selbst zur Verhehlung seines Unverständnisses, denn die biograpische Wahrheit ist nicht zu haben, und wenn man sie hätte, wäre sie nicht zu brauchen. Die Wahrheit ist nicht gangbar, die Menschen verdienen sie nicht, und übrigens hat unser Prinz Hamlet nicht recht, wenn er fragt, ob jemand dem Auspeitschen entgehen könnte, wenn er nach Verdienst behandelt würde?“ (Sigmund Freud am 31. Mai 1936 an Arnold Zweig, Briefwechsel, S. 137)

2 Diese Verwechselung ist auch deshalb hervorzuheben, weil sie einen Wandel verschleiert, der sich mit dem Aufkommen der Psychoanalyse auf medizinischpsychologischer Ebene vollzieht. Denn die Revolution, die die Gründung der Psychoanalyse im Reich der Psychologie hervorruft, ihr Hinausgehen über deren bis dahin geltende Grenzen, vollzieht sich genau an diesem Begriff und lässt sich daher auch an ihm nachverfolgen. Freud wählt den Begriff des „Unbewußten“, sehr gezielt, um ihn dem des „Unterbewußten“ entgegenzusetzen. Schon begrifflich soll deutlich werden, dass es Freud um anderes geht. Schon begrifflich ist er bemüht, sich von seinen Vorgängern und Konkurrenten im Bereich der Medizin abzusetzen. (Siehe Exkurs zum „Begriff des Unbewußten“)

3 Schlimmer noch wird der Fehlgriff auf die Lehre Freuds bei der Banalisierung und Verfälschung seiner Termini, Techniken und Begriffe, wenn von der Symbolik Gebrauch gemacht wird. Am bekanntesten vielleicht die Verballhornung jedes länglichen Gegenstandes zum Penissymbol. Freud selbst hat sich strikt gegen solch eine einfache Analogie ausgesprochen. Nicht nur ändern Symbole im Laufe der Zeit ihre Bedeutung und ihren Bezug und sind daher keineswegs über einen bestimmten Zeitraum hinaus eindeutig festgelegt, auch sagt ein Symbol in der psychoanalytischen Praxis als vereinzeltes nichts aus, sondern erhält seinen Wert erst im Zusammenspiel mit anderen Symbolen und Momenten und mit seiner Einbindung in die Geschichte des jeweiligen Subjekts. Das berühmte Symbolkapitel aus der „Traumdeutung“ wollte Freud bekanntlich in bestimmten Zeitabschnitten immer wieder neu geschrieben sehen. Allein von hieraus ist die Psychoanalyse auch ein „work in progress“, an der jede neue Zeit sich erproben muss. Inwieweit Freuds Misstrauen in die Symbolik Wurzelstränge auch im jüdischen Bilderverbot hat, muss offenbleiben.

4 Peter Gay: Freud, S. XIII. Und William M. Johnston trägt Freuds Denken noch einmal auf den je Einzelnen zurück und bemerkt: „Sigmund Freud ist für den Zeitgenossen zu einer Vaterfigur geworden. Den Wurzeln seiner Gedanken nachgehen heißt das eigene Bewußtsein aufdecken “. (S. 228) Beim einen Umstand wie beim anderen mit entsprechenden Konsequenzen.

5 Immer wieder ist zu beobachten, dass Leuten, die sich mit der Psychoanalyse befassen, in einer Distanzierung begegnet wird, die oft ablehnend und/oder spöttelnd daherkommt. Dahinter steckt aber mehr als offenkundig die Furcht vor Entlarvung, welcher Art auch immer. Ein Phänomen, das die Theorie der Psychoanalyse selbst zu erklären vermag. Aber auch die Psychoanalyse selbst ist nicht ganz schuldlos an einer gewissen festgefügten Alltagsablehnung. Denn ähnlich wie die Theologie sich im letzten Sinne auf die Unerklärbarkeit der Weisheit Gottes als letzte und in der Tat nicht mehr zu erobernde Festung zurückzieht, so geschieht dies im Rahmen der Psychoanalyse nur allzu oft auf die Erklärung: dies alles sei Widerstand und Verneinung. Ein kurioses Phänomen innerhalb einer Wissenschaft, die wie kaum eine andere - nur Arthur Schopenhauers Willensphilosophie scheint hier Schritt halten zu können - antitheologisch ausgerichtet ist. Eine abstraktere Erklärung mag darin liegen, dass mit der Psychoanalyse jede Aussage zur Unsicherheit verdammt ist und das Ich nie Herr im eigenen Hause. Zu bemerken ist schließlich aber auch, dass die Beschäftigung mit der Psychoanalyse natürlich das Subjekt, den jeweils Einzelnen immer in den Bereich der Kränkung führt, den Freud im allgemeinen für die Psychoanalyse postuliert hat. Mit der Psychoanalyse vollzieht sich für den je Einzelnen auch immer eine Lektion in Demut, die schon Platon für alle Philosophen, d. h. für alle nach Wissen Strebenden, gefordert hatte. (Die Schnittmenge ist hier, dass Platon sich auf das Nicht-wissen der Wissenden und dieses als höchste Form des Wissens und Freud seinerseits dieses Nicht-wissen auf die Wurzeln allen Wissens bezieht.)

6 Freud selbst äußerte sich allerdings sehr eindeutig, und wies nahezu vehement alle Versuche ihn oder die Psychoanalyse im Bereich der Kunst anzusiedeln zurück. Für ihn stand fest, dass die Psychoanalyse eine Wissenschaft sei, die er als Wissenschaftler entdeckt hatte. Es ist nicht ohne Ironie, dass Freud noch ganz im Aufklärungsduktus der Wissenschaft verfangen blieb, den er selbst mit erschütterte. So befand er in einem Aufsatz mit dem Titel: „Zur Vorgeschichte der analytischen Technik“ z. B. Havelock Ellis gegenüber, der die Psychoanalyse als künstlerische Leistung bezeichnet hatte: „Es liegt uns nahe, in dieser Auffassung eine neue Wendung des Widerstandes und eine Ablehnung der Analyse zu sehen, wenngleich sie in liebenswürdiger, ja in allzu schmeichelhafter Weise verkleidet ist “. (Studienausgabe Ergänzungsband, S. 253) Herbert Stein (S. 2) pointiert: „Die Psychoanalyse sollte eine Naturwissenschaft vom Seelischen sein“ und weist am Ende seines Aufsatzes darauf hin, inwieweit eine solche Naturwissenschaft der Seele doch über die reine Naturwissenschaft hinausgehen muss, wozu er zunächst W. W. Bartley (Wittgenstein: Ein Leben. München 1983, S. 265) zitiert: „‚Das, was wir in den Wissenschaften zu erkennen suchen, die Tatsachen, ist für unsere wirklichen Lebensprobleme unwichtig. Wichtigkeit kommt im Leben der Fähigkeit zu, auf die Leiden anderer einzugehen. … Ein Medium des Ausdruck jener wirklichen Lebensprobleme, die für uns vorrangig sind, ist die Dichtung’“ Dann fährt Stein fort: „Ein weiteres Medium wäre das Eingehen auf die Leiden anderer, d. h. die therapeutische Situation. Ihr kann ‚Wissenschaft’ nur zur Seite stehen, nicht sie ersetzen. Solche ärztliche Kunst ist nicht weniger, sondern mehr als Wissenschaft “. Und Alfred Schmidt & Bernard Görlich sprechen von Freud als einem geistigen Naturforscher.

7 „Was bleibt von Freud?“, in „Die Zeit“ vom 23. 2. 2006.

8 So hält der Freud-Biograph Paul Rom fest, dass Freud mit Goethe am Ende nicht nur das hohe Alter von dreiundachtzig Jahren teilte, sondern auch die „Liebe zur deutschen Sprache und die Meisterschaft in ihrer Anwendung “. Andererseits lehnte Freud den Vergleich mit Goethe in der ihm eigenen humorvollen Art ab. „Als Ferenczi … einmal behauptete Freud sei Goethe überhaupt sehr ähnlich, wies er das … zurück. Seine Erforschung des geheimnisvollen Unbewußten hätte in Goethes Weltoffenheit kaum Platz gefunden. Spöttisch gab Freud zu, daß er – wie Goethe – Italien liebe, in Karlsbad gewesen sei und Schiller als einen der edelsten Deutschen schätze; doch Goethe habe das Tabakrauchen gehaßt, während er in dem Zurückbringen des Tabaks nach Europa die einzige Entschuldigung für die Untat des Columbus sehe, Amerika entdeckt zu haben “. (Paul Rom, S. 7 f)

9 Anders als in den ersten Jahrzehnten hat es die Psychoanalyse heute mit Patienten zu tun, die ihre Grundbegriffe kennen oder zu kennen glauben, so dass der psychoanalytische Prozess in vielem komplizierter geworden ist. Das berühmte Beispiel: Der Patient sagt „Die Person, die ich im Traum sah, hatte gar keine Ähnlichkeit mit meiner Mutter, also war es meine Mutter“ u. ä. Etwas, worauf in sehr radikaler Weise der französische Psychoanalytiker Jacques Lacan reagierte, beispielsweise im Moment der Sitzungsdauer, die bei ihm Stunden oder auch nur Minuten sein konnte, oder sogar gar nicht. Überhaupt ist Lacans „Rückkehr zu Freud“ auch als Versuch zu begreifen, den negativen Folgen einer allzu unproblematischen Einbindung der Psychoanalyse in theoretische wie institutionelle Strukturen der Medizin und anderer Gebiete gegenzusteuern.

10 Erkenntnisse, die zu weiten Teilen in der Philosophie, insbesondere bei Schopenhauer und Nietzsche, bereits vorher gemacht wurden. Dennoch ist Freud ein Schritt weiter. Und zwar, weil er ein Instrumentarium, eine systematische Forschungsmethode entwickelte und vorlegte. Zudem gibt es einen radikalen Unterschied zwischen dem Ubw. Freuds und dem Willen bei Schopenhauer. Für Freud ist das Ubw. grundlegend subjektiv, was Schopenhauers Wille nicht ist.

11 Um nur ein Beispiel von vielen zu nennen: 30 Jahre nach Freud weist Werner von Heisenberg in der Physik nach, dass auf subatomarer Ebene die Beobachtung und d. h. der Beobachter unvermeidlich das Beobachtete beeinflusst. Heisenberg führt damit in die Materie das ein, was in der Welt des Geistes Sigmund Freud getan hatte, das Sub-jekt. (Sub-(ob)-jekt)

12 Aber auch hier bleibt eine Ambivalenz, die sich paradigmatisch am Verhältnis der Religion zur Psychoanalyse festmachen lässt. Die Theologie, die lange Zeit gegen die Psychoanalyse Front gemacht hatte, welche ihrerseits nicht nur der Theologie, sondern der Religion überhaupt zwangsneurotische Funktionsweisen antrug, söhnte sich in dem Moment mit der ΨΑ aus, wo sie diese ihrer revolutionären Spitze beraubt glaubte und sie so nun als Mittel für sich anwenden konnte. Im Sinne der säkularen Variante der Lehre von der Erbsünde vermochte Theologie, und an ihrer Seite oft der politische Konservativismus jeglicher Spielart, die Psychoanalyse für sich zu akzeptieren. Mit der Psychoanalyse entnommenen Argumenten ließ sich die These aufstellen, dass der Mensch unabwendbar der alte Adam blieb und stringenter Ordnungsprinzipien nicht entbehren durfte. Dass diese Begriffsaneignung gelingen konnte, wundert umso mehr, als gerade Freud seine Lehre ganz unter den Vorbehalt des Atheismus gestellt hatte. Und es macht misstrauisch gegenüber allen Befriedungen an den psychoanalytischen Fronten. Siehe dazu auch Jacob Taubes: Religion und die Zukunft der Psychoanalyse. In: Psychoanalyse und Religion (Hrsg.: E. Nase & J. Scharfenberg). Aber auch im Bereichen der rein literarischen Anwendung verschärfen sich, wo es nicht mehr zu einem pulsierenden Sprechakt des Analysanden kommt, sondern der Blick auf eine Textstruktur, ein Gewebe fällt, die Gefahren. Zu leicht neigt eine Interpretation unter psychoanalytischen Ansatz dazu, den Text auf psychoanalytische Konstanten zurückzubiegen, anstatt eine im Text mitlaufende acherontische Ebene freizulegen, deren Strom nicht im Kokytos festfrieren zu lassen. Einen Text auf ein Moment des Autors, sein sexuelles Begehren o. a. zurückzuführen, bleibt zumeist wenig fruchtbar. Worum es ginge, ist, das hörbar zu machen, was man ein „Textbegehren“ nennen könnte, also den psychoanalytische Ansatz als hermeneutisches Instrument zu nutzen und die neben oder in den Aussagen eines Textes liegenden Ansätze hörbar werden zu lassen.

13 Michel Foucault spricht daher neben Marx Freud die Rolle eines „Diskursivitätsbegründers “ zu und unterscheidet diese von Diskurseingriffen, wie sie durch Galilei oder Newton geschehen sind. Marx wie Freud eröffnen lt. Foucault eine unendliche Reihe von Diskursmöglichkeiten, wohingegen andere Autoren und deren Schriften an einen jeweils einzelnen Diskurs gebunden bleiben, selbst wenn dieser durch sie ins Leben gerufen wird, sei es als Wissenschaft oder als literarisches Genre. (Siehe dazu Michel Foucault: Vortrag vom 22. Februar 1969 „Was ist ein Autor?“. In: Schriften zur Literatur, S. 24)

14 Jede in der Bibliographie angeführten Freudbiographien ist so schon insofern lesenswert, als jede ein ganz eigenes Moment hervorzuheben vermag.

15 Diese und andere noch ausstehende, da bislang unter Verschluss gehaltene, Briefausgaben gehören zu den seltenen „Glücksfallen“ der Freudbiographik, insofern durch sie tatsächlich noch neues Material zu Freuds Leben auftauchen könnte. Ansonsten ist der Korpus der biographischen Fakten und Geschichten weitgehend festgefügt und auch festgelegt, als einige signifikante Begebenheiten in jedem biographischem Versuch zwangsläufig auftreten müssen. Ein Umstand, der wohl allgemein auf alle biographisch intensiv erforschten Personen zutrifft.

16 Walter Benjamin: Über den Begriff der Geschichte. In: Gesammelte Schriften, Bd. I. 2, S. 694

17 Composition (frz.): Zusammenstellung. (Siehe Exkurs zur die „Biographik“) Ein Anspruch, der vielleicht an eine Biographie allgemein zu stellen wäre, wäre der, auch das Leben derjenigen Personen, die dem „Protagonisten“ im Laufe von dessen Leben begegnen, quasi nebenbei soweit nachzuzeichnen – soweit das möglich und nötig ist -, dass auch deren Leben als je eigene Biographie sichtbar wird, und sei es nur in einer oder durch eine einzelne Anekdote.

I

Freud zwischen Goethe und Armstrong

(>1856 – 1939<)

In einer überaus lesenswerten biographischen Skizze zum Leben Freuds19 weist Kurt R. Eissler darauf hin, dass man die Veränderung der Welt, an der die Gedanken Sigmund Freuds ihren maßgeblichen Anteil hatten, erst dann richtig einzuschätzen vermag, wenn man die Lebenszeit Freuds in Beziehung zu den Ereignissen und Verhältnissen setzt, die kurz vor seiner Geburt und kurz nach seinem Tode statthatten. Und in der Tat, hat sich Europa, haben sich Welt und Lebenswelt als ganze zwischen 1856, Freuds Geburtsjahr, und 1939, dem Jahr seines Todes, radikal verändert.

Schon von daher überzeugt Eisslers Idee einer Einrahmung, die hier zu Beginn des Textes aufgegriffen werden soll. Es kommt sogar noch ein Punkt hinzu. Denn, eine dermaßen einsetzende Betrachtung Sigmund Freuds und seines Lebenswerks, der Psychoanalyse, mag derzeit bestens geeignet sein, eine erste Brücke zu schlagen, sofern die Jahrzehnte um die Jahrtausendwende, also „unsere Gegenwart“, eine kaum weniger vehemente Veränderung der Welt eingeleitet haben könnten,20 als es die sich zur Lebenszeit Freuds vollziehende war.

Solche Umschlagsperioden hat es in der Historie mehrere gegeben und es ist üblich geworden, um solche zu fixieren, diese Wechsel an einzelnen, an bestimmten Ereignissen festzumachen.21 Dies gilt auch und gerade dann, wenn es sich um Umschläge von weitreichendem Umfang, von weit gespannter Größenordnung und radikaler Tiefe handelt. Ein solcher aber war der hier angesprochene Umschlag zweifellos. Er lag zwischen den Welt- und Denkveränderungen „unserer Zeit“, der Zeit der zweiten Jahrtausendwende, und einem älteren solchen Umschlagspunkt zu Beginn der Aufklärung, welcher mit dem Erdbeben von Lissabon verbunden wird. Gemeint ist der I. Weltkrieg. Nach allgemeiner Übereinstimmung dient dieser als Fixpunkt, an dem sich die Etablierung der modernen Welt als technisch-industrielle festmachen lässt. Er ist der neuralgische Kulminationspunkt, an dem sich die Veränderungen, die zur Lebenszeit Freuds stattfinden, paradigmatisch ablesen lassen.

Dieser I. Weltkrieg, welcher interessanterweise von Beginn an als I. (sic) bezeichnet wurde22 und der so viel mehr war als „nur“ ein Krieg, fällt in die zweite Lebenshälfte Freuds. Der Begründer der ΨΑ ist, als sich die Technikmaschine des I. Weltkrieges im Sommer des Jahres 191423 in Bewegung setzt, 58 Jahre alt. Zeit wird von ihm, auch als Lebenszeit, bewußter als Frist wahrgenommen. Den ersten Abschnitt dieser zweiten Lebenshälfte hat er gerade hinter sich. D. h. auch, die erste Lebenshälfte ist nicht nur abgeschlossen, sondern gleichfalls abgehandelt. Und Freud weiß, dass die Welt längst eine andere ist, als zur Zeit seiner Geburt. Und er ahnt wohl, dass sie ebenfalls nach seinem Tode eine andere sein wird.

Es mag daher nicht zufällig sein, dass er in dieser Zeit zunächst so etwas wie eine Zusammenfassung seiner bisherigen Arbeit, seines bisherigen Lebenswerkes, das er als Mittelpunkt des eigenen Lebens ansieht, versucht. So entstehen die „Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse“, die Freud in den Wintersemestern der Kriegsjahre 1915/16 und 1916/17 an der Universität Wien hält. Und es mag nicht zufällig sein, dass einige wenige Jahre später solche bedeutenden Schriften entstehen wie „Jenseits des Lustprinzips“ (1920) und „Das Ich und das Es“ (1923), die auch innerhalb seines Werkes die Weichen noch einmal neu stellen. Ohne freilich die angelegten Schienenstränge abzureißen.24

Um aber auf Eisslers Einklammerung zurückzukommen, der wir ein wenig abgewandelt folgen wollen. Als Sigmund Freud 1856 das Licht der Welt erblickt ist Heinrich Heine wenige Monate zuvor in Paris gestorben und der Tod von Johann Wolfgang Goethe liegt gerade einmal 24 Jahre zurück. Nachdem 1939 der Begründer der Psychoanalyse im Londoner Exil seinerseits verstorben ist, werden nur wenig später in Liverpool John Lennon und Paul McCartney zur Welt kommen, in den USA ein gewisser Robert Zimmermann das Licht der Welt erblicken25 und mit Neil Armstrong26 knapp 30 Jahre nach Freuds Tod der erste Mensch den Mond betreten.27

Zur Zeit von Freuds Geburt sind weder Charles Darwins Werk „On the origin of species by means of natural selection … “ (1859; dt.: „Von der Entstehung der Arten“) noch Karl Marx` „Das Kapital“ (Band I, 1867) erschienen. 1856 kennt die europäische Metropole Wien kein elektrisches Licht. 1939 dagegen wird ganz Westeuropa industrialisiert sein und seit wenigen Wochen der II. Weltkrieg, als bereits zweiter technikbestimmter Krieg der Epoche, seine verheerende Wirkung entfalten.28

Die USA sind 1856 weniger als 100 Jahre alt und bis zur Konstituierung der UdSSR wird noch mehr als ein halbes Jahrhundert vergehen. Zu Beginn seines Lebens ist Freuds Heimatland Österreich eine Großmacht, das größte Reich Mitteleuropas mit 35 Millionen Einwohnern und einer Ausdehnung von 620.000 Quadratkilometern, am Ende ist es ein an das Deutsche Reich angegliederter Kleinstaat. Deutschland selbst ist 1856 noch über ein Jahrzehnt von seiner Konstituierung als Nationalstaat unter Federführung Bismarcks entfernt und wird sechs Jahre nach Freuds Tod für Jahrzehnte aufhören ein solcher zu sein, um stattdessen für beinah ein halbes Jahrhundert zu einem geteilten Land zu werden. Herrschen zur Zeit von Freuds Geburt in Europa noch die Monarchien, so kämpfen Demokratie und Diktatur als Systeme in Europa während seiner Lebenszeit blutig um die politische Vorherrschaft, wobei der Sieg der Demokratie keineswegs ausgemacht ist.29 Gegen Ende von Freuds Leben entsteht und verbreitet sich dann ein bis dahin unbekannter Herrschaftsstil, den Hannah Arendt fürderhin treffend als „totale Herrschaft“30 bezeichnen wird. In seiner offen gewalttätigen Form brach dieser Herrschaftstypus schnell in sich zusammen, ob er in sublimer Form weiterlebt, ist umstritten.

Von solch einer Betrachtung der Ränder, die Freuds Lebenszeit einrahmen, wird das oben angesprochene zentrale Ereignis zur Mitte seines Lebens, der I. Weltkrieg, als Kulminations- und Umschlagspunkt deutlicher und es tritt ein Moment von vielen scharf hervor. Mit dem Ereignis des I. Weltkrieges konstituiert sich die Epoche der Moderne, in der die Welt endgültig, definitiv zu einer technisch-industriellen geworden ist.31 Etwas, was sie bis heute nicht aufgehört hat zu sein, mit allen positiven wie negativen Folgen. Mit ihren Erfolgen und ihren Verheerungen, ihren Sicherheiten und Unsicherheiten, ihren Profiteuren und ihren Opfern.32

Doch auch im Denken und Lebensstil wandelt sich grundsätzliches. Und daran hat Freud, hat die ΨΑ Anteil. Verhaltensweisen, Traditionen, Denkgewohnheiten summa summarum lösen sich auf, manchmal zu viel, manchmal zu wenig, verflüchtigen sich bis an den Rand des Verschwindens, kehren zuweilen in verzerrter, oft erstarrter Form zurück, vermögen ihre alte Stellung aber nicht wieder einzunehmen.33 Und das Neue ist oft zu neu und aufgewühlt, um sicher zu sein.34

In diesen geistigen wie geschichtlichen Stürmen entwickelt Freud seine Lehre der Psychoanalyse, entwirft ein wissenschaftlich fundiertes Modell des Aufbaus und der Funktionsweise des „psychischen Apparates“35, der Seele des Menschen. Wie im Äußeren ändert sich auch im Inneren des Subjekts alles. Es ist eine Änderung, die in die Wandlungen des Äußeren mit eingreifen wird, so wie diese die innere trägt. Nach Freud ist das Bild, die Vorstellung des Menschen eine andere und seine Stellung in der Welt verschoben. Nach Freud wird das bewußte Denken keine autonome Stellung mehr beziehen können, mit allen Konsequenzen, die daraus für die Geschichte des Menschen entstehen.

Damit zählt Freuds Denken und Werk neben der Technik zu den Grundsäulen dessen, was man die Epoche der Moderne nennen wird. Und zwar sowohl vor als auch nach dem II. Weltkrieg. Und es scheint, als ob Freuds Werk die Epoche seiner Entstehung langfristig überleben wird. Denn es ist zwangsläufig der Mensch, von dem sich die (menschliche) Kultur her aufbaut.36 Jeder Blick auf die Kultur führt deshalb notgedrungen letztendlich auf diesen und seine Grundlagen zurück.37 Freuds Werk in seinen Grundrissen zu kennen heißt, neben vielem anderen, darum nicht nur, einen Bruchteil seiner Selbst und des menschlichen Denkens und Verhaltens begreifen, zumindest erahnen zu können, nicht nur den Diskurs der Epoche der Moderne nachzuverfolgen, sondern immer auch ein Stück historischen kulturellen Wissens sich anzueignen. Ein besonderes und nicht ungefährliches Stück, sofern dieses je an der Nahtstelle zwischen Subjekt und allgemeinem Geschehen liegt. Daher ist der Psychoanalyse Freuds nicht ohne den eigenen Einbezug gegenüberzutreten, was mit Erschütterungen und Demütigungen verbunden bleibt. Hinzu kommt, dass der Strudel der psychoanalytischen Motivforschung radikal betrachtet keinen Halt mehr aufweist.

Nach all dem kann es nicht verwundern, dass Sigmund Freud neben Charles Darwin und Karl Marx zu den großen wissenschaftlichen Revolutionären des 19. bzw. 20. Jahrhunderts gezählt wird. Schon Freud selbst sprach von den drei narzisstischen Kränkungen der Menschheit, die mit den Namen Kopernikus, Darwin sowie seinem eigenen verbunden wären.38 Eine Bemerkung, die oft aufgegriffen wurde.

Und solche Einordnung scheint keinesfalls unangemessen. Denn zuerst musste der neuzeitliche Mensch sich mit Nikolaus Kopernikus damit abfinden, dass es nicht die Sonne ist, die sich um die Erde dreht und die Erde somit nicht das Zentrum des Universums. Die vom Menschen bewohnte Welt blieb als ein einfacher Planet zurück, in einer beliebigen - zudem noch recht abgelegenen - von Abermillionen von Galaxien. Welt und Weltall gerieten vom göttlichen Abbild zum sinnlosen, ohne letzten Grund bleibenden rein naturwissenschaftlichen Raum, dem der Mensch nur noch gleichgültig oder wissenschaftlich und zumeist räumlich kaptivierend gegenüberstand.

Mit ihrer Position im Universum verlor die Welt all ihren Wert außerhalb der Nutzbarkeit. Ebenso verlor auch der Mensch seine Stellung und geriet unter das atemlose Prinzip des Nutzens. Im günstigsten Fall blieb ein ästhetisches Residuum. Aber der „bedeutungssuchende Blick in die Natur als Fortführung der Religion mit ästhetischen Mitteln“,39 wie ihn Goethe entwickelte, hatte sich noch nicht eingestellt. Auch die Umwandlung der Gartenkunst, durch ihre Bindung an die alte religiöse Paradiesvorstellung ein wichtiges gesellschaftliches Indiz, die vom mathematisch-geometrischen Barockgarten zum der Natur nachgebildeten Englischen Landschaftsgarten, hatte sich noch nicht eingesetzt.40 Die Faszination der Natur konnte die des Göttlichen erst einmal nicht ersetzen. Der „tolle Mensch41 war mit seiner Laterne zu früh auf dem Marktplatz erschienen. Aber nach Kopernikus war es nicht mehr zu leugnen, dass Gott die Erde nicht als einen besonderen Platz erschaffen hatte.42

Als nächstes musste sich der in seiner Religion erschütterte, sich in der Vernunft aber noch nicht eingerichtete Mensch nach Darwin ebenfalls damit abfinden, nicht die von Gott in einem einmaligen Akt geschaffene Krone der Schöpfung, nicht die zur Herrschaft auserwählte und begnadete Spezies zu sein, sondern ein mit den Fähigkeiten zu aufrechtem Gang, Sprache und Bewußtsein versehenes Lebewesen, welches sich aus anderen Lebewesen und wie andere Lebensarten im Laufe von unvorstellbaren Zeiträumen entwickelt hatte. Gott hatte den Menschen nicht als etwas Besonderes, nicht als sein Ebenbild erschaffen.43 Weder Erde noch Mensch waren etwas Zentriertes. Weder Erde noch Mensch konnten rational als herausragende Schöpfungen eines Schöpfers angesehen werden.

War der Mensch zunächst im Kosmos nicht mehr erwählt, so war er es nun auch auf der Erde nicht mehr, war nicht mehr legitimiert und definitiv44 herausgehoben über anderes Irdisches. Außerhalb von sich besaß der Mensch keine Garantie mehr. Nach dem Verlust Gottes war nur der Rest Rationalität übrig geblieben, auf den sich der Mensch zur Selbstlegitimation stützen konnte.

Hatten also mit diesen beiden Kränkungen vornehmlich Gott und die Menschheit ihre zentrale Stellung im Kosmos verloren, so erfuhr durch Freud jetzt auch der Glaube des modernen Menschen an die Vernunft und den Fortschritt, die ihm als je einzelnen existierenden Wesen wie als Gattung zur Legitimation seiner Sonderstellung verblieben waren, eine solche Kränkung. Nach Freud konnte der Mensch auch in sich selbst keine Mitte mehr finden, die ihm einen Halt geboten hätte. Eine Kränkung, mit der erneut eine Entmachtung seines Herrschaftsanspruches einherging, eine, die jetzt aber in den existenziellen Bereich, besser, in den Seinsbereich hinein ging.45

Der Verlust der Mitte, den Malerei und Lyrik schon zu spüren und auszudrücken begonnen hatten46, ließ sich nun auch theoretisch begründen. Diese dritte Kränkung war umso schmerzlicher, als die Ratio, die Vernunft diesen ihren Herrschaftsplatz gerade erst eingenommen hatte. Und es war umso schmerzhafter, als nun das je einzelne Subjekt keinen Ersatz mehr für verloren gegangenes konstruieren konnte.47 Das Ich-bestimmte Subjekt, das cartesische Bewußtsein, das selbst als solch eine Ersatzleistung eingerichtet worden war und so felsenfest begründet schien, wurde von seinem so schwer erkämpften Thron gestoßen, kaum dass es ihn eingenommen hatte. Es war ein zu schlechter Usurpator gewesen.48

Die Erkenntnis Freuds, dass das Ich nicht Herr im eigenen Hause sei, nicht der Ausdruck der sich ihrer selbst bewussten Vernunft, sondern nur fremdbestimmtes Anhängsel an das Unbewußte, dass diese Vernunft nur der abgeleitete Sekundärprozeß, wie es schon sehr früh bei Freud heißt, gegenüber dem Primärprozeß des unbewußten Denkens sei, diese Erkenntnis revolutionierte das Denken an sich.49

Und die Begründung dafür kam gleich noch einmal als Skandalon sondergleichen daher. „Wißbegierde und sexuelle Neugierde scheinen untrennbar voneinander zu sein50, deklarierte und deklamierte Freud. Die Sexualität als Antrieb des Handelns und Denkens, damit ließ sich alle Kultur, alle Geschichte, das ganze bewußte Denken nur noch als Umweg zu begreifen, als Umweg zum Ziele der Wunscherfüllung, eines libidinösen Wunsches, eines Begehrens, eines Triebes, der keiner des Bewußtseins war.51 Zudem einer, der in letzter Konsequenz, wie die radikale Betrachtung zeigte, ein höchst zerstörerischer war.

Der Mensch wurde, ohne Eingriffsmöglichkeit, unter das Diktat der Triebherrschaft gestellt. Wurde zwischen den zerstörerischen Varianten des freifließenden Triebes und der gefesselten und verdrängenden Ratio eingekeilt. Sein Überleben verlief einzig, unter ständigen Einbrüchen, auf einer dünnen Linie zwischen beiden, auf der er sich schutz- und hilflos fortbewegte. In der Lebenszeit Freuds zeigten die Schlachthöfe Europas, ja weltweit, aufs Deutlichste, wie sehr dabei der Boden unter ihm schwankte,52 was für Konsequenzen es hatte, wenn diesem Amokläufer des Seins Mittel zur Verfügung gestellt wurden, wie sie nun im 20. Jahrhundert vorlagen.

Mit der Freudschen Psychoanalyse war klar geworden, dass der Kern des menschlichen Wesens sich nicht, wie man seit Descartes postulierte, in seinem Selbstbewußtsein, seinem Bewußtsein erschöpfte, von dessen Mächtigkeit man sich nahezu, nach dem Fall des göttlichen Universums vielleicht verzweifelt, Erlösung versprochen hatte. Der Mittelpunkt des Menschen war nicht einmal in dem zu Unrecht mit Vernunft und Bewußtsein gleichgesetzten „Ich“ angelegt. Es gab ihn gar nicht, diesen Mittelpunkt. Bewußtsein war nur die bewegliche Kruste, die zudem äußerst dünne, eines „anderen Schauplatzes“, des dunklen Kontinents des Unbewußten. Über den nichts zu sagen war, sondern der selbst sprach, sich selbst ins Wort schlich. Damit war auch alle Rettungsvorstellung, die man zuvor noch in die reine Rationalität gelegt hatte, verloren. Rationalität und Kultur vermochten noch nicht einmal zu schützen, sondern waren selbst höchst gefährdete Gebilde.53

Diese Entdeckung ereignete sich ausgerechnet in einer Zeit als dem europäischen Selbstbewußtsein keine Grenzen gesteckt zu seien schienen. Sie kam und kommt einer Revolution gleich, die in einer Zeit des aufstrebenden Kapitalismus mit seiner Verdrängungsgesellschaft, nicht umsonst mit der von Karl Marx angestrebten verglichen werden kann.

Diese dritte Kränkung war und ist bis heute ungeheuerlich und rief vehemente und bis heute nachzitternde Reaktionen hervor, welche nur, wenn überhaupt, eben mit denen auf Darwin und Kopernikus zu vergleichen sind und in ihren Folgen doch über diese noch hinauszugehen scheinen. Die Wirkungen, welche die Psychoanalyse im Bereich der Medizin hervorrief, auf dem sie ja eigentlich gepflanzt war, geraten demgegenüber fast in Vergessenheit, obwohl sie dort kaum weniger umfassende Nachklänge erzeugten.

Zweifellos ist die Gegenwärtigkeit Sigmund Freuds und der Psychoanalyse in der modernen Zivilisation ein Phänomen, dessen Ausmaß und Tiefe nur schwer messbar und auslotbar ist.54 Sein Werk ist in seinen beiden Kategorien, in seiner klinisch-therapeutischen Tragweite wie in seiner anthropologisch-kulturellen Bedeutung, zu einem Gebäudekomplex geworden, der eher die Ausmaße einer Weltstadt denn eines Hauses zu haben scheint. Wenn Freud behauptete, dass sein Leben nur im Zusammenhang mit der Psychoanalyse von Interesse sei, dann muss es ein überaus interessantes gewesen sein.


18Die Biographie steht im Zentrum der Schwäche, deren Sarkasmus:10 Jahre auf 58 Seiten, das ist alles, was man über eine Biographie sagen kann ‘“. (Rolf Michael Böttcher: Studienschriften und frühe Vorträge Bd. I, S. 321)

19 Kurt R. Eissler: Eine biographische Skizze. In: Ernst Freud, Lucie Freud & Ilse Grubrich-Simitis (Hrsg.): Sigmund Freud. Sein Leben in Bildern und Text.

20 Um nur einen Punkt herauszugreifen: Die Innovation und Ausbreitung der Computertechnik hat die Mimik der Welt sicherlich im starken Maße neu geprägt. Und sie wird es wohl in einem noch weiteren Maße tun, als sie bislang gerade erst in ihren Anfangsmöglichkeiten sich auszubreiten scheint. Doch schon jetzt ist überdeutlich, dass ihre Einführung die Welt weiter vereinfacht, weiter ent- und zugleich verzaubert hat. Ob zum Besseren bleibt allerdings fraglich. Der Computertechnologie zur Seite zu stellen, mit dem gleichen Fragenkatalog, wäre wohl in erster Linie die Entschlüsselung der DNA. Es sei ferner darauf hingewiesen, dass die drei im Text genannten Umschlagpunkte zwar darin übereinstimmen, dass sie die Weltgestalt einer Änderung unterzogen, aber dennoch durchaus unterschiedlichen Charakters sind. So sind das Erdbeben von 1755, aber auch der I. Weltkrieg von 1914/18 ebenfalls starke Erschütterungen des Rationalitätsglaubens, wohingegen der Technologieschub zu Beginn des 21. Jahrhunderts solches höchstens in seinen Untertönen erkennen lässt.

21 Selbstredend können solchen Festmachungen an einzelnen Ereignissen immer nur Hilfsmittel sein. Die Änderungsprozesse vollziehen sich in concreto allmählich, wenn auch in unterschiedlichen Tempi. Die Technisierung der Welt hat lange vor dem 20. Jahrhundert begonnen. Allerdings wird im Setzen solcher Bruchstellen im Denken von Diskontinuitäten manches sichtbar und deutlicher, was einem Kontinuitätsaspekt zuweilen verborgen bleibt. Der I. Weltkrieg eignet sich für solch eine Setzung darum so besonders, weil mit und nach ihm auch die Werte- und Denknormen, die bis dahin der Entwicklung der Technik nicht gefolgt waren, vollständig in sich zusammenbrachen. Betroffen sprach Hermann Broch vom „Wertvakuum“. Träger dieses Prozesses war insgesamt aber sicherlich die Industrielle Revolution, die ab der Mitte des 19. Jahrhunderts alle Lebensbereiche umgestaltete, bis in die Ökonomie selbst hinein, wo sich der Privathaushalt als Absatzmarkt der Industrie zu etablieren begann. Paradigmatisches Schaufenster und Einfallstor für letzteres ist die Entwicklung der Kaufhäuser, denen Émile Zola in seinem Roman „Das Paradies der Damen“ ein literarisches Denkmal setzte und die er als „Kathedralen des Kommerz “ bzw. „Kathedrale des neuzeitlichen Handels “ (S. 302) bezeichnet. Bahnbrechend war hier sicherlich das von Aristide Boucicaut geleitete „Bon Marché“ in Paris. Die TV-Dokumentation: „Wünsche werden wahr“ von Sally Aitken und Christine Le Goff zeichnet dessen Weg gekonnt nach.

22 Ein Umstand, der umso interessanter ist und in Bezug auf die Moderne für sich spricht, als der Begriff selbst viel älter ist und erstmals von Friedrich Ludwig Jahn 1814 auf die Befreiungskriege angewandt wurde. Ebenso ist es auch bezeichnend, dass Versuche den Begriff seinem Inhalt entsprechend, also ein militärischer Konflikt, in welchen mehrere Staaten über eine Reihe von Kontinenten eingebunden sind, auf weiter zurückliegende Ereignisse, wie z. B. den Spanischen Erbfolgekrieg, zurückzudatieren, sich nicht durchgesetzt haben.

23 Am 28. 7. erklärte Österreich-Ungarn Serbien, am 1. 8. Deutschland Russland den Krieg. Es begann ein Mechanismus, der nach nur wenigen Tagen alle Schlüsselmächte Europas in die Kampfhandlungen mit einbezog (3. 8. Frankreich, 4. 8. Großbritannien) und sich noch vor Ablauf des Monats weit über Europa hin ausgedehnt hatte (23. 8. Kriegseintritt Japans).

24 In der ersten Schrift bricht Freud die bisherige „Alleinherrschaft“ der Libido mit der Einführung des Todestriebes. Ein Skandalon, über das sich die psychoanalytische Gemeinde bis heute nicht zu beruhigen vermochte. Und in der zweiten ersetzt Freud sein bis dahin gültiges Modell des psychischen Apparates.

25 John Lennon: 9. Oktober 1940 – 8. Dezember 1980; Paul McCartney: * 18. Juni 1942; Robert Zimmermann alias Bob Dylan * 24. Mai 1941. Es ist mit Absicht hier auf drei Musiker zurückgegriffen worden, da einer der Wechsel, die statthatten auch der von der Literatur zur Musik als prägende Kunstgattung einer Generation war. Welche wiederum vom Medium Film eingerahmt wurde. Der Lyriker Allen Ginsberg, der zu den fraglos bedeutenden Lyrikern der Moderne gehört, strich in einem von Filmregisseur Martin Scorsese geführten Interview (Martin Scorsese: No direction home, 2005) diesen Wechsel heraus, als er betonte, dass ihm klar wurde, als er zum ersten Mal die Musik und Lyrik Dylans hörte, dass die Fackel jetzt von der Dichtung an die Musik weitergegeben worden sei. In der deutschsprachigen Literatur griff u. a. kein geringerer als Peter Handke auf Verse von Dylan zurück.

26 Neil Armstrong betrat am 21. Juli 1969 um 03. 56. 20 Uhr den Mond mit den Worten: „That`s one small step for (a) man, one giant leap for mankind “ („Dies ist nur ein kleiner Schritt für einen Menschen, aber ein großer Sprung für die Menschheit“). Das „a“ („einen“) wurde später hinzugefügt, ist im Funkverkehr zwischen Mond und Erde aber nicht zu hören. Im Zusammenhang mit Freud mag auch interessant sein, welche Rolle hierbei das Subjekt als Individuum einnimmt, vor das Abstraktum „Menschheit“ gestellt.

27 Vielleicht noch eindrucksvoller der Umstand, dass 1957 das erste von Menschenhand erschaffene Gerät, der Satellit Sputnik, ins Weltall flog, um dort in den durch die Gravitation festgelegten Bahnen zu wandeln, die den Himmelskörpern seit dem Beginn der Zeit vorbehalten und vorgegeben waren. Siehe dazu auch Hannah Arendt: Vita Activa oder Vom tätigen Leben.

28 Freud stirbt am 23. 9. in London. Am 1. 9. 1939 marschierten deutsche Truppen in Polen ein. Am 3. 9. erklärten daraufhin England und Frankreich und in ihrer Folge die Commonwealthstaaten Deutschland den Krieg.

29