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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.

© 2017 Thorsten Schmidt

Herstellung und Verlag:

BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt

ISBN: 978-3-7448-2681-5

Ich widme dieses Buch dem Andenken an meinen langjährigen Trainer und Freund Uli Weber. Er hat mir bereits früh die Augen dafür geöffnet, dass kein Kampfsystem für sich perfekt ist, sondern dass es wichtig ist, seinen eigenen Kampfstil aus Techniken unterschiedlicher Konzepte zu formen, um sich flexibel auf die Dynamik eines Zweikampfs einstellen zu können. So hat er den Grundstein dafür gelegt, auf welche Weise ich mir die Welt der Selbstverteidigung erschlossen habe. Letztlich hat also auch er einen wesentlichen Beitrag zur Entstehung dieses Buches geleistet.

Zugleich war er mir ein väterlicher Freund und Vorbild. Wie es bei echten Helden oft geschieht, ist er leider viel zu früh von uns gegangen.

Ich habe ihm persönlich sehr viel zu verdanken und werde ihn nie vergessen.

Uli Weber

*1954 † 2011

6. Dan Taekwondo

3. Dan Ju-Jutsu

1. Dan Karate

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Herzlich willkommen, lieber Leser, zur Lektüre über theoretische Grundlagen der Selbstverteidigung. Möglicherweise hast du dich gefragt, was es wohl damit auf sich hat und wie jemand ein ganzes Buch mit rein theoretischen Informationen über ein doch eher praktisches Thema füllen kann. Ich hoffe sehr, diese Fragen bereits mit den ersten Lektionen ausräumen zu können. Generell versteht sich dieses Buch nicht als Ersatz für praktisches Training von Verteidigungstechniken. Vielmehr wirst du in den folgenden Lektionen erfahren, dass erst die sichere Beherrschung von Techniken dir die notwendige Kompetenz verleihen wird, auch die theoretischen Grundlagen anwenden zu können. Insgesamt setzt dieses Buch aber bereits weit vor einer potenziellen Verteidigungssituation an. Mit dem Wissen über die Zusammenhänge von Psychologie, Kommunikation und weiteren zu berücksichtigenden Aspekten wird es dir möglich sein, bevorstehende Situationen bereits jetzt hinsichtlich ihres Gefahrenpotenzials zu bewerten und Vorentscheidungen über dein Verhalten zu treffen. Dadurch steht dir im Falle eines Falles ein wenig mehr Zeit zur Verfügung. Ich hoffe also, dass ich dir mit dem Schreiben dieses Buchs ein kleines Zeitfenster aufstoße, das dir im Ernstfall einen Vorteil gegenüber einem Angreifer verschafft. Noch mehr hoffe ich allerdings, dass du dieses Fenster nie brauchen wirst.

Viele Dinge, die du hier liest, weißt du sicher schon. Die Rückmeldungen von Teilnehmern meiner Selbstverteidigungskurse zeigen aber, dass auch Wissen, das grundsätzlich vorhanden ist, nicht immer im richtigen Kontext zu seiner Bedeutung für die Selbstverteidigung gesehen wird.

Gerade die wissenschaftlichen Erkenntnisse, die ich hier vorstelle, habe ich nicht selbst entwickelt. Das haben Menschen getan, die viel mehr darüber wissen als ich. Ich kann schließlich nicht das Rad neu erfinden. Ich habe lediglich die Zusammenhänge zum Thema Selbstverteidigung hergestellt. Der Verdienst gebührt also in erster Linie den Entwicklern der Ideen und wissenschaftlichen Theorien. Für alles, was ich bei der Übertragung auf das vorliegende Thema eventuell falsch verstanden habe, bin ich allein verantwortlich.

Der Begriff der Selbstverteidigung ist in diesem Buch sehr weit gefasst und schließt hier Themen wie Selbstbehauptung, Selbstschutz und Konfliktvermeidung mit ein.

Bevor ich mein Vorwort einem Zitat beschließe, wünsche ich dir, was für jemanden, der sich mit dem Thema Selbstverteidigung befasst, das Allerwichtigste ist, nämlich dass du jeden Abend gesund nach Hause kommst.

Und nun, bevor es endlich los geht, möchte ich dir noch einige weise Worte mit auf den Weg geben: Nicht alles, was in diesem Buch geschrieben steht, wird für dich, deine Stärken und Schwächen, deine Charaktereigenschaften und dein ganzes Wesen, passen oder anwendbar sein. Ich empfehle dir daher, die Inhalte sehr pragmatisch für dich selbst zu bewerten und könnte es nicht besser formulieren, als ein großer Kämpfer und Philosoph es bereits vor langer Zeit getan hat:

„Nimm an, was nützlich ist.

Lass weg, was unnütz ist.

Und füge hinzu, was dein eigenes ist.“

( BRUCE LEE )

Thorsten Schmidt,

im November 2016

Lektion 1 Kampfsport und Selbstverteidigung

Ich gehe davon aus, dass viele Leser bereits Erfahrungen im Kampfsport haben. Noch ein wenig mehr freue ich mich über diejenigen, die sich ohne „Vorbelastung“ für das Thema interessieren. Diese Lektion ist im Grunde sehr schnell abgearbeitet, indem man den Begriff Kampfsport einmal detailliert unter die Lupe nimmt. Zum Kampfsport zählt die sportliche Ausübung teilweise sehr alter, teilweise aber auch moderner Kampfkünste. Die Wettkämpfe in den verschiedenen Kampfsportarten haben eines gemeinsam, nämlich dass klar reglementiert ist, welche Techniken erlaubt sind und welche nicht. Als Beispiele sollen uns hier Judo, Taekwondo und Boxen dienen:

In der olympischen Kampfsportart Judo sind lediglich Würfe sowie Festlege- und Haltegriffe erlaubt, nicht jedoch Schlag- und Tritt-Techniken.

So umfasst Judo im wesentlichen Wurf-, Hebel- und Festlegetechniken. Schläge und Tritte sind nicht erlaubt. Taekwondo hingegen erscheint dagegen vollständig konträr, da diese Kampfkunst geprägt ist durch hohe Tritte und Schlagtechniken mit Faust, Handkante oder Ellenbogen. Im sportlichen Wettkampf (Vollkontakt) sind allerdings keine Handtechniken zum Kopf und generell keine Ellenbogentechniken oder Kniestöße erlaubt. Ebenso sind Tritte und Schläge unterhalb der Gürtellinie sowie Würfe untersagt. Das Boxen letztlich beschränkt sich auf Fausttechniken zu Kopf und Körper.

Die Regelwerke sind entwickelt worden, um einen fairen Wettkampf zu ermöglichen und Verletzungsrisiken zu minimieren. Man stelle sich nur einen Boxkampf vor, in dem ein Boxer seinem Gegner zu Beginn der ersten Runde durch einen harten Tritt zum Oberschenkel eine Punktprellung zufügt und dadurch dessen Beweglichkeit einschränkt. Doch was für den sportlichen Wettkampf undenkbar ist, kann für eine Verteidigungssituation genau die richtige Strategie sein.

Eine Frage, die in diesem Zusammenhang oftmals thematisiert wird, ist welche Kampfsportart denn nun „besser“ als die andere sei. Der eingefleischte Kickboxer wird gegenüber dem Judoka argumentieren, dass dieser ja gar nicht an ihn heran komme, weil er durch Kicks und Boxtechniken auf Distanz gehalten werde. Im Grundsatz erscheint diese Überlegung logisch. Allerdings trifft die Argumentation nur zu, solange der Kickboxer die Distanz frei wählen kann. Ist der Judoka nämlich erst einmal nah genug heran gekommen, verfügt er in der Nahdistanz über ein viel größeres Technikspektrum, um dem Kickboxer das Leben schwer zu machen.

Anhand dieses Beispiels ist bereits unschwer zu erkennen, dass jede Kampfsportart ihre Stärken und ihre Schwächen hat. Dabei sind für den erfolgreichen Einsatz des eigenen Spektrums an Techniken die jeweiligen Umstände entscheidend.

Wenn wir nun also zu der Frage kommen, was das grundsätzlich für eine Verteidigungssituation bedeutet, so können wir zusammenfassen, dass jede Kampfsportart ein gewisses Spektrum an Techniken beinhaltet, die in einer Verteidigungssituation angewendet werden können. Der Kampfsportler wird dabei diejenigen Techniken anwenden, die er erlernt, oft geübt und vielleicht schon erfolgreich im Wettkampf eingesetzt hat. Um auf das vorherige vergleichende Beispiel zurückzukommen, ist also davon auszugehen, dass ein Judoka einen Angreifer nah an sich heran kommen lassen wird, um ihn mit einer Wurftechnik zu Boden zu bringen und dort mit einer Festlegetechnik zu fixieren. Währenddessen wird der Taekwondoin einen Angreifer schon auf lange Distanz mit Fußstößen zum Kopf und zum Körper kampfunfähig machen. Die vergleichenden Beispiele ließen sich mit pro- und contra- Argumenten für alle anderen Kampfsportarten fortsetzen, aber ich denke, es ist bereits ausreichend deutlich geworden, dass es beim Transfer von Kampfsport-Techniken in eine Verteidigungssituation je nach Kampfsportart erhebliche Unterschiede gibt.

Boxkampf nach festgelegtem Regelwerk.

Letztlich lassen sich diesbezüglich verschiedene Grundaussagen treffen:

Zwischen Kampfsport und Selbstverteidigung bestehen erhebliche Unterschiede. Während die erlernten Kampftechniken lediglich die eigentliche Kampfphase beeinflussen können, umfasst Selbstverteidigung alle Maßnahmen zur Vermeidung körperlicher Schäden oder sonstiger negativer Folgen.

Lektion 2 Kämpfen oder nicht kämpfen?

In einem Buch über Selbstverteidigung mag die Frage „Kämpfen oder nicht kämpfen?“ etwas merkwürdig anmuten. Bereiten wir uns denn nicht hier auf das Kämpfen vor? Die Antwort lautet weder ja noch nein. Natürlich wollen wir uns damit beschäftigen, wie wir Angriffe abwehren können. Andererseits beinhaltet ein Kampf auch immer Risiken. Egal, wie gut ausgebildet wir in der Anwendung von Kampftechniken sind; Das Risiko, selbst verletzt zu werden, besteht in jeder Kampfsituation. Selbst wenn es uns gelingt, den Angreifer mit Kampftechniken zu stoppen und außer Gefecht zu setzen, bleibt das Risiko der rechtlichen Folgen. Am Ende dieser Lektion werde ich ein interessantes Urteil wiedergeben, das ich in diesem Zusammenhang einmal aufgeschnappt habe.

„Wer kämpft, kann verlieren.

Wer nicht kämpft, hat schon verloren.“

( BERTOLT BRECHT )

Wer dieses Zitat liest, vermutet wahrscheinlich eher einen Selbstverteidigungslehrer als Begründer der Aussage, nicht einen Schriftsteller und Lyriker. Brecht legt uns damit quasi ans Herz, uns Herausforderungen zu stellen und einem Kampf nicht auszuweichen. Das klingt ganz dem Motto eines gewaltbereiten Kämpfers. Dazu muss man wissen, dass Brecht im frühen 20. Jahrhundert als überzeugter Kommunist strikter Gegner des Nazi-Regimes in Deutschland war und wegen Hochverrats angeklagt wurde. Er flüchtete daraufhin und verbrachte Jahre im Exil. Ich denke, dass sein oben wiedergegebenes Zitat sich darauf bezieht, dass man Unrecht nicht hinnehmen, sondern sich dagegen auflehnen soll. Nun ist eine solche Aussage sicher im Kontext mit einem Unrechtsregime, in dem Menschen verfolgt und ermordet werden, anders zu bewerten als wenn uns auf der Straße jemand um den Inhalt unserer Geldbörse erleichtern will.

Aus meiner Sicht muss man sich immer auch die Frage stellen, ob sich ein Kampf lohnt. Um diese Frage zu beantworten, muss klar sein, was ich verliere, wenn ich nicht kämpfe. Ist der Verlust die Risiken wert, die jeder Kampf mit sich bringt? Um die Bedeutung dieser Frage zu erläutern, möchte ich ein Beispiel anführen:

Vor etwa zwanzig Jahren erzählte mein Vater mir von einem Bekannten, der beruflich häufig in Drittweltländern unterwegs war. Der Bekannte war ein durchtrainierter American-Football-Spieler.

Jedenfalls hatte er sich irgendwo in Südamerika in einer Bar aufgehalten und war leicht angetrunken auf dem Heimweg von einem Straßenräuber unter Vorhalt eines Messers aufgefordert worden, sein Geld heraus zu geben. Er hatte ihm daraufhin ohne Zögern sein Bargeld gegeben und beide waren anschließend ihrer Wege gegangen.

Meine Reaktion als junger Kampfsportler war nicht unbedingt Entsetzen, aber doch Unverständnis. Da war dieser Hüne von einem Mann, der es gewohnt war, andere Hünen über den Haufen zu rennen und der gab einem dahergelaufenen Wicht einfach so sein Geld? Als ich nachhakte, erklärte mir mein Vater, dass sein Bekannter für solche Zwecke immer nur kleine Menge Geldes mit sich führe. Er war offenbar daran gewöhnt, als optisch leicht erkennbarer Europäer in solchen Ländern ausgeraubt zu werden. Er betrachtete die kleine Summe als unwert, dafür ein Risiko einzugehen. In jungen Jahren hätte ich mich immer nur gefragt, ob ich den Angreifer schaffe. Der Anlass wäre mir relativ gleichgültig gewesen. Nun kommt mit dem Alter vielleicht ein wenig Weisheit. Heute, mit größerer Lebenserfahrung, sehe ich das alles etwas anders.

In diesem Zusammenhang möchte ich nun auf das avisierte Urteil zu sprechen kommen, das ich zu Beginn dieser Lektion angesprochen habe. Über das Urteil wurde vor einigen Jahren im Radio berichtet, und da ich zu dieser Zeit begann, Kurse zum Thema Selbstverteidigung zu geben, erregte es meine Aufmerksamkeit. Der Entscheidung des Gerichts lag folgender Sachverhalt zugrunde:

Ein Mann ging mit seiner Freundin von einer Party nach Hause. Unterwegs begegnete ihnen ein Betrunkener, der die beiden beschimpfte und die Frau anmachte. Ihr Begleiter rief den Mann zur Ordnung und drohte ihm Schläge an, wenn er die Frau weiter belästige. Der Betrunkene gab jedoch keine Ruhe und begann, die Frau zu begrapschen.

Es folgt eine dramaturgische Pause, um dem Leser die Gelegenheit zu bieten, sich in die Perspektive des Begleiters der jungen Dame hinein zu versetzen und eine hypothetische Entscheidung zu treffen, wie er selbst sich verhalten würde.

Der junge Mann in unserem Beispiel versuchte, den Betrunkenen weg zu schieben, woraus sich ein Gerangel entwickelte. In dessen Verlauf schlug der Begleiter der belästigten Frau dem Betrunkenen mit der Faust ins Gesicht, woraufhin dieser zu Boden stürzte. Nun war der Angreifer allerdings Brillenträger. Er fiel aufs Gesicht, wobei die Brille zerbrach und ein Glassplitter ins Auge eindrang. In der Folge verlor der Angreifer auf einem Auge die Sehfähigkeit.

Ohne der Lektion über das Thema „Recht“ allzu weit vorgreifen zu wollen, drängt sich hier dem Leser sicher die Vermutung auf, dass die Handlung des jungen Mannes unter dem Begriff „Notwehr“ einzuordnen sein dürfte. Das sehe ich auch so. Problematisch gestaltete sich jedoch, dass der entscheidende Richter dies anders sah. Er warf dem Angeklagten vor, bei seiner aus Notwehr motivierten Aktion habe er berücksichtigen müssen, dass der später Verletzte zum Einen alkoholisiert und zum Anderen Brillenträger gewesen sei. Es liege nicht außerhalb der allgemeinen Lebenserfahrung und sei somit in Betracht zu ziehen gewesen, dass der Betrunkene aufgrund seiner alkoholbedingten Beeinträchtigung seines Gleichgewichtssinns durch den Faustschlag zu Boden stürzen werde. Dies habe der Angeklagte berücksichtigen müssen, ebenso wie die Möglichkeit, dass bei dem Sturz die Brille zerbrechen würde. In der Folge sei ihm auch zuzumuten gewesen zu erkennen, dass ein zerbrochenes Brillenglas zu einer schweren Verletzung und dem daraus resultierenden Verlust der Sehfähigkeit führen könne. Im Ergebnis wurde der junge Mann im Namen des Volkes dazu verurteilt, dem Angreifer Schmerzensgeld und Schadenersatz (vermutlich eine lebenslange Rente; Anm. des Autors) zu zahlen.

Nun kann man von diesem Urteil halten, was man will. Fakt ist aber, dass Richter im Rahmen der Strafverfolgung sehr viel Zeit haben, einen Sachverhalt von allen erdenklichen Perspektiven gedanklich und rechtlich zu beleuchten. Dass man bei dem Luxus, eine Situation unter Berücksichtigung aller relevanten Aspekte beleuchten zu können, zu einer anderen Entscheidung kommen kann als in einem dynamischen Handlungsverlauf, leuchtet in dem Zusammenhang sicher ein. Der Ausgang dieses Verfahrens führt uns zu einem weiteren Zitat, das meines Erachtens sehr gut zusammen fasst, was es mit der Entscheidung pro oder contra Kämpfen auf sich hat:

„Niemand gewinnt einen Kampf.“

( „DALTON“ IM FILM „ ROADHOUSE“ )

Ich will damit nicht sagen, dass du zulassen sollst, dass deine Freundin von einem Betrunkenen angegrapscht wird. Ich würde es nicht tun. Aber ich kann nur für mich entscheiden. Das Urteil soll uns allerdings vor Augen führen, dass ein Kampf, auch wenn wir dafür ausgebildet und gut darauf vorbereitet sind, im Nachgang erhebliche Probleme für uns bedeuten kann, selbst wenn wir nach erster Bewertung siegreich daraus hervor gegangen sind.

Diese Lektion kann dir nicht sagen, wann sich ein Kampf lohnt und wann nicht. Diese Entscheidung muss jeder für sich selbst treffen. Die Abwägung hängt von vielen Faktoren ab. Ich könnte mich zum Beispiel fragen, was für mich auf dem Spiel steht, wenn ich den Angreifer gewähren lasse. Wie groß ist das Risiko, dass ich im Verlauf des Kampfes schwer verletzt oder gar getötet werde? Wie werden sich ggf. umstehende Personen später verhalten, wenn es darum geht, strafrechtlich zu klären, wer wofür zur Verantwortung zu ziehen ist? Um Grundüberlegungen darzustellen, möchte ich zwei Beispiele bemühen, die sich vielleicht auf den ersten Blick ähneln, bei genauer Betrachtung jedoch wesentlich unterscheiden:

Wenn ich abends zu Fuß unterwegs bin und ich werde von einem Räuber unter Vorhalt eines Messers aufgefordert, ihm mein Geld zu geben, dann gebe ich es ihm.

Warum? Selbst wenn ich aufgrund meiner langjährigen Erfahrung (unter anderem im Messerkampf) möglicherweise in der Lage wäre, den Angreifer zu entwaffnen, beinhaltet eine solche Situation doch ein hohes Risiko, dabei verletzt zu werden. Das ist insbesondere dann der Fall, wenn ein Messer im Spiel ist. Kein Geld der Welt ist es wert, dafür meine Gesundheit oder gar mein Leben aufs Spiel zu setzen! Ich muss mich auch fragen, was der Angreifer will. Wenn er mich mit dem Messer verletzen wollte, würde er nicht damit drohen, sondern es sofort einsetzen. Also will er vermutlich nur mein Geld und wird mich mit hoher Wahrscheinlichkeit ziehen lassen, wenn er es bekommt.

Im zweiten Beispiel zieht jemand im Verlauf eines Streits ein Messer und kommt damit auf mich zu, wobei er sagt „Jetzt mach ich dich kalt!“. Wenn mir hier keine Möglichkeit zur Flucht bleibt, werde ich den Angreifer sofort attackieren.

Obwohl also dieselbe Waffe im Spiel ist, verhalte ich mich völlig entgegengesetzt zum ersten Beispiel. Warum? Der Sachverhalt ist anders zu bewerten. Während nämlich im ersten Beispiel die Intention des Angreifers auf mein Geld gerichtet ist, will er mich im zweiten Beispiel ohnehin mit dem Messer angreifen. Einerseits steht also ein für mich höherwertiges Gut zur Disposition, nämlich meine Gesundheit oder gar mein Leben anstelle von Geld. Andererseits ist hier der tatsächliche Angriff ohnehin nicht mehr zu vermeiden, zumal ja der Angreifer bereits angedroht hat, dass er mich töten will.

Im Ergebnis hängt es also von den Umständen ab, ob ich mich für oder gegen einen Kampf entscheide. Dies ist eine höchst persönliche Entscheidung, die wirklich jeder für sich selbst treffen muss. Wichtig ist nur, diese Entscheidung bereits im Vorfeld zu treffen, da mir im Ernstfall dafür die Möglichkeiten – zeitlich wie kognitiv – fehlen. Doch dazu später mehr…

Ich möchte noch einmal auf das zweite Beispiel zurück kommen und auf folgende Textstelle hinweisen: „Wenn mir hier keine Möglichkeit zur Flucht bleibt...“. Ja, Flucht! Der Leser denkt sich jetzt vielleicht „Das gibt’s doch nicht, da schreibt jemand mit über dreißig Jahren Erfahrung als Kampfsportler ein Buch über Selbstverteidigung und dann redet der hier von Flucht?“. Ja, genau deshalb! Ich bitte dich, noch einmal über meine Definition von Selbstverteidigung nachzudenken: Selbstverteidigung hat auch, aber nicht ausschließlich mit dem Anwenden von Kampftechniken zu tun. Es geht hier vielmehr um alle Maßnahmen, die dazu beitragen, dass ich abends gesund in meinem Bett liege und keine negativen Folgen davon trage. Wenn sich also ein Kampf anbahnt und ich nutze eine sich bietende Möglichkeit zur Flucht, dann ist das nicht feige – das ist clever! Habe ich denn dadurch nicht alles erreicht, was die Grundidee der Selbstverteidigung von mir erwartet? Denk mal darüber nach!

Natürlich ist das für jemanden, der jahrelang das Kämpfen trainiert, nicht so recht zufriedenstellend. Trainiert man denn nicht genau für eine solche Situation? Die Antwort lautet ganz klar: Nein! In meinem letzten Kurs berichtete eine Teilnehmerin von einem Erlebnis, das sie gedanklich nicht los ließ:

Sie war als Joggerin in einem großen Park unterwegs. Ein Mann fuhr auf einem Fahrrad an ihr vorbei und drehte sich nach ihr um, um sie näher zu betrachten. Während ihrer Dehnübungen bemerkte die Joggerin erneut den Radfahrer, der sich nun auf einer Parkbank nieder gelassen hatte und sie scheinbar beobachtete. Ihr Heimweg hätte sie an der Parkbank vorbei geführt. Weil sie aufgrund der Situation ein mulmiges Gefühl hatte, lief sie stattdessen in die entgegengesetzte Richtung auf einem Umweg nach Hause. Nun fühlte sie sich deswegen schlecht, weil sie einerseits das Gefühl hatte, sie habe überreagiert. Desweiteren schämte sie sich für ihre Angst vor einer möglichen Konfrontation.

Unter Hinweis auf die zuvor getroffenen Aussagen erklärte ich der Kursteilnehmerin, dass sie aus meiner Sicht alles richtig gemacht habe:

Die Idee der Vermeidung eines Kampfes ist im übrigen weder neu noch basiert sie auf pazifistisch geprägten Motiven. Sie ist schlicht eine logische Folge des Bestrebens, Nachteile von mir selbst abzuwenden. So hat bereits vor ca. 2500 Jahren ein chinesischer Feldherr und Militärstratege gesagt:

„Wahrhaft siegt, wer nicht kämpft.“

( SUN TSU )

An dieser Stelle möchte ich ein weiteres Zitat bemühen:

„Aber nur weil du ihn verprügeln kannst,

gibt dir das noch lange nicht das Recht dazu.

Vergiss niemals: Aus großer Kraft folgt große Verantwortung.“

( „ONKEL BEN“ IM FILM „SPIDERMAN“ )

Zum Einen reflektiert dies natürlich die Frage, ob (und inwieweit) die Anwendung unserer Kampftechniken im Fall eines gegen uns gerichteten Angriffs durch Notwehr abgedeckt ist. Als aktiver Kampfsportler oder jemand, der bekanntermaßen in Selbstverteidigung trainiert ist, wird man es immer schwer haben zu begründen, warum man nicht weniger invasive Techniken eingesetzt hat, um den Angreifer zu stoppen. Aber soweit will ich gar nicht gehen. Das Zitat sagt uns noch etwas anderes: Wenn wir trainieren, um gut kämpfen und uns verteidigen zu können, dann erwarten nicht nur andere, sondern sicher auch wir selbst von uns, dass wir eine solche Situation kontrollieren können. Wenn wir aber die Kontrolle ausüben, sind wir auch für den weiteren Verlauf verantwortlich. Ich bin sicher alles andere als ein Pazifist und ich vertrete die Ansicht, dass jeder, der mich angreift, dafür seinen Preis zahlen soll. Aber auch das musst du für dich entscheiden. Wenn du sicher bist, mit dem Bewusstsein leben zu können, im Extremfall jemanden schwer verletzt oder gar getötet zu haben, dann mag das deine Entscheidung entsprechend beeinflussen. Ich will mit diesen Zeilen nur dafür sorgen, dass du diese Frage eingehend und von allen Seiten überdacht hast.

Die Antwort auf diese Frage mag auf den ersten Blick sehr einfach erscheinen. Das ist jedoch nur oberflächlich. Du brauchst dich nur einmal mit Polizeibeamten zu unterhalten, die auf jemanden geschossen haben oder mit Soldaten, die im Kriegseinsatz waren. Das sind Erinnerungen und Eindrücke, die einen nie mehr los lassen. Nicht umsonst gibt es heutzutage Angebote für solche Personengruppen, die sich mit der Verarbeitung posttraumatischer Belastungen befassen, wie etwa Post-shooting-Seminare etc.