Friedrich Hebbel: Maria Magdalena

 

 

Friedrich Hebbel

Maria Magdalena

Ein bürgerliches Trauerspiel in drei Akten

 

 

 

Friedrich Hebbel: Maria Magdalena. Ein bürgerliches Trauerspiel in drei Akten

 

Neuausgabe mit einer Biographie des Autors.

Herausgegeben von Karl-Maria Guth, Berlin 2016.

 

Umschlaggestaltung unter Verwendung des Bildes:

Esteban Murillo, Die büßende Magdalena, 1655

 

ISBN 978-3-8430-6310-4

 

Dieses Buch ist auch in gedruckter Form erhältlich:

ISBN 978-3-8430-9900-4 (Broschiert)

ISBN 978-3-8430-9901-1 (Gebunden)

 

Die Sammlung Hofenberg erscheint im Verlag der Contumax GmbH & Co. KG, Berlin.

 

Erstdruck: Hamburg (Hoffmann und Campe) 1844. Uraufführung 13.3.1846 in Königsberg.

 

Der Text dieser Ausgabe folgt:

Friedrich Hebbel: Werke. Herausgegeben von Gerhard Fricke, Werner Keller und Karl Pörnbacher, Band 1–5, München: Hanser, 1963.

 

Die Paginierung obiger Ausgabe wird in dieser Neuausgabe wortgenau mitgeführt und macht dieses E-Book auch in wissenschaftlichem Zusammenhang zitierfähig. Das Textende der Vorlagenseite wird hier durch die Seitennummer in eckigen Klammern mit grauer Schrift markiert.

 

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind über http://www.dnb.de abrufbar.

 

 

Sr. Majestät,

dem

KÖNIG CHRISTIAN DEM ACHTEN

von Dänemark

in tiefster Ehrfurcht gewidmet[304]

 

 

Dem Dichter ist es an- und eingeboren,

Daß er sich lange in sich selbst versenkt,

Und, in das innre Labyrinth verloren,

Des äußeren der Welt erst spät gedenkt;

Und dennoch hat ihn die Natur erkoren,

Zu zeigen, wie sich dies mit dem verschränkt,

Und es in klarem Bilde darzustellen,

Wie beide sich ergänzen und erhellen.

 

Denn nicht, wie wohl ein irdscher Künstler, spielend,

Wenn er zurück von seiner Tafel trat,

Dem Lieblingskind, das, lüstern darnach schielend,

Schon längst ihn still um seinen Griffel bat,

Ihn freundlich darreicht, auf nichts andres zielend,

Als daß es, träumend von gewaltger Tat,

Sein Meisterstück in toten, groben Zügen

Nachbilde, wie es kann, sich zu vergnügen;

 

Nur, weil sie selbst, ins einzelste zerfließend,

Sich endlich auch doch konzentrieren muß,

Und, in dem Teil als Ganzes sich genießend,

Den Anfang wieder finden in dem Schluß,

Der, sich mit der Idee zusammenschließend,

Ihr erst verschafft den höchsten Selbstgenuß,

Den alle untern Stufen ihr verneinen:

Rein, ganz und unverworren zu erscheinen;

 

Nur darum hat sie, statt ihn zu zerbrechen,

Dem Menschen ihren Zauberstab vertraut,

Als sie, bereit, ihr: es ist gut! zu sprechen,

Zum letzten Mal das Weltall überschaut,

Und dieser stellt nun, das Gesetz zu rächen

Am plumpen Stoff, dem ewig davor graut,

In den geschloßnen ersten Kreis den zweiten,

Wo sie nur noch harmonisch sich bestreiten.[305]

 

Und, anfangs schauernd vor der hohen Gabe,

Wird sich der fromme Künstler bald bewußt,

Daß er zum Dank sich selbst zu opfern habe,

Und steigt nun tief hinab in seine Brust;

Er fragt nicht, ob ihn auch die Nacht begrabe,

Er geht, so weit er kann, in banger Lust,

Und führt sein Narr im Wappen die Versöhnung,

Er hofft nur kaum auf sie, wie auf die Krönung!

 

Doch, wenn er lange so den roten Faden

Aus sich hervor spinnt, der ihn führen kann,

So wird er plötzlich durch den Geist geladen:

Nun lege ihn in der Geschichte an!

Dies ist ein wahrer Ruf von Gottes Gnaden,

Und wer nicht folgt, der zeigt, daß er zerrann!

Ich habe vorlängst diesen Ruf vernommen,

Da hab ich nicht gesäumt, ich bin gekommen.

 

Und wie mein Blick sich lenkte in das Weite,

War mir auch flugs die Sehnsucht eingeflößt,

Die äußre Welt zu schaun in ihrer Breite,

Allein der Mittel sah ich mich entblößt.

Doch gleich stand mir ein Genius zur Seite,

Und von der Scholle ward mein Fuß gelöst,

Und was dies hieß, das kann ich jetzt erst wägen,

Wo sich zur Frucht verdichten will der Segen.

 

Du warst es, Herr und Fürst! Laß dirs gefallen,

Daß ich zum Danke jetzt dies kleine Bild,

Vielleicht das einfach-schlichteste von allen,

Worin sich mir das Welt-Geschick enthüllt,

Dir bringe, und, wen sichs für Königs-Hallen

Auch schlecht nur eignet, sei ihm dennoch mild!

Es ist des neuen Frühlings erstes Zeichen,

Und als das erste durfte ichs dir reichen![306]

 

Vorwort zur »Maria Magdalene«,

betreffend das Verhältnis der dramatischen Kunst zur Zeit und verwandte Punkte

 

Das kleine Vorwort, womit ich meine Genoveva begleitete, hat so viel Mißverständnis und Widerspruch hervorgerufen, daß ich mich über den darin berührten Hauptpunkt noch einmal aussprechen muß. Ich muß aber ein ästhetisches Fundament, und ganz besonders einigen guten Willen, auf das Wesentliche meines Gedankenganges einzugehen, voraussetzen, denn wenn die Unschuld des Worts nicht respektiert, und von der dialektischen Natur der Sprache, deren ganze Kraft auf dem Gegensatz beruht, abgesehen wird, so kann man mit jedem eigentümlichen Ausdruck jeden beliebigen Wechselbalg erzeugen, man braucht nur einfach in die Bejahung der eben hervorgehobenen Seite eine stillschweigende Verneinung aller übrigen zu legen.

Das Drama, als die Spitze aller Kunst, soll den jedesmaligen Welt- und Menschen-Zustand in seinem Verhältnis zur Idee, d.h. hier zu dem alles bedingenden sittlichen Zentrum, das wir im Welt-Organismus, schon seiner Selbst-Erhaltung wegen, annehmen müssen, veranschaulichen. Das Drama, d.h. das höchste, das Epoche machende, denn es gibt auch noch ein zweites und drittes, ein partiell-nationales und ein subjektiv-individuelles, die sich zu jenem verhalten, wie einzelne Szenen und Charaktere zum ganzen Stück, die dasselbe aber so lange, bis ein alles umfassender Geist erscheint, vertreten, und wenn dieser ganz ausbleibt, als disjecti membra poetae in seine Stelle rücken, das Drama ist nur dann möglich, wenn in diesem Zustand eine entscheidende Veränderung vor sich geht, es ist daher durchaus ein Produkt der Zeit, aber freilich nur in dem Sinne, worin eine solche Zeit selbst ein Produkt aller vorhergegangenen Zeiten ist, das verbindende Mittelglied zwischen einer Kette von Jahrhunderten die sich, schließen, und einer neuen, die beginnen will.

Bis jetzt hat die Geschichte erst zwei Krisen aufzuzeigen, in welchen das höchste Drama hervortreten konnte, es ist demgemäß[307] auch erst zwei Mal hervorgetreten: einmal bei den Alten, als die antike Welt-Anschauung aus ihrer ursprünglichen Naivetät in das sie zunächst auflockernde und dann zerstörende Moment der Reflexion überging, und einmal bei den Neuern, als in der christlichen eine ähnliche Selbst-Entzweiung eintrat. Das griechische Drama entfaltete sich, als der Paganismus sich überlebt hatte, und verschlang ihm, es legte den durch alle die bunten Götter-Gestalten des Olymps sich hindurchziehenden Nerv der Idee bloß, oder, wenn man will, es gestaltete das Fatum. Daher das maßlose Herabdrücken des Individuums, den sittlichen Mächten gegenüber, mit denen es sich in einen doch nicht zufälligen, sondern notwendigen Kampf verstrickt sieht, wie es im Oedip den Schwindel erregenden Höhepunkt erreicht. Das Shakespearsche Drama entwickelte sich am Protestantismus und emanzipierte das Individuum. Daher die furchtbare Dialektik seiner Charaktere, die, soweit sie Männer der Tat sind, alles Lebendige um sich her durch ungemessenste Ausdehnung verdrängen, und soweit sie im Gedanken leben, wie Hamlet, in ebenso ungemessener Vertiefung in sich selbst durch die kühnsten entsetzlichsten Fragen Gott aus der Welt, wie aus einer Pfuscherei, herausjagen mögten.

Nach Shakespeare hat zuerst Goethe im Faust und in den mit Recht dramatisch genannten Wahlverwandtschaften wieder zu einem großen Drama den Grundstein gelegt, und zwar hat er getan, oder vielmehr zu tun angefangen, was allein noch übrig blieb, er hat die Dialektik unmittelbar in die Idee selbst hineingeworfen, er hat den Widerspruch, den Shakespeare nur noch im Ich aufzeigt, in dem Zentrum, um das das Ich sich herum bewegt, d.h. in der diesem erfaßbaren Seite desselben, aufzuzeigen, und so den Punkt, auf den die gerade, wie die krumme Linie zurückzuführen schien, in zwei Hälften zu teilen gesucht. Es muß niemand wundern, daß ich Calderon, dem manche einen gleichen Rang anweisen, übergehe, denn das Calderonsche Drama ist allerdings bewunderungswürdig in seiner konsequenten Ausbildung, und hat der Literatur der Welt in dem Stücke: das Leben ein Traum! ein unvergängliches Symbol einverleibt, aber es enthält nur Vergangenheit, keine Zukunft, es setzt in seiner starren Abhängigkeit vom Dogma voraus, was es beweisen soll, und nimmt[308] daher, wenn auch nicht der Form, so doch dem Gehalt nach, nur eine untergeordnete Stellung ein.

Allein Goethe hat nur den Weg gewiesen, man kann kaum sagen, daß er den ersten Schritt getan hat, denn im Faust kehrte er, als er zu hoch hinauf, und in die kalte Region hinein geriet, wo das Blut zu gefrieren anfängt, wieder um, und in den Wahlverwandtschaften setzte er, wie Calderon, voraus, was er zu beweisen oder zu veranschaulichen hatte. Wie Goethe, der durchaus Künstler, großer Künstler, war, in den Wahlverwandtschaften einen solchen Verstoß gegen die innere Form begehen konnte, daß er, einem zerstreuten Zergliederer nicht unähnlich, der, statt eines wirklichen Körpers, ein Automat auf das anatomische Theater brächte, eine von Haus aus nichtige, ja unsittliche Ehe, wie die zwischen Eduard und Charlotte, zum Mittelpunkt seiner Darstellung machte und dies Verhältnis behandelte und benutzte, als ob es ein ganz entgegengesetztes, ein vollkommen berechtigtes wäre, wüßte ich mir nicht zu erklären; daß er aber auf die Hauptfrage des Romans nicht tiefer einging, und daß er ebenso im Faust, als er zwischen einer ungeheuren Perspektive und einem mit Katechismus-Figuren bemalten Bretter-Verschlag wählen sollte, den Bretter-Verschlag vorzog und die Geburtswehen der um eine neue Form ringenden Menschheit, die wir mit Recht im ersten Teil erblickten, im zweiten zu bloßen Krankheits-Momenten eines später durch einen willkürlichen, nur notdürftig-psychologisch vermittelten Akt kurierten Individuums herabsetzte, das ging aus seiner ganz eigen komplizierten Individualität hervor, die ich hier nicht zu analysieren brauche, da ich nur anzudeuten habe, wie weit er gekommen ist. Es bedarf hoffentlich nicht der Bemerkung, daß die vorstehenden, sehr motivierten Einwendungen gegen den Faust und die Wahlverwandtschaften diesen beiden welthistorischen Produktionen durchaus nichts von ihrem unermeßlichen Wert abdingen, sondern nur das Verhältnis, worin ihr eigener Dichter zu den in ihnen verkörperten Ideen stand, bezeichnen und den Punkt, wo sie formlos geblieben sind, nachweisen sollen.

Goethe hat demnach, um seinen eigenen Ausdruck zu gebrauchen, die große Erbschaft der Zeit wohl angetreten, aber nicht verzehrt, er hat wohl erkannt, daß das menschliche Bewußtsein[309] sich erweitern, daß es wieder einen Ring zersprengen will, aber er konnte sich nicht in gläubigem Vertrauen an die Geschichte hingeben, und da er die aus den Übergangs-Zuständen, in die er in seiner Jugend selbst gewaltsam hineingezogen wurde, entspringenden Dissonanzen nicht aufzulösen wußte, so wandte er sich mit Entschiedenheit, ja mit Widerwillen und Ekel, von ihnen ab. Aber diese Zustände waren damit nicht beseitigt, sie dauern fort bis auf den gegenwärtigen Tag, ja sie haben sich gesteigert, und alle Schwankungen und Spaltungen in unserem öffentlichen, wie in unserem Privat-Leben, sind auf sie zurückzuführen, auch sind sie keineswegs so unnatürlich, oder auch nur so gefährlich, wie man sie gern machen mögte, denn der Mensch dieses Jahrhunderts will nicht, wie man ihm Schuld gibt, neue und unerhörte Institutionen, er will nur ein besseres Fundament für die schon vorhandenen, er will, daß sie sich auf nichts, als auf Sittlichkeit und Notwendigkeit, die identisch sind, stützen und also den äußeren Haken, an dem sie bis jetzt zum Teil befestigt waren, gegen den inneren Schwerpunkt, aus dem sie sich vollständig ableiten lassen, vertauschen sollen. Dies ist, nach meiner Überzeugung, der welthistorische Prozeß, der in unseren Tagen vor sich geht, die Philosophie, von Kant, und eigentlich von Spinoza an, hat ihn, zersetzend und auflösend, vorbereitet, und die dramatische Kunst, vorausgesetzt, daß sie überhaupt noch irgend etwas soll, denn der bisherige Kreis ist durchlaufen und Duplikate sind vom Überfluß und passen nicht in den Haushalt der Literatur, soll ihn beendigen helfen, sie soll, wie es in einer ähnlichen Krisis Aeschylos, Sophokles, Euripides und Aristophanes, die nicht von ungefähr und etwa bloß, weil das Schicksal es mit dem Theater der Athener besonders wohl meinte, so kurz hintereinander hervortraten, getan haben, in großen gewaltigen Bildern zeigen, wie die bisher nicht durchaus in einem lebendigen Organismus gesättigt aufgegangenen, sondern zum Teil nur in einem Scheinkörper erstarrt gewesenen und durch die letzte große Geschichts-Bewegung entfesselten Elemente, durcheinander flutend und sich gegenseitig bekämpfend, die neue Form der Menschheit, in welcher alles wieder an seine Stelle treten, in welcher das Weib dem Manne wieder gegenüberstehen wird, wie dieser der Gesellschaft, und wie die Gesellschaft der Idee,[310] erzeugen. Damit ist nun freilich der Übelstand verknüpft, daß die dramatische Kunst sich auf Bedenkliches und Bedenklichstes einlassen muß, da das Brechen der Weltzustände ja nur in der Gebrochenheit der individuellen erscheinen kann, und da ein Erdbeben sich nicht anders darstellen läßt, als durch das Zusammenstürzen der Kirchen und Häuser und die ungebändigt hereindringenden Fluten des Meers. Ich nenne es natürlich nur mit Rücksicht auf die harmlosen Seelen, die ein Trauerspiel und ein Kartenspiel unbewußt auf einen und denselben Zweck[311] KarfunkelKieselLebens-SymbolLebens-Rätsel,ProblemLebenGebrochenheitbeideszusammenfallen, das Moment der Idee,verlorne EinheitKrankheit selbst die Gesundheit ÜbergangBehandlung,Unvermischtseinletzte Resultat,[312][313]