Schriftenreihe der Otto-Koenig-Gesellschaft, Wien

38. matreier Gespräche zur Kulturethologie

2012

Umschlaggestaltung, Satz, Layout: Oliver Bender, Sigrun Kanitscheider Titelbild: Gleichheit und Asymmetrie auf einer Waage

© Otto-Koenig-Gesellschaft, Wien & Institut für Interdisziplinäre Gebirgsforschung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, Innsbruck, 2013.

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Herstellung und Verlag:

BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt.

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

ISBN 978-3-7322-6277-9

Inhalt

Vorwort

Das Thema der 38. Matreier Gespräche zur Kulturethologie 2012 „Gleichheit und Ungleichheit, Symmetrie und Asymmetrie“ ist in ungewöhnlichem Maße sowohl zeitlos als auch aktuell. Seine Aktualität beweist es schon bei einem flüchtigen Blick in den politischen Teil unserer Tageszeitungen, wo es immer häufiger von Worten wimmelt, die auf Gleichheit Bezug nehmen: Gleichberechtigung, Gleichstellung, Gesamtschule, Gemeinschaftsschule, gleicher Lohn, Inklusion, soziale Gerechtigkeit usw. Während der Gegenbegriff „Freiheit“ (und damit das, was er bezeichnet) langsam, aber sicher unter die Räder (des Fortschritts?) zu kommen scheint. Ein Indikator dafür mag das Wahlergebnis der deutschen Bundestagswahl 2013 sein, bei der die FDP, als Partei des programmatischen Liberalismus, aus dem deutschen Bundestag flog. Auch andere solcher Entwicklungen deuten darauf hin, dass sich gegenwärtig die Gewichte des Zeitgeistes immer mehr in Richtung Gleichheit verlagern und der „Kampf“ gegen die Ungleichheit gewonnen werden könnte. Wie es um diese gesellschaftlich-politischen Aushandlungsprozesse tatsächlich steht und welche Folgen daran geknüpft sind, davon handelt ein Beitrag dieses Bandes.

Im historischen Rückblick dürften allerdings Pendelbewegungen zwischen diesen beiden Polen der politischen Gestaltung erkennbar sein und den Normalfall bilden. Neigt sich einmal das Pendel mehr der Eigenverantwortung und der Freiheit und damit der Ungleichheit zu, bewegt es sich dann wieder deutlich in Richtung einer Politik der Gleichstellung, also zur Gleichheit als Ziel politischer Gestaltung hin.

Aus wissenschaftlicher Distanz kann man diese Entwicklungen beschreiben und ordnen – und natürlich auch kommentieren und interpretieren. Das ist in Anbetracht der Aufgeregtheit, mit der diese Diskussionen zu verlaufen pflegen, nicht wenig. Darüber hinaus ist es jedoch auch legitim zu fragen, ob wissenschaftliche Erkenntnisse möglicherweise auch Entscheidungshilfen (für persönliches und politisches) Handeln anbieten können. Das ist (aufgrund des naturalistischen Fehlschlusses) sicher nicht deduktiv, also direkt, aber möglicherweise indirekt möglich, nämlich wenn es gelingt, allgemeine Zusammenhänge dieser Spannung zwischen Gleichheit und Ungleichheit zu entdecken und zu beschreiben, auf die man bei Bedarf zurückgreifen kann, wenn man vor einschlägigen Entscheidungen steht.

Für eine solche Überprüfung der möglichen Leistungsfähigkeit wissenschaftlicher Erkenntnisse kommen zunächst geistes- und sozialwissenschaftliche Disziplinen in Frage – und bei unserer wissenschaftlichen Tagung war vor allem diese geisteswissenschaftliche Sichtweise stark vertreten. Sie kann zunächst etwas ganz Grundlegendes leisten, nämlich die Klärung der Begriffe und des Problemfeldes. Wie alle Begriffe der Alltagssprache, implizieren auch die Begriffe „Gleichheit“ und „Ungleichheit“ semantische Ungenauigkeiten. Sie sind vage und ungenau und oft nur im Kontext ihrer Verwendung präzise und unproblematisch. Bei die dieser Begriffsklärung kann man deduktiv (wie zum Beispiel die Mathematik) oder induktiv vorgehen (wie viele Beispiele aus der Literaturwissenschaft zeigen).

Darüber hinaus ist auch der naturwissenschaftliche Zugang vielversprechend, weil hier eine präzise und empirisch gehaltvolle Verwendung der Begriffe zu erwarten ist. Allerdings ist es dann zweckmäßig, die Alltagsbegriffe „Gleichheit“ und „Ungleichheit“ in eine Sprache zu übersetzen, die an naturwissenschaftliche Diskurse anschlussfähig ist. Als zweites Begriffspaar haben wir deshalb neben „Gleichheit und Ungleichheit“ die Antonyme „Symmetrie und Asymmetrie“ gestellt und damit einen weiten naturwissenschaftlichen Forschungshorizont eröffnet.

Die Symmetrieforschung ist insbesondere in der Biologie (aber auch in weiteren Disziplinen, zum Beispiel der Geologie) ein anerkanntes Forschungsgebiet. Der Grund mag darin liegen, dass in der Natur symmetrische Erscheinungen omnipräsent und unübersehbar sind. Wenn man sie übersieht, dann nicht deshalb, weil sie zu selten, sondern weil sie zu oft vorkommen und zum normalen Erwartungshorizont in Botanik und Zoologie gehören. Der wissenschaftliche Blick bleibt jedoch nicht nur beim Unerwarteten, Merkwürdigen und Auffälligen hängen, sondern auch beim Normalen und Selbstverständlichen, und der philosophisch Denkende fragt: Warum gibt es dieses und nicht jenes?

Der Begriff der Symmetrie wird in Geologie und Biologie in verschiedenen Bedeutungen gebraucht; man unterscheidet hier unter anderen Metamerie (Longitudinalsymmetrie), Radiär- oder Rotationssymmetrie (der Gegenbegriff wäre „Chaos“) und Spiegelsymmetrie. Die letztere Form von Symmetrie ist uns wohl die vertrauteste, weil sie zum Beispiel als Bilateralsymmetrie der Gesichter und Körper, aber auch von Pflanzen (Blättern, Bäumen usw.), zum alltäglichen Erscheinungsbild gehört. Symmetrie kann sowohl zeitlich (etwa als Rhythmen) wie auch räumlich (etwa als Spiegelsymmetrie) erscheinen, wenn man darunter die geordnete Wiederholung gleicher Struktur- oder Erscheinungsformen versteht. Symmetrie scheint, wie Rupert Riedl immer wieder hingewiesen hat, eine „Ordnung des Lebendigen“1 beziehungsweise eine Systembedingung der Evolution und damit quasi von Anfang an da zu sein. So konnte man zum Beispiel vor kurzem aus einem paläontologischen Forschungsbericht erfahren, dass es rechts und links offenbar schon seit mindestens 585 Millionen Jahren gibt. So alt seien Gesteinsschichten aus Uruguay, in denen die Wissenschaftler Kriechspuren gefunden haben, welche von einem Organismus mit zweiseitiger Körpersymmetrie stammen müssen2.

Auch wenn – in dem kalauernden Gedicht „lichtung“ von Ernst Jandl – „lechts und rinks“ manchmal verwechselt werden3: Diese Form von Symmetrie ist nicht nur uralt, sondern auch omnipräsent und ein grundlegendes Ordnungsprinzip nicht nur des Lebens, sondern der gesamten Natur. Aber warum? Was verbirgt sich dahinter? Warum ist Natur symmetrisch?

In der Symmetrieforschung lassen sich vor allem drei Antworten finden:

  1. Symmetrie ist ein ökonomisches Ordnungs- und Bauprinzip der Evolution. Es erhöht die Komplexität einer Einmalerfindung durch Wiederholung. Das spart Ressourcen und ist effizient beim Aufbau höherer Komplexität.
  2. Symmetrie ermöglicht bei Lebewesen eine bessere Gestaltwahrnehmung. Auf der Grundlage von wiederholender Gleichheit (etwa bei Körper- und Gesichtssymmetrie) können Unterschiede, also zum Beispiel Individualität, besser und schneller erkannt werden.
  3. Symmetrie hat eine Signalfunktion: Sie ermöglicht die Erkenntnis von Abweichungen; sowohl Krankheiten als auch Gesundheit lassen sich schneller und ökonomischer erkennen und das eigene Selektionsverhalten daraufhin abstimmen.

Ein interessante Erkenntnis dieser Funktionsbestimmungen, die so ganz nebenbei abfällt, aber auch für das soziale Verhalten bedeutsam werden kann, ist die Einsicht, dass Gleichheit und Ungleichheit, Symmetrie und Asymmetrie komplementär aufeinander bezogen sind und das Eine nicht nur nicht ohne das Andere zu haben ist, sondern auch ein gegenseitiges Steigerungsverhältnis zu bestehen scheint: Je mehr Gleichheit besteht, desto mehr Ungleichheit kann beobachtet werden. Diese Erkenntnis muss zum Beispiel in einer Pädagogik der Inklusion und einer Politik der Gleichstellung erst noch ankommen und dort verdaut werden.

Es ist unvermeidbar, dass in einer interdisziplinären Tagung wohl eine Vielzahl von unterschiedlichen Aspekten aus der jeweiligen Fachdisziplin zur Sprache kommt, aber Vollständigkeit weder erreichbar, noch wünschbar ist. Auch Konsens ist wohl eher die seltene Ausnahme gewesen. Gleichwohl hat unsere Tagung wieder interessante Referate und Gespräche über ein Thema enthalten, das Zeitlosigkeit und Aktualität gleichermaßen bedient. Von grundlegenden mathematischen Überlegungen (Nagel), Symmetrien und Symmetriebrechungen in der Physik (Klinger) und (sozio)biologischen Aufrissen (Ruso, Treml) über theologische Reflexionen (Reingrabner) und psychoanalytische Überlegungen (Hierdeis) bis hin zu rechtlich-moralischem Nachdenken (Liedtke) reicht ein erster Teil der Beiträge. Die große und spannende Bandbreite wird erweitert durch Betrachtungen zum aktuellen Stand der sozialen Ungleichheit (Bender), über eine kunsttheoretische Spurensuche (Sütterlin), eine geographisch-volkskundliche Veranschaulichung (Heller) sowie literaturwissenschaftliche und semiotische Ergänzungen (Bleckwenn, Schmauks) und pädagogisch-vergleichende Überblicke (Mchitarjan).

Alfred K. Treml

Zum Schluss bleibt wieder herzlich zu danken: der Gemeinde Matrei in Osttirol und der Familie Hradecky im Gasthof Hinteregger für die Gastfreundschaft, der Otto-Koenig-Gesellschaft und ihren Unterstützerinnen und Unterstützern für die Ausrichtung der Tagung, dem Institut für Interdisziplinäre Gebirgsforschung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften für das Lektorat des Bandes, insbesondere Frau Dr. Brigitte Scott für die englische Übersetzung der Summaries, und vor allem den bei der Tagung referierenden Kolleginnen und Kollegen, die wiederum pünktlich ihre Manuskripte zur Verfügung gestellt haben.

Innsbruck und Hamburg, im Oktober 2013

Das Herausgeberteam

Oliver Bender, Sigrun Kanitscheider und Alfred K. Treml


1 Riedl, R. 1975: Die Ordnung des Lebendigen. Systembedingungen der Evolution. Parey. Hamburg.

2 Pecoits, E., Konhauser, K. O., Aubet, N. R., Heaman, L. M., Veroslavsky, G., Stern, R. A., Gingras, M. K. 2012: Bilaterian Burrows and Grazing Behavior at >585 Million Years Ago. – In: Science 336 (6089), 1693–1696.

3 Jandl, E. 1966: Laut und Luise. Walter. Olten, 175.

Bernhart Ruso

Freundschaft, Sex und Krieg: Wie genetische Distanz unser Verhalten beeinflusst

Summary

Friendship, sex and war – how genetic distance influences our behaviour Humans interact in many different ways. Whether an interaction is cooperative or not depends on many factors. This article investigates to what extent genetic distance between interacting people influences interaction. It starts by debating what we mean by genetic distance, then explores the influence of genetic distance on reproductive behaviour as well as on cooperation and conflict.

Zusammenfassung

Menschen interagieren in vielfältigster Weise miteinander. Ob die Interaktion kooperativ ist oder nicht, hängt von vielen Faktoren ab. In dem folgenden Artikel soll untersucht werden, inwiefern die genetische Distanz zwischen den Interaktionspartnern die Interaktion beeinflusst. Dabei wird zunächst diskutiert, was denn überhaupt unter genetischer Distanz zu verstehen ist. In weiterer Folge wird der Einfluss der genetischen Distanz auf reproduktives Verhalten sowie Kooperation und Konflikt untersucht.

1 Einleitung

Dass Gene unser Verhalten mitbestimmen, ist die selbstverständliche Basis der Verhaltensforschung, der evolutionären Psychologie und der Soziobiologie. Verhaltensmerkmale sind überlebenswichtig und unterstehen daher einem Selektionsdruck. Sie werden als genetische Verhaltensanlagen vererbt und verändern sich im Laufe der Evolution. Es steht außer Frage, dass unsere genetische Ausstattung nicht unser Verhalten alleine bestimmt, sondern eben mitbestimmt. Die Verhaltensanlagen werden vererbt und die Umwelt, also Erfahrungen, Konditionierung, Reflexion usw. machen aus der Anlage ein Verhaltensmerkmal (Buss 2012, Voland 2000, Eibl-Eibes-feldt 1995). Aber um dieses Wechselspiel zwischen Genen, Umwelt und Verhalten soll es in diesem Aufsatz nicht gehen, sondern vielmehr darum, wie die genetische Distanz zu einem Interaktionspartner die Interaktion beeinflusst. Modulieren wir unbewusst unser Verhalten, je nach dem, ob unser Gegenüber mit uns verwandt ist oder nicht?

2 Was kann man unter genetischer Distanz verstehen?

Die genetische Distanz zweier Organismen beschreibt, wie viele ihrer Basenpaare gleich beziehungsweise ungleich sind. Die Basenpaare sind sozusagen die Buchstaben des genetischen Codes, in dem die Gene codiert sind. Was in dieser Definition sehr einfach klingt, wird sehr komplex, wenn man versucht zu verstehen, was diese Unterschiede für die Merkmale des Organismus bedeuten. Zunächst einmal muss definiert werden, was ein Gen ist. Ein Gen ist ein Abschnitt der DNA, der als Vorlage für eine biologisch aktive RNA dient. Diese RNA kann entweder den Zellstoffwechsel steuern, indem sie beispielsweise andere Gene blockiert oder selbst so wie ein Enzym stoffwechselkatalytisch wirksam wird. In zweiten Fall spricht man von Ribozymen. Oder die RNA kann in der Proteinsynthese als Vorlage für ein Protein dienen (Knippers 2006). Es sind allerdings nicht alle Gene der DNA aktiv. Die meisten sind auf die eine oder andere Art blockiert und somit inaktiv. Innerhalb eines Gens gibt es auch noch Einschübe, sogenannte Introns. Diese Einschübe werden nicht in Proteine übersetzt, und die entsprechenden RNA-Abschnitte müssen vor der Proteinsynthese herausgeschnitten werden, ein Vorgang, der Splicen genannt wird. Die Einschübe machen 80–99 % der Basenpaare eines Genes aus. Wir halten also fest, dass nur ein kleiner Teil der Basenpaare der Gene überhaupt als Proteinrezepte verstanden werden kann. Dazu kommt noch, dass die Gene nur etwa 5 % der DNA ausmachen. Ob und welche Funktion die anderen 95 % der Basenpaare der DNA haben, ist nicht bekannt (Castillo-Davis 2005, Biemont & Vieira 2006). Wenn wir diese Zahlen zusammenfassen, dann müssen wir erkennen, dass wir nur über die Funktionsweise von ca. 0,5 % der Basenpaare Bescheid wissen, und von diesen noch dazu ein Teil inaktiv ist.

Wenn also genetische Distanz als der Unterschied zweier Organismen hinsichtlich ihrer Basenpaare definiert wird, dann können wir diesen Unterschied zwar genau bestimmen, über die Bedeutung dieser Unterschiede können wir jedoch nur vorsichtig spekulieren. Die Tabelle 1 zeigt die genetische Ähnlichkeit im Bezug zu Menschen, also wie viel Prozent der Basenpaare gleich sind.

Mensch und Mensch99,9 %
Mensch und Schimpanse98,7 %
Mensch und Maus95 %
Mensch und Stubenfliege50–60 %
Mensch und Fadenwurm40 %
Mensch und Bäckerhefe30–50 %
Mensch und Banane15 %

Tabelle 1: Genetische Distanz als Prozent der gleichen Basenpaare.

Diese Zahlen zeigen eindrucksvoll, wie schwierig genetische Differenz zu beurteilen ist. Die hohe Ähnlichkeit der DNA ergibt sich daraus, dass Gene vor allem den Zellstoffwechsel regulieren, und die Basis des Zellstoffwechsels ist bei allen Organismen gleich: Alle Organismen verwenden als zellulären Energieträger ATP, Polymerasen für die Replikation der DNA, und alle höheren Organismen haben als zentrale Stoffwechselplattform den Citratzyklus und so weiter. Dass also die gleichen Rezepte für den Zellstoffwechsel vorhanden sind, ist nicht sehr verwunderlich. Viel wichtiger ist jedoch, wie diese Rezepte verwendet werden. Wenn man nun untersucht, welche Gene aktiv sind, dann wird die Ähnlichkeit zwischen den Arten geringer. Dafür werden nicht die Ähnlichkeiten der Basen der DNA untersucht, sondern die Ähnlichkeiten der abgelesenen RNA-Abschnitte. Diese werden von aktiven DNA-Abschnitten transkribiert, also kopiert, und geben daher an, welche DNA-Abschnitte aktiv sind. Man spricht in diesem Fall nicht vom Genom, der Gesamtheit der Gene eines Organismus, sondern vom Transkriptom. Das Transkriptom ist nicht in allen Körperzellen gleich. In Leberzellen sind andere DNA-Abschnitte aktiv als in Gehirnzellen, obwohl das Genom natürlich im ganzen Köper gleich ist. Wenn man nun das Transkriptom von Schimpansen und Menschen vergleicht, so stellt man fest, dass die Unterschiede in den Leberzellen nur gering sind, während die Unterschiede im Gehirn weit größer sind (Enard et al. 2002). Auch das ist wieder ein Hinweis, dass man nicht ohne Weiteres von der genetischen Distanz der Basenpaare auf Unterschiede von Merkmalen der Organismen schließen kann.

Eine andere Art genetische Distanz zu berechnen, ist die Verwandtschaft. In diesem Fall ist der Gedankengang konträr zum bisherig dargestellten. Man geht nicht von Unterschieden aus, sondern von Gemeinsamkeiten. Jeder Mensch hat 50 % seiner Gene von seinem Vater und 50 % von der Mutter. Die genetische Verwandtschaft zu den eigenen Eltern beträgt also 50 %. Da man vier Großeltern hat, ist die Verwandtschaft zu diesen 25 %. Geschwister sind untereinander ebenfalls verwandt. Da die Eltern an ihre Nachkommen eine zufällige Auswahl der eigenen Gene weitergeben, und zwar 50 % der eigenen Gene, sind die Geschwister nicht zu 100 % verwandt sondern zu durchschnittlich 50 %. Dies ist allerdings ein statistischer Durchschnittswert, da ja die Aufteilung der elterlichen Gene zufällig ist (Hamilton 1964). Diese Betrachtungsweise genetischer Ähnlichkeit ist anschaulich und leicht zu berechnen. Es muss allerdings bedacht werden, dass diese Prozentangaben vor dem Hintergrund von 99,9 % der Basenpaare entstehen, die zwischen zwei Menschen ohnehin gleich sind (siehe Tabelle 1). Eine Verwandtschaft von 50 % bezieht sich daher nur auf jene 0,1 % der DNA, in der es überhaupt Unterschiede gibt. Das klingt einerseits wenig; da wir über die Regulationsmechanismen der DNA noch so wenig Bescheid wissen, kann man davon ausgehen, dass auch diese geringen Unterschiede der Basenpaare doch große Unterschiede in den Merkmalen verursachen, die wir dann als Ähnlichkeiten und Unterschieden bei Menschen sehen können.

Fazit der ersten Überlegungen: Es gibt genetische Unterschiede zwischen Organismen. Sie sind geringer als man vermuten würde, und es lässt sich alleine von der genetischen Differenz nicht ohne Weiteres auf Merkmalsunterschiede schließen.

3 Der Einfluss von genetischer Distanz auf reproduktives Verhalten

Reproduktion ist die biologisch wichtigste Aufgabe eines Organismus. Jeder Organismus, der heute lebt, ist ein Nachkomme von Organismen, die sich fortgepflanzt haben. Organismen, die aufgrund eines gering ausgeprägten Fortpflanzungstriebes auf die Fortpflanzung verzichtet haben, gehören nicht zu unseren Vorfahren. Somit hat der Fortpflanzungstrieb Vorrang gegenüber allen anderen Bedürfnissen wie Schlaf, Essen usw. und unter Umständen sogar gegenüber dem Überlebenstrieb (vgl. Voland 2000). Aber dazu etwas später noch mehr. Wenn diese Argumentation auf Gene herunter gebrochen wird, müsste man sagen: Unsere Vorfahren hatten Gene, die ihnen die Fortpflanzung ermöglicht haben, und diese Gene haben sie an uns weitergegeben. Jene Gene, die nicht zu einem Fortpflanzungserfolg eines Organismus führen, fallen im Laufe der Generationen aus dem Genpool heraus.

In der Reproduktion finden wir eine Vielzahl von Verhaltensweisen, deren Erfolg entscheidend von der genetischen Distanz des Interaktionspartners abhängig ist. Zunächst einmal: Wozu überhaupt sexuelle Fortpflanzung? Bei der asexuellen Fortpflanzung, bei Pflanzen zum Beispiel durch Wurzelausläufer, entstehen Nachkommen ohne Geschlechtspartner und die Nachkommen sind somit zu 100 % mit dem Elternorganismus verwandt. Auf diese Weise werden doppelt so viele gleiche Gene an die Nachkommen weitergegeben wie durch geschlechtliche Fortpflanzung. Die geschlechtliche Fortpflanzung hat jedoch einen entscheidenden Vorteil. Durch die Kombination väterlicher und mütterlicher Gene ist die genetische Variationsbreite der Nachkommen und somit der Population weit größer. Diese genetische Variationsbreite spielt eine große Rolle bei Krankheitsabwehr und Parasitenresistenz. Krankheitserreger und Parasiten können eine Population, die sich genetisch zu ähnlich ist, auslöschen. Ist die Variationsbreite der Gene und somit der Merkmale größer, dann gibt es immer einige Organismen, die der Krankheit beziehungsweise den Parasiten besser widerstehen können, und diese können die entsprechenden Resistenz-Gene an ihre Nachkommen weitergeben (Tooby 1982). Es gibt sogar Organismen (zum Beispiel manche Fische und Eidechsen), die zwischen verschiedenen Fortpflanzungsstrategien wechseln können, je nachdem, wie hoch der Parasitendruck ist. Menschen haben diese Wahlmöglichkeit nicht. Sie sind immer auf einen Geschlechtspartner für die sexuelle Fortpflanzung angewiesen. Allerdings kann man den Partner wählen. Hier gibt es zwei Auswahlstrategien, die sogar sprichwörtlich geworden sind: „Gleich und gleich gesellt sich gern“ und „Gegensätze ziehen sich an“. Wenn ein Partner gewählt wird, der ähnlich ist, dann ist auch die genetische Distanz geringer. Oder anders gesagt: Wenn Geschlechtspartner eine genetische Ähnlichkeit, also eine theoretische Verwandtschaft von 10 % haben, dann sind die Nachkommen mit den einzelnen Elternteilen nicht zu 50 % verwandt, sondern zu 60 %. Je ähnlicher also der Geschlechtspartner, desto mehr meiner Gene, die mein Partner mit mir teilt, kann ich an meine Nachkommen weitergeben. Diese Strategie müsste in der Evolution stabil sein, da alle Organismen darauf bedacht sind, viele Nachkommen zu haben und ihre Gene weiterzugeben. Diese Strategie zeigt sich ja auch auf längere Sicht in der Artbildung. Unterschiedliche Arten können nur entstehen, wenn sich unterschiedliche Populationen nicht mehr durch Kreuzungen genetisch vermischen. In einer Population steht dieser Strategie allerdings ein Hemmnis entgegen: der oben genannte Parasitendruck. Es ist also biologisch auch sinnvoll, einen Sexualpartner zu finden, der möglichst unterschiedlich ist, damit die Nachkommen besser gegen Parasiten geschützt sind. In der Partnerwahl findet sich also ein starker Einfluss der genetischen Distanz auf das Verhalten. Aber auch das Pflegeverhalten zum Kind wird von genetischer Distanz mitbestimmt. Die eigenen Kinder haben eine Verwandtschaft von 50 %. Man könnte auch sagen: „nur“ 50 %, denn jeder ist mit sich selbst am nächsten verwandt und würde somit eigentlich mit den Kindern in Konkurrenz stehen (Trivers 1974). Diese Konkurrenz wird jedoch zu Gunsten des Brutpflegeverhaltens aufgegeben. Der Organismus, der die eigenen Gene trägt, ist nicht unsterblich, und darüber hinaus kann man mehr als zwei Kinder haben und somit die eigenen Gene im Genpool über die eigene Existenz vermehren. Reproduktion schlägt also Konkurrenz. Wenn allerdings das eigene Leben zugunsten der Nachkommen aufs Spiel gesetzt wird, dann entsteht ein Konflikt zwischen Konkurrenz und Reproduktion. Rein rechnerisch ist es nur dann sinnvoll, das eigene Leben zu opfern, wenn drei Kinder mit dem Einsatz des Lebens sicher gerettet werden können. Der Verlust von ein oder zwei Kindern könnte noch kompensiert werden, sofern sich die Eltern noch im reproduktiven Alter befinden. Diese kalten genetischen Berechnungen lassen sich, zumindest schwach, auch empirisch belegen (Salter 2007).

Ein dritter Verhaltensbereich der Reproduktion, der ebenfalls von genetischer Distanz abhängig ist, ist die Eifersucht, beziehungsweise die Sicherheit der Vaterschaft. Es ist für Männer nur dann biologisch sinnvoll, in den Nachwuchs zu investieren, wenn dieser tatsächlich 50 % der eigenen Gene trägt und nicht von einem anderen Mann stammt. Es zeigt sich allerdings kulturübergreifend, dass rund 10 % der Kinder von Männern aufgezogen werden, die nicht die biologischen Väter sind, dies aber nicht wissen (Baker 1996). Das bedeutet, dass der Nachwuchs im mathematischen Durchschnitt nur zu 45 % mit den Vätern verwandt ist. Das Problem der unsicheren Vaterschaft hat Auswirkungen auf das Brutpflegeverhalten der Männer, das oft weniger stark ausgeprägt ist, und auf die Eifersucht. Männer haben ein existenzielles Interesse daran, dass ihre Partnerinnen nicht fremdgehen. Auch Frauen sind eifersüchtig, um zu verhindern, dass der Partner nicht Ressourcen in Kinder anderer Frauen investiert, aber bei Männern ist das Interesse biologisch existenziell. Unsere männlichen Vorfahren haben, zumindest nicht ausschließlich, in Nachkommen investiert, die nicht ihre eigenen waren. Dies drückt sich auch in messbaren Verhalten aus. Gewalttaten, die auf Eifersucht zurückgehen, werden fast ausschließlich von Männern begangen (Buss 2003, Daly & Wilson 2009).

Fazit: Genetische Distanz ist der entscheidende Faktor für reproduktives Verhalten. Das gilt insbesondere für Partnerwahl, Kinderaufzucht und Eifersucht.

4 Der Einfluss von genetischer Distanz auf kooperatives Verhalten

Der Mensch ist ein soziales und somit auch kooperatives Lebewesen. Das Überleben und die weltweite Ausbreitung der Spezies wären ohne gegenseitige Hilfe undenkbar. In der Verhaltensforschung werden unterschiedliche Formen der Kooperation unterschieden. Da wäre einmal die Kooperation zu erwähnen, die zur Reproduktion gehört, also die gemeinsame Pflege der Nachkommen. Die Zusammenhänge zwischen genetischer Distanz und dieser Gruppe von Verhaltensweisen wurde bereits im letzten Abschnitt behandelt. Die nächste Form der Kooperation ist der Mutualismus. Als Mutualismus bezeichnet man Kooperation, bei der beide Kooperationspartner gleichzeitig einen Vorteil haben. Als Gleichnis mag der Blinde dienen, der einen Lahmen über einen Fluss trägt. Mutualismus ist im Tierreich weit verbreitet. Fischschwärme wären ein Beispiel für diese Kooperation. Für mutualistische Kooperation muss man den Kooperationspartner nicht kennen. Allerdings sind die Möglichkeiten des Mutualismus auf jene Situationen beschränkt, in denen tatsächlich beide Kooperationspartner gleichzeitig einen Vorteil haben können. Ist der gegenseitige Vorteil zeitlich versetzt, dann spricht man von Reziprozität. Oder vereinfacht gesprochen: „Ich helfe Dir heute, damit Du mir morgen hilfst“. Es gibt weit mehr Situationen, in denen reziprok kooperiert werden kann, als Situationen, in denen mutualistisch kooperiert werden kann. Allerdings gibt es das Problem der Betrüger. Es ist nicht sicher, dass mein Kooperationspartner mit mir kooperiert, nur weil ich mit ihm zuvor kooperiert habe (vgl. Voland 2000). Wie beeinflusst nun genetische Distanz Mutualismus und Reziprozität? Mutualismus bringt grundsätzlich Vorteile. Genetisch betrachtet bedeutet das, dass zwei Organismen mit jeweils eigenem Genom einen Vorteil haben. Die Kooperation bringt also einen Vorteil für die eigenen 100 % der Gene. Wenn aber der Kooperationspartner einen Teil seiner Gene (zum Beispiel 10 %) mit mir teilt, dann wäre der totale Kooperationsvorteil 110 %. Man müsste daher erwarten, dass auch bei Mutualismus Kooperationspartner bevorzugt werden, die genetisch ähnlich sind. Dies ist zum Teil der Fall, zum Beispiel bei Herdentieren, wo im Rudel enge Verwandtschaftsverhältnisse herrschen; aber durchaus nicht die Regel. Der mutualistische Vorteil steht also gegenüber dem genetischen Vorteil im Vordergrund.

Für den Erfolg einer reziproken Kooperation ist jedoch die Verlässlichkeit des Kooperationspartners von großer Bedeutung. Und hier werden genetische Faktoren sehr wohl schlagend. Wenn der Kooperationspartner mit mir verwandt ist oder zumindest ähnliche Gene hat, dann ist die Wahrscheinlichkeit geringer, dass er mich betrügt. Er würde ja damit auch Genen schaden, die er selbst auch trägt. Dieser Effekt zeigt sich empirisch bei politischen Seilschaften, aber auch bei Verbrecherorganisationen. In beiden sozialen Strukturen spielen Familienstrukturen eine wichtige Rolle (Blok 2002).

Die Idee, dass Kooperation bevorzugt zwischen Verwandten entsteht, wurde in der sogenannten Verwandtenselektion dargestellt. Sie besagt, dass es im Sinne der Evolution nicht nur sinnvoll ist, in sich selbst und seine Nachkommen zu investieren, also mit ihnen zu kooperieren, sondern auch mit Geschwistern, Enkeln, Neffen usw. (Hamilton 1964). Eine Erweiterung der Verwandtenselektion ist die Inclusive Fitness-Theorie. Sie besagt, dass wir nicht nur in Verwandte investieren, sondern in alle Menschen, die ähnliche Gene haben. Was bedeutet hier „ähnlich“? Ähnlichkeit in Relation zu den anderen möglichen Kooperationspartnern!

Wir bevorzugen also als Kooperationspartner Menschen, die zu uns eine geringere genetische Distanz haben als andere (Burnstein et al. 2002, Salter 2007). Der Kooperationswille kann bei hoher Verwandtschaft dabei so hoch werden, dass zum Wohle anderer Menschen, die unsere Gene tragen, auf den eigenen Vorteil komplett verzichtet wird, wie zum Beispiel für die eigenen Nachkommen. Ein solches Verhalten wird als Altruismus bezeichnet.

Fazit: Genetische Distanz spielt bei Kooperation vor allem dann eine Rolle, wenn der eigene Vorteil der Kooperation unsicher oder unter Umständen gar nicht vorhanden ist.

5 Der Einfluss von genetischer Distanz auf Konkurrenz und Konflikte

Die Konkurrenz um Ressourcen ist in der Natur eher die Regel als die Ausnahme. Ressourcen sind begrenzt, und diese Verknappungen sind als Selektionsfaktoren nichts anderes als der Motor der Evolution. Die Konflikte können dahingehend geartet sein, dass alle Konkurrenten versuchen, die Ressourcen möglichst gut und schnell auszunutzen, oder aber die Konkurrenz wird direkt gegen einen anderen Artgenossen gerichtet: Ein Konflikt entsteht. Dieser Konflikt kann als lebensbedrohender Kampf ausgefochten werden. Sehr oft sind es allerdings Kommentkämpfe, also ritualisierte, nicht lebensbedrohende Kämpfe, die um Rangordnungen ausgefochten werden. Diese Rangordnungen bestimmen dann den Zugang zu Ressourcen.

Für die weitere Betrachtung beim menschlichen Verhalten soll zwischen Konflikten innerhalb von Gruppen und Konflikten zwischen Gruppen unterschieden werden. Innerhalb von Gruppen wird ein Großteil der Konflikte als Kommentkampf geführt, da lebensbedrohliche Konflikte den Zusammenhalt der Gruppe schwächen würden. Eine Ausnahme bilden hier nur Blutfehden. Hier handelt es sich allerdings um eine Reziprozität der Aggression, die den Gruppenzusammenhalt nicht gefährdet, weil sie auf einen Teil der Gruppe beschränkt ist. Beim Konflikt zwischen Gruppen werden sowohl ritualisierte Konflikte (zum Beispiel Wettkämpfe im Sport) als auch lebensbedrohliche Konflikte (vor allem Kriege) beobachtet. In diesem Fall wird der Gruppenzusammenhalt durch die Konflikte nicht geschwächt; ganz im Gegenteil wird der Zusammenhalt durch den Konflikt gegen den Außenfeind oft sogar gestärkt.

Der wichtigste Faktor menschlicher Konkurrenz ist jedoch nicht der Konflikt, sondern der Zugang zu Ressourcen. Wenn sich Populationen unterschiedlich rasch vermehren, dann verschiebt sich innerhalb weniger Generationen das genetische Gleichgewicht der Gesamtpopulation.

Ob genetische Distanz bei Konkurrenz und Konflikten bei Menschen eine Rolle spielt, ist ein kontrovers diskutiertes Thema. Es ist biologisch naheliegend, dass die Konkurrenz umso größer ist und Konflikte um so eher ausbrechen, je größer die genetische Distanz ist. Empirische Belege zu dieser Hypothese hat Frank Salter in großem Umfang gesammelt (Salter 2007). Dem gegenüber steht jedoch die Tatsache, dass viele Konflikte zwischen Gruppen geführt werden, die genetisch sehr ähnlich sind. In diesem Fall werden meist religiöse Gründe instrumentalisiert (Dawkins 2006).

Fazit: Es ist plausibel, dass genetische Distanz auch bei Konkurrenz und Konflikten eine große Rolle spielt. Jedoch ist hier die Datenlage inhomogen, und das Thema hat so hohe politische Brisanz, dass eine nüchterne akademische Betrachtung verunmöglicht wird.

6 Schlussfolgerungen

Dieser Beitrag hat aufgezeigt, dass genetische Distanz bei einer Vielzahl von menschlichen Verhaltensweisen eine große Rolle spielen muss. Das bedeutet zwingend, dass Menschen auch in der Lage sein müssen, genetische Distanz zumindest unbewusst wahrzunehmen. Solche Wahrnehmungsmechanismen sind im Tierreich, zum Beispiel bei Honigbienen, gut belegt (Tautz 2007). Gleichzeitig muss festgestellt werden, dass genetische Distanz zwar als theoretisches Konzept darstellbar ist, aber keineswegs klar ist, welche Auswirkungen die gemessenen Unterschiede haben.

7 Literatur

Baker, R. 1996: Sperm Wars. Infidelity, Sexual Conflict and other Bedroom Battles. Fourth Estate. London.

Biémont, C., Vieira, C. 2006: Genetics: junk DNA as an evolutionary force. – In: Nature 443 (7111), 521–524.

Blok, A. 2002: Mafia and blood symbolism. – In: Salter, F. (Hg.), Risky Transactions. Trust, Kinship and Ethnicity. Berghahn Books. New York, 109–128.

Burnstein, E., Branigan, C., Wieczorkowska-Nejtardt, G. 2002: Altruism begins at home: Evidence for a kin selection heuristic sensitive to the costs and benefits of helping. – In: Salter, F. (Hg.), Risky Transactions. Trust, Kinship and Ethnicity. Berghahn Books. New York, 71–108.

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Castillo-Davis, C. I. 2005: The evolution of noncoding DNA: how much junk, how much func? – In: Trends in genetics 21 (10), 533–536.

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Enard, W., Khaitovich, P., Klose, J., Zöllner, S., Heissig, F., Giavalisco, P., Nieselt-Struwe, K., Muchmore, E., Varki, A., Ravid, R., Doxiadis, G.M., Bontrop, R.E., Pääbo, S. 2002: Intra- and Interspecific Variation in Primate Gene Expression Patterns. – In: Science 296 (5566), 340–343.

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Voland, E. 22000 [11993]: Grundriss der Soziobiologie. Spektrum. Heidelberg u. a. [1Fischer. Stuttgart.]

Alfred K. Treml

Sexuelle Selektion und Gleichstellungspolitik. Wie genetische Ungleichheit unser Verhalten bestimmt

Summary

Sexual selection and equal opportunity policy. How genetic inequality determines our behaviour

The scarcity of women in leading positions in society currently draws various reactions: in politics it is pronounced a scandal, others explain it with reference to conspiracies (old-boy networks) and yet others actively fight it (equal opportunities policy). From the point of view of comparative evolution research, especially sociobiology, however, such gender-specific asymmetry is a cultural universal with natural causes, situated mainly in the different selection advantages of men and women within sexual selection. This paper describes the evolutionary logic behind such ‘evolutionstable strategies’ and points out how and why equal opportunity policy is bound to fail.

Zusammenfassung

Die Unterrepräsentativität von Frauen in gesellschaftlichen Führungspositionen wird derzeit politisch skandalisiert, verschwörungstheoretisch erklärt („Männerseilschaften“) und aktiv bekämpft („Gleichstellungspolitik“). Aus Sicht der vergleichenden Evolutionsforschung, insbesondere der Soziobiologie, ist diese geschlechtsspezifische Asymmetrie jedoch eine kulturelle Universalie und hat natürliche Ursachen, die in erster Linie in den unterschiedlichen Selektionsvorteilen von Männern und Frauen im Rahmen der sexuellen Selektion gründen. Der Beitrag beschreibt die sich dahinter verbergende evolutionäre Logik der „evolutionsstabilen Strategien“ und zeigt auf, dass, wie und warum eine Gleichstellungspolitik scheitern muss.

Einführung

Ein spezifischer Unterschied zwischen Frauen und Männern bewegt derzeit Politik und gesellschaftlichen Diskurs: die Unterrepräsentativität von Frauen in Führungspositionen der Wirtschaft und Politik, ja der Gesellschaft überhaupt. In der Tat kann man konstatieren: Je höher man in gesellschaftliche Führungspositionen kommt, desto seltener wird man dort Frauen finden. Das gilt nicht nur für höhere Offiziere beim Militär (wann ist schon mal der General eine Frau?), sondern auch, wenngleich nicht so ausgeprägt, für die Bereiche Wirtschaft, Öffentlicher Dienst und Wissenschaft. Nicht einmal 3 % der Vorstände und nur etwa 10 % der Aufsichtsräte in großen Wirtschaftsunternehmen sind (im Jahre 2006) weiblich besetzt (vgl. Bothfeld et al. 2005, 427). In der Politik sieht es nicht viel anders aus: Weibliche Regierungschefs gibt es zwar, aber sie sind selten. Von den 43 Regierungschefs Europas sind derzeit (Stand Januar 2013) nur drei weiblich, das entspricht etwa 7 %. Auch im Wissenschaftssystem ist das Bild ähnlich: So sind Universitätsprofessoren überwiegend männlich, und zwar erheblich. Laut Statistischem Bundesamt waren 2010 durchschnittlich nur 18 % der Professoren weiblich (in absoluten Zahlen: 7.300 von 39.800)4. Bei den höchstdotierten Professorenstellen (C 4) betrug der Anteil der Frauen im Jahre 2003 gerade mal 8,6 %. Der „FrauenDatenRe-port“ fasst deshalb seine Bestandsaufnahme zur gesellschaftlichen Rangpositionierung von Frauen korrekt zusammen: „Je höher die Stellung, desto weniger Frauen“ (Bothfeld et al. 2005, 419).

Im öffentlichen Diskurs, in den Feuilletons der Zeitungen, wie in den meisten einschlägigen sozialwissenschaftlichen Beiträgen wird dieser Sachverhalt meistens verschwörungstheoretisch erklärt. „Schuld“ – so können wir in ermüdender Wiederholung lesen – seien das „Patriarchat“, die „hegemoniale Männlichkeit“, das „Männerimperium“, „männerdominierte Gewaltregime“ beziehungsweise „Vorurteile und Netzwerke von Männern“, ein mächtiges „Old Boys-Netzwerk, das keine Frauen neben sich duldet“, „Männerseilschaften“, „männliche informelle Netzwerke“, und dies wird als Beweis für eine Benachteiligung der Frauen durch männerbündische Macht und fehlende beziehungsweise noch nicht realisierte Chancengleichheit der Geschlechter interpretiert („geschlechtsspezifische Diskriminierung“). Offen oder unterschwellig wird dabei die Botschaft verbreitet, dass sich Gleichheit am Anfang (nämlich der etwa hälftigen Gleichverteilung an der Gesamtbevölkerung) in der Gleichverteilung am Ende widerspiegeln müsse.

Die Politik steuert deshalb – eingebettet in eine dominante öffentliche Meinung – energisch dagegen und bereitet im Namen einer „Gleichstellungspolitik dort, wo es nicht schon geschehen ist, Gesetze zur Frauenförderung vor. Insbesondere die Quotierung höherer Positionen zugunsten von Frauen („Frauenquote“) ist im Gespräch. Dabei scheint es inzwischen überhaupt nicht mehr um die Frage zu gehen, ob, sondern nur noch wie und wann sie kommen soll. Die Frauenquote für Topposten der Wirtschaft scheint „alternativlos“ zu sein und wird früher oder später kommen – spätestens mit einem Gesetzentwurf der EU aus Brüssel. Die EU-Kommission scheint fest entschlossen: 30 % der Chefposten sollen künftig von Frauen besetzt werden. Ab 2013 sind empfindliche Strafen geplant, wenn die Zielmarke verfehlt wird. Ähnliche Quotenvorgaben gibt es auch in anderen sozialen Systemen, zum Beispiel der Bundeswehr, verschiedener Parteien usw. Die sogenannte „Genderperspektive“ ist offizielle rechtliche Vorgabe unseres Politiksystems. Eine Reihe von „Gleichstellungsgesetzen“ zwingt alle öffentlichen Agenten zu einer „geschlechtergerechten“ Sprache und alle Arbeitgeber – ungeachtet der Vertragsfreiheit – zu einer politisch korrekten „Gleichstellungspolitik“. Die zwangsweise Einführung von „Frauenquoten“ (wie sie zum Beispiel in Forschungseinrichtungen und Universitäten in Form eines „Kaskadenmodells“ schon eingeführt wurde) mit einem ausgeklügelten Belohnungs- und Bestrafungsmodus dürfte nur noch eine Frage der Zeit sein. Derweilen kümmert sich eine Vielzahl von nebenoder hauptamtlichen weiblichen „Gleichstellungsbeauftragten“ kommissarisch um die Einhaltung dieser „Gleichstellungspolitik“ im Namen einer Politik der „Geschlechtergerechtigkeit“5.

Ich will im Folgenden das Thema aus evolutionstheoretischer – genauer gesagt: evolutionsbiologischer – Sicht betrachten, und damit die aktuellen Kontexte der Gleichstellungspolitik sowohl räumlich als auch zeitlich überschreiten. Ich wähle also einen Zugang, der zunächst einmal in der Sachdimension von den basalen biologischen Unterschieden von Mann und Frau und in der Zeitdimension von deren evolutionären Entstehungsund Stabilisierungsgeschichte ausgeht6. Die Beschränkung auf eine knappe thesenförmige Explikation ist der knappen Zeit und des knappen zur Verfügung stehenden Raumes geschuldet.

These 1: Die Unterrepräsentativität von Frauen in gesellschaftlichen Führungspositionen ist eine anthropologische Universalie und dürfte deshalb einen evolutionären Selektionsvorteil haben.

Frauen sind in allen Kulturen im reproduktiven, Männer im produktiven Sektor und im öffentlich-politischen Bereich dominant. Kulturvergleichende Forschungen haben meines Wissens bisher noch keine (dauerhaft stabile) Ausnahme von dieser Regel gefunden. Der griechische Mythos der „Amazonen“, einer matriarchalisch organisierten Frauengesellschaft, ist und bleibt auch nach vielen vergeblichen Versuchen eines historischen Nachweises ein bloßer Mythos. Die Dominanz der Männer bei gesellschaftlichen Führungspositionen scheint universell und in allen untersuchten Kulturen der Normalfall zu sein (vgl. Antweiler 2009)7. Das ist ein deutlicher Indikator für das Vorliegen einer anthropologischen Universalie, denn wenn es eine kulturspezifische Variation wäre, müssten auch kulturelle Varianten nachweisbar sein. Dem ist nicht so. Es liegt deshalb nahe zu vermuten, dass dem eine evolutionsstabile Strategie zugrunde liegt8.

Als „evolutionsstabil“ bezeichne ich (in Anlehnung an den Gebrauch in der Evolutionären Psychologie) eine Strategie des Verhaltens, die sich im Verlaufe der Evolution gegen eine Vielzahl anderer Strategien durchgesetzt hat und Populationen dominiert9. Das schließt nicht aus, dass kulturelle und individuelle Abweichungen erprobt und (zeitlich und räumlich begrenzt) erfolgreich sein können. Auf lange Sicht und im Durchschnitt der Fälle setzen sich jedoch evolutionsstabile Strategien bei allen Kulturen durch und stabilisieren sich. Der Grund dafür ist einfach: Eine evolutionsstabile Strategie ist im evolutionären „Kampf ums Dasein“ allen anderen Strategien überlegen.

Um diese Funktion in unserem Zusammenhang besser zu verstehen, ist es hilfreich, sich daran zu erinnern, dass der evolutionäre sogenannte „Kampf ums Dasein“ zwei unterschiedliche Formen annehmen kann. Schon Darwin hat darauf hingewiesen: „Es sei vorausgeschickt, daß ich die Bezeichnung ‚Kampf ums Dasein‘ in einem weiten metaphorischen Sinne gebrauche, der die Abhängigkeit der Wesen voneinander, und was noch wichtiger ist: nicht nur das Leben des Individuums, sondern auch seine Fähigkeit, Nachkommen zu hinterlassen, mit einschließt“ (Darwin 1963, 101). Seitdem wird im Neodarwinismus „natürliche Selektion“ und „sexuelle Selektion“ unterschieden:

Natürliche Selektion: Überlebensoptimierung der „Phäne“ (Individuen) Sexuelle Selektion: Überlebensoptimierung der „Gene“ (Nachkommen) Mit anderen Worten: „Eine Grundannahme der Darwinschen Evolutionstheorie besteht darin, daß die individuelle Fitness zwei Komponenten hat: Eine Überlebens- und eine Fortpflanzungskomponente. Diese werden durch natürliche und sexuelle Selektion bewertet, und jeder Organismus verhält sich so, daß diese beiden Komponenten möglichst maximiert werden“ (Kappeler 2005, 135). Es gibt offenbar (mindestens) zwei unterschiedliche Selektionseinheiten, an denen sich unsere evolutionären Selektionsentscheidungen ausrichten: Phäne (Individuen) und Gene (Verwandtschaftsnachkommen). Die natürliche Selektion setzt an den Phänen, die sexuelle Selektion an den Genen an. Beides kann, aber muss keineswegs kompatibel sein.

Der „Kampf ums Dasein“ kann als Erscheinungsweise der natürlichen Selektion äußerst gewaltsam und rücksichtslos um individuelle Überlebensvorteile geführt werden, oder aber als Folge sexueller Selektion sanft und geräuschlos in langen Zeiträumen über Generationen hinweg allein durch den unterschiedlichen genetischen Reproduktionserfolg von statten gehen. Mit anderen Worten: Zielt der Kampf ums Dasein einmal auf einen „Sieg durch Krieg“, folgt er das andere Mal dem heimlichen Imperativ: „Siegen durch Wiegen!“

Eine Strategie wird evolutionsstabil, wenn die Wahrscheinlichkeit, im „Kampf ums Dasein“ Vorteile zu haben, auf der Ebene der natürlichen Selektion oder der sexuellen Selektion höher ist als bei anderen Strategien. Der Vorteil beziehungsweise der Nutzen wird soziobiologisch gesehen ausschließlich durch die Anzahl der Nachkommenschaft bestimmt, die langfristig Nutznießer dieses Kampfes sind. So gesehen sind wir alle Nutznießer unserer erfolgreichen Vorfahren, die „Sieger“ in diesem „Kampf“ waren, denn die „Verlierer“ haben keine Nachkommen mehr.

Welche evolutionsstabile Strategie verbirgt sich wahrscheinlich hinter der geschlechtsspezifischen Asymmetrie bei der Verteilung von gesellschaftlichen Rangpositionen? Die Antwort gibt These 2.

These 2: Die höhere gesellschaftliche Rangpositionierung von Männern ist Folge einer evolutionsstabilen Strategie der Partnerwahl im Rahmen der sexuellen Selektion, insbesondere der weiblichen Wahl.

Für diese These spricht eine ganze Reihe empirischer Befunde10. Die Evolutionäre Psychologie hat zum Beispiel kulturinvariante Indikatoren für die weiblichen Präferenzen bei der Partnerwahl untersucht. Das Ergebnis sieht wie folgt aus: Frauen präferieren Männer, die reich (an Ressourcen), angesehen, gesellschaftlich hochrangig, älter, größer, ehrgeizig, zuverlässig und fleißig sind (vgl. Buss 2004, 258ff., Voland 2000, 192ff.)11. Schon in der Tierwelt hatte Darwin beobachtet, dass Weibchen Männchen bevorzugen, die groß, stark, mutig und erfolgreich sind (vgl. Darwin 1963, 294ff.)12. Weil diese Auswahlkriterien dauerhaft die weibliche Partnerwahl bestimmen, werden diese distinkten Merkmale beim männlichen Geschlecht vererbt und stabilisiert1314