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© 2013 Axel Schmidt
Umschlaggestaltung, Satz, Herstellung und Verlag:
BoD – Books on Demand
ISBN 978-3-7322-7761-2

Inhalt

Für Andrea

»Ach, weißt du, ich schau da bei mir selber lieber nicht so genau hin.«

»Warum nicht?«

»Aus Angst vor dem, was ich entdecken könnte!«

Herr W. benimmt sich hündisch

Schwester Sybille hatte schon so einiges erlebt in den Jahren, die sie nun schon auf der Krebsstation hier im St.-Vincent-Hospital arbeitete. Aber dass sie ein Patient beim Wecken in die Hand biss, war dann doch mal was Neues!

Hätte jemand sie gefragt, ob sie Herrn Wiegand mochte, hätte sie wohl verneint. Aber erst nach einigem Zögern, denn sie wusste, dass jeder, der hier lag, in einer außergewöhnlich belastenden Situation war, und sie war durchaus bereit, das in ihre Beurteilung mit einfließen zu lassen.

Und hätte es sich nur um ein kurzes Schnappen von Seiten Herrn Wiegands gehandelt, wäre sie kommentarlos darüber hinweggegangen. Aber er hatte sich regelrecht in ihre Hand verbissen, knurrte dabei wie ein Hund und schüttelte seinen Kopf mit der Hand im Mund hin und her. Zum Glück hatte er nur ihren Handballen zwischen die Zähne bekommen, der war weich und gab viel nach. Trotzdem tat es ziemlich weh. Und als Herr Wiegand auf ihr Schreien und Brüllen nicht reagierte, sondern davon nur noch weiter angestachelt zu werden schien, schlug sie ihm mit der freien rechten Hand volle Kanne auf sein linkes Ohr.

So richtig wach wurde Herr Wiegand an diesem Morgen erst, als es einen lauten Knall an seinem linken Ohr gab, der sofort in ein sehr helles Pfeifen überging.

Weitere Sinneseindrücke drangen jetzt in sein Gehirn vor: Im Mund schmeckte es nach Händedesinfektionsmittel und seine Augen nahmen jetzt auch Schwester Sybille war, die ihn wutentbrannt anstarrte und ihm irgendwelche Kraftausdrücke an den Kopf warf, die er allerdings nicht so recht verstand, da es ja in einem Ohr so laut pfiff.

Okay, er mochte Schwester Sybille nicht, und das beruhte wohl auf Gegenseitigkeit, aber er konnte sich nicht erinnern, ihr einen Grund für einen derartigen Wutausbruch ihm gegenüber geliefert zu haben.

Erst als die Gemüter sich wieder ein bisschen beruhigt und Schwester Sybille ihm von seiner Beißattacke gegen sie berichtet hatte, erinnerte er sich wieder an seinen Traum.

Er hatte in diesem Traum mit Pauli gerauft. Pauli war ein kleiner Hundewelpe gewesen, den er vorübergehend von einer Bekannten in Pflege genommen hatte, als diese für eine Woche ins Krankenhaus musste.

Erst hatte er sich ja dagegen gesträubt. Er konnte sich nicht vorstellen, dass ein anderes Lebewesen in seinen innersten Lebensbereich vordrang. Seine Wohnung war sein Castle, um nicht zu sagen seine Festung, in der er sich vor der Welt abschottete.

Seine Wohnungstür hatte mehr als ein Schloss; vor den Fenstern gab es schwere Rollläden und auf der anderen Seite ebenso schwere Vorhänge, welche er grundsätzlich, sobald es dunkelte, vorzog. Erst wenn die Schlösser an der Tür geschlossen, die Rollläden heruntergelassen und die Vorhänge zugezogen waren, fühlte er sich sicher und konnte entspannen. Wobei er das Wort »sicher« so nicht dachte, sondern nur das Wort »wohlfühlen«.

Und nun sollte ihn also ein anderes Lebewesen daran hindern, sich in seiner eigenen Wohnung wohlzufühlen. Zuerst sträubte er sich mit Händen und Füßen dagegen, aber seine Bekannte bittete und bettelte so lange, bis er nachgab.

Er war der Einzige, der in Frage gekommen war, denn es war die Urlaubszeit im Sommer vor drei Jahren gewesen und nur er war nicht weggefahren.

Und da es im Endeffekt auch nur um eine Woche ging, war er dann also hingefahren, hatte sich die neueste Entwicklung der Krankheit angehört, hatte ihrer Grundeinweisung in Sachen Welpenpflege gelauscht und zu guter Letzt Futter, Decke, Spielzeug, Fress- und Trinknapf und den Hund samt Leine in sein Auto verfrachtet.

»Er ist das Autofahren schon gewöhnt und liegt ganz lieb auf seiner Decke«, hatte seine Bekannte zum Abschied noch gesagt und dabei verschwiegen, dass sie einen Kombi fuhr, dessen Fond durch ein Netz vom restlichen Innenraum des Fahrzeugs abgetrennt war.

Herr Wiegand fuhr allerdings einen alten Golf der ersten Generation, worauf er sehr stolz war. Auch der Hund fand dieses Fahrzeug viel spannender und geruhte beileibe nicht lieb auf seiner Decke auf dem Rücksitz zu liegen.

Kaum war Herr Wiegand auf die vierspurige Kriegsstraße seiner Heimatstadt Karlsruhe eingebogen, begann auch schon der Krieg in seinem Auto: Der Hund griff an und Herr Wiegand versuchte verzweifelt sich zu verteidigen und gleichzeitig das Auto in der Spur zu halten.

Nicht nur der Schaltknüppel war interessant, nein, auch die Fußmatten und diese herrlich knarzenden Pedale unter den Füßen seines neuen Herrchens.

Kurz und gut, der Hund tobte wie von der Tarantel gestochen durch das Auto, riss die Gänge raus und biss abwechselnd in die Pedale oder Herrn Wiegands Füße.

Als dieser daraufhin seinen heißgeliebten Golf fast gegen eine Verkehrsinsel gelenkt hätte, riss ihm der Geduldsfaden: Er packte den Hund im Nacken und schmiss ihn mit einem »Weg jetzt hier, du Scheißköter!« zurück auf die Rückbank, wo dieser mit einem leisen Winseln dann auch tatsächlich liegen blieb und die betagte Rostlaube davor bewahrte, ihren letzten Weg Richtung Schrottpresse anzutreten.

Der Rest der Fahrt verlief schweigend und in geordneten Bahnen. Als Herr Wiegand vor seiner Wohnung in der Bahnhofstraße, gegenüber des Stadtgartens, parkte und ausstieg, lag der kleine Welpe zusammengerollt auf der Rückbank, eine Pfote über der Nase, und schaute ängstlich drein.

Gegen seinen Willen machte sich ein schlechtes Gewissen bei Herrn Wiegand bemerkbar ob seines Wutausbruchs und der Behandlung, die er dem Kleinen hatte angedeihen lassen.

Irgendwie war er ja doch süß, wie er da lag. Dass er ihn nicht nur »süß« fand, sondern dass diese kleinen traurigen Augen auch ein ganz anderes Gefühl in ihm auslösten, gestand sich Herr Wiegand nicht ein.

Als er den Hund und sämtliche Utensilien endlich in seine Wohnung im ersten Stock verfrachtet hatte, pinkelte dieser sogleich – sozusagen zum Einstand – erst mal auf den Wohnzimmerteppich. Er war halt doch ein »Scheißköter«!

»So gut wie stubenrein«, hatte seine Bekannte gesagt. »Nur wenn er sehr aufgeregt ist, passiert ihm ab und zu noch ein Malheur.« – Oder wenn er beleidigt ist und sich rächen will, ergänzte Herr Wiegand jetzt grimmig in Gedanken und holte die Zewarolle aus der Küche. Dann rollte er den Teppich beiseite und legte die Hundedecke auf den nun blanken Laminatboden.

Abends vor dem Fernseher lag das Tier dann lang gestreckt und völlig entspannt da und Herr Wiegand ertappte sich dabei, dass er viel länger auf den Hund als auf die Mattscheibe sah. Es war ein zwölf Wochen altes Mischlingsweibchen, braun-schwarz gefärbt, mit weißem Brustlatz; der typischen Bernersennenfärbung, die sich unter den fünf bis sechs Rassen, die sonst noch drinsteckten, am meisten durchgesetzt hatte. Große Pfoten und ein schmaler Kopf, in dem die kleinen braunen Augen so gucken konnten, dass jeder Betrachter in dieses berüchtigte »Och, ist der süüüß!« ausbrechen musste.

Auch Herr Wiegand konnte sich irgendwann nicht mehr beherrschen und musste dieses Fellbündel einfach berühren. Als er ihn vorsichtig streichelte, drehte der Hund sich auf den Rücken und seufzte wohlig.

Auch die Nacht verlief ruhig. Aber als Herr Wiegand am nächsten Morgen dem Hund sein Frühstück serviert hatte, um sich dann genüsslich an das seinige – das ihm heilig war – zu setzen, drehte der Hund auf. Er hatte sein Fressen wie immer in Sekunden, wie ein Staubsauger, ohne zu kauen, in sich reingeschlungen und war jetzt voller Tatendrang, im Gegensatz zu Herrn Wiegand, der immer erst mal drei Tassen Kaffee brauchte, ehe sein Gehirn einigermaßen zuverlässig zu arbeiten begann.

Wie ein Irrwisch fegte der Welpe durch die dreieinhalb Zimmer der Altbauwohnung mit ihrem langen Flur und den hohen Decken.

Von der Küche aus konnte Herr Wiegand nur noch sein Arbeitszimmer überblicken, was ihn schon am frühen Morgen nervös machte, wenn er den Hund durch die restlichen Zimmer toben hörte. Dann war es plötzlich ruhig; zu ruhig!

Schweren Herzens erhob er sich vom Frühstückstisch und fand den Hund im Wohnzimmer am Boden liegend in sein Lieblingsspielzeug verbissen, einen Tennisball in einer Socke seiner Herrin verknotet.

Als der Hund ihn wahrnahm, sprang er auf und lief mit der Socke im Maul vor Herrn Wiegands Füße und begann dort, sich den Tennisball mit wilden Kopfbewegungen um die Ohren zu schlagen.

»Soll wohl eine Spielaufforderung sein«, dachte Herr Wiegand bei sich und griff vorsichtig zum Ende des Sockens. Kaum hatte er es in der Hand, stemmte sich der Hund auf allen vieren nach hinten und zog heftig am anderen Ende mit dem Ball, wobei er ein leises Knurren von sich gab. Mit erstaunlicher Kraft musste Herr Wiegand das Sockenende festhalten, damit der Hund es ihm nicht aus der Hand riss. So viel Wucht hätte er dem kleinen Racker gar nicht zugetraut; na, mal sehen: Langsam richtete er sich immer weiter auf und zog den Hund dabei mit in die Höhe, bis dieser nur noch knapp mit den Hinterläufen den Boden berührte, aber anscheinend keine Sekunde die Möglichkeit in Betracht zog, den Ball loszulassen. Dabei knurrte er in einem fort und starrte Herrn Wiegand aus seinen kleinen braunen Augen wild an.

Der merkte plötzlich, wie stark er selbst seine Zähne zusammenbiss, während er den Strumpf samt Hund langsam im Kreis herumschwengte.

So ging das noch eine Weile hin und her, hoch und runter, bis Herrn Wiegands Finger anfingen zu schmerzen und er losließ. Sofort begann der Hund wieder wild mit seiner Trophäe durch die Gegend zu galoppieren.

Irgendwie wurmte es Herrn Wiegand, dass der Hund gewonnen hatte. Ein kleiner, zwölf Wochen alter Welpe war stärker als er? Das konnte doch nicht angehen!

Er griff sich Spielzeug Nummer zwei, einen großen Stoffhund, der lag besser in der Hand.

Der Welpe ließ sofort von der Socke ab und warf sich auf den Stoffhund, und nun wurde es erst richtig wild: Lebender Hund, toter Hund und Herr Wiegand kugelten durchs Wohnzimmer. Mal war der eine oben, mal der andere, mal waren die Zähne im Stoffhund, mal im Ärmel von Herrn Wiegands Morgenmantel; der wiederum setzte seine zweite Hand ein, um dem Hund zwei, drei Beine zu stellen und ihn wieder auf den Rücken zu werfen.

Aber immer mehr spürte er, dass er am liebsten auch seine Zähne in einen der beiden Hunde geschlagen hätte, um dann seinen Kopf mit der Beute hin und her zu schleudern.

Ein immer wilderes Gefühl breitete sich in ihm aus, und das am frühen Morgen!

Irritiert ließ Herr Wiegand die Hand mit dem Stoffhund sinken.

Irritiert schaute ihn der Welpe vom anderen Ende aus an.

Herr Wiegand stand auf und ging zurück in die Küche zu seinem gewohnten gemächlichen Frühstück; der Hund folgte ihm wild am Boden entlangschnüffelnd. Herr Wiegand hoffte, dass er sich jetzt beruhigen würde, wenn er selbst ruhig am Tisch saß. Was aber nicht der Fall war. Eine kleine Weile schnüffelte der Hund noch hektisch im Kreis herum, dann bog er plötzlich seinen Rücken durch, hob die Rute und drückte eine fette Wurst direkt neben Herrn Wiegands Füße, und sofort füllte ein kräftiger Geruch nach Hundescheiße die Küche.

Erst jetzt fielen Herrn Wiegand wieder die Worte seiner Bekannten ein: »Wenn er morgens gefressen hat, musst du ziemlich bald mit ihm raus, dann muss er immer kacken.«

Von so einer Rauferei, die in der einen Woche damals noch recht häufig stattfand, hatte er wohl letzte Nacht geträumt.

Nicht nur, dass er jedes Mal wieder diesen starken Drang, selbst zuzubeißen, gespürt hatte, nein, selbst als der Hund längst wieder bei seinem Frauchen war, bemerkte Herr Wiegand immer öfter die ein oder andere tierische Veränderung an sich: den Drang, seinen Chef anzuknurren oder in die Hand der Politesse zu beißen, die gerade den Strafzettel unter die Wischblätter seines Golfs klemmte, oder sich an das lange Bein von Frau Stemmhagen aus dem Nachbarbüro zu klammern und in wilde Rammelbewegungen auszubrechen.

So was Ähnliches musste das heute Morgen mit Schwester Sybille auch gewesen sein.

Zwar tat sein linkes Ohr immer noch weh, aber es hatte auch ein sehr befreiendes Gefühl nach sich gezogen, endlich einmal zugebissen zu haben, wenn auch nur im Halbschlaf.

Ansonsten hatte Herrn Wiegands Leben nämlich bisher den rechten Biss vermissen lassen.

Er war schon immer ein Opportunist gewesen. Jetzt, wo zu vermuten stand, dass er Krebs hatte, machte es keinen Sinn mehr, sich etwas vorzulügen. Nicht auffallen, dann kann man nicht reinfallen, war der Leitspruch seines Lebens.

Er hatte viel öfter ja als nein gesagt. Politik interessierte ihn nicht. Diesbezügliche Diskussionen empfand er als gefährlich unberechenbar. Das ließ sich nicht gut steuern, und eh man sich’s versah, musste man Stellung beziehen. Etwas, das Herr Wiegand sehr ungern tat. Lieber bastelte er sich ein philosophisches Weltbild zusammen, das stark im Ungefähren blieb und mit Dimensionen von tausenden von Jahren spielte, in denen das Hier und Jetzt zu klein und unbedeutend war, um einer Erwähnung würdig zu sein.

Mit seiner Erkrankung trat das Hier und Jetzt aber sehr plötzlich und sehr vehement in den Vordergrund seines Denkens. Nicht etwa mit Schmerzen, sondern bei einer normalen Vorsorgeuntersuchung war »eine kleine Ungereimtheit« aufgetreten, wie sein Freund Martin sich ausgedrückt hatte.

Aus der kleinen Ungereimtheit war eine große Ungereimtheit geworden, sodass Martin – seines Zeichens Chefarzt der Onkologie am St. Vincent – ihm vorgeschlagen hatte, doch einfach ein paar Tage zu ihm auf Station zu kommen. »Dann können wir alles in Ruhe abklären und ich habe dich jederzeit griffbereit.«

Schon in der Schulzeit hatte ihn Martin immer gerne »griffbereit« gehabt. Dieses Zur-Verfügung-Stehen, wenn Martin pfiff, war wohl die Grundlage für ihre Freundschaft gewesen. Was hätte so einen Hans Dampf in allen Gassen wie Martin auch sonst an einem so drögen Langeweiler wie Norbert interessieren können? Nun, an seiner Seite konnte er sich noch »dampfiger« fühlen; umso größer, je kleiner Norbert neben ihm erschien.

Als sie dann ins Halbstarkenalter kamen, blieb Norbert zwar nur viertelstark, aber eine wichtige Eigenschaft von ihm nutzte Martin gerne und konsequent: Norbert war der Bedenkenträger der kleinen Clique. Wenn mal wieder ein dreister Streich anstand oder es irgendwo was Lohnendes zu klauen gab, ging Martin seinen Plan immer detailgenau mit Norbert durch. Der entwickelte dann ein Katastrophenszenario nach dem anderen und Martin machte sich einen Sport daraus, aufgrund dessen seine Pläne immer wasserdichter zu gestalten. Diesbezüglich waren sie ein perfektes Team und es ging dann auch nie etwas schief mit den so runderneuerten Raubzügen.

Auch später dann, im Erwachsenenalter, ließ Martin gerne seine Zukunftspläne von Norbert auf Herz und Nieren prüfen, was dazu führte, dass Martin schnell Karriere machte, während Norbert nie auf die Idee kam, für sich selbst irgendwelche Pläne zu entwickeln.

Das war nicht sein Ding, er blieb lieber im Hintergrund, weit ab von jedem möglichen Schussfeld.

Im Alter von dreizehn Jahren hatte es für den kleinen Norbert ein sehr prägendes Erlebnis gegeben, das er nie vergessen hatte: An einem trüben und kalten Novembermorgen hatte er sich noch schlechter als sonst gefühlt. Wie schon erwähnt, fühlte sich Herr Wiegand sein ganzes Leben lang frühmorgens nie richtig wohl. Dafür war sein Blutdruck zu niedrig und er brauchte einfach zu lange, bis er in die Gänge kam.

Aber an diesem Morgen war es besonders schlimm gewesen. Eine Erkältung und eine Mathearbeit bahnten sich an. Draußen war es stockdunkel und schweinekalt. Steif wie ein Ladestock schlich er die 300 Meter bis zur Bushaltestelle und es grauste ihn jetzt schon vor dem Lärm und dem Gedränge im Schulbus.

Plötzlich sah er durch ein Fenster auf eine für ihn unbeschreiblich friedlich wirkende Szene: Hinter einem Schreibtisch saß ein Mann in einem kleinen Zimmer ganz alleine für sich und arbeitete ruhig und konzentriert über irgendwelchen Papieren. Das Bild war in ein warmes weiches Licht aus einer Steh- und einer kleinen Schreibtischlampe getaucht.

An der Innenseite des Fensters war ein Lamellenrollo heruntergelassen, allerdings halb aufgestellt. Aber mit einem Handgriff hätte der Mann das Rollo ganz schließen und die kalte Welt draußen komplett aussperren können.

An diesem kalten Novembermorgen beschloss der kleine Norbert, dass er später mal genau so würde arbeiten wollen: für sich allein, in einem kleinen gemütlichen Zimmer, in dem er seine Ruhe vor der lauten kalten Welt da draußen haben würde.

Dieses einzige, wirklich klare Ziel in seinem Leben hatte er auch erreicht. Heute war er zweiter Prokurist in einer kleinen schnuckeligen Firma, die Präzisionsteile für Maschinen fertigte. Der Lärm der Werkshalle drang nicht bis in sein kleines Büro, in dem er tatsächlich alleine saß und in das er zusätzlich zu seiner Schreibtischlampe noch eine Stehlampe gestellt hatte, was ihm unter den Kollegen den Spitznamen Mr. Stehlampe eingebracht hatte. Ein Lamellenrollo vor dem Fenster hatte es zu seinem Entzücken schon gegeben.

Einziger Wermutstropfen war, dass dieses Fenster auf einen Hinterhof und nicht zur Straße hin ging. Zu gerne hätte er morgens Kinder auf ihrem Schulweg beobachtet, um sich dann diebisch darüber zu freuen, dass er hier drin in Ruhe sitzen durfte.

Ruhe war sowieso das wichtigste Grundbedürfnis in Herrn Wiegands Leben. Dem ordnete er alles unter beziehungsweise schloss er alles aus seinem Leben aus, das diese Ruhe hätte gefährden können. Keine unnötigen Forderungen nach Gehaltserhöhung; er hatte eh alles, was er brauchte. Insofern war er auch nicht in der Gewerkschaft. Keine Mitgliedschaft in irgendwelchen Vereinen, die dann am Ende dauernd was von einem wollten. Keine Haustiere und schon gar keine Kinder!

Das mit den Kindern hätte ja auch erst mal eine Frau vorausgesetzt, die mit ihm leben wollte oder ihn am End sogar liebte.

Tja, Frauen waren schon immer ein heikles Thema bei ihm gewesen, musste sich Herr Wiegand jetzt zum wiederholten Male eingestehen, als er nach dem Frühstück auf seinem Bett liegend in Ruhe seinen Gedanken nachgehen konnte.

Sein Freund Martin hatte ihn natürlich in einem Einzelzimmer untergebracht. Darauf hatte er bestanden. Er brauchte seinen Schlaf und war es nicht gewohnt, auch nur den Atem eines anderen Lebewesens zu hören. Das war ihm damals in der Woche mit dem Welpen wieder sehr deutlich zu Bewusstsein gekommen. Allein deshalb wäre es schon schwierig geworden mit einer Frau.

Natürlich sehnte auch er sich manchmal nach Geborgenheit und Wärme, auch nach Sex.

Alle paar Wochen nahm er, sich verstohlen umblickend, den Eingang einer Videothek, die nur für Erwachsene bestimmt war.

Aber das Hauptproblem war, dass eine Frau – wie auch immer – Unruhe in sein Leben gebracht hätte!

So verhinderten lediglich seine Arbeit und die samstäglichen Skatabende mit zwei älteren ehemaligen Kollegen, deren Frauen schon tot waren, dass er anfing, mit sich selbst zu sprechen.

Außer den Skatabenden hatte er noch ein weiteres Hobby, mit dem er viel Zeit verbrachte: seine 5 x 2 Meter große Modellbahnanlage im Schlafzimmer, in das sonst auch nur noch gerade so sein Bett passte. Aber das Schlafzimmer hatte den Vorteil, dass sonst niemand außer ihm dort hineingelangte. Denn irgendwie schämte er sich doch, als erwachsener Mann mit einer Eisenbahn zu spielen.

Wobei die Bahnen an sich für ihn gar nicht das Entscheidende waren. Nein, genau wie bei dem Bürofenster damals war es eher die gemütlich anheimelnde und so friedlich wirkende Atmosphäre der kleinen erleuchteten Häuschen und Straßenzüge, die er selbst erschaffen hatte und hin und wieder auch mal ein bisschen umbaute, wenn er mal wieder ein besonders schönes Modell im Katalog entdeckt hatte.

Stundenlang konnte er so auf seinem Bett liegen, auf die erleuchtete Anlage schauen und sich sauwohl dabei fühlen, ohne dass ein einziger Zug fuhr.

An diesem Morgen im St. Vincent musste Herr Wiegand sich auch eingestehen, dass es nicht seine Arbeit und nicht seine Skatbrüder waren, die er am meisten vermisste; nein, es war seine Anlage. Genauer gesagt, das Schauen auf die kleine friedliche Welt, in der immer alles so blieb, wie es war.

»Guten Morgen! Na wie geht’s uns denn heute?«

Unsanft wurde Herr Wiegand von dem wie immer äußerst schwungvollen Chefarzt der Station aus seinen Gedanken gerissen, wobei dessen Frage zu einem Spiel von ihnen beiden gehörte, das sie spielten, seit Norbert dieses Zimmer bezogen hatte. Es sollte Norbert ermöglichen, den »Chefarzt« ironisch zu sehen und stattdessen seinem »Freund« Martin auf die witzige Tour mitteilen zu können, wie’s ihm ging oder was ihm fehlte.

Zu diesem Behufe verzichtete Martin auch darauf, während der offiziellen Chefarztvisite mit dem ganzen Tross im Schlepptau bei Norbert hereinzuschneien, sondern nahm sich zwischendrin immer mal schnell fünf Minuten für ihn.

»Uns ginge es besser, wenn wir endlich mal erfahren würden, was eigentlich genau mit uns los ist«, nahm Herr Wiegand die Vorlage wie immer gerne an.

»Ja, ich hab schon Dampf gemacht im Labor. Die Befunde der Blutuntersuchung mit den genauen Werten der Tumormarker müssen heute noch auf meinem Schreibtisch landen.«

Die Tumormarker im Blut waren nämlich die große Ungereimtheit gewesen.

Nicht nur ihr Vorhandensein überhaupt, sondern auch ihre Anzahl waren mehr als bedenklich. Blöderweise sagten sie aber nur etwas darüber aus, ob überhaupt ein Tumor im Körper vorhanden war, nicht aber, wo sich dieser versteckt hielt.

»Hast du denn inzwischen noch mal darüber nachgedacht, ob sich in letzter Zeit in deinem Körper irgendwo was komisch angefühlt hat, gar Schmerzen aufgetreten sind?«

»Mir ist nichts eingefallen. Einen empfindlichen Magen, der hin und wieder mal meckert, hatte ich schon immer«, erwiderte Herr Wiegand.

»Kannst du das mit dem ,meckernden Magen‘ mal etwas genauer erläutern?«, fragte Martin und zog sich einen Stuhl ans Bett heran.

»Na ja, wenn ich mich über irgendwas aufrege, mich was erschreckt hat, oder manchmal schon morgens direkt nach dem Weckerklingeln, verspüre ich so ein leichtes Brennen, das aber relativ schnell wieder verschwindet. Und auf schwere Speisen oder Alkohol reagiere ich auch etwas empfindlicher als früher, aber mein Gott, wer tut das nicht mit zunehmendem Alter!«

»Okay, wir werden dich jedenfalls in den nächsten Tagen nach allen Regeln der Kunst auf den Kopf stellen«, meinte der Arzt und zog ein kleines Tütchen aus seiner Tasche.

»Damit geht’s mal los«, meinte er und reichte seinem Freund die Tüte, die nach eingeschweißtem Mullverband aussah, nur etwas dicker in der Mitte.

»Das ist ein Teststreifen mit kleinem Plastikschäufelchen für die Entnahme einer Stuhlprobe. Die brauchen wir, um sie auf eventuelle Spuren von Blut hin zu untersuchen.«

»Aha«, meinte sein Gegenüber und nahm das Tütchen mit äußerst spitzen Fingern entgegen, so als würde bereits eine große Stuhlprobe daran kleben.

Professor Dr. Merbold grinste. »Keine Angst, momentan noch völlig aseptisch. Wenn du heute oder morgen dein Geschäft erledigt hast, trennst du mit der Plastikschaufel ein kleines Stück ab und schmierst es auf die vorgezeichneten Stellen. Dann steckst du es in die beiliegende Plastiktasche und gibst es einer Schwester mit. Die Schaufel kannst du entsorgen. Als Erstes schauen wir uns dann mal dein Gehirn etwas genauer an, dazu werden wir dich in die Röhre schieben.«

Und bei 250 Grad gut durchbraten, dachte Herr Wiegand unwillkürlich, obwohl er natürlich genau wusste, dass mit der Röhre der Magnetresonanztomograph, kurz MRT, gemeint war.

»Des Weiteren werden wir, falls da nichts bei rauskommt, eine Darm- und eine Magenspiegelung vornehmen.«

»Und warum nicht auch da das MRT?«, fragte er, da ihm die Vorstellung, einen fingerdicken Schlauch schlucken zu müssen, jetzt schon Brechreiz verursachte.

»Weil der direkte Blick nach drinnen durch nichts zu ersetzen ist«, antwortete der Professor. »Außerdem sollte man beim MRT das Suchfeld schon etwas eingeschränkt haben. Was glaubst du, was das kostet, deinen ganzen Körper mit dem Ding in Scheiben zu zerlegen?« Mit diesen Worten stand er auf und schob seinen Stuhl wieder unter den kleinen Resopaltisch, der an der nackten Wand gegenüber dem Bett stand. »So, ich muss jetzt weiter. Vielleicht schau ich heute Abend noch mal rein und teil dir die Laborergebnisse mit. Und schäker mir nicht so viel mit den Schwestern; die sind ja schon ganz meschugge, seit du hier bist.«

In der Tür drehte er sich noch mal um: »Ach ja, und denk dran: Nicht einfach abziehen nach dem nächsten Klogang! Am besten legst du dir das Tütchen auf den Klodeckel. Tschüß, bis neulich!«

Das war typisch für seinen Freund Martin: Selten ließ er eine Gelegenheit aus, ihn mit Frauen aufzuziehen. Auch hierin war er ihm natürlich schon immer haushoch überlegen gewesen. Schon in der Schule hatte er als Erster die Klassenschönheit abgeschleppt.

Das Abschleppen von Frauen blieb auch fürderhin sein Hobby. Auch als er verheiratet war und eine Tochter bekommen hatte. Seine Frau hatte das aber nicht lange mitgemacht und nach ein paar Jahren die Scheidung eingereicht. Dass der Professor es dann allerdings geschafft hatte, das Sorgerecht für seine kleine Tochter zu bekommen, hatte ihn mehr als gewundert.

Nicht nur im juristischen Sinne, sondern vielmehr, dass Martin sich bei seinem Beruf und seinem Lebenswandel noch die Erziehung einer Tochter aufhalste, konnte er nicht so recht verstehen. Womöglich war es ihm einfach darum gegangen, auch hierbei nicht als Verlierer dazustehen. Außerdem konnte er sich wohl bei seinem Gehalt Erzieherin, Köchin und Putzfrau locker leisten. Inwieweit das auf Kosten seiner Tochter ging, da hatte ihn schon lange ein ungutes Gefühl beschlichen.

Ein gewisser Drang machte sich plötzlich bemerkbar. Na prima, dachte er bei sich, da kann ich ja diese Scheiße auch gleich erledigen.

Als er dann vom Klo aufstand und sich die Bescherung ansah, musste er unwillkürlich an die fette Wurst denken, welche ihm der Welpe vor fast genau drei Jahren vor die Füße gelegt hatte. Diese hatte damals eine sehr weiche Konsistenz gehabt, während die seine eher hart und bröckelig war. Mist, wie sollte man denn da etwas verschmieren können?

Während Herr Wiegand noch damit beschäftigt war, mit der viel zu kleinen Schaufel die schon in mehrere Teile zerfallene Wurst umzudrehen, um an die gewässerte Unterseite seines Machwerks zu gelangen, sagte plötzlich eine Kinderstimme neben ihm: »Was machst du denn da, Onkel Norbert?«

Herr Wiegand fuhr so heftig zusammen, dass fast die gesamte Scheiße im Knie des Klosetts verschwand. Hinter ihm stand Laura, die Tochter des Professors, und sah ihn neugierig fragend an.

»Meine Fresse, hast du mich erschreckt! Kannst du denn nicht anklopfen?«

»Hab ich, aber du hast nicht geantwortet«, erwiderte das Kind trotzig, um gleich darauf schelmisch zu fragen: »Was ist ,Fresse‘, Onkel Norbert?«

Laura hatte es schon immer geliebt, den Freund ihres Papas mit Fragen in Verlegenheit zu bringen. Bei ihm ging das ganz einfach, während sie es bei ihrem Papa noch nie geschafft hatte. Der blieb nie ernsthaft, sondern antwortete immer nur mit irgendwelchem Unsinn.

Oder er wurde wütend, und Laura hatte in den neun Jahren ihres Lebens gelernt, dass es besser für sie war, ihren Papa lieber nicht wütend zu machen.

Onkel Norbert wurde nie wütend, sondern immer nur so herrlich verlegen, das war ja das Schöne an ihm. Nur einmal vor einem Jahr, als sie mal wieder nackig durch die Wohnung gerannt war, was sie sehr gerne tat, und sich zwischendrin mal schnell auf Onkel Norberts Schoß gesetzt hatte, da hatte hinter der Verlegenheit noch etwas anderes kurz und bedrohlich aufgeblitzt, was sich fast wie Wut angefühlt hatte. Sie hatte das nicht verstanden, wie so vieles aus der Erwachsenenwelt, aber es war auch schnell wieder vorbei gewesen.

»Fresse ist ein anderer Ausdruck für Gesicht, und ich soll hier eine Stuhlprobe nehmen, das hat mir dein Papa aufgetragen«, sagte Herr Wiegand nun zu Laura, nachdem es ihm endlich gelungen war, von dem kläglichen Rest etwas auf die Pappe zu streifen und diese in die Plastiktüte zu bugsieren.

»Aber der Stuhl steht doch da draußen, Onkel Norbert«, meinte Laura irritiert und zeigte mit dem Finger in das Zimmer hinter ihnen.

»Stuhl ist ein anderer Ausdruck für …« Durfte er dem Kind gegenüber jetzt Scheiße sagen, oder musste das jetzt Kacka heißen, oder war sie dafür schon zu alt? Nun war es an ihm, sie irritiert anzuschauen.

»… Scheiße?«, half sie ihm aus dem Dilemma.

»Genau.«

»Wieso gibt es denn immer mehrere Ausdrücke für eine Sache, Onkel Norbert? Eigentlich müsste doch einer reichen.«

»Na ja, in der Regel gibt es halt meistens einen offiziellen Ausdruck, der dann im Duden steht, wie ,Geld‘ zum Beispiel. Und dann erfinden sich die Leute noch ein paar umgangssprachliche Ausdrücke dazu wie ,Moneten, Mäuse oder Knete‘, verstehst du?«

Laura verstand und fand es wie immer toll, dass Norbert ernsthaft auf ihre Fragen einging und ihr ganz normal antwortete, so wie er auch jedem anderen geantwortet hätte.

Ihr Papa tat das nie, weil er glaubte, dass sie das eh alles noch nicht verstehen würde. Manchmal hatte sie sogar den Verdacht, dass er einfach zu faul war, ihr die Dinge richtig zu erklären.

»Was machst du überhaupt hier?«, stellte nun Herr Wiegand seinerseits eine Frage.

»Ich wollt dich besuchen.«

»Nein, ich meine, was machst du hier überhaupt im Krankenhaus? Warum bist du nicht in der Schule?«

»Aber es sind doch große Ferien, Onkel Norbert. Und die Frau, die sonst auf mich aufpasst, muss heute zu einer anderen Familie.«

Das sah Martin mal wieder ähnlich: Anstatt sich um Ersatz zu kümmern, schleifte er seine Tochter einfach mit ins Krankenhaus und überließ sie dann ihrem Schicksal.

Wahrscheinlich hatte er sogar gehofft, dass der »gute Onkel Norbert« sich ihrer ein Weilchen annehmen würde.

»Und warum bist du hier, Onkel Norbert, und musst Stuhlproben für meinen Daddy aus dem Klo angeln?«, holte das Kind ihn unsanft aus seinen Gedanken.

Ach du Scheiße, ja, auf diese Frage ihrerseits hatte er sich ja noch gar nicht vorbereitet!

Grundsätzlich versuchte Herr Wiegand immer so ehrlich und so klar wie möglich mit Laura umzugehen. Was aber nicht etwa einer inneren Überzeugung, sondern vielmehr einem inneren Unvermögen entsprang. Nach seiner Schulzeit hatte er jahrzehntelang keinen Umgang mehr mit Kindern gehabt. Als Laura dann älter wurde, merkte Herr Wiegand, dass er keine Ahnung davon hatte, wie man mit Kindern umging, und er ihr gegenüber immer sehr unsicher war. Martin war ihm da keine Hilfe gewesen, im Gegenteil hatte Herr Wiegand des Öfteren den Verdacht gehegt, dass dieser noch weniger Ahnung diesbezüglich hatte wie er selbst.

Im Endeffekt wusste er sich nicht anders zu helfen, als mit Laura so umzugehen wie mit jedem anderen Menschen auch. Mit leichten Abstrichen behandelte er Laura einfach wie eine erwachsene Frau, und genau das war es, was Laura so für ihn einnahm.

Natürlich gab es aber auch genau deswegen immer wieder Irritationen zwischen den beiden, sprich Situationen, wo man ganz deutlich merkte, dass Laura nun mal noch keine erwachsene Frau war.

Wie zum Beispiel eben jene Situation, wo sie sich splitterfasernackt auf seinen Schoß gesetzt hatte. Sicher, sie war noch ein Kind, aber trotzdem war sie weiblich und ihre Haut sehr weich gewesen. Noch ehe Herr Wiegand im Kopf reagieren konnte, hatte etwas eine Etage tiefer reagiert, und genau darüber war er aufs Heftigste erschrocken. Schon sah er sich vor Gericht und in allen Zeitungen stehen: »Der Kinderschänder von Karlsruhe! Vertrauen eines angesehenen Bürgers unserer Stadt auf das Schändlichste missbraucht!«

Nicht wissen, was zu tun sei, war er in eine hilflose Erstarrung verfallen.

So ähnlich fühlte er sich jetzt auch, ähnlich hilflos. Sollte er, durfte er einem neunjährigen Mädchen gegenüber von Krebs und möglicherweise tödlicher Erkrankung sprechen?

Ausgerechnet Schwester Sybille erlöste ihn aus seinem Dilemma, indem sie eintrat, um das Frühstückstablett zu holen.

»Ach, hier treibst du dich rum! Dein Vater hat schon nach dir gefragt. Du sollst bitte in seinem Büro bleiben bis zur Mittagspause; er hat dir ein neues Malbuch zu deinen Stiften gelegt.«

»Och, immer das blöde Malen, ich will lieber bei Onkel Norbert bleiben«, maulte Laura.

Dann erblickte sie die blutunterlaufenen Abdrücke auf Schwester Sybilles Hand, und mehr, um von sich abzulenken, fragte sie: »Bist du gebissen worden?«, und deutete auf ihre Hand.

»Tja, frag deinen Onkel, warum, ich weiß es nicht. So, und jetzt Abmarsch!«

»Aber Onkel Norbert«, lachte Laura, während sie auf die Tür zuhüpfte, die die andere ihr aufhielt, »Schwester Sybille ist doch kein Schnitzel!«

»Jawohl, kein Schnitzel!!«, bekräftigte Schwester Sybille und schloss die Tür lauter als gewöhnlich.

Herr W. hat tierisch Angst

Erst als die Tür schon geschlossen war, wurde Herrn Wiegand bewusst, dass er immer noch das kleine Tütchen mit der Stuhlprobe in der Hand hielt.

Na ja, er wollte sich eh noch seine Zeitung am Kiosk holen, da konnte er auch gleich auf dem Weg noch das Tütchen im Schwesternzimmer abliefern.

Auf dem Rückweg mit der Zeitung unterm Arm kam er an Zimmer 7 vorbei, dessen Tür offen stand.

Bisher hatte sich Herr Wiegand überhaupt nicht für seine Mitpatienten interessiert und wäre auch jetzt einfach weitergelaufen, wenn nicht in diesem Moment ein Laut aus dem Zimmer gedrungen wäre, der so gequält und so voller Angst klang, dass er auf der Stelle erstarrte und wie unter Zwang in das Zimmer schauen musste.

Sein Blick fiel direkt auf ein Bett, in dem ein Mann halb sitzend, halb liegend in einer scheußlichen Verrenkung und mit weit aufgerissenen Augen nach Luft rang. Links und rechts von ihm saßen zwei Schwestern – Sybille und Ricarda – und hielten ihn mit sanfter Gewalt fest. Mit einem Geräusch, das wie das Jaulen einer in den Angeln total verrosteten Tür klang, versuchte der Mann Luft in seine Lungen zu saugen, während in seinen Augen die blanke Todesangst stand.

»Nun machen Sie doch irgendwas, das ist ja nicht auszuhalten!!«, hörte Herr Wiegand die mit hysterischen Kieksern untermalte Stimme eines weiteren Mannes hinter der Tür.

»Wir tun, was wir können, Herr Seibert«, erwiderte Schwester Sybille freundlich, aber unterkühlt.

In diesem Moment wurde Herr Wiegand sanft beiseitegeschubst und ein Arzt trat schnellen Schrittes mit einer Spritze in der Hand an das Bett des Mannes, dem inzwischen die Augen aus den Höhlen traten und die Lippen blau angelaufen waren. Sein Körper war nun zu einer Brücke durchgebogen und er lag auf seinem Hinterkopf, während seine Arme von den Schwestern am wilden Um-sich-Schlagen gehindert wurden.

Zehn Sekunden nachdem der Arzt die Spritze in den völlig verkrampften Körper gejagt hatte, erschlaffte dieser langsam und die Laute, die so schrecklich nach Todeskampf geklungen hatten, erstarben.

Schwester Sybille trat vor die Tür, blickte Herrn Wiegand einen Moment in die Augen und sagte dann knapp: »Metastasen in der Lunge, Endstadium.« Dann schritt auch sie schnell den Gang hinunter.

Mit einem merkwürdigen Kribbeln in Händen und Füßen folgte ihr Herr Wiegand langsam, während er sich fragte, warum so jemand nicht auf die Intensivstation verlegt wurde, wenn es eh nur noch ums Sterben ging.

Auf halbem Wege merkte er, dass die Zeitung nicht mehr unter seinem Arm klemmte. Zurückblickend sah er sie auf dem Boden vor Zimmer 7 liegen. Obwohl es ihn Überwindung kostete, zurückzugehen und die Zeitung aufzuheben, ertappte er sich doch dabei, wie er noch mal verstohlen in das Zimmer linste. Der Mann lag nun wie tot in seinem Bett und er musste schon sehr genau hingucken, um noch ein minimales Heben und Senken des Bettlakens wahrzunehmen.

Mechanisch ging Herr Wiegand zurück in sein Zimmer, mechanisch legte er sich ins Bett und genauso mechanisch klappte er die Zeitung auf und begann zu lesen.

Erst nach einem halben Artikel merkte er, dass er überhaupt nichts von dem aufnahm, was er da las. Das Bild der weit aufgerissenen Augen stand wie in Beton gegossen vor seinem geistigen Auge. Und obwohl sie in Wirklichkeit ins Leere gestarrt hatten, schauten sie ihn nun an.

Herr Wiegand griff zur Saftflasche auf seinem Nachttisch, der ihm heute wie ein Lebenselexier vorkam, und tat einen langen Zug. Dann schüttelte er energisch den Kopf und widmete sich nun voll konzentriert seiner Zeitung.

Und da fand er doch sogleich einen Grund zu einem müden Lächeln: Es war mal wieder irgendwo eine Landtagswahl gewesen und wie immer fand danach das gleiche Spiel statt.

Alle hatten gewonnen oder zumindest ihr Minimalziel erreicht. Im schlimmsten Falle war es einer Partei nicht gelungen, ihre wichtigen Ziele dem mündigen Wähler richtig zu vermitteln. Sprich, der mündige Bürger war mal wieder zu doof gewesen, das alles zu kapieren. Aber über eines waren sich wie immer alle einig, nämlich dass die ständig geringer werdende Wahlbeteiligung ein Alarmzeichen darstellte.

Dabei war das doch eher ein Zeichen dafür, dass der Bürger das Entscheidende längst kapiert hatte, dachte Herr Wiegand bei sich, dass er in Wirklichkeit nämlich