Textreihe zur Mundartliteraturgeschichte
aus dem Christine Koch-Mundartarchiv
am Dampf Land Leute-Museum Eslohe

Inhalt

Diese Sammlung ist allen Liebhabern

der alten Sprache des Sauerlandes

gewidmet, die mehr noch als das

‚kulturelle Erbe‘ der Region unsere Befähigung

zu universeller Menschlichkeit hochhalten.

anno Domini 2015

Got hudet de ellenden /

de wesen ande widuwen entfet he.

Gott behütet dieFremdenunter uns,

er verhilft den Waisen und Witwen zur Gerechtigkeit.

(Psalm 146, 9: Sauerländischer Codex um 1300)

„Dat gifft in’n Plattdüütschn keen Woort für ‚Flüchtlinge‘.

Dat sün halt alles Lüüt, Menschen, Kinners, Olle, Froons, Manns…

So as Du.“ (Twitter @Plattsnack, 15. September 2015)

Vorwort

Das Sauerland bildet den südlichsten Zipfel des niederdeutschen Sprachraums. Noch bis weit ins 20. Jahrhundert hinein sprachen die Leute in vielen Ortschaften ein eigentümliches Plattdeutsch. Es zeichnete sich vor allem durch zahlreiche Mehrfachselbstlaute aus und wurde (bzw. wird) von Mundartsprechern aus anderen niederdeutschen Landschaften oft nur schwer verstanden. Heute ist den meisten jungen Südwestfalen selbst der Klang der früheren Alltagssprache des Sauerlandes nicht mehr vertraut. Über ältere Schallplatten oder Tonkassetten, eine von Walter Höher bearbeitete CD-Edition des Märkischen Kreises und die Hörbuchreihe „Op Platt“ aus dem von Dr. Werner Beckmann betreuten Mundartarchiv Sauerland können jedoch zahlreiche Ortsmundarten, die schon „verstummt“ sind, noch immer hörbar gemacht werden (Im reypen Koren 2010, S. 670–673 und 675–680).

Daneben versucht das Christine-Koch-Mundartarchiv am Dampf Land Leute-Museum Eslohe seit 1987, über die Vermittlung schriftlicher bzw. literarischer Sprachzeugnisse einen Beitrag zum „plattdeutschen Kulturgedächtnis“ im dritten Jahrtausend zu leisten. Eine von mir bearbeitete Mundartliteraturgeschichte des Sauerlandes ist für den Zeitraum bis 1918 bereits abgeschlossen. Folgende Bände sind bislang erschienen und können über das Museum erworben werden (www.museum-eslohe.de):

  1. Im reypen Koren.
    Ein Nachschlagewerk zu Mundartautoren, Sprachzeugnissen und plattdeutschen Unternehmungen im Sauerland und in angrenzenden Gebieten (Eslohe 2010).
  2. Aanewenge.
    Plattdeutsches Leutegut und Leuteleben im Sauerland (Eslohe 2006).
  3. Strunzerdal.
    Die sauerländische Mundartliteratur des 19. Jahrhunderts und ihre Klassiker Friedrich Wilhelm Grimme und Joseph Pape (Eslohe 2007).
  4. Liäwensläup.
    Fortschreibung der sauerländischen Mundartliteraturgeschichte bis zum Ende des ersten Weltkrieges (Eslohe 2012).

Die hier mit einem ersten Band „Niederdeutsche Gedichte 1300–1918“ begonnene „Sauerländische Mundart-Anthologie“ soll – ohne „theoretisches Beiwerk“ – zusätzlich Lesetexte erschließen und ist so konzipiert, dass Entwicklungen des plattdeutschen Schreibens in der Region anhand von Quellen nachvollzogen werden können. Die Auswahl kann also keineswegs auf solche literarischen Texte beschränkt bleiben, die der Bearbeiter als „besonders kunstvolle“ Beispiele erachtet.

Vorab einige „praktische Hinweise“ zum Gebrauch dieser Sammlung. Jegliche Literatur wird im Hauptteil nur über Kurztitel verzeichnet, deren Aufschlüsselung im Anhang (→S. 327–334) keine große Mühe bereitet. Der jeweils zugrundegelegten Textquelle ist ein „T“ vorangestellt, während ein „L“ auf weiterführende Hintergrundliteratur, Vergleichstexte etc. verweist. Jeder Kurztitel, der mit einem Sternchen* versehen ist, steht für eine Quelle bzw. Publikation, die auch im Internet abgerufen werden kann. Eingriffe werden bei den Texten zumindest über einen summarischen Vermerk kenntlich gemacht. In dieser Edition geht es nicht um eine Vereinheitlichung der Schreibweise oder eine Beseitigung aller Widrigkeiten in den originalen Textdarbietungen. Die „Mundart“ ist auf vielerlei Wegen und Irrwegen zu Papier gebracht worden. Auch das soll vermittelt werden.

Für die Zeit bis zum Ende des ersten Weltkrieges besteht inzwischen ein sehr komfortabler Quellenzugang. Über die Reihe „daunlots“ auf www.sauerlandmundart.de und weitere Digitalbibliotheken, insbesondere die der Universitäts- und Landesbibliothek Münster, ist die sauerländische Mundartliteratur dieses Zeitraums zum größten Teil schon im Internet eingestellt. Das gilt auch für zwei plattdeutsche Wörterbücher (Woeste 1882a* und Pilkmann-Pohl 1988*), die als Hilfsmittel für Textarbeit oder Eigenstudium empfohlen seien. Die Kommission für Mundartund Namenforschung Westfalens erschließt auf ihrer Website Projekte, Publikationsangebote, Schaubilder, Hörbeispiele und interaktive „Lernmöglichkeiten“ für den gesamtwestfälischen Raum (www.lwl.org/LWL/Kultur/komuna/).

Die Reihe „Sauerländische Mundart-Anthologie“ soll zu einer plattdeutschen Lesereise verführen und durchaus kein weiteres Forum werden für Forschungsliteratur über Texte. Deshalb begnüge ich mich an dieser Stelle mit knappen Ausführungen zu den vier Abteilungen des vorliegenden ersten Bandes:

I. Mittelniederdeutsche Literatur aus Südwestfalen (1300–1549): Dem Altsächsischen um 800–1150 nach Christus, von dem es keine sauerländischen Überlieferungsspuren gibt, folgten nach einer mutmaßlichen „Auszeit“ für die niederdeutsche Schreibkultur drei Phasen des Mittelniederdeutschen (1200–1400: Frühmittelniederdeutsch, 1401–1520: Klassisches Mittelniederdeutsch, 1521–1750: Spätmittelniederdeutsch). Selbst ein Mundartsprecher, der Plattdeutsch als Erstsprache spricht, wird die hierzu ausgewählten – zumeist lyrischen – Textbeispiele aus der Region Südwestfalen kaum mühelos verstehen. Neugierigen Lesern sei dennoch der Versuch empfohlen, auch bei den ältesten Stücken zumindest einzelne Wörter oder Sätze zu verstehen. Im Internet ist übrigens ein „Mittelniederdeutsches Handwörterbuch“ frei zugänglich (Lübben/Walther 1888*). Bei zwei dargebotenen Auszügen zum Mittelniederdeutschen habe ich durch Unterstreichungen exemplarisch kenntlich gemacht, wo U als V oder V als U zu lesen ist. – Die mit größter Wahrscheinlichkeit auf dem Gebiet des heutigen Hochsauerlandkreises nach mittelfränkischen Vorlagen niedergeschriebenen Psalmen und Breviertexte (um 1300/1325?) enthalten zwei Jahrhunderte vor der Reformation ,sauerländische Übersetzungen‘ aus der heiligen Schrift (nebst Liturgien), was kein regionaler Kirchenhistoriker übergehen kann. Sie sind bezogen auf den gesamten niederdeutschen Sprachraum auch ob ihrer frühen Entstehungszeit etwas ganz Besonderes (→S. 15–19; vollständiger Textzugang: NiW*). Am Anfang steht also – mit hochpoetischen Anteilen – eine „sauerländische Bibel“. Es folgen nicht nur fromme Verse (Weihnachtsfest, Liturgie bei Kinderwunsch), Scherz und Liebeslied, sondern auch blutige Kriegsreime aus dem „allerchristlichsten Abendland“ (Soester Fehde) und schließlich derbe oder gar bösartige Spottverse, mit denen sich die Getauften während der Reformation gegenseitig madig gemacht haben.

II. Frühe neuniederdeutsche Dichtungen (1670–1850): Zur Mitte des 16. Jahrhunderts zeichnete sich der Niedergang der mittelniederdeutschen Schreibkultur schon deutlich ab (der letzte bekannte mittelniederdeutsche Druck aus Münster trägt die Jahreszahl 1706). Für Zeugnisse aus der – vermutlich nie ganz schriftlosen – Zeit danach sprechen die Philologen von „Neuniederdeutsch“ (frühes Plattdeutsch: 1751–1850). Dass die entsprechende Abteilung in diesem Band mit einem märkischen Gelegenheitsgedicht zur Hochzeit schon aus dem Jahre 1670 beginnt, passt nicht zur gängigen Einteilung. Der frühe Text, der zu einer sehr verbreiteten Gattung gehört, ist übrigens ziemlich „schlüpfrig“ (→S. 71–73). 1763 will sich der „hochdeutsche Ehrengeck“ beim Zwischenspiel auf der Schulbühne von Arnsberg-Wedinghausen zu den Sternen aufmachen, doch ein „plattdeutscher Charlatan“ würde sich nicht wundern, wenn er von da aus wieder ganz schnell herunter auf die Erde fällt (→S. 74). „Plattdeutsche Bodenständigkeit“ erscheint in anderen Beispielen den besseren Herrschaften und Bürgersleuten nützlich zu sein, wenn sie deftige Anzüglichkeiten in den Mund nehmen, sich über Bauern lustig machen oder im Rahmen einer patriotischen Gesinnung „Volkstümlichkeit“ demonstrieren wollen. Drei Beispiele von 1805 und 1822 deuten auf Versuche hin, das Plattdeutsche über Literaturübersetzungen zu „adeln“ bzw. wertzuschätzen. Die zahlreichen sauerländischen Zeugnisse im frühesten Band von J. M. Firmenichs „Völkerstimmen“ und auch eine gereimte Karnevals-Annonce beweisen, dass im Jahr 1843 so etwas wie plattdeutsche Dichtung in der Landschaft keine extreme Seltenheit mehr ist. Auch über lange Zeit nur mündlich tradierten Alltagsreime und Lieder der „kleinen Leute“ kommen zum Druck (Aanewenge 2006), wobei sich im märkischen Sauerland Johann Friedrich Leopold Woeste sehr verdient macht – übrigens im Gegensatz zu anderen Sammlern unter Verzicht auf eine Zensur erotischer Eindeutigkeiten.

III. Mundartlyrik zur Mitte des neunzehnten Jahrhunderts (1851–1870): Doch erst nach 1850 entsteht im Anschluss an die ,norddeutschen Klassiker‘ (Klaus Groth, Fritz Reuter) und erste Anläufe auf Zeitungspapier auch im Sauerland eine populäre plattdeutsche Bücherkultur mit Breitenwirkung. Friedrich Wilhelm Grimme, der maßgebliche und weitaus produktivste Pionier, erfindet hierbei gleichsam das „Sauerland“ bzw. ein neues kollektives Selbstbewusstsein in der Landschaft (Strunzerdal 2007). – Trotz preußischer Regierung liegt noch ein Hauch Anarchie in der Luft. „Habenichtse“ und sogar „Taugenichtse“, später eine besondere Zielscheibe für einige plattdeutsche Matadoren, treten vornehmlich als Helden in Erscheinung. – Es zeigen die Beispiele aus den ersten zwei Jahrzehnten nach dem Durchbruch für plattdeutsche Dichtung einen gewissen Hang hin zu Liebeslyrik und „Schauerballaden“. Für Klagen über ein „Sterben“ der plattdeutschen Sprache gibt es noch keinen Anlass. Hochtrabendes Heimatlob – sentimental, peinlich beschränkt und bar jeder Selbstironie – findet man erst in nachfolgenden Abschnitten als Massenware. 11

IV. Plattdeutsche Gedichte aus der Zeit des Kaiserreiches (1871–1918): Wegen ideologischer Veränderungen (Liäwensläup 2012) bietet es sich an, 1871 eine neue Abteilung der Anthologie beginnen zu lassen. In den Zeitungen werden kommunale Tagesthemen, Zeitmoden und technologische Umwälzungen wie die Einführung der Elektrizität auf Platt kommentiert. Ein selbsternannter Kriminologe aus Fretter gibt 1907 forsch seine „Erkenntnisse“ über einen Angeklagten zum Besten und kann mit dem populistischen Ton seiner plattdeutschen Attacke wohl auf Beifall hoffen (→S. 232–234). Nur das Lied über den Verbleib eines gewilderten Rehs in Werpe, abgedruckt im Blatt des linken Zentrumspolitikers Johannes Fusangel, enthält noch irgendwie Ahnungen einer „Subversion von unten“. Heimatkult – nebst sogenannter Sprachpflege – rückt bei Bürgern und besonders Kleinbürgern in den Vordergrund. Ausgesprochen „preußisch-patriotische“ und militaristische Tendenzen, die im plattdeutschen Metier des märkischen Sauerlandes von Anfang an eine Rolle gespielt haben, kommen nach 1900 nun auch im kölnischen – katholischen – Teil der Landschaft zum Tragen. Joseph Anton Henke (1892–1917) aus Frettermühle, ein ambitionierter junger Mundartlyriker, verliert allerdings auf den Schauplätzen des Massenmordens seine anfänglich überschäumende Kriegsbegeisterung von 1914 und wohl auch seine latente Todessehnsucht: „O wör iek wier terhaime!“

Düsseldorf, im November 2015

am Fest der Elisabeth von Thüringen                        Peter Bürger

Epochengliederung
des Niederdeutschen

800 – 1150

Altsächsisch

1200 – 1400

Frühmittelniederdeutsch

1401 – 1520

Klassisches Mittelniederdeutsch

1521 – 1750

Spätmittelniederdeutsch

1751 – 1850

Frühes Neuniederdeutsch

(= Frühes Plattdeutsch)

1851 bis heute

plattdeutsche Kulturdialekte

(Quelle: NiW*)

I.
Mittelniederdeutsche
Literatur
aus Südwestfalen
(1300–1549)

HERZOG AUGUST BIBLIOTHEK WOLFENBÜTTEL

(Codex 58.4 Aug. 8°)

Südwestfälische Psalmen

(Gebiet des Hochsauerlandes, um 1300?)

Psalm 22 [23]

1. Got berigtet mi ande mi enbrechet nicht:

2. in der stat der weide bestadede he mi.

Ouer den watere der lavinge vorde he mi:

3. he becarde mine sele.

He leidde mi ouer de stige der regtiheit dorch sinen namen.

4. Wante ga ic in midden dem scade des dodes,

so en forte ic negein vuel: wante du mit mi bist.

Din rovde, ande din staf, hebbet mic getrost.

5. Du makedes einen disc in miner gesigte wider de, de mi noset.

Du heues veit gedan in den oleie min houet:

ande min kelic de mic verdrenket, de is scinberig.

6. Ande din genade volget mi alle dage mines liues.

Dat ig wone an mines heren hus·an der lenge der dage.

Psalm 145 [146]

1. Loue got min sile

2. ic sal got louen in minen liue /

ic sal singen mime gode so lange so ic bin

3. Ne getruwet nit den vorsten /

noch in der lude kint dar nin heil an nis

4. Er geist sal ut gan /

an(de) varen wider an sine erden /

des dages v(er)uare(n) alle er danken

5. Selich is des iacopes got /

helpere is sin hopene in sinen gode is

6. de makede himel an(de) erden /

an(de) dat mere alle de an en sin·/

De de warheit hudet imer

7. dut richte den v(n)recht dogeden /

he giuet as den hungerigen·/

Got loset de gebundene(n)

8. ande giuet legt den blinden·/

Got erheuet de geglidenen

9. got mi(n)net de rechten·/

Got hudet de ellenden /

de wesen ande widuwen entfet he /

an(de) tusturet der sundere weg·

10. Got sal im(er) riken /

din got syon van den slegte in dat slegte

Canticum Marie (Lukas 1, 46–55)

46. Min sele louet got.

47. Ande min geist urowede sic in gode minen heile.

48. Wante he sa de otmudicheit siner dernen:

daruon siecget mi selich alle slegte.

49. Wante he dide mi grote de gewildich is, ande hilig sin name.

50. Ande sin genade van den slegte in dat slegte, de en entfortet.

51. He dide gewalt in sinen armen: he tuuorde de ouermudigen

53. [Auslassung Vers 51–52] mit gude ande leit idel de riken.

54. He entfenc Israhel sin kint, gedagte siner genade.

55. Alse he sprac vnsen vaderen, Abraham,

ande sinen slegte in de werelde.

Canticum Simeonis (Lukas 2, 29–32)

Nu letes du mit urede, here, dinen knegt na dinen worde.

30. Wante mine ogen san din heil,

Dat tu makedes uor dem antlitte der lude.

32. Dat legt tu barwene de lude, ande de ere dines uolkes israhelis.

Lese: u = v / v = u

T: NiW* [L: Liäwensläup 2012, S. 21–46; daunlots nr. 39*].

HERZOG AUGUST BIBLIOTHEK WOLFENBÜTTEL

(Codex 58.4 Aug. 8°)

Südwestfälische Breviertexte

(Gebiet des Hochsauerlandes, um 1325?)

[Commune Doctorum]

[Bl. 129r]

Vnse herre seget: Seyt, ic sende iu alse scape ouer middes de wlue.

Darumde weset wis alse sclangen vnde einuoldig alse duuen.

Alse gi dat leygt hauen, so gelouet in dat legt,

dat legt, dat gi sin kindere des legtes, seget unse herre.

Darumbe weset wis alse sclangen vnde einvoldig alse duuen.

[Bl. 154r]

[In Annuntiatione B. Virginis Mariae]

Tu der vespere der bordescap [brodescap].

Capitel. Su, ein maget sal enfan vnde sal winnen einen sune,

vnde sin name sal werden geheten Emanuel.

Buoteren vnde honig sal he eten,

dat he cunne wider prouen dat bose,

vnde ut kesen dat gude.

[Bl. 154v / Bl. 155r]

Herre got, du de in der seligen maget Marien liue,

deme engele botscapende din wort,

ein uleisch woldes du werden enfangen,

uerleine dinen uleungen, dat so we se geloue, werliche godes moder,

chygen di, werden gehulpen van erre bede. Per.

[Bl. 155v]

De engel is ingegangen tu Marien segede: Got grote di, Maria,

wl genade, unse herre is mit di. Du bist gebenediget vnder den wiuen,

vnde de frugt dines buches is gebenediget.

Got grote di, Maria, wl genade, unse here is mit di.

[Bl. 156r]

Du bist gebenediget vnder allen wiuen,

vnde dines buches urgt [frugt] is gebenediget.

Got grote di, Maria, wl genade, unse herre mit di,

vnde dines buches urgt [frugt] is gebenediget.

[Bl. 157r / Bl. 157v]

Lectio [quinta]. Unde Maria antwordende segede tu me engele:

Wo sal dit gesceyn, wante ic des mannes nit ne bechenne.

Unde de engel tu ere: De helige geist sal dar bouen cumen in di,

unde de duget des houersten sal die bescaduuuen;

darumbe vnde dat van di wert geboren hilig, wert geheten godes sune.

Iotu heues tu [sic] gehort, wo dat gescen sal.

Wante de hilige geist sal bouen cumen in di,

dat du ein kint gewinnes vnde den magetdom nit ne uerleses;

dat du den sune uorbrenges, vnde na der bort bliues vnbewollen.

[Bl. 161v]

[In Assumptione B. Virginis Mariae]

[Bl. 164r] Lectio tertia […] De borne der garden ein putte der leuendigen watere, de vleten mit roginge van Lybanus. Deus noster ref. Min leyue cume in sinen garden, dat he ete de urugt siner appele. Fundamenta eius. Specie tua in pulchritudine tua intende, prospere procede et regna.

Pater noster.

[Bl. 165v]

Cum in minen garden, min suster, min brut ic hebbe gemeyget minen merren mit minen ruchen. Cantate d. Ig hebbe gegeten minen honigsem mit / mineme honige, ic dranc minen win mit miner melic.

Dominus regnauit. i.

Alduslic is min leyue vnde he is min vront, dogtere van Iherusalem.

[Bl. 179r]

Lectio secunda [Jesaia 40, 1–11]

Trostet iuc, trostet iuc min uolc, seget de herre
iuwe got. Sprechet tu me herten Iherusalem unde ladet en: wante
de boshet is erwllet, des genes boshet is uergiuen: he heuet enfangen tuigulde van unses herren hant uor alle sine sunde. De stemme des ropenden in der wostene: machet des herren weg, regte machet de pade unses godes. Al dal sal werden erhoget, vnde alle berge vnde brincche sal werden ernideret, unde sun werden de crumme [sic] in de regten unde de scruuen in sclegte wege. Unde unses herren ere sal werden geuppenbaret unde al ulesch sal sein tusamene dat unses herren [Bl. 179v] munt is gesprochen. De stemme des segendes: Rop!

Unde ic segede: wat sal ic ropen? Al ulesc is hoy, vnde al sin ere alse ein blome des ueldes. Dat hoy is uerdroget; vnde de blome uel, wante godes geyst eytmede an sey. Werliche dat uolc is hoy: dat hoy is uerdroget unde de blome is eruallen: unses herren wort auer sal ewelichen bliuen.

[Vigiliae Maiores]

[Bl. 204r]

Lectio prima. Erscone mi, herre, wante mine dage ne sint nit.

Wat is de mensche, wante du maches en grot, afte wat tusettes

tu umbe en din herte? Du uisiteres en des morgenes uro
unde tuhandes beproues tu en. […]

[Bl. 206r / Bl. 206v]

Lectio quinta. Dey mensche, geboren van eyme wiue,

leuende corte tit he wert ewllet [sic] mit manigerhande iameriget, de

alse ein blome utgande wert tucuestet vnde ulut alse ein stemme

unde nummer ne bliuet in deme seluen wesunge. […] Des menschen dage

sint cort, de tail der manede is bi di; du heues gesat erre ende, de

nit ne mugen werden ouergegangen. Darumbe ganc enweg ein

wenich van eme, dat he geraste, mit dat ein gewnscet cume alse

eines copmannes sin dag.

Lese: u = v / v = u

T: NiW* [L: Liäwensläup 2012, S. 21–46; daunlots nr. 39*].

AUGUST HEINRICH HOFFMANN VON FALLERSLEBEN

(Editor)

„Der Esel des Müllers will Kleriker werden“

Lateinisch-niederdeutsches Mischgedicht

(vielleicht aus Brilon, um 1400?)

1. Asellulus de mola

nam ôrlof to sym heren.

Presumitur in schola:

he wolde lexe leren.

Magister, bona dies!

de esel sprac mit leve,

Pax inter nos et quies!

ik lêrde gerne breve. –

R.: Kum kum kum!

esel, sanctum.

sprikst latyn, du en bis[t] nicht dum:

vis saccos oblivisci,

Ach ach ach!

gût gemach

wolde ik wunschen al den dach,

si possem adipisci!

2. Si scirem alphabetum,

tohant wolde ik studeren

Ius legis et decretum,

dâr na wold ik pladeren

Pro magna plebania.

ik kan to kore singen,

Dum clamat vox hoyst hyha!

de sak sal my nicht dringen –

R.: Lêr lêr lêr,

esel, sêr!

du wirdest wâl ein grote hêr,

mox potes doctorari.

Sing sing sing,

esel, kling!

so wirt gût alle dink,

si vis presbiterari.

3. Si essem tam beatus,

dat ik ein prêster worde,

Sic esset deo gratus

de myne misse hôrde.

Deinde predicarem,

grôt aflât wolde ik geven,

Quod saccos non portarem:

so mochte ik sachte leven. –

R.: Dô dô dô

dem also!

ganc to kore, sing wâl ho!

nam vox est tibi bona. –

Ja ja ja,

dat ik ga!

wan ik over misse sta,

portantur mihi dona.

4. At missam tunc cantavit,

do quam de eseldryver,

Cum fuste verberavit:

Wannêr wordes du ein schryver!

Cur decipis hic plebes?

wâl hen, lôp in de molen,

Saccos portare debes,

most slepen [slipen] unde solen. –

R.: Och och och!

hedde ik doch

secke gedragen wente noch,

esset mihi suave!

Gâr gâr gâr

wirt êm dat swâr,

de sal in syn alde jâr

pondus portare grave.

Übersetzungshilfe

1. [Das] Eselchen aus der Mühle

nahm Urlaub von seinem Herren.

Angenommen in der Schule:

er wollte Lektionen lernen.

Magister, guten Tag!

der Esel sprach mit Liebe,

Frieden unter uns und Ruhe!

ich lernte gern das Brevier.

R.: Komm komm komm!

Esel, heilig.

sprichst Latein, und Du bist nicht dumm:

willst die Getreidesäcke vergessen.

Ach ach ach!

gut gemach

wollte ich[’s] wünschen alle Tag’ [den ganzen Tag],

wenn[’s] möglich zu erlangen.

2. Wenn ich wüßte das Alphabet,

zuhand wollte ich studieren

Recht, Gesetze und Dekret,

danach wollte ich plädieren

Für ein großes [Pfarrhaus].

ich kann zu Chore singen

indem die Stimme schreit Hoi, Iiah!

der Sack soll mich nicht bedrängen

[die Sache soll mich nicht drängen?].

R.: Lern lern lern,

Esel, sehr!

du wirst wohl ein großer Herr,

bald kannst du Doktor werden.

Sing sing sing,

Esel, [er]kling!

so wird gut all’ Ding,

wenn du willst Priester werden.

3. Wenn ich so selig wäre,

daß ich ein Priester geworden,

So wäre Gott [wohl] angenehm,

der meine Messe hörte.

Ferner würde ich rühmen,

großen Ablass wollte ich geben,

Weil ich keine Säcke [mehr] tragen würde:

so möchte ich gemächlich leben.

R.: Do do do,

dem also!

geh zum Chore, singe wohl ho[ch]! [sing wohlgemut?]

denn die Stimme ist dir gut. –

Ja ja ja,

daß ich geh!

wenn ich über [aber?] der Messe [vor]steh’,

getragen werden zu mir Geschenke.

4. Als er zur Messe hat gesungen,

da kam der Eselstreiber,

Mit [dem] Knüppel wird er schlagen:

Wann wurdest du ein Schreiber!

Warum täuschst du hier die Völker [Leute]?

wohl hin, lauf’ in die Mühle,

Säcke tragen mußt du,

mußt schleppen und schuften.

R.: [A]och och och!

hätte ich doch

Säcke getragen bis heute,

es wäre mir süß!

Gar gar gar [Allzu sehr]

wird ihm das schwer,

er soll in seinen alten Jahren

Last tragen schwer.

T/L: Liäwensläup 2012, S. 75–77;
daunlots nr. 58*, S. 24–28.

STADTARCHIV SOEST

Vier Lieder zur Soester Fehde 1446/1447

(Gedichtet um 1446/47; Handschriften ca. 1550)

I.

Wyll gy wetten wu dar geschach,

wp eynen saterdage morgenn,

Dat neuelde also sere,

De Colschenn weren vor soist gerandt

Bysschop Dyderyck was er herr.

De wechter vp dem kuere sprack

Dar uan so quam eyn klockenslach

De colschen synt vns gekommen,

Rucke wy tho enne in dat velt

Des kryge wy alle fromenn.

Johann de rode eyn junger mann,

he sprack syne borger ann,

nu volget my all wys synnenn,

Ropet godt den heren ann,

De colschen wylle wy schynden,

Hau dar dorch voer du den heyt

Chrystus moyt vns waldenn,

De kortwyle was nicht lanck

Dat mannyge glaue to stuken spranck,

Se tuchten tho den swerdern,

Sey slogen so mannygen harden slach

De colschen tho der erdenn.

Herr Dyderych van wytten eyn stolter degen,

leue her vroste latet my leuen

Johan van Schede eyn schutte.

wy hadden id vp dat beste gedann,

Jdt mochte vns io nicht gelucken

Myn iuncker van buren eyn edelmann,

sprack her Dyderjck van burscheyt an,

Graue van wytkenstene,

wy meynden wy stonde(n) by vnsen fru(n)den,

nu sta wy hyr alleyne,

Dar bleyff steuen van laer doyt,

Myt allen synen knechtenn.

Wulff van vfelen sych vmme sach,

der geuangenn mer dan hundert war(en)

he hadde syck hoch vor mettenn,

he wolde der Soistschen velle faenn,

De brock hadde he vorgettenn.

II.

Eyn gedycht wu kortlyckhusen gewunnen wort

[Von: Vrischemei]

Wyll gy horenn eyn nyge gedycht,

wu idt de heren hebben vth gerycht,

Al in dem Colschen landt,

Vor kortlynckhusen synt se getogenn,

Myt volcke mannyger handt.

Cleue, Marcke, hogemoyt,

paderborne, lyppe dat edell bloydt,

de van soist mocht men dar schauwen,

se stalten ere bussen vor dat huss.

dat rede jck vp myn truwenn,

Hunolt van hanxell dat vornam

he was so duldych als eyn lam,

vnnd de anderen guden gesellenn,

de van soist reypen sey ann

se beden enne rede tho vortellenn.

Dat enn mochte en nicht boscheyn,

de bussen mosten bey reymen teyen,

vnnd schotten an de murenn.

dat se reyt tho beyden sydenn,

darvp mochten se nicht duren.

Des morgens reypen se eynen andere(n) frede,

dat men hörde doch ere rede,

de van soist mosten dar komenn,

vnnd horen dar eyn wort,

des kregen se neynen fromenn,

Her Dettmar kleppynck eyn borgermester gudt,

Jasper torck was woll gemoyt,

se reden to den herenn,

vnnd geuen en dysse sacken to verstan

alse ick jw werde vorklarenn.

Se welt syck vns geuangen geuenn,

Dat wy enne frysten lyff vnd leuenn,

Vnnd stellen vns dat huiss tohanden,

Vnnd nemen dat huss geryslyck jnn

tho behoyff alle vnsen landenn,

Dey heren weren des wolgemoyt

se sprecken ja dat duncket vns syn gudt.

wy wylt danhen rydenn

vnnd nemen dat huss geryslyck jn,

vnnd wylt des nicht vormydenn.

Vor dat huys de heren quemen,

wu snell se dat vp dem huse verneme(n)

Sey quemen daraff getreden

vnnd geuen syck geuangen

jn der heren hant bj all solcken reden.

Me moste enne frystenn leuen vnd lyff,

Darvan was vorder geyn kyff,

se nemen se dar geuangen,

vnnd leydenn se myt syck in dat heer

myt mannygenn groten verlangenn.

Dus so wort dat huys gewunnenn

Dat schach des morgens by hoyer sunnen

vnnd hebbet dat inne myt ehrenn

her Johann van hanxell reyt enwech

alto denn hesseschen herenn.

Vnnd well enne doyn dysse sake kundt

vnnd maken dar eyn nye verbundt

Eyn nyen walt wyll he hauwen

Dar to hefft he syn huss vorloren.

he mach woll eyn ander buwen,

De vns dyssen rey vorsanck

vryssche mey js he genandt,

he hefft id woll vth gesungenn

Ruden, warsten, Beleke vnd dat ganse lant

synt an de handt gesprungenn.

III.

Eyn ander gedycht.

[Von: ruter knecht]

Jck wyll dy seggen wat geschach

vp gudenstach na margreden dach

All in dem seluen jare

Do man xlvi schryff

Dat wyll jck dy apenbarenn

Bysschop dyderyck kyck jntlandt

he toch vor soist myt geweldyger handt

myt mannyger hande were

de van soist bereyden syck tho hant

tho vote vnnd to perde,

Se togen tho enne jn dat veldt,

dar he myt synen banner heldt,

se schotten dar manygen bussen clodt,

den eynen lam, den anderen doyt,

se konden des nicht gekeren

de menne leden grote noydt

all vp den ackermerenn,

Se werden enne dat soistsche velt,

se jageden enne myt groter gewalt

van dyssen sydt der sledde,

myt bogen vnnd bussen des gelyck

vordeynden prys vnnd ehre darmede.

De furste van Cleue hochgeborenn,

Eyntboyt den papen hochbeschorenn,

wat he dartho reyde

he wolde eme strydes vorplegenn,

vor den plas behelde,

Se sprecken alle vth eynen munde,

et were eyne vngeluckyge stunde,

Dat he des nicht endede,

Mallynckrot den gaff vnt gode,

der duuel hefft ene vns genomen.

Clamer bussche heth de mann,

de de Colschen wecken kan,

he wecket se myt geschrye,

de van soist hebben noch wall karnn,

all dede den papen noch so tarne,

De bysschop gelyckede eynen wulue vnd toch jnt holt

syn sorge weren so mannychwalt,

he leyde sych dar betunenn,

e(m)me was leyde vor gewalte,

dar genget an eyn rumenn.

Se reypenn all locht em na,

he moyt enwech ha· ha· ha,

he hefft hyr wall gewesenn,

de eere de em vorgescha,

de is em all eyntresenn,

Se togen tho werle jn dat slote,

se weren so mode, se weren so math

se hedden so gerne gettenn,

dar gaff men enne nauwe half sayth

des hadde enne wall vordrottenn.

Bysschop van collen, hyldensem vnd magnus

warvmme bleue gy nicht to huis,

vnnd gengen to collen tho core,

gy spelet so sere vp jw vorluys

vy alden grysen dorenn.

Fruchtet gy nicht juw heren torne,

dardorch gi mogen werden vorloren,

vnnd de jw heuet geschapenn

nicht to rouen, brenen vnnd kerckenschynden

schamet jw alden grysen papen.

De vns dydt nye leycken sanck,

eyn ruter knecht was he genandt,

he heuet idt wall gesungenn,

de colschen hebben e(m)me leydt gedan

dyt leyt wyll he enne doen sendenn.

IV.

Vann dem Belege vor Soist.

Uuer, Blyxen van hagelslach,

krich vnnd orllych groydt,

dat brenget de welt in vngemack,

de chrysten lydenn noydt

dat gode selues geyne(n) frede mochte haynn

dat merkede me by den [f]alschen joeden,

de gode vnsen heren vorraden dedenn.

Am lsten van dyssen sommer tydt,

de wort sych eyn reydt bestaynn,

van collschen, Bemen vnnd sassen,

darto de Messcheschen herenn,

de Blomberch wort vth gebrandt,

dar schach jamer grodt,

harn, vnnd Lemegou gengen se ann,

de lyppe leyt eynen harden stoydt

De eyne borger tho dem anderen sprack

vns deyt woll hulpe noyt,

wy seyn so mannygen dusent mann,

se staen na vnsen doyt,

Nu help vns chrystus vnd syn engele koer

dat se vnsen vyanden sturenn,

so behalde wy dyssenn plas.

Se schottenn de harten muren entwe,

De thorne vellen vmme

Dar sach man schon ruter spell

vor der lyppe heff syck vp eyn stelenberch

Noch grayer dan eyn jys

se stalten syck an wu eyn wunderwerck,

se wolden vordeynen den prys.

Sey leytenn vor der lypp trumpetten slaen

Dar hoff sych eyn grodt heer,

wall vp gy heren junck vnnd alt.

Na soist js vnse beger,

dar wyl wy vorteren berch vnnd holt,

kondt wy soyst gewynnen

de lyppe queme seluen ann,

Jck harde eyn fogelken syngenn,

dat vp dem kurhus sanck,

Jck sach eyn schar vp dryngenn,

vell blancker dan eyn glas,

dat syt de cleueschen ruter stolt,

de wylt vns beschudden den plas,

de syt vns truwe vnnd holt.

Sey stalten sych reyslych vp de wer

des geuen en de heren danck,

se schotten myt bussen jn dat heer,

de bemer worden kranck,

de graue van sterneberch reyp ouer luyt

wat boser ruter synt de cleueschenn,

se drucken vns vp de huyt.

Myn her van Collenn vorantworde dat

se hebben myr leyd gedaen,

se nement my sunte peters stadt

Jch byn syn capellann,

se rouet myn stede, se bernet myn landt

des moyt ich eyn ruter sterue(n) ahne myn danck.

Se leyten en eyn beer bruwen,

van kalcke vnnd ock van melle

dat schenkeden en de frouwen

se spellden en vp de kellenn

se geuenn er leuenn v(m)me eyn kapp

ja pyle duchten enn vyolien synn,

se helden dar jo nicht aff

Hedden de cleueschen ruter gedann

Soist wer gewunnen,

So harde was se bestann,

Godt gaff dat se myt schanden mosten aff gan.

T: NiW* [L: Im rexpen Koren 2010, S. 643–645; Liäwensläup 2012, S. 77–78].

FEME-GERICHTSSCHWUR SCHLOß BILSTEIN (1453)

… vor torf, vor twich [Zweig]

vor stock, vor stein / vor gras, vor grein

vor alle gueke wichte [lebendige Wesen]

vor alle godes gestichte [Geschöpfe]

vor alle, dat tuschen [zwischen] Himmel

un erden god heft laten werden

wente [bis] an den mann / der da veme halden kann.

T: Liäwensläup 2012, S. 89.

ANONYMER DOMINIKANER IN SOEST

Ein leit genant der stam van iesse of sent Annen gebuert

(Weihnachtsdichtung, Soest 1449)

(E)in leit genant der

stam van iesse of

sent Annen gebuert vp

de wise dies est leticie

Ein Lied, genannt der

Stamm von Jesse oder

Sankt Annen Nachkommenschaft auf

die Weise „Dies est laetitiae“

1.

(S)Vnte Anna dey is wol loues wert

Sint sy to der werlde brachte

Marien dey vns heuet gebert

To dusser midde wi[n]ters nachte

Ihesum dey christus is genant

Der werlde trost vnd heylant

Den hefft sey maget gedregen

Maget was sey in der geborth

Vnde ewelicken blyuet vorth

Als vns dey schriften segen

Sankt Anna, die ist wohl (des) Lobes wert,

Seit sie zu der Welt brachte

Marien, die uns hat geboren

Zu dieser Mitt-Winter-Nachte

Jesum, der Christus ist genannt,

Der Welt Trost und Heiland,

Den hat sie als Jungfrau getragen.

Jungfrau war sie in der Geburt

Und ewiglich bleibt (sie es) fort,

Wie uns die Schriften sagen.

2.

(A)ll sunder we des kyndes genas

Dey vterwelde reyne

Gott dryuolt in personen was

Eyn myd dem kyndelyn kleyne

Dey moder bedde dat kyndelyn aen

Do sprack ioseph dey alde man

Loff sy dy vader here

Van dy schynet dey gotlicke macht

Dat heft dey hylge geest gebracht

Got dreyuolt vmmermere

Ganz ohne Schmerz des Kindes genas

Die auserwählte Reine.

Gott, dreifaltig in Personen, war

Eins mit dem Kindelein kleine.

Die Mutter betete das Kindlein an,

Da sprach Joseph, der alte Mann:

Lob sei Dir Vater, Herr.

Von Dir scheinet die göttliche Macht,

Das hat der Heilige Geist gebracht,

Gott dreifaltig immermehr.

3.

(I)Oseph was van vroweden balth

Hey redde daer to vure

Syn gelt was kley[n] dey wy[n]ter was kalt

Holt kollen weren daer dure

Van reytestro vnd spryckelkyn

Botte hey dem kynde eyn vurekyn

In dem vyl kolden huse

Do sanck Ioseph wol gemeyt

Des kyndes moder weygen leyt

Zuziuynnezuzi

Joseph war vor Freude stolz.

Er bereitete da ein Feuer.

Sein Geld war knapp, der Winter war kalt.

Holzkohlen waren da teuer.

Von Rietstroh und Zweiglein

Entfachte er dem Kinde ein Feuerchen

In dem sehr kalten Hause.

Da sang Joseph vergnügt

Des Kindes Mutter Wiegenlied:

Susiuynnesusi.

4.

(D)O dat kynt gewermet was

Sey wunden dat in dey doke

Sey lechte[n] dat in dat dore gras

Dey beyste dey hedden des rocke

Dey ezel vnd dat ossenrint

Myt adem verwermeden sey dat kynt

Do sey dat kynt berocken

Dey osse kante dat kyndelyn

Als dey ezel dat krybbelyn

Na ysayas sprocke

Als das Kind gewärmt war,

Sie wickelten es in die Tücher.

Sie legten es in das dürre Gras [Heu].

Die Viecher, die gaben Acht darauf.

Der Esel und das Ochsenrind,

Mit Atem erwärmten sie das Kind[,][.]

Als sie für das Kind sorgten [.][,]

Der Ochse kannte das Kindelein,

Wie der Esel das Krippelein,

Nach Jesajas Sprüchen.

5.

(M)ichael Gabriel Raphael

Dey sagen an dat wunder

Van vroweden brante vriel

So eyn heet vurych tunder

En wort dat kundich vp der vart

Dat got bleff got vnd mensche wart

Vnd bleff al vnuermenget

Simpel bleff syn Trinitaet

Dat kynt der gotheit nicht enhaet

Verkortet noch verlenget

Michael, Gabriel, Raphael,

Die sahen an das Wunder.

Von Freuden brannte Uriel

So ein heißer feuriger Zunder.

Ihnen wurde das kundig sofort,

Dass Gott blieb Gott und Mensch wurde

Und blieb ganz unvermischt.

Einfach [einig] blieb seine Trinität,

Das Kind das Gottsein nicht hat

Verkürzet, noch verlängert.

6.

(D)ey engel worden des gewar

Bouen in des hemels throne

Sey quemen daer in groter schaer

Myt soeten schalles doene

Gelouet systu Ihesu chryst

Dattu alsus geboren byst

In mynschelicker naturen

Al sunder menschelicker lyst

Dat hebben dey propheten vorbewyst

In manegerleye figuren

Die Engel wurden dessen gewahr

Oben in des Himmels Thron.

Sie kamen dahin in großer Schar

Mit süßem Schalles Ton.

Gelobet seist Du Jesus Christ,

Dass Du also geboren bist

In menschlicher Natur,

[Doch] Ganz ohne menschliche List.

Das haben die Propheten vorhergesagt

In mancherlei Gestalten.

7.

(A)dam su her der menne drey

Eyn formelick gebelde

Abraham su hyr der personen drey

Eyn formelick gewelde

Komet her van zegor salyge loth

Helpet gy den heren van sabaoth

Dreyuoldich hyllich louen

Myt kynderen dreyn dey worden gestot

Van Nabogodonosors geboth

In enen vurigen ouen

Adam, sieh her [hier?] der Männer drei,

Ein formgebendes [vorausbedeutendes?] Bildnis.

Abraham, sieh hier der Personen drei,

Eine formstrenge [förmliche] Gewalt [Herrschaft].

Kommt her von Zegor [Zoar] seliger Loth.

Helft ihr, den Herrn von Sabaoth,

Dreifaltig heilig, loben,

Mit Kindern dreien, die wurden gestoßen

Durch Nebukadnezars Gebot [Befehl]

In einen feurigen Ofen.

8.

(S)u moyses dyn busschelyn

Dat brent al vnuerschroet

Su aaron dyn rodekyn

Brenget vrucht vnd doch noch bloet

Su an dyn vluet her gedeon

Dat op dem berge van Ebron

Werth naet van hemels douwe

Nu su her konynck salamon

Dyt ys dey dochter van sion

Dyt ys dey starcke vrouwe

Sieh Moses dein Büschlein,

Das brennt ganz unversengt.

Sieh Aaron dein Zweiglein,

Bringt Frucht und doch noch blüht’s.

Sieh an dein Vlies, Herr Gideon,

Das auf dem Berge von Hebron

Wird nass von Himmels Tau.

Nun sieh her König Salomon,

Dies ist die Tochter von Zion,

Dies ist die starke Frau.

9.

(S)us wurt dyn steen o daniel

Gehauwen sunder hende