Impressum

Copyright © 2018 Gerd Scherm
Redaktion: Friederike Gollwitzer
Cover: Friederike Gollwitzer & Gerd Scherm
Illustrationen: Gerd Scherm
Herstellung und Verlag:
Books on Demand GmbH, Norderstedt
ISBN 978-3-7528-7428-0

Nicht die Zeit ist’s
wir sind’s
die vergehen

Gerd Scherm

Die Aufzeichnungen
(immerwährendes Fragment)

Erstens:

Den Heutigen, früh morgens.

Habe Klara das Ohr zurückgegeben, das sie mir geliehen hatte. Sie vermisst ihren Perlen-Ohrring, der daran hing, ein Erbstück von ihrer Großmutter. Kann mich nicht erinnern, was ich damit gemacht habe.

Zweitens:

Ein Abend.

Klara hat an der Türe geklingelt. Oft. Dann dagegen geschlagen. Auch oft. Habe mich tot gestellt und fühle mich auch so.

Drittens:

Der Heutige, der ganztags der Morgige ist.

Habe Klaras Perle in meiner Austernsammlung gefunden. Das Silber ist oxydiert. Sieht trefflich aus, passt gut zur Melancholie der schwarzen Schalen.

Viertens:

Die darauf folgende Nacht.

Mache mir Sorgen wegen Klara, sie war so energisch. Ob sie unsere Verlobung lösen wird? Ein Ansatz wäre es schon, immerhin etwas völlig anderes, als die letzten sieben Jahre. Horche in mich hinein, ob ich mich schon unverlobt fühle.

Etwas ist da, in mir, grummelnd, fordernd, vielleicht ist es Hunger.

Fünftens:

Knapp nach Sonnenaufgang.

Laute Musik von nebenan – der Nachbar ließ sich von Wagners Götterdämmerung wecken. Wenn der Kerl unter Verstopfung leidet, wird er immer extrem aggressiv. Hoffentlich fängt er nicht wieder eine Schlägerei mit mir an.

Sechstens:

Nachmittags zu spät.

Klara saß deprimiert auf meiner Treppe, angeblich schon seit Mitternacht. Sie kommuniziert nur noch mit Zetteln, sie will nicht mehr mit mir reden, nur noch mit mir weinen. Ihr Ohr lag in rosa Geschenkpapier gewickelt in meinem Briefkasten. Nun werden Ohrring und Ohr wieder zusammenfinden. Ich bin sehr erleichtert.

Siebtens:

Lange Dämmerung.

Heute kreiste ein Himmelsschreiberflugzeug über der Stadt. Der Pilot hatte anscheinend eine Schreibblockade, weil er nichts geschrieben hat. Wie habe ich mich nach einem Wort von ihm gesehnt! Doch bei Sonnenuntergang war das Blau des Himmels immer noch leer. Klara ist verschwunden.

Achtens:

Aurora.

Alleine aufgewacht, wie sonst? Kurze Überlegung, das Bett nicht zu verlassen, es wie Heinrich Heine als Matratzengruft zu sehen und hier zu verenden, morgen oder in zehn Jahren. Ob Klara mich wohl besuchen würde?

Neuntens:

Sommerhitze noch im Abendrot.

Vielleicht weise ich Klara darauf hin, dass Leopold mit Romeo fast identisch ist: drei wunderbare, mit Liebe gefüllte Silben: Ro-me-o – Le-o-pold – RO-ME-O – LE-OOO-POLD. Klaras Mutter sagte, es fehlt nur ein kleiner Handkoffer vom Dachboden. Meine Hoffnung keimt und zeigt den ersten Trieb.

Zehntens:

Ganztägige Verwirrung.

Stundenlang irritierende Blähungen. Allerdings gab mir ein Furz Hoffnung: er war sehr elegant, langgezogen mit leichten Vibrationen, fast aristokratisch zu nennen. Ein Flatus von echtem Adel.

Elftens:

Wintereinbruch.

Einsame Monate sind vergangen, wobei die Einsamkeit nicht vergangen ist. Kein Zeichen von Klara, doch ich hoffe auf Neuschnee, der es mir erleichtern würde, ihre Spuren zu finden.

Zwölftens:

Hoffnung von auswärts.

Mein Therapeut machte heute eine Rückführung mit mir. Dabei ließ er mich in Hypnose an meine früheren Leben erinnern, um Inkarnation für Inkarnation die Ursache für mein Unglück zu finden. Er ging sehr weit zurück. Ich musste in eine mit Laub gefüllte Badewanne steigen, die er »Herbst im Paradies« nannte. Ich begegnete Adam und Eva und ich selbst war ein eng beschriebenes Blatt am Baum der Erkenntnis. Leider war die Handschrift unleserlich.

Dreizehntens:

Die anonyme Botschaft.

Ein Telegramm macht im ganzen Viertel die Runde.

Leider ist es anonym und die Empfängeranschrift unleserlich, so dass jeder, der es liest, es auf sich selbst bezieht. Der Pfarrer spricht gar von einer Prophezeiung für die gesamte Menschheit.

ANKOMME FREITAG STOP BRINGE ALLES MIT STOP ES WIRD EIN SINGEN SEIN STOP

Dabei weiß ich ganz genau, dass es nur für mich bestimmt ist.

Vierzehntens:

Die Gedanken-Nacht.

Je länger man über eine Sache nachdenkt, desto besser erfasst und versteht man sie, las ich einst in einem klugen Buch. Doch letzte Nacht dachte ich alle Stunden hindurch und je länger ich dachte, desto mehr vergoren meine Gedanken und es war mir, als stiegen Dämpfe in mein Gehirn. Des Morgens war ich so verwirrt, dass ich den Kaffee über das Brot goss und mir die Butter auf den Handrücken strich.

Fünfzehntens:

Zeitlos.

Erneuter Versuch, aus alten Fotos eine neue Gegenwart herzustellen. Bin völlig gescheitert, da der Sumpf aus Erinnerungen jeden Ansatz erbarmungslos verschlang und in Sentimentalität ertränkte.

Sechzehntens:

Ohne Zweck, halbtags.

Ich übte mich in der Kunst des Schlenderns. Bin ohne jede Absicht die Hauptstraße hinauf und hinunter gegangen, wieder und wieder. Habe mir die Dinge in den Schaufenstern angesehen ohne ein einziges Mal den Wunsch zu hegen, irgendetwas zu kaufen. Mit leeren Händen war ich ausgezogen und mit leeren Händen bin ich zurückgekehrt. Schlendern erfordert eine immense Konzentration!

Siebzehntens:

Hoffnung hegen, stundenlang.

Manchmal hilft es mir, die Dinge beim Wort zu nehmen. Oder auch die Wörter wörtlich. Habe sieben Quartbögen beidseitig eng an eng mit »Hoffnung« beschrieben und anschließend feierlich im Ofen verbrannt, weil ich Hoffnung schüren wollte. Es war ein sehr verheißungsvolles Lodern, weshalb ich die Asche in Großmutters Urne füllte.

Achtzehntens:

Warten, warten.

Ein ungewöhnliches Geräusch ließ mich an Klara denken. Es erinnerte mich an das Knirschen ihrer Zähne bei unserem ersten gemeinsamen Picknick im Park, als ich ihr Sandkuchen reichte. Später half ich ihr, die Rutsche zu erklimmen. Das Glück ist an manchen Tag nur fünf Jahre alt.

Neunzehntens:

Ferne Lebenszeichen.

Ein Brief, den mein Halbbruder Naftule mir geschrieben hat, geriet versehentlich in die Hände meines neidischen Nachbarn. Man berichtete mir, dass dieser ihn tagelang bei sich trug, die amerikanische Briefmarke jedem zeigend, der seinen Weg kreuzte. Erst als er das Schreiben beim misstrauischen Wirt in Zahlung geben wollte, erkannte dieser, dass der Brief eigentlich an mich gerichtet war und ließ ihn mir durch seinen Sohn zustellen. Naftule verdient sein Geld als Klezmorim in New York City und spielt seine besten Stücke stets mit dem Rücken zum Publikum, damit keiner sein Klarinettenspiel kopieren kann.

Zwanzigstens:

HerzSchmerz.

Die Einsamkeit meines Herzens macht mir Gänsehaut. Gerne würde ich es trösten, wenn ich nur wüsste, wo es steckt. Doch Klara hat mein Herz mitgenommen und nur eine leere Grube zurückgelassen. Dort hinein werfe ich all mein Begehren, auf dass es sich alchimistisch wandle und brodle und ausbreche wie ein Vulkan. Der Ausbruch des Mount Leopold wird das Viertel erschüttern.

Einundzwanzigstens:

Andere Frauen, andere Männer.

Max nahm mich in ein Haus mit, in dem einsame Frauen auf Männer warten. Vier von ihnen wollten sich sogleich mit mir verloben. Doch ich habe dankend abgelehnt, weil keine von ihnen ihre anderen Verlobten meinetwegen aufgeben wollte. Es ist sehr schwer, der Einzige im Leben einer Frau zu sein.

Zweiundzwanzigstens:

Zukunft, ganz am Anfang.

Ich habe beschlossen, aktiv ins Leben zurückzukehren. Kein Sehnen mehr nach Klara, kein Trauern um die Dinge, die ich niemals besaß, kein Schmerz aufgrund geträumter Verletzungen. Ich bin im Hier und Heute, jawoll! Meiner selbst bewusst und stark. Mit all meiner Sehnsucht, die mich mit Trauer erfüllt und mich leiden lässt, leiden, Tag für Tag.

Dreiundzwanzigstens:

Zahl der Teile unbekannt.

Das Leben ist ein Puzzle, bei dem ständig Teile fehlen. Und wenn man dann endlich wieder ein Stück zu finden glaubt, passt es absolut nicht, scheint es gar zu einem anderen Bild zu gehören. Wer nur zerstückelt unsere Leben so sehr, dass wir selbst bei penibelster Ordnung keinen Sinn darin erkennen können? Muss Vetter Franz K. fragen, was er davon hält.

Vierundzwanzigstens:

Wasser Wasser Wasser.

Regen, endloser Regen, doch es ist zu spät, eine Arche zu bauen. Vom Balkon aus wurde ich Zeuge, wie sich eine Elster in einen Pinguin verwandelte. Der Beweis für die Evolution! Der Pinguin wurde kurz darauf von einem Dackel verfolgt, der sich mitten auf der Chaussee in einen Wels transformierte und schlagartig das Grundeln der Jagd auf Federvieh vorzog.

Was wird wohl aus uns Menschen werden? Haie?

Fünfundzwanzigstens:

Komm zu mir, oh süßer Schlaf!

Konnte vor lauter Gähnen nicht schlafen. Jedes Mal kurz vor dem Einnicken, riss mich mein Kiefer aus der Ruhe und presste mir die Tränen aus den Augen. Mein Kopfkissen ist bereits von einer Salzkruste überzogen. Ist es mein Weinen, das die Welt ertränkt?

Sechsundzwanzigstens:

Zuhören und Tee trinken.

Heute Einladung bei Frau von Slomsky. Bei Tee und Keksen pries sie mir zwecks Verlobung ihre Tochter Ophelia an, die selbst nicht anwesend war. Es ist verdächtig, ein Mädchen Ophelia zu nennen, was denken sich die Eltern nur dabei? Soll »die Hilfreiche« für ihre Mutter Dienstmädchen spielen bis ans Ende der Tage (der Vater hat für sich selbiges bereits erreicht), oder ist es ein dezenter Hinweis, wie Ophelia sich dereinst gefälligst in bester Shakespeare-Manier selbst aus dieser Welt schaffen soll? Wäre eine Heirat mit mir wirklich eine Alternative zum Tod im kalten Nass? Oder sollte ich in Wahrheit ein Hamlet sein, dessen vielleicht noch existierender Vater von dessen nicht mehr lebenden Onkel ermordet wird? Dieser Nachgeschmack, was war das nur für ein Tee?

Siebenundzwanzigstens:

Ich & ich.

Seit einigen Tagen empfinde ich mein Spiegelbild als bedrohlich, es flößt mir Angst ein. Inzwischen versuche ich, an meinem Ich auf der Silberscheibe vorbeizusehen, was mir auch gut gelingt. Manchmal nehme ich mich kaum noch wahr, was allerdings beim Rasieren bereits zu mehreren Verletzungen führte.

Achtundzwanzigstens:

Sender, kein Empfänger.

Schicke Tag für Tag Botschaften in die Welt hinaus – Postkarten, Briefe, Zettel, manchmal sogar Päckchen. Nachrichten von mir an, ja, an wen eigentlich? Egal, welche Namen als Adressaten aufscheinen, sie sind, obwohl vertraut, doch so imaginär in ihrer Distanz zu mir. Vielleicht bin ich deshalb nur Sender und nie Empfänger? Ach, wie würde ich für eine Antwort von dort draußen den Postboten umarmen!

Neunundzwanzigstens:

Sind Träume Schäume?

Habe von Klara geträumt und sie war mir zärtlich nah. Sehr zärtlich und sehr nah. Gleich nach dem Frühstück legte ich mich wieder hin, um unser Treffen fortzusetzen, doch träumte ich nicht von ihr, sondern von einem Straßenbahndepot, in dem jeder Wagen den Namen “Desire“ trug.

Dreißigstens: Traum-Manufaktur?

Ich möchte Träume selbst herstellen, ganz bewusst, genau nach meinem Geschmack. Doch womit? Die segensreiche Schöpfung des Theophrastus Bombastus von Hohenheim genannt Paracelsus wäre eine Möglichkeit: Laudanum, Geschenk des Schlafmohns, Freund der Dichter. Oder doch lieber Absinth, die grüne Fee? Können Baudelaire, Poe und Wilde irren?

Einunddreißigstens:

Der Untergang.

Die Zeitungen berichteten heute von einem Schiffsunglück. Das riesige Passagierschiff »Titanic« ist auf seiner Jungfernfahrt im Nordatlantik untergegangen. Oh schreckliche Realität, du Feindin jeglicher Vorstellung. Die Angst macht mich zittern, dass Klara vielleicht an Bord gewesen ist.

Zweiunddreißigstens:

Betroffenheit allerorten.

Alle reden nur noch vom Untergang der »Titanic«. Jeder mutmaßt, dass er eines der Opfer kannte, gar mit ihm verwandt oder doch zumindest liiert war. Also doch Klara? Ich wage mich kaum noch in die Stadt, vermute hinter jeder Hausecke einen Eisberg, der mir auflauert, der nur darauf wartet, mich zu zermalmen. Irgendwo klappert ein Kindertretroller. Wetter: 8 Grad bei leichter Bewölkung.

Dreiunddreißigstens:

Was ist Gegenwart?

»Lebe die Gegenwart!«, forderte mich Tante Ruth auf, doch sie hat leicht reden. In ihrer Jugend dauerte die Gegenwart noch einen ganzen Sommer oder länger. Heute steht uns dafür kaum noch ein Tag zur Verfügung, meist weniger. Gestern schien es mir, als sei die Gegenwart schon nach einer Stunde vorbei gewesen. Bald werden uns nur noch Minuten oder gar nur Sekunden bleiben.

Vierunddreißigstens:

Neues von Franz K.

Vetter Franz erzählt überall von seinem Käfer-Traum. Von mir verlangte er gar, ich soll ihn hinfort Gregor nennen. Nicht, dass mir dieser Name nicht gefallen würde, aber mich stören die Fühler an Franzens Hut, die mir jedes Mal übers Gesicht streifen, wenn er mir in seiner ganz eigenen Art bedeutsam zunickt.

Fünfunddreißigstens:

Wieder Bedenken.

Vielleicht hätten mich meine Eltern doch nicht so früh mit Klara verloben sollen. Die Einschulung scheint mir im Nachhinein kein gut gewählter Termin für ein Ereignis mit solcher Tragweite.

Sechsunddreißigstens:

Perspektiven. Oder doch nicht?

Vetter Franz K. empfiehlt mir eine Karriere in der Versicherungsbranche. Dort seien dem exzessiven Tagträumen keine Grenzen gesetzt und Unfälle gibt es immer und überall. Krisensicher sozusagen und nicht nur in Böhmen! Vielleicht komme ich auf diesem Weg nach Wien?

Franz Kafka

Siebenunddreißigstens:

Platzprobleme.

Heute sehr lange nachgedacht: Ein Kopf ist eigentlich gar nicht groß, kleiner zum Beispiel als ein normaler Wassereimer. Und dennoch hat so viel Platz darin, so viel Verzweiflung, so viel Sehnsucht, so viel Leere. Bestimmt mehr als zehn Liter.

Achtunddreißigstens:

Der Fortschritt schreitet fort.

Immer mehr Automobile in den Straßen Prags. Die Züge werden schneller und schneller. Werden wir bald nach Wien fliegen? Wann können wir eine Gewehrkugel überholen? Könnten wir sie abfeuern, geschwind an ihr vorbeifahren, um dann von unserer selbst abgefeuerten Kugel getroffen zu werden?

Neununddreißigstens:

Mutter weiß Rat.

Es ist wunderbar, wenn man noch eine Mutter hat, die einem Trost und Klarheit schenkt. Sie sagte mir, dass ich die Pubertät immer noch nicht ganz überwunden habe, was in meiner Familie väterlicherseits aber häufig der Fall ist. Eigentlich sollte die Pubertät ja keine Krankheit sein, aber wenn man mit 22 immer noch unter ihr leidet, ist sie es vielleicht doch? Sie gab mir als Medizin ein Döschen Lakritzpastillen. Ich soll bei meinen nervösen Anfällen in nächster Zeit immer eine davon ganz langsam lutschen, aber immer nur eine.

Vierzigstens:

Verzweiflung und Verbitterung!

Selbst drei Lakritzpastillen zeigen keine Wirkung – die Erektion verschwindet nicht.

Einundvierzigstens:

Unverhoffter Hoffnungsschimmer.

Unsere Zugehfrau Sharka T. flüsterte mir zu, dass es für mein Problem wirkungsvollere Mittel als Lakritz gäbe. Doch sie war heute sehr in Eile, versprach aber, mir in Bälde zu helfen. Mittwoch kommt sie wieder. Es gibt doch noch gute Menschen in Prag und die Hoffnung ist zu mir zurückgekehrt.

Zweiundvierzigstens:

Ablenkungen und Abschweifungen.

Mit Vetter Franz K. im Kaffeehaus gewesen. Er erzählte mir von einem interessanten Kollegen, einem gewissen Leo Perutz, Versicherungsmathematiker und Kollege bei der Assicurazioni Generali in Triest, jetzt bei Versicherungsgesellschaft Anker in Wien tätig, der weitgereist begonnen hat, fantastische Geschichten zu schreiben. Ich freue mich schon darauf, von ihm zu lesen. Ich lasse mich gerne zwischen die Buchdeckel fallen, um in den Zeilen zu verschwinden.

Dreiundvierzigstens:

Selbsttröstung besser als Selbsttötung.

Immer wenn es mir ganz schlecht geht, und das ist nicht selten der Fall, denke ich an all die Bücher, die ich noch nicht gelesen habe. So viel Literatur, so viele Welten, die noch vor mir liegen! Dazu all die Bücher, die noch nicht geschrieben wurden, die im Entstehen sind, die sich in den Köpfen der Autoren just in diesem Augenblick formen. Wahrlich, ich werde sie lesen, sie alle!

Vierundvierzigstens:

Spieglein, Spieglein an der Wand.

Manchmal, wenn ich alleine bin und kein Spiegel in der Nähe ist, dann fühle ich mich selbstbewusst und stark. Doch schnell nagen die Zweifel an mir und ich suche die Konfrontation mit meinem Konterfei. Ich betrachte das Bild im Spiegel und halte es aus. So lange, bis der Mann im Spiegel seine Faust hebt und von der anderen Seite gegen das Glas klopft.

Fünfundvierzigstens:

Klara ist zurück!

Klara war in England in einem Suffragetten-Camp, wo sie sich zur Frauenrechtlerin hat ausbilden lassen. Sie hat dann mit anderen Suffragetten mit Hämmern und Steinen fast 300 Fenster im Einkaufsviertel im Londoner Westend zerstört. Dabei dachte ich immer, Frauen kaufen gerne ein.

Klara wurde zusammen mit über 200 Frauen festgenommen. Danach saß sie im Londoner Gefängnis Holloway ein. Kein Wunder, dass ich keine Post von ihr bekommen habe. Sie hat mir ein Fläschchen Rasierwasser von Truefitt&Hill aus St. James’s mitgebracht – ein wunderbarer Duft!

Sechsundvierzigstens:

Das Lied der Frauen.

Klara hat mir den »March of Women« beigebracht.

Es ist wunderbar, Mann und Frau, Schulter an Schulter mit ihr am Fenster zu stehen und das Lied ins abendliche Prag hinauszuschmettern:

Shout, shout, up with your song!

Cry with the wind, for the dawn is breaking;

March, march, swing you along,

Wide blows our banner, and hope is waking.

Song with its story, dreams with their glory Lo!

they call, and glad is their word!

Loud and louder it swells,

Thunder of freedom, the voice of the Lord!

Long, long -- we in the past

Cowered in dread from the light of heaven,

Strong, strong -- stand we at last,

Fearless in faith and with sight new given.

Strength with its beauty, Life with its duty,

(Hear the voice, oh hear and obey!)

These, these -- beckon us on!

Open your eyes to the blaze of day.

Comrades -- ye who have dared

First in the battle to strive and sorrow!

Scorned, spurned -- nought have ye cared,

Raising your eyes to a wider morrow,

Ways that are weary, days that are dreary,

Toil and pain by faith ye have borne;

Hail, hail -- victors ye stand,

Wearing the wreath that the brave have worn!

Life, strife -- those two are one,

Naught can ye win but by faith and daring.

On, on -- that ye have done

But for the work of today preparing.

Firm in reliance, laugh a defiance,

(Laugh in hope, for sure is the end)

March, march -- many as one,

Shoulder to shoulder and friend to friend.

Siebenundvierzigstens:

Gravierende Veränderungen.

Klara ist begehrenswerter denn je, jedoch fürchte ich manchmal ihre Nähe. Sie ist so rigoros, so fordernd, so anstrengend. Sollte das der Vorgeschmack auf unsere Ehe sein?

Achtundvierzigstens:

Schmerzliche Entfremdung.

So geht denn meine Zukunft dahin. Keine Geborgenheit in Aussicht, kein trauter Herd der meiner harrt. Als Mann an der Seite einer Suffragette wäre meine Überlebenschance wohl gleich Null. Da entscheide ich mich lieber für die vertraute Melancholie meiner Einsamkeit.

Neunundvierzigstens: