cover image

Über dieses E-Book

Schottland, 1847: Der ehrgeizige Dr. Reilly Stanton, Marquis von Stillworth, verlässt London, um auf der abgelegenen Insel Skye eine Stelle als Arzt anzunehmen. Er ist fest davon überzeugt, dem rauen Klima und den nicht weniger rauen Dorfbewohnern zu trotzen, um seiner Verlobten zu beweisen, dass er mehr als ein adliger Taugenichts ist. Doch dass die größte Herausforderung dabei Miss Brenna Donnegal sein wird, konnte er nicht ahnen …

Die schöne Lady mit den flammend kastanienroten Locken und dem genauso feurigen Willen hat die Rolle als lokaler Arzt von ihrem Vater geerbt und ist alles andere als begeistert, dass ausgerechnet dieser Städter ihre Stelle und das Cottage übernehmen will. Wäre doch gelacht, wenn sie den arroganten Marquis nicht mit ein paar Tricks loswerden könnte. Solange sie das überhaupt noch will …

Impressum

dp Verlag

Erstausgabe 2001
Überarbeitete Neuausgabe März 2020

Copyright © 2022 dp Verlag, ein Imprint der dp DIGITAL PUBLISHERS GmbH
Made in Stuttgart with ♥
Alle Rechte vorbehalten

E-Book-ISBN: 978-3-96817-107-4
Taschenbuch-ISBN: 978-3-96087-822-3

Copyright © 2001 by Meggin Cabot
Titel des englischen Originals: Lady of Skye

Alle Rechte vorbehalten, eingeschlossen dem Recht auf Wiedergabe im Ganzen oder in Teilen in jeglicher Form.
Diese Ausgabe wurde veröffentlicht durch eine Übereinkunft mit dem originalen Herausgeber, Pocket Books, ein Teil von Simon & Schuster, Inc., New York.

Übersetzt von: Katharina Radtke
Covergestaltung: Rose & Chili Design
unter Verwendung von Motiven von
depositphotos.com: ©stillfx
shutterstock.com: ©Daniel_Kay
periodimages.com: ©VJ Dunraven Productions
Korrektorat: Sofie Raff

Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Sämtliche Personen und Ereignisse dieses Werks sind frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten mit real existierenden Personen, ob lebend oder tot, wären rein zufällig.

Abhängig vom verwendeten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

Unser gesamtes Verlagsprogramm findest du hier

Website

Folge uns, um immer als Erste:r informiert zu sein

Newsletter

Facebook

Instagram

Twitter

YouTube

dp Verlag

 
 
 
 

Für Benjamin

 

Die Autorin dankt Jennifer Brown, Melissa Ehman, Laura Langlie und Amy Pierpont für ihre Unterstützung bei der Arbeit an diesem Buch.

1.

Lyming, Schottland

Februar 1847

Der Fährmann war tot.

Daran bestand kein Zweifel. Der Kerl hatte keinen Puls. Seine Haut fühlte sich an wie Eis. Seine Pupillen waren geweitet, seine Augen glasig und sein Blick starr. Reilly Stanton hätte keine Approbation gebraucht, um zu erkennen, dass dieser Mann nicht mehr unter den Lebenden weilte.

Aber Reilly war auch nicht derjenige, der davon überzeugt werden musste. Sondern der runzlige Fischer, der sich neben ihm hinuntergebeugt hatte, und einige Zweifel zu hegen schien.

„Also, was fehlt ihm denn?“, fragte der alte Mann. Sein Atem verdampfte sofort in der kalten Winterluft.

„Aye“, murmelten einige seiner Kollegen, die alle gekommen waren, um auf die Leiche zu starren. Und auf Reilly, der sich unklugerweise dazu entschieden hatte, dem ertrinkenden Mann in das eisige Wasser hinterher zu stürzen.

„Ich fürchte“, begann Reilly und hob seinen triefenden Kopf von dem ebenso durchnässten Brustkorb des Toten, „dass er uns verlassen hat.“

„Verlassen?“ Der Älteste der versammelten Fischer blinzelte zu ihm herab. „Was meinen Sie mit verlassen?“

„Nun, er ist entschlafen.“ Weil er die ausdruckslosen Gesichter um sich herum bemerkte, versuchte Reilly es erneut. „Verschieden.“

Das Wort verschieden hatte bei den Angehörigen von Reillys Patienten in Mayfair immer bestens funktioniert. Es war jedoch offensichtlich, dass seine Feinfühligkeit bei diesen Burschen hier vergebens war. Obwohl er Schwierigkeiten hatte, deutlich zu sprechen, weil seine Zähne vor Kälte klapperten, presste Reilly hervor: „Ich fürchte, Ihr Freund ist tot.“

„Tot?“ Der alte Mann wechselte ungläubige Blicke mit seinen Kameraden. „Stuben is’ tot?“

Reilly rappelte sich auf seine Knie hoch – das war kein leichtes Unterfangen, denn seine einst schönen Kniehosen waren wegen des gefrorenen Salzwassers, mit dem sie durchtränkt waren, ganz steif – und blickte sehnsüchtig zu dem Wirtshaus. Es sah zumindest aus wie ein Wirtshaus. Es war das erste Gebäude in der Nähe des Piers, an dem sie jetzt standen, und durch den Nebel konnte Reilly sehen, dass ein Schild schaukelnd über der Tür hing und in den Fenstern warme, einladende Lichter flackerten. Ein Wirtshaus, ein Freudenhaus – Reilly war egal, was es war, solange er bald hineinkam, um wieder trocken zu werden und sich an einem Feuer zu wärmen, vorzugsweise mit einem Glas Whisky in der Hand.

Aber zuerst musste er sich natürlich um den toten Fährmann kümmern.

„Aber das kann nicht sein“, beharrte der zahnlose Fischer. „Stuben kann nich’ tot sein. Er is’ noch nie gestorben.“

„Tja, das hat das Sterben so an sich, nicht wahr?“ Reilly brachte ein verständnisvolles Lächeln zustande. „Wir tun es für gewöhnlich nur einmal.“

„Nich’ Stuben.“ Rings um die Leiche nickten ein paar zottelige graue Köpfe eifrig. „Er’s schon oft untergegangen, das is’ Stuben, und bis jetzt isser noch nie gestorben.“

„Nun.“ Reilly versuchte, sich vorzustellen, wie einige seiner fachkundigeren Kollegen – Pearson zum Beispiel mit seiner allgegenwärtigen Zigarre oder Shelley mit dem lächerlichen Spazierstock mit Silbergriff, den er gar nicht brauchte – auf dem verlassenen Pier standen und versuchten, diesem bunten Haufen die Semantik des Todes zu erörtern. Und daran scheiterten.

Tja, Pearson und Shelley hatten zu viel gesunden Menschenverstand, als dass sie sich für eine solche Aufgabe verpflichtet hätten. Sie hatten zu viel Verstand und waren auch nicht im Entferntesten so blauäugig oder gutgläubig wie Reilly mit seinem Elan.

Er sagte: „Nun, meine Herren, ich fürchte, diesmal hat er es nicht geschafft. Mein Beileid zu ihrem Verlust. Aber er war offensichtlich angetrunken –“

Das war natürlich eine schamlose Untertreibung. Der Fährmann war so sturzbesoffen gewesen, dass Reilly beinahe gefragt hätte, ob es nicht ein anderes Boot gäbe, das er anheuern könne, um sich übersetzen zu lassen. Aber in letzter Minute hatte er sich zurückgehalten. Was war das Schlimmste, hatte er sich gefragt, was bei einem betrunkenen Fährmann passieren konnte? Dass das Boot auf Grund laufen oder, schlimmer noch, sinken könnte?

Dann würde er in den eisigen, rauen Fluten vor der Küste der schottischen Highlands ertrinken. Na und? Es war immerhin nicht so, als hätte er irgendetwas, wofür es sich zu leben lohnte. Christine, die noch in London war, würde hören, dass er ertrunken war, und in dem Wissen leben müssen, dass Reilly Stanton bei dem Versuch gestorben war, ihre Liebe zu gewinnen …

Als der törichte Fährmann allerdings beim Andocken den Halt verloren hatte, ausgerutscht und ins Wasser gefallen war, hatte Reilly nicht an seine eigene Sicherheit gedacht, geschweige denn daran, was Miss Christine King davon halten würde. Ohne zu zögern hatte er sich in das eisige Meer gestürzt und den alten Mann – der so schwer gewesen war wie ein nasser Sack – ans Ufer gezogen.

Erst jetzt, als er klatschnass am Pier stand und schlotterte wie ein Hund, kam es Reilly in den Sinn, dass er eine weitere wunderbare Gelegenheit verpasst hatte, Christine bereuen zu lassen, was sie getan hatte. Er war einem romantischen Tod so nahe gewesen! Er konnte die Damen in Mayfair schon fast hören: „Liebes, hast du es schon gehört? Der junge Dr. Stanton – der achte Marquis von Stillworth, du weißt schon – ist bei dem Versuch, einem anderen Mann das Leben zu retten, in der Wildnis der Hebriden gestorben. Ich kann mir nicht vorstellen, was sich diese herzlose Christine King dabei gedacht hat, so einem Mann einen Korb zu geben. Sie muss verrückt gewesen sein. So ein aufopferungsvoller, nobler Gentleman … und auch gutaussehend, wie man hört. Das arme Mädchen ist vor Kummer ganz außer sich.“

Tja, er hatte es zweifellos verhunzt. Und weil der alte Trottel ihm trotz all seiner Bemühungen einfach weggestorben war, konnte Reilly noch nicht einmal nach Hause schreiben und – ganz beiläufig, natürlich – erwähnen, wie es ihm gelungen war, am ersten Tag seiner Anstellung jemandem das Leben zu retten, verdammt noch mal.

Wann würde sich sein Glück endlich wenden?

„Mein Beileid wegen Mr Stuben“, sagte Reilly zu den Freunden des Fährmannes, „aber er hat sicher nichts mehr gespürt, als er von uns ging, wenn das ein Trost ist. Er war ziemlich betrunken. Wenn es Ihnen also nichts ausmacht, meine werten Herren, mich friert und ich bin durchnässt, daher würde ich gerne aus diesem Wind herauskommen …“

„Daran liegt’s.“ Mehrere ergraute Köpfe wackelten. „Bringt ihn aus diesem Wind raus. Jemand soll Miss Brenna holen.“

„Schon erledigt“, versicherte ihnen ein zahnloser Herr. „Hab’ gleich den Burschen nach ihr geschickt, als ich gesehen hab’, dass Stuben untergegangen is’.“

„Guter Junge.“ Der älteste Fischer seufzte. „Also, ich nehme seinen Kopf, du seine Füße. Bereit? Jawohl.“

Reilly stand im bitterkalten Wind, der die Luft um ihn herum mit salziger Gischt erfüllte. Runzlige Hände griffen nach dem Körper des Fährmannes und hoben ihn an. Dann bewegte sich die Prozession mit feierlichen Gesichtern unerträglich langsam auf das nächstgelegene Gebäude zu, von dem Reilly innig gehofft hatte, dass es ein Wirtshaus sein möge.

Reilly, der allein auf dem Steg zurückgeblieben war, sah sich um. Das Fährboot wurde von Wind und Wellen hin- und hergeworfen und prallte mit einem dumpfen Geräusch seitlich gegen den Anlegesteg. Seine Taschen und sein Koffer waren noch an Bord, aber da er der einzige Passagier gewesen war, war das alles – abgesehen von den leeren Flaschen des Fährmannes, die polternd über das Deck rollten. Außer den Freunden des Toten und den lärmenden Möwen, die über ihm durch die Lüfte segelten, war niemand in der Nähe. Reilly hatte nicht wirklich damit gerechnet, dass ihn jemand in Empfang nehmen würde, denn die Verständigung mit dem Festland war nun mal eine Sache für sich. Aber er hatte gedacht, dass vielleicht zumindest jemand kommen würde, um ihm seine Taschen abzunehmen …

Na ja, was soll’s. Es war schließlich jemand gestorben. Er vermutete, dass seine Taschen auf dem Boot vorerst gut aufgehoben wären. Er schlang seinen Umhang um sich – obwohl das vereiste Material seinen Körper kaum vor dem Wind zu schützen vermochte – und holte den Toten mit seiner Gefolgschaft ein. Sie waren auf dem Weg zu dem einzigen Gebäude, das er im Nebel erkennen konnte. Und in diesem Gebäude schien es zumindest ein Feuer zu geben, wenn man von den Lichtern in den Fenstern ausging.

Reilly schloss sich dem Marsch der Fischer an. Als einer von ihnen über Müdigkeit klagte, sprang er ein und hielt den Kopf des Toten.

Dann trat ein anderer der alten Männer beiseite – derjenige, der seine Brust umklammert hatte – und plötzlich hielt Reilly nicht nur den Kopf, sondern auch den Oberkörper des Leichnams.

Dann zog sich ein dritter Fischer zurück. Ein besorgniserregender Hustenkrampf hatte ihn überkommen, der seinen ganzen Körper erschütterte. Es dauerte nicht lange, bis Reilly sich den Fährmann über den Rücken geworfen hatte und dessen ganzes Gewicht trug, während von Stubens Freunden anerkennende Anfeuerungsrufe ertönten. Gott sei Dank gab es keine Möglichkeit, dass Christine etwas davon zu hören bekommen würde, dachte Reilly niedergeschlagen. So romantisch sie seinen Tod vielleicht gefunden hätte, an dieser besonderen Situation gab es nichts, was auch nur ansatzweise romantisch war.

Er taumelte auf das Wirtshaus zu. Es war eindeutig ein Wirtshaus, das konnte er jetzt erkennen, obwohl der Name auf dem vom Wind zerbeulten Schild – The Tortured Hare – nicht sehr vielversprechend klang. Aber sobald die Tür aufgerissen wurde, schlug Reilly ein Schwall warmer und nach Bier duftender Luft entgegen. Zu seiner Erleichterung stellte er fest, dass es im Tortured Hare zumindest warm und trocken war und dort immer noch ausgeschenkt wurde – ganz gleich, was man sonst vielleicht über diesen Ort hätte sagen können.

Und er war auch voller Menschen. Nachdem einer seiner neuen Gefährten verkündet hatte: „Stuben is’ mal wieder ins Meer gestürzt und der hier hat ihn wieder rausgefischt“, ging vor Aufregung ein kollektives Raunen durch den Raum, gefolgt von hektischen Bewegungen: Die Männer hoben eilig ihre Krüge an, um den Frauen Platz zu machen. Diese eilten nach vorne, um ein enormes Brett über mehrere Bänke zu legen, die in der Nähe des Ofens aufgestellt worden waren.

„Leg ihn hierhin“, befahl eine große Frau mittleren Alters in Schürze und Haube, die sogar beinahe sauber waren. „Genau hier, auf den Tisch.“

Reilly kam der Aufforderung nach, obwohl „Tisch“ nicht das Wort war, das er gewählt hätte, um die behelfsmäßige Konstruktion zu beschreiben, auf die er den kalten, leblosen Körper legte. Der Mann, der einst als Stuben bekannt gewesen war, hatte kaum das harte Brett berührt, als die Frau sich eilig daranmachte, seine durchnässten Kleider aufzuknöpfen, wobei sie jedem, der in Hörweite war, Befehle zurief.

„Flora, hol eine Flasche Whisky. Oben im Schrank sind Decken, Maeve. In der Spülküche steht auf dem Feuer ein Topf mit Wasser, Nancy. Hol ihn und bring dazu ein paar Lumpen. Hat jemand Miss Brenna hergerufen?“

„Ich habe den Jungen zu ihr geschickt“, versicherte ihr einer der Fischer.

„Gut“, sagte die Frau.

Schon wieder Miss Brenna? Reilly fragte sich, wer zum Teufel diese Miss Brenna war. Sie hatte einen besonders hässlichen Namen, wenn es nach Reilly ging, und diese Meinung wurde von seinen Freunden Pearson und Shelley geteilt. Zusammen hatten sie Brenna einmütig zum scheußlichsten Frauennamen der englischen Sprache erklärt, vielleicht mit der Ausnahme von Megan. Es war so gut wie sicher, dass jede Frau, die auf den Namen Brenna getauft worden war, mit einem Doppelkinn, übermäßig großen Vorderzähnen und einem pferdeähnlichen Antlitz gestraft sein musste. Darin waren sie zumindest übereingekommen. Und im Laufe ihrer zugegebenermaßen nicht sehr wissenschaftlichen Untersuchung zur Bestätigung ihrer Theorie war diese Ansicht bisher nicht widerlegt worden.

Der Fährmann wurde seiner Kleider entledigt, bis er vollkommen nackt dort lag, vor den Augen aller, die sich zufälligerweise gerade im Tortured Hare befanden. Wie Reilly bemerkte, waren darunter auch die Angestellten des Wirtshauses: Es waren allesamt Frauen und einige von ihnen schienen erstaunlich jung zu sein. Noch erstaunlicher war, dass diese jungen Damen nicht im Geringsten schockiert über den Anblick des Leichnams wirkten oder darüber, dass er unbekleidet war. Selbst, als Stuben anschließend die Demütigung zuteilwurde, in heiße Lumpen aus einem Topf mit dampfendem Wasser gewickelt zu werden, den die junge Frau namens Nancy hielt, würdigte keines dieser abgebrühten Highland-Mädchen den Toten auch nur eines zweiten Blickes.

„Ähm“, begann Reilly. Er hatte das Gefühl, etwas sagen zu müssen, als das Zähneklappern schließlich so weit nachgelassen hatte, dass er wieder sprechen konnte. Zu diesem Zeitpunkt war der tote Mann schon beinahe von Kopf bis Fuß mit heißen Tüchern bedeckt worden.

Die Frau – sie war offensichtlich die Inhaberin des Wirtshauses – warf ihm einen einzigen Blick zu. Dann blaffte sie: „Maeve, steh da nich’ so dumm rum. Sieh zu, dass der Herr aus den nassen Kleidern raus und unter eine Decke kommt.“

Reilly blickte beunruhigt zu der sehr beherzten jungen Dame, die auf ihn zukam. Er trat eilig einen Schritt zurück, hob beide Hände und rief: „Ähm, nein, nein. Das ist nicht – ich meine, es geht mir gut. Wirklich. Ich glaube nur, dass jemand Ihnen sagen sollte, gnädige Frau, dass dieser Mann dort –“

Aber Reilly, der Schottland bisher nur für gelegentliche Jagdausflüge bereist und dabei wenig oder gar keinen Kontakt zu den Einheimischen gehabt hatte, war schlecht darauf vorbereitet, sich der unbeirrbaren Entschlossenheit eines gälischen Dienstmädchens zu erwehren. Im Handumdrehen hatte Miss Maeve erst seinen Umhang und dann seinen Mantel ergriffen und zerrte ihm beides in einer Art und Weise vom Leibe, die ihn vermuten ließ, dass sie es durchaus gewohnt war, widerwillige Gäste auszuziehen … und er hatte auch eine allzu genaue Vorstellung davon, zu welchem Zweck sie das für gewöhnlich tat.

Reilly konnte sich nur gerade so davon abhalten, handgreiflich zu werden. Er sah keine Möglichkeit, Maeve von ihrem Ziel abzubringen. Sie schien ihn so splitternackt ausziehen zu wollen wie die Leiche, die vor ihnen lag. Plötzlich befand er sich auf der anderen Seite des Raumes, weil er buchstäblich in die Ecke gedrängt worden war. Seine Weste und sein Hemd waren ebenso wie sein Umhang und Mantel verschwunden, und ein paar sehr entschlossene Finger machten sich an dem Latz seiner Kniehosen zu schaffen …

„Das genügt vollkommen, denke ich“, sagte Reilly und packte die Handgelenke des Mädchens.

Maeve sah blinzelnd zu ihm hoch. Ihr Gesichtsausdruck war überhaupt nicht so, wie er erwartet hatte. Statt beschämt schaute das Dienstmädchen äußert kokett drein. „Sie hat gesagt, ich soll Sie aus Ihren nassen Sachen holen“, erinnerte sie ihn.

„Ja“, sagte Reilly. „Nun, gegenwärtig möchte ich aber meine Hosen anbehalten, wenn es Ihnen nichts ausmacht.“

„Ich denke nicht, dass Sie das machen sollten“, sagte Maeve. „Sie werden sich sonst eine Mandelentzündung holen.“

„Oder das rheumatische Fieber“, rief eine weitere Frauenstimme.

Erst dann bemerkte Reilly, dass die junge Nancy, das Mädchen, das geschickt worden war, um heißes Wasser für den Fährmann zu holen, zurückgekehrt war und sie beide mit gespannter Aufmerksamkeit beobachtete.

„Genau“, sagte Maeve standhaft. „Oder das rheumatische Fieber. Sie wollen doch kein rheumatisches Fieber bekommen –“ Maeves Blick schweifte über seinen nackten Brustkorb. „Es wär’ schade um so einen stattlichen jungen Mann.“

Reilly, der jetzt vollkommen überzeugt davon war, in einem Irrenhaus gelandet zu sein, zog kräftig an Maeves Handgelenken, sodass sie wieder auf den Beinen stand. Dann zerrte er ihre Finger von seinem Hosenbund weg und bewahrte so das bisschen Würde, das ihm noch geblieben war.

„Das werde ich riskieren“, sagte er und drängte Maeve entschlossen von sich weg.

Jetzt, wo Reilly nur noch mit durchtränkten Stiefelhosen und ebenso nassen Stiefel bekleidet war, erkannte er, dass seine Befürchtung, vor dem ganzen Dorf entblößt zu werden, unbegründet gewesen war: Niemand außer Maeve und Nancy schenkte ihm auch nur die geringste Beachtung. Die Stammgäste des Tortured Hare schienen den Inhalt ihrer Bierkrüge interessanter zu finden als den halbnackten Mann in der Ecke und auch deutlich faszinierender als den vollkommen nackten, der auf dem Tisch in der Mitte des Raumes lag.

Zumindest alle außer der Inhaberin der Schenke. „Wach auf. Wach jetzt auf, Stuben“, forderte sie den Fährmann auf.

Reilly war von der beharrlichen Weigerung der Frau, sich das Offensichtliche einzugestehen, sonderbar bewegt und sagte behutsam: „Gnädige Frau, es betrübt mich, Ihnen das mitteilen zu müssen, aber die Wahrheit ist, dass Mr Stuben tot ist.“

Die Frau erstarrte. Sie hielt noch ein heißes, dampfendes Tuch in den Händen, das sie gerade über den Unterleib des Fährmanns hatte legen wollen. Äußerst erstaunt sah sie Reilly an. „Tot?“, wiederholte sie.

Das Wort schien eine fesselnde Wirkung auf die Gäste der Schenke zu haben. Plötzlich drehten sich alle Köpfe Reilly zu.

„Äh … ja.“ Jetzt, wo es ihm endlich gelungen war, die Aufmerksamkeit beinahe jeder einzelnen Person im Raum auf sich zu ziehen, wurde Reilly sich dessen bewusst, dass er beinahe nackt war. Die Decke, von der vorhin die Rede gewesen war, schien lange auf sich warten zu lassen.

Trotzdem hatte er eine Pflicht zu erfüllen, und das würde er auch tun.

„Ja, gnädige Frau“, fuhr er fort. „Tot. Er hat keinen Puls und er hat nicht einen Atemzug getan, seit ich ihn aus dem Wasser gezogen habe. Ich sage es Ihnen nur ungern, aber ich fürchte, zum gegenwärtigen Zeitpunkt sind Ihre Bemühungen, so wacker sie auch sind, vollkommen nutzlos.“

Er bemerkte, dass die Stammgäste des Tortured Hare plötzlich deutlich mehr Interesse an dem Mann auf der Planke zu zeigen schienen, jetzt, wo es schien, dass er nicht mehr am Leben war.

Tatsächlich verrenkten sich einige von ihnen den Hals, um einen besseren Blick auf ihn zu erhaschen. Reilly nahm an, dass ein toter Fährmann ihre Aufmerksamkeit wohl in höherem Maße verdiente als ein lebender.

„Tot?“ Die Frau blickte auf das leichenblasse Gesicht herab. „Stuben? Aber er is’ bisher noch nie gestorben.“

Reilly zog eine Augenbraue hoch. „Ja“, sagte er und fragte sich, ob an diesem Ort eigentlich alle so begriffsstutzig waren, und falls ja, was er dann als einziger Arzt des Dorfes dagegen tun sollte. „Nun, ich fürchte, dieses Mal war sein Sturz leider tödlich. Es tut mir sehr leid, Ihnen schlechte Nachrichten überbringen zu müssen. Ich habe alles Menschenmögliche für ihn getan, aber ich fürchte, das Wasser war einfach zu kalt, und er ist, wie man sieht, schon recht betagt.“

Reilly hielt es für klug, nicht zu erwähnen, wie betrunken der tote Mann zum Zeitpunkt seines Todes gewesen war. Schließlich waren Damen anwesend.

„Er war einfach nicht kräftig genug, um es dieses Mal zu schaffen“, sagte Reilly. „Nun, wenn es Ihnen nicht allzu viel ausmachen würde: Könnten Sie vielleicht jemanden runter zur Fähre schicken, um meine Sachen zu holen? Ich würde mich gern umziehen –“

Er wurde durch den Krach unterbrochen, den die Haustür machte, als sie stürmisch aufschwang und den Blick auf eine große Gestalt freigab. Sie war in einen schweren, dunklen Umhang gehüllt, dessen Enden der schneidende Wind elegant hin und her peitschte.

„Oh, Miss Brenna!“ Die Inhaberin vom „The Tortured Hare“ sah ausgesprochen erleichtert aus. „Gott sei Dank sind Sie hier.“

Reilly sah interessiert zu der Gestalt in der Tür. Das war also diese Miss Brenna, von der alle sprachen! Nun, sie war keine Enttäuschung. Sie war gewiss groß genug, um eine Brenna zu sein. Bei Gott, sie war nur ein paar Zentimeter kleiner als er und er war etwas über eins achtzig groß. Der Umhang verhüllte ihre Figur und die tiefe Kapuze ihr Gesicht, sodass er nicht ganz erkennen konnte, ob auch der Rest zu ihrem Namen passte, aber sie sah allemal aus wie eine Amazone. Pearson und Shelley würden sehr erfreut sein, das zu hören.

„Stuben ist wieder ins Meer gefallen“, teilte ihr einer der Fischer mit. „Und der da hat gesagt, er is’ tot.“

„Wer?“ Die Stimme klang ganz genau so, wie er es von einer Brenna erwarten würde: Die Tonlage war tief und überhaupt nicht feminin. Reilly beglückwünschte sich selbst dazu, so ein ausgezeichneter Frauenkenner zu sein, als eine behandschuhte Hand die Falten des Umhangs teilte, die Kapuze abstreifte …

Und er beinahe einen Herzanfall erlitt. Denn da war kein Doppelkinn und nichts in diesem Antlitz erinnerte auch nur im Geringsten an ein Pferd, außer vielleicht die wilde Mähne von kupferfarbenen Locken, die völlig ungehindert durch Netze oder Kämme von ihrem Kopf herab wallte. Tatsächlich vereinte diese Brenna in sich alles, was anmutig und schön war.

Das konnte er nur zu gut bezeugen, wenn man die Tatsache in Betracht zog, dass das Mädchen unter ihrem Umhang … ja, auch ein zweiter Blick bestätigte es … Herrenhosen trug. Tatsächlich, Herrenhosen, die sich aufreizend an ihre schlanken Oberschenkel schmiegten. Sie waren mit einem dicken Ledergürtel, in dem die Enden eines bauschigen grünen Oberteils steckten, eng um ihre Taille gegurtet. An den Füßen des Mädchens erspähte Reilly ein Paar derbe Lederstiefel.

Das Oberteil und die Stiefel verbargen einige wesentliche Attribute, aber die Hosen waren umwerfend. Reilly hatte noch nie zuvor eine Frau in Hosen gesehen. Christine, da war er sich ganz sicher, wäre eher in einem Kartoffelsack herumgelaufen als in etwas, das auch nur im Entferntesten einem Paar Hosen ähnelte.

Dennoch fand Reilly, dass er diese Neuerung in der Mode voll und ganz befürworten konnte, obwohl sie bisher vielleicht noch nicht in Paris oder London angekommen war. Um die Wahrheit zu sagen, war er von der Wirkung ziemlich überwältigt, sodass es einen Moment dauerte, bis ihm klar wurde, dass das Mädchen erneut sprach.

Wer hat gesagt, dass Stuben tot ist?“, fragte sie nachdrücklich und mit dieser tiefen, dunklen Stimme, die so im Widerspruch zu ihrem weiblichen Äußeren zu stehen schien.

Ein Dutzend Finger zeigten in Reillys Richtung und im nächsten Moment traf ihn plötzlich der Blick aus einem Augenpaar und nagelte ihn fest. Diese Augen hatten nicht nur eine intensive blaue Farbe, sondern waren zweifellos auch die scharfsinnigsten, die er je gesehen hatte. Er hatte keinen Hut, den er sich vom Kopf hätte ziehen können – Maeve hatte ihn sich ebenso angeeignet wie seinen Mantel und seinen Umhang –, daher konnte er nur eine Verbeugung mit seinem Oberkörper andeuten, wobei er sich entsetzlich bewusst wurde, wie wenig Kleidung er noch trug.

„Ich war das“, sagte er. Unerklärlicherweise verunsicherte ihn ihr leuchtender Blick. „Ich habe das gesagt. Ich habe ihn selbst aus dem Wasser gezogen. Er hatte keinen Puls. Er war eiskalt –“

„Wer“, fragte sie und blinzelte einmal, „sind Sie?“

Er bemerkte, dass Miss Brenna im Gegensatz zu allen anderen, denen er begegnet war, seit er die Grenze überquert hatte, keinen schottischen Akzent hatte, sondern, wie es von Gott und der Queen beabsichtigt war, ein schönes, reines Englisch sprach.

„Stanton“, sagte er. „Reilly Stanton. Ich bin hier, um die Stelle anzutreten –“

Sie hatte ihren Blick bereits von ihm abgewandt und schritt auf den Leichnam zu.

„Für die Sie alle per Inserat jemanden gesucht haben.“ Reilly beobachtete, wie sie den toten Mann auf die Seite zerrte und sich dann hinter ihn stellte. „Die Stelle des Arztes. Ich bin hier, um meine Arbeit aufzunehmen.“ Als er feststellte, dass sich die Gesichter nicht erhellten, fügte er eilig hinzu: „Ich bin natürlich vom Royal College of Physicians approbiert. Ich bin auch Mitglied der Universität – Oxford, um genau zu sein – und ich habe in Paris studiert … Hören Sie mal, vielleicht haben Sie mich nicht verstanden, aber dieser Herr ist wirklich ganz und gar –“

Zu seinem äußersten Erstaunen rammte das Mädchen ihre Faust mitten in den Rücken des Leichnams, genau zwischen die Schulterblätter. Und zwar mit genügend Kraft, um ein hohles, dumpfes Geräusch zu verursachen. Wäre der Kerl nicht bereits tot gewesen wäre, hätte es sicherlich fürchterlich geschmerzt.

„Tot“, sagte Reilly. „Es tut mir schrecklich leid. Ich habe alles getan, was ich konnte.“

Genau in diesem Moment öffnete der Fährmann seinen Mund und spie eine Fontäne aus Rum und Meerwasser auf den Boden, wobei er die Stiefel aller, die um ihn herumstanden, bespritzte, einschließlich Reillys.

Der ehemals tote Fährmann blinzelte benommen und brachte ein einfältiges Lächeln zustande. „’S tut mir leid“, sagte er.