Klaus-Dieter Straßburg

Versöhnte Welt

Wie wir Jesu Tod „für uns“ verstehen können

Für Sabine

Einladung zum Lesen

Mit diesem Buch möchte ich Ihnen helfen, ein zentrales Thema des christlichen Glaubens zu verstehen. Denn ein Christ soll nicht nur glauben, sondern auch verstehen, was er glaubt. Und nur wer versteht, was er glaubt, kann auch überzeugend über seinen Glauben Auskunft geben.

Folgende Verstehenshilfen kennzeichnen dieses Buch:

• Eine allgemeinverständliche Sprache im Haupttext.

• Erfahrungsbezogene Texte (kursiv gedruckt) eröffnen einen Dialog des Denkens mit unseren Erfahrungen und Gefühlen.

• Theologische Fachbegriffe (mit * gekennzeichnet) sind in einem Glossar erklärt.

• Alle Wörter der biblischen Sprachen, die für die sprachkundigen Leserinnen und Leser in Umschrift wiedergegeben werden, sind übersetzt.

• Das Sachregister hilft, ein gesuchtes Thema schnell aufzufinden.

• Durch Rückmeldungen und Fragen per E-Mail kann ein Dialog zwischen Lesenden und Autor entstehen. Der Kontakt ist über die Website www.ChristseinVerstehen.de möglich.

Die Reihe „Christsein verstehen” bietet fundierte Informationen auf dem neuesten Stand biblischtheologischer Forschung. Sie richtet sich sowohl an Nichttheologen als auch an Theologiestudierende und ausgebildete Theologen. Der vertiefenden Information dienen Exkurse, die drucktechnisch vom Haupttext abgehoben sind, und die Anmerkungen, die außerdem Quellennachweise enthalten. Beide Textformen können, müssen aber nicht mitgelesen werden. Der Haupttext ist auch ohne sie verständlich.

Ich lade Sie ein zu der atemberaubenden Erfahrung, den Versöhnung schaffenden Tod Jesu am Kreuz im Zusammenhang mit den damit verbundenen Themen biblisch begründet zu verstehen. Für mich jedenfalls war es atemberaubend, als ich erstmals feststellte, wie die verschiedenen Glaubensthemen miteinander zusammenhängen. Ich wünsche auch den Lesenden diesen Einblick in Zusammenhänge, der ein tieferes Verstehen erlaubt, und viele neue Einsichten über das, was unsere Welt im Innersten zusammenhält: dass sie eine mit Gott versöhnte Welt ist.

Kirchen, im März 2020

Klaus-Dieter Straßburg

Inhalt

Einladung zum Lesen

1. Einleitung

1.1. Das unverstandene Evangelium

1.2. Das verständliche Evangelium

2. Biblische Grundlagen

2.1. Die Vielfalt der biblischen Deutungen

2.2. Christi Tod für unsere Sünden

2.3. Christi Lebenshingabe für uns

2.4. Die Versöhnung der Welt mit Gott

2.4.1. Die Versöhnung der Gottlosen

2.4.2. Die Leben schaffende Macht der Versöhnung

2.4.3. Die todbringende Macht der Sünde

2.4.4. Der „fröhliche Wechsel”

2.5. Christus als „Sühnopfer” für unsere Sünden

2.5.1. Christus als „Ort der Vergebung”

2.5.2. Christus als Liebesgabe

2.5.3. Was besagen die Sühne- und Opfervorstellungen?

2.6. Christus als „Lösepreis für viele”

2.6.1. Jesu Dienst im Leben und im Sterben

2.6.2. Jesu Tod als Eröffnung erneuerter Gemeinschaft mit Gott

2.7. Jesu Tod als Teil seines heilvollen Lebens

2.8. Zusammenfassung

3. Systematische Entfaltung

3.1. Gottes Offenbarung

3.1.1. Jesus Christus als Gottes Geschichte

3.1.2. Jesus Christus als Kriterium der Wahrheit Gottes

3.1.3. Exkurs: Zur Frage eines christlichen Absolutheitsanspruchs

3.2. Gottes Liebe

3.2.1. Jesus Christus als Gottes Liebe

3.2.2. Exkurs: Die Dialektik der Liebe

3.2.3. Jesus Christus als der Gerichtete

3.2.4. Exkurs: Christi Stellvertretung

3.3. Gottes Reich

3.3.1. Die Einbeziehung des Menschen

3.3.2. Die Freiheit des Menschen

3.3.3. Exkurs: Die Dialektik der Freiheit

3.3.4. Die Liebe des Menschen

4. Wie wir Jesu Tod am Kreuz verstehen können (Thesen)

5. Schluss: Wie Jesu Tod am Kreuz uns frei macht

Erklärung der Fachbegriffe

Sachregister

Anmerkungen

Literatur

1. Einleitung

Eine versöhnte Welt ist ein Menschheitstraum. Menschen und Völker, die versöhnt sind mit sich selbst, mit ihrer Geschichte, mit den anderen Menschen und Völkern, mit der Natur. Kein Hadern mehr mit sich selbst, kein Aufbegehren gegen das eigene Schicksal, kein zerstörerischer Streit, keine Rücksichtslosigkeit gegenüber den Mitgeschöpfen, kein Unrecht, kein Krieg, keine Vertreibung. Stattdessen streitet man in fairer Weise um die Wahrheit, lernt voneinander, nimmt Dunkles aus der Vergangenheit als Teil der eigenen Geschichte an. Man unterstützt sich gegenseitig im Lebenskampf, teilt die vorhandenen Güter untereinander auf und vernichtet alle Waffen, weil sie nicht mehr benötigt werden. Kurzum: Eine versöhnte Welt wäre von innerem und äußerem Frieden geprägt. Aber eine solche Welt ist eben nur ein Traum, eine Illusion. Keine realistische Möglichkeit. Oder doch? Jedenfalls verschiebt der christliche Glaube eine versöhnte Welt nicht einfach in ein fernes Jenseits, sondern geht von der erstaunlichen Tatsache aus, dass sich die Versöhnung der Welt bereits ereignet hat. Auch dann, wenn sie bei uns, bei den Menschen, denen sie gilt, noch nicht angekommen ist.

Der Apostel Paulus macht in seinem zweiten Brief an die Korinther (2Kor 5,14-21) grundlegende Aussagen über die Versöhnung. Dabei geht es ihm vorrangig um die Versöhnung der Menschen mit Gott, die aber immer ein versöhntes Miteinander der Menschen mit sich bringt. Diese umfassende Versöhnung gründet nach Paulus nicht in einem Akt des Glaubens oder Handelns von Menschen, sondern in einem Akt Gottes: Gott hat durch Jesus Christus die Welt mit sich versöhnt (V 18f). Die Versöhnung hat sich darin ereignet, dass Jesus Christus für die Menschen gestorben und auferstanden ist (V 14f) und an ihrer Stelle „zur Sünde gemacht” wurde (V 21). Dieses geschichtliche Ereignis hat nach Paulus bis heute weitreichende Folgen für die Welt: Die mit Gott versöhnten Menschen lebten zwar bisher unversöhnt mit Gott und miteinander. Als solche unversöhnt Lebenden sind sie aber zusammen mit Jesus Christus „gestorben” (V 14), damit sie fortan ein neues, versöhntes Leben führen, mit dem sie Jesus Christus dienen (V 15.17). Dieses versöhnte Leben besteht in der beständigen Gemeinschaft der Menschen mit Gott und miteinander (V 21).

Dass dieses Leben noch keine umfassende Realität ist, liegt offen zutage. Aber die Versöhnung ist geschehen. Gott hat diese unversöhnte Welt mit sich versöhnt. Dass die Menschen dies nicht wahrnehmen, dass sie es nicht glauben und deshalb unversöhnt weiterleben, steht auf einem anderen Blatt. Wir können nach Paulus nur dazu einladen, sich mit Gott versöhnen zu lassen (V 20). Und wir können versuchen, dieses Versöhnungsgeschehen zu verstehen und den Menschen verständlich zu machen. Ihnen zu erklären: Was hat Jesu Tod am Kreuz mit der Versöhnung der Welt zu tun? Wieso hat sich mit dem Tod des Wanderpredigers Jesus in einem unbedeutenden Winkel der Welt die Versöhnung dieser Welt ereignet? Um diese und viele benachbarte Fragen geht es in diesem Buch.

1.1. Das unverstandene Evangelium

Das Verständnisproblem ist offensichtlich kein Einzelfall. Ein langjähriger Christ gestand mir: „Warum Jesus zu unserer Erlösung gekreuzigt wurde, das habe ich noch nie verstanden. Das konnte mir noch keiner erklären.” Und in einem Gesprächskreis interessierter und gern diskutierender Christinnen und Christen wird von vielen die Meinung vertreten, Jesu Tod sei für das Heil bedeutungslos. Auch im Alten Testament werde doch berichtet, dass Gott Sünden vergibt – lange bevor Jesus lebte und starb. Und auch im Islam sei Allah barmherzig und vergebe die Sünden. Eine Frau dieses Kreises beschreibt ihre Gefühle beim Gedanken an den gekreuzigten Jesus so: „Diesen Gekreuzigten fand ich schon als Kind so furchtbar, das hat mich richtig aufgeregt.” Das verbreitete Unverständnis für die kirchliche Lehre, dass Jesu Kreuzestod erlösende Wirkung habe, ist aber nicht neu. Schon Goethe lässt in seinem Roman „Wilhelm Meisters Lehrjahre” eine Herrnhuter Schwester – er nennt sie die „schöne Seele” – sagen: „Es war mir auch eine Bibelwahrheit, daß das Blut Jesu Christi uns von allen Sünden reinige. Nun aber bemerkte ich erst, daß ich diesen so oft wiederholten Spruch noch nie verstanden hatte. Die Fragen: Was heißt das? Wie soll das geschehen? arbeiteten Tag und Nacht in mir sich durch”1.

Die Fragen stellen sich auch heute noch: Was hat Jesu qualvoller Tod am Kreuz vor 2000 Jahren mit der Vergebung unserer Sünden im 21. Jahrhundert zu tun? Kann Gott nicht auch ohne dieses „Opfer” seines Sohnes Sünden vergeben? Und hat er das nicht gegenüber seinem Volk Israel immer wieder getan, schon lange vor Jesu Leben und Sterben? Was bedeutet es, wenn Jesus als „Gottes Lamm” bezeichnet wird, „das der Welt Sünde trägt”, sie „hinwegnimmt” (Joh 1,29)? Man mag Jesu Tod vielleicht noch als verehrungswürdige Lebenshingabe eines Liebenden verstehen, der konsequent an seiner Zuwendung zu „Zöllnern und Sündern” festhielt, auch als er von den Mächtigen dafür angeklagt wurde, und der sogar den Tod auf sich nahm um seiner Liebe willen. Aber dass ein Zusammenhang bestehen soll zwischen dem Tod Jesu am Kreuz und der Gnade Gottes, der Erlösung der Menschen vor ihm und nach ihm bis zu uns heute – das einzusehen fällt vielen Menschen schwer, und zwar nicht nur kirchenfernen, sondern auch christlich geprägten Menschen mit vielfältigen kirchlichen Erfahrungen.

Auf dem Evangelischen Kirchentag 2017 in Berlin fand eine Veranstaltung über biblische Texte statt, die göttliche Gewalt schildern. Das Podium war besetzt mit der moderierenden Pastorin, einer Theologieprofessorin, einem Theologieprofessor sowie einem Historiker, der ein kulturhistorisches Buch über die Bibel geschrieben hatte. Eine peinliche Situation entstand, als die Moderatorin eine Publikumsfrage nach der Bedeutung des gewaltsamen Kreuzestodes Jesu verlas. Weder die Professorin noch der Professor sahen sich in der Lage, zu der Frage etwas zu sagen. Nach einigen peinlichen Sekunden des Schweigens ergriff schließlich der sich als Agnostiker bekennende Historiker das Wort und sagte ein paar Sätze aus seiner kulturhistorischen Perspektive, ohne allerdings die Frage nach dem Sinn des Kreuzestodes zu beantworten. Daraufhin ging die Moderatorin zur nächsten Publikumsfrage über. Als diese beantwortet war, meldete sich der Theologieprofessor zu Wort, weil er die vorausgegangene Frage nach dem Kreuzestod nicht unbeantwortet stehenlassen wollte. Bezug nehmend auf die in den Evangelien überlieferten verschiedenen Worte Jesu am Kreuz legte er dar, dass es unterschiedliche Deutungen des Kreuzestodes im Neuen Testament gebe. Er fasste aber nicht den Kern dieser Deutungen oder auch nur einer von ihnen zusammen und erklärte auch nicht, wie er selbst Jesu Kreuzestod verstand. So blieb die Frage letztlich doch unbeantwortet.

Es fällt der kirchlichen Theologie und Verkündigung offensichtlich schwer, die entscheidende christologische* und soteriologische* Frage allgemein verständlich und einleuchtend zu beantworten, die Frage nämlich, inwiefern Jesus Christus der „Heiland” oder „Retter der Welt” (Joh 4,42) ist. Mitunter wird die Aussage, dass „Christus für unsere Sünden gestorben ist” (1Kor 15,3), nur formelhaft wiederholt, ohne gedeutet zu werden. In wohl den meisten Predigten werden die entsprechenden biblischen Formulierungen immer wieder ohne Erklärung aufgegriffen und nachgesprochen, ohne dass auch nur der Versuch einer Erklärung gemacht wird. „Sprachlosigkeit herrscht, wenn der zur Formel erstarrte Satz ,gestorben für unsere Sünden’ interpretiert werden soll”2. Zwar gibt es gerade in jüngerer Zeit viele theologische Untersuchungen zum Thema, was zu begrüßen ist. Doch scheint trotz manch guter und weiterführender Ergebnisse der Sinn des Kreuzestodes Jesu nicht so verdeutlicht worden zu sein, dass er allgemein als ein Ereignis verständlich geworden ist, das für das christliche Selbstverständnis entscheidend und unaufgebbar ist.

Dieses Offenlassen entscheidender christologischer Aussagen kann aber dazu führen – und zwar auch bei jenen, welche die biblischen Formeln treu wiederholen –, dass Jesus Christus verstanden wird lediglich als Offenbarer Gottes im Sinne eines großen Verkündigers und ethischen* Vorbilds, mag er auch geglaubt werden als Erlöser, durch dessen Tod Versöhnung mit Gott geschehen ist. Die versöhnende Bedeutung seines Todes am Kreuz wird dann zwar behauptet, hat aber keine Relevanz für das Gottesverständnis. Gott erscheint dann als Schöpfer und als barmherziger, gnädiger Gott, der die Sünden der Menschen vergibt, ohne dass man darüber Auskunft zu geben vermag, wozu Gottes Sohn am Kreuz von Golgatha gestorben ist und was dieser Tod eigentlich für unser Verstehen Gottes bedeutet. Ein Gott aber, den man auch ohne Bezugnahme auf den Kreuzestod seines Sohnes verstehen kann, ist für viele Menschen von dem im Islam verehrten barmherzigen und Sünden vergebenden Gott kaum oder gar nicht mehr zu unterscheiden.

1.2. Das verständliche Evangelium

Die Absicht dieses Buches ist, einer theologisch interessierten Leserschaft über das Fachpublikum hinaus eine wissenschaftlich fundierte Deutung des Todes Jesu am Kreuz zu bieten, auf dass – mit den Worten von Goethes „schöner Seele” – aus der „oft wiederholten” „Bibelwahrheit” eine verstandene Bibelwahrheit werde. Es geht mir um eine Erklärung des Todes Jesu, die nicht nur dem theologischen Experten einleuchtet, sondern in ihren Grundlagen prinzipiell jedem Menschen relativ leicht und ohne diffizile Erörterungen verständlich zu machen ist und die dennoch den wissenschaftlichen Kriterien theologischen Arbeitens entspricht. Die heutigen Verstehensvoraussetzungen müssen dabei berücksichtigt werden, freilich ohne den theologischen Gehalt zu reduzieren oder zu vereinfachen. Deshalb habe ich das Buch so angelegt:

• Der Haupttext bietet zunächst in Kapitel 2 allgemeinverständliche Auslegungen wichtiger Schriftstellen des Neuen Testaments, welche die Grundlage der theologischen Erkenntnis bilden. Daran schließt sich in Kapitel 3 eine ebenso allgemeinverständliche systematische Entfaltung der Konsequenzen an, die sich aus den Schriftauslegungen ergeben. Ich gehe davon aus, dass die theologischen Inhalte sich so ausdrücken lassen, dass sie anschaulich, lebensnah und darum verständlich formuliert werden können.

• In den Haupttext sind Kursivtexte eingestreut. In ihnen habe ich mich von der rationalen Gedankenführung gelöst und erfahrungsorientiert weitergedacht, dabei auch persönlich gesprochen. Die Erfahrungsebene ermöglicht einen anderen Zugang zur theologischen Wahrheit als die rein rational argumentierende Ebene. Sie nimmt unser Erleben ernst und knüpft daran an. Dabei sollen nicht unsere Erfahrungen die biblischen Interpretationen und theologischen Erkenntnisse dominieren. Vielmehr sollen in einem wechselseitigen Prozess unsere Erfahrungen die biblischen Texte und theologischen Erkenntnisse zu erschließen helfen und zugleich die biblischen Texte und theologischen Erkenntnisse unsere Erfahrungen einer neuen Interpretation zuführen.

• In den Exkursen und Anmerkungen wird die wissenschaftliche Diskussion geführt und werden Hinweise auf die verwendete Literatur gegeben. Diese Abschnitte sind für diejenigen relevant, die intensiver in die Materie eindringen und über weitere Fragestellungen nachdenken wollen oder wissenschaftlich interessiert sind. Die Aussagen des Haupttextes sind aber in jedem Fall auch ohne diese Abschnitte verständlich, so dass sie nicht mitgelesen werden müssen. Die in Umschrift1 wiedergegebenen hebräischen und griechischen Begriffe dienen der Verdeutlichung für diejenigen, die der biblischen Sprachen mächtig sind. Die Begriffe sind durchweg ins Deutsche übersetzt.

• Die Thesen in Kapitel 4 versuchen, die Bedeutung des Todes Jesu als Versöhnungsgeschehen in 31 leicht verständlichen Gedankenschritten zu erklären. So soll das zuvor Erarbeitete zu elementarisiert werden. Diese Thesen sind zwar Ergebnis des zuvor Erarbeiteten und fassen es in gewisser Weise zusammen, beantworten aber nicht alle Fragen und bedürfen daher der Begründung, Erläuterung und Vertiefung durch den Haupttext. Der Haupttext bietet zudem eine Vielzahl weiterer Gedankengänge, die in den Thesen nicht berücksichtigt sind. Wer sich schnell informieren möchte, kann die Thesen auch am Anfang lesen und sich dann in einzelnen Kapiteln des Haupttextes näher informieren.

• Am Schluss (Kapitel 5) werfe ich noch einmal einen erfahrungsorientierten persönlichen Blick auf Tod und Auferstehung Jesu unter dem besonderen Aspekt der von ihm ausgehenden Befreiung.

• Die angefügte Erklärung der Fachbegriffe erläutert die verwendeten theologischen Fremdwörter. Diese Begriffe sind im Text bei ihrem erstmaligen Vorkommen und danach immer dann mit einem Sternchen (*) gekennzeichnet, wenn sie länger nicht im im Text vorkamen.

• Das Sachregister schließlich dient dem schnellen Auffinden eines Themas, so dass gesuchte Informationen schneller gefunden und gebliebene Unklarheiten leichter beseitigt werden können.

Der Aufriss zeigt, dass zunächst die biblischen Texte ernst genommen und ausgelegt werden. Um der besseren Lesbarkeit des Textes willen habe ich die biblischen Belegstellen teilweise nur in den Anmerkungen aufgeführt. Dies soll ihr Gewicht aber nicht mindern. Sie sollten vielmehr mitgelesen werden, um die biblische Fundierung der Argumentation nachvollziehen zu können. Ich greife dabei auf die Ergebnisse der exegetischen* Forschung zurück, konzentriere mich jedoch auf einige grundlegende neutestamentliche Bibeltexte und Deutungsmuster. Es werden also nicht alle in Frage kommenden Schriften, Texte und Motive des Neuen Testaments berücksichtigt; dies bleibt der fachwissenschaftlichen Analyse vorbehalten. Auch die exegetische Diskussion kann im Rahmen der hier vorgelegten systematisierenden Gesamtschau nur ansatzweise geführt werden2. Dennoch ist es der Anspruch des biblischen Teils, am Gesamtzeugnis des Alten und Neuen Testaments nicht vorbeizugehen. Der auf die biblische Grundlegung folgende systematische Teil entfaltet das neutestamentliche Zeugnis im Hinblick auf seine theologischen Konsequenzen und greift einige mit der Deutung des Kreuzestodes Jesu besonders eng verbundene Fragestellungen auf. Es liegt in der Natur der Sache, dass auch hier manche Problemstellungen nur angerissen werden können. Wenn dies zum selbstständigen Weiterdenken anregt, haben die Erörterungen ihren Zweck erfüllt.

Wie die biblischen Texte, so sollen auch die gegenwärtigen Verstehensvoraussetzungen und -hindernisse ernst genommen werden. Die neutestamentliche Botschaft soll in ihrer Vielfalt, aber auch in ihrer Einheit so ausgedrückt werden, dass sie uns Heutigen verständlich ist. Dies bedeutet nicht, dass unsere Denkkategorien und Erfahrungen das Kriterium für die Geltung der biblischen Texte darstellen3. Vielmehr müssen umgekehrt die hinter den biblischen Texten stehenden Denkkategorien und Erfahrungen so in unsere Zeit „übersetzt” werden, dass sie unsere Denkgewohnheiten und Erfahrungswelten bereichern und gegebenenfalls korrigieren. Dazu braucht es den Mut, traditionelle Sachverhalte in neuer Weise zur Sprache zu bringen. Denn „die Begegnung mit Jesus ist unter den Koordinaten unserer Zeit zu vermitteln. Jesus heischt nach Gegenwart, Gehör, lebendiger Wahrnehmung. Doch was heißt ,er heischt danach’? Damit, Wege sachgemäßer Neuformulierung zu finden, stehen wir erst am Anfang”4.

Dem Versuch, eine systematisierende Gesamtschau des neutestamentlichen Zeugnisses vom Kreuzestod Jesu vorzulegen, kann man den Vorwurf der Harmonisierung machen. Aber schon jede Exegese* einer einzelnen neutestamentlichen Schrift beinhaltet ein „systematischkonstruktives Moment”5. Die Suche nach der Einheit in der Vielfalt des Zeugnisses ist aber auch deshalb unvermeidlich, weil die Theologie in der Verantwortung steht, die Fragen der Menschen ernst zu nehmen und nach befriedigenden Antworten zu suchen, ohne sich in der Vielheit einzelner Aspekte zu verlieren, die sich möglicherweise auch noch widersprechen. Insofern geht es nicht nur um das „Gesamtverständnis”6 einer neutestamentlichen Schrift hinsichtlich des Kreuzestodes Jesu, sondern auch um „einen Gesamtzusammenhang […], bei dem in einer durchreflektierten Weise zum Ausdruck gebracht wird, was christlicher Glaube ist und beinhaltet”7. Dennoch behält die Vielfalt der neutestamentlichen Deutungen des Kreuzestodes ihr Recht; denn „der Spannungsreichtum ist ein wesentliches Kennzeichen der urchristlichen Überlieferung”8 und „durchaus positiv als Beleg für einen intensiven Sinndeutungsprozeß zu werten”9, in welchem gerade die Spannungen „neue, produktive Deutungsanreize bieten”10. Einheit und Vielfalt der neutestamentlichen Zeugnisse haben somit ihre je eigene Bedeutung. Denn die Einheit der Zeugnisse darf nicht zur Fixierung auf ein allein gültiges Deutungsmodell führen und die Vielfalt nicht zur Beliebigkeit tendieren. Die Wahrheit Gottes ist weder beliebig noch auf das Eine reduzierbar, sondern als die eine Wahrheit nur in der Vielstimmigkeit, Diskussion und gegenseitigen Bereicherung verschiedener Deutungsversuche zu fassen11.

So verstanden besteht das Denken und Reden des christlichen Glaubens darin, das in menschliche Worte zu fassen, was der glaubende Mensch von Gott erkannt hat. Dieses Denken und Reden bleibt aber als menschliches Denken und Reden immer ein fragmentarisches, begrenztes und insofern unvollendetes. Es bleibt vor allem darauf angewiesen, dass Gott sich dem Menschen kundtut. Denn Gotteserkenntnis ist kein Menschenwerk, sondern das Werk des sich offenbarenden Gottes selbst. Menschliche Erkenntnis Gottes bleibt also eine Suche nach besserer Erkenntnis und menschliches Reden von Gott ein korrekturbedürftiger Versuch12. So ist der einzelne glaubende und erkennende Mensch angewiesen auf den beständigen Dialog mit den biblischen Schriften, mit der kirchlichen Tradition und mit den anderen Glaubenden. Auch wissenschaftliche Theologie ist kein Endergebnis, sondern der Versuch, schon jetzt bruchstückhaft das zum Ausdruck zu bringen, was wir einst in vollkommener Weise erkennen werden (1Kor 13,9f.12). Insofern will sie zum selbstständigen Weiterdenken anregen.

Letztlich geht es in dem hier vorgelegten Deutungsversuch darum, das Wirken, Leiden und Sterben Jesu als Liebeshandeln zu erzählen und erzählend zu deuten. Denn Jesu Leben mit seinem Wirken, Leiden und Sterben war wie jedes Menschenleben eine Geschichte, die erzählt werden kann. Dennoch unterscheidet sich das Leben Jesu von Nazareth fundamental von jedem anderen Menschenleben: Die Einzigartigkeit seines Lebens besteht darin, dass sich in Jesu Leben Gottes Leben ereignete (siehe unten Kapitel 3.1.1.). Nur darum hat Jesu Leben mit seinem Leiden und Sterben entscheidende Bedeutung für das Leben eines jeden Menschen. Und nur darum ist es essentiell wichtig, dieses Leben zu erzählen. Ziel muss es sein, erzählend ein Bild Jesu von Nazareth zu zeichnen, das es einem heutigen Menschen erlaubt, in Jesu Wirken, Leiden und Sterben und damit in Gott das Heil für sich selbst zu erkennen.

Damit die Menschen aber in Jesus Christus und in Gott das Heil für sich erkennen können, muss ihnen in anschaulicher, grundsätzlich für jeden Menschen verständlicher Weise die Geschichte Jesu und Gottes erzählt werden. Wer diese Geschichte bezeugt, hat die Aufgabe, den Menschen „auf Augenhöhe” zu erklären, wie er Jesus und Gott in ihrer Geschichte versteht. Dem dient es, dass er seine Deutungsversuche auf die Denkmuster und Fragestellungen der Menschen bezieht, ohne sie von diesen abhängig zu machen. Dem dient es auch, dass Theologinnen und Theologen ihre theologisch verklausulierte Sprache sowie eine pastorale Formelsprache so weit wie möglich überwinden – hinter beidem verbirgt sich mitunter Sprachlosigkeit. Zudem dient es der Vermittlung der Geschichte Jesu und Gottes, dass die diese Geschichte Erzählenden ihre subjektiven Erfahrungen mit dieser Geschichte in die Erzählung einbringen, anstatt sie im Namen einer vermeintlichen Objektivität zurückzuhalten. Die Geschichte Jesu und Gottes selbst legt es nahe, unsere Erfahrungen nicht zu verschweigen, wenn wir diese Geschichte erzählen. Denn diese Geschichte ist Jesu und Gottes Geschichte mit uns Menschen. Sie wirft deshalb ein neues Licht auf unser Leben und unsere Erfahrungen und verändert beides. Unsere Erfahrungen – soweit sie das Geschehen von Golgatha nicht unseren subjektiven Befindlichkeiten unterwerfen und dadurch verfälschen – konkretisieren und veranschaulichen das, was am Kreuz auf Golgatha geschehen ist. Sie tragen dadurch zu einer verständlichen Vermittlung des Evangeliums bei.

Durch den Begriff der „Erfahrung” „wird die Lebenswirklichkeit aufgeboten und in die dogmatische* Aufgabe einbezogen”13. Denn die in der Bibel bezeugte Geschichte Jesu und Gottes kann den Menschen weder treffen, wenn sie seinen Erfahrungen äußerlich bleibt, noch wenn sie von seinen Erfahrungen zum Verstummen gebracht wird. Damit ist das Problem der Bestimmung des Verhältnisses zwischen Offenbarung und Erfahrung beschrieben. Dass beide untrennbar aufeinander bezogen sind, hat Gerhard Ebeling mit Blick auf Martin Luther betont: „Das Zeugnis der Schrift ist nur in Verbindung mit dem je eigenen Zeugnis weiterzugeben. Deshalb geht es bei der eigenen Erfahrung, die zum Schriftzeugnis hinzukommt, nicht bloß um eine nachträgliche Bestätigung (oder auch Widerlegung) der Schrift, sondern um den Fortgang des durch sie Bezeugten. Dazu gehören nicht Lehren allein, sondern lebendige Menschen. Und erst aus diesem Integrationsprozeß gehen das rechte Verständnis der Schrift sowie die wahre Erfassung des eigenen Lebens hervor. Erst dieses beides miteinander ermächtigt zu selbständigen theologischen Aussagen. Darum ist das Beieinander von Schrift und Erfahrung nicht teilbar. Entweder kann man sich auf beides berufen oder man hat keines von beidem für sich. Tertium non datur [ein Drittes gibt es nicht]”14. „Genau das ist es, was von der heiligen Schrift erwartet werden darf oder, mit Luther pointiert zu reden, von dem Namen Christi, in dem die heilige Schrift zusammengefaßt ist: daß dem Menschen seine Situation in der Welt vor Gott zur Erfahrung kommt und sie dadurch zurechtgebracht wird. Darum geht es in allen theologischen Aussagen”15. Um eine Überfremdung des Schriftzeugnisses durch die menschlichen Erfahrungen zu vermeiden, hält Ebeling am „unbestrittenen Primat der Schrift”16 fest und bestimmt religiöse Erfahrung als „Erfahrung mit der profanen Erfahrung”17. Dem Verstehen des Schriftzeugnisses dient auch Friedrich Mildenbergers Ansatz seiner „Biblischen Dogmatik*”. Er will „die Glaubenserfahrung mit den biblischen Texten […] in das Verstehen der biblischen Texte mit einbringen”18 und die theologische Arbeit dadurch in den Dienst einer „einfachen Gottesrede”19 stellen. Während Mildenberger die „einfache Gottesrede” von der wissenschaftlichen Theologie als deren Reflexion streng unterscheidet20, möchte ich sie als Aufgabe der Theologie selbst verstanden wissen im Sinne einer Transformation der wissenschaftlichen Reflexion in die „einfache Gottesrede”, das heißt in eine elementare, erfahrungsgesättigte und darum auch außerhalb des Wissenschaftsbetriebs verständliche Sprache. Diese Elementarisierung der theologischen Reflexion und die Verdeutlichung ihres Erfahrungsbezugs dienen meiner Überzeugung nach auch ihrer eigenen Präzisierung. Vor allem die Erfahrung zwischenmenschlicher Liebe gilt mir als „ein weltliches Vorverständnis des johanneischen Satzes ,Gott ist Liebe’ (1. Joh. 4,8)” und deshalb in besonderer Weise als eines der „weltliche[n] Gleichnisse der Gottesherrschaft”21. Sie ist ein solches Gleichnis freilich nicht per se (durch sich selbst): „Die Welt bringt sich nicht von sich aus dem zur Welt kommenden Gott zur Entsprechung. Es ist vielmehr der zur Welt kommende Gott selbst, der die Welt zu seinem Gleichnis macht”22.

Die „einfache Gottesrede” kann mit den Pfunden des Evangeliums wuchern. Bedingungslos geliebt zu sein, einen Sinn und ein Ziel im Leben zu haben, nicht allein zu sein mit den Problemen des Lebens, begleitet zu sein im Lebenskampf, einen „Retter” an seiner Seite zu haben – das sind Pfunde, mit denen wir wuchern sollten und die wir nicht ängstlich und verschämt zurückzuhalten brauchen. Dennoch muss erklärt werden, was es heißt, dass Jesus aus Liebe ans Kreuz gegangen ist, und was das Kreuz mit den genannten Pfunden zu tun hat. Von einem Gott zu erzählen, der nicht nur mit uns leidet – schon das ist unfassbar viel! –, sondern der darüber hinaus auch für uns leidet, und zwar aus lauter Liebe zu den Gottlosen, zu denen wir alle gehören, und zu den Außenstehenden, Leidenden, Versagern, von der Gesellschaft Abgehängten, das ist ein riesengroßes Pfund. Indem wir von diesem Gott erzählen, sollte deutlich werden, warum es Gottes bedingungslose Liebe nicht geben kann ohne sein Leiden für uns, ohne Jesu Leiden am Kreuz. Im Grunde geht es in diesem Buch um nichts anderes als den fundamentalen Zusammenhang zwischen Gottes Liebe und seinem Leiden, ohne den Gottes Liebe, wie sie in Jesus Christus erschienen ist, nicht verstanden werden kann.

2. Biblische Grundlagen

2.1. Die Vielfalt der biblischen Deutungen

Zunächst ist schlicht festzuhalten, dass es nicht nur eine Deutung des Kreuzestodes Jesu im Neuen Testament gibt. Die biblischen Autoren reden vielmehr in vielfältigen Ansätzen und Überlegungen von diesem Ereignis und suchen es zu deuten, indem sie verschiedene alttestamentliche und hellenistische* Motive zu Hilfe nehmen. Wie das Neue Testament berichtet, war der Tod Jesu am Kreuz für seine Jüngerinnen und Jünger zunächst ein Rätsel, das sie in Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung stürzte und das sie nicht begreifen konnten1. Erst die Erscheinungen des Auferstandenen rissen sie aus ihrer Trauer und Verwirrung heraus, verlangten aber umso mehr danach, das am Kreuz Geschehene zu deuten und zu verkündigen2. In früh entstandenen formelhaften Bekenntnissen3 drückten die ersten Christinnen und Christen ihren Glauben an Jesus Christus aus. Diese Bekenntnisse wurden von den neutestamentlichen Autoren aufgegriffen und in ihre Schriften integriert. Ein frühchristliches Bekenntnis, das von Paulus zitiert wird, liegt uns in 1Kor 15,3b-5 vor:

1Kor 15,3b-5

3b Christus ist für unsere Sünden gestorben gemäß den Schriften,

und er wurde begraben und ist auferweckt worden am dritten Tag gemäß den Schriften,

und er ist Kephas erschienen, danach den Zwölfen4.

Dieses Bekenntnis zeigt, dass der Tod Jesu schon sehr früh5 als ein Tod „für unsere Sünden” verstanden wurde. Auch in späteren Texten taucht dieses „für” immer wieder auf, wie wir im nächsten Kapitel sehen werden. Die Formulierung reichte aber offensichtlich nicht aus, um den Tod Jesu zufriedenstellend zu erklären. Deshalb nahmen die biblischen Autoren andere Formulierungen und Traditionen zu Hilfe, um das schwer Erklärbare verständlich zu machen. Einer dieser Erklärungsversuche greift die Vorstellung der kultischen Sühne auf, wie sie im alttestamentlichen Opferritus vollzogen wurde (z.B. Röm 3,25; 1Joh 2,2). Dieses Sühnemotiv war wirkungsgeschichtlich äußerst bedeutsam und prägt bis heute die Vorstellung vieler Menschen vom Leiden und Sterben Jesu. Es ist aber, wie gesagt, nur eine unter mehreren biblischen Deutungen des Kreuzesgeschehens. Etliche dieser Deutungen kommen ohne irgendeinen Bezug auf das Sühnemotiv aus. Dennoch hat auch dieses Motiv seinen unverlierbaren Gehalt, wie wir in Kapitel 2.5. sehen werden.

Es ist durchaus bemerkenswert, dass die neutestamentlichen Autoren verschiedene Deutungen des Todes Jesu nebeneinander stellen und auch nebeneinander stehen lassen konnten. Man sah offensichtlich keine Konkurrenz zwischen den unterschiedlichen Deutungen und keinen Grund, um die „richtige” Deutung zu streiten. Im Gegenteil, einzelne Motive wurden von späteren Autoren aufgegriffen, weiterentwickelt und mit anderen Motiven kombiniert. Die verschiedenen Deutungen wurden offenbar nicht als einander ausschließende Alternativen empfunden, sondern sollten gerade in ihrer Vielfalt einander ergänzen und auslegen6.

Wir denken oft zu sehr in Schwarz-Weiß-Alternativen: Entweder das eine ist richtig oder das andere. Wenn das eine richtig ist, dann muss das andere falsch sein: Entweder Christus ist das Sühnopfer für unsere Sünden, oder er ist einfach aus Liebe zu den Menschen gestorben. Die einen sagen: Wenn er das Sühnopfer ist, dann ist das mehr als bloße Liebe. Die anderen sagen: Wenn er aus Liebe gestorben ist, dann brauchen wir das Sühnopfer nicht. So bauen wir Mauern, wo gar keine sind. Es ist befreiend zu erfahren, dass das Neue Testament in großer Vielfalt vom Tod Jesu redet. Die biblischen Autoren streiten nicht um ein Entweder – Oder. Sie greifen vielmehr auf, was andere vor ihnen geschrieben haben, lernen daraus, führen es weiter, ergänzen es oder stellen eine neue Formulierung einfach daneben. Keiner hat die Wahrheit allein, sondern die Wahrheit ist so groß, dass sie in vielfältigen Formulierungen ausgedrückt werden muss. Was der eine geschrieben hat, ist gut und richtig, aber es muss ergänzt werden durch das, was der andere schreibt, und das wiederum muss weitergeführt werden durch andere, die nach ihm schreiben werden. Wie wir Menschen verschieden sind, so auch die Zugangsweisen zum Tod Jesu. Jeden berührt ein anderes Bild, eine andere Vorstellung. Nur wenn wir offen sind für verschiedene Zugangsweisen, können wir voneinander lernen. Das schließt nicht aus, dass um die Wahrheit mitunter auch gestritten werden muss, wie Jesus und Paulus es in ihren jeweiligen Auseinandersetzungen auch getan haben. Aber es gehört wohl zur Weisheit, die Gottes Geist verleiht (Eph 1,17; Kol 1,9), unterscheiden zu können (1Kor 12,10), wo ein Streit geboten ist und wo nicht. Die Weisheit des Geistes möge uns lehren, keine falschen Alternativen aufzustellen, wo der Geist der Freiheit weht, und keine Beliebigkeit walten zu lassen, wo eine klare Entscheidung notwendig ist.

2.2. Christi Tod für unsere Sünden

Unter dieser Überschrift fasse ich alle Formulierungen zusammen, die von Jesu Tod als einem Tod „für” oder „wegen” unserer Sünden bzw. Übertretungen oder von seinem Tod „um unserer Sünden willen” sprechen. Als Beispiele seien genannt:

Röm 4,25

[… Jesus Christus, unser Herr],
der dahingegeben wurde um unserer Übertretungen willen und auferweckt wurde um unserer Gerechtsprechung willen.

Gal 1,4

[… der Herr Jesus Christus,]
der sich selbst für unsere Sünden gegeben hat, um uns aus dem gegenwärtigen bösen Äon herauszureißen nach dem Willen unseres Gottes und Vaters.

1Petr 3,18a

Christus hat einmal wegen der Sünden gelitten,
der Gerechte für die Ungerechten,
um euch zu Gott zu führen1.

Was bedeutet dieses „für”, „wegen” oder „um … willen”? Dass Christus nach 1Petr 3,18 „wegen der Sünden gelitten” hat, meint nicht einfach, dass die Sünden die Ursache seines Leidens waren, so wie eine Krankheit Ursache von Leiden sein kann. Vielmehr weist die Formulierung, dass „Christus einmal wegen der Sünden gelitten hat”, hier also etwas Einmaliges wegen aller Sünden geschehen ist (vgl. Röm 6,10; Hebr 7,27; 9,12; 10,10), auf den Zweck seines Leidens hin, der dann auch genannt wird: „um euch zu Gott zu führen”. Das „wegen” hat die Bedeutung eines „um … willen”: Um der Sünden willen, sie eindämmend und besiegend, hat Christus gelitten, so wie man um einer gestörten Beziehung willen bewusst Leid auf sich nehmen kann, wenn man die Angriffe des anderen erträgt und nicht mit gleicher Münze heimzahlt. Man tut das, um die Beziehung zu retten. Wenn das gelingt, kommt das Leiden um der gestörten Beziehung willen all denen zugute, die unter der gestörten Beziehung gelitten haben. Nur um dieser positiven Wirkung willen nimmt man das Leiden auf sich. In diesem Sinne ist auch das „für” zu verstehen: Christus hat in dem Sinne „für unsere Sünden” gelitten, dass es uns als den Tätern der Sünden zum Vorteil gereichte2. Die Formulierung „Christus hat für unsere Sünden gelitten” besagt demnach: Jesu Christi Leiden und Sterben kam nicht Gottes verletzter Ehre zugute, sondern denen, die vor Gott schuldig geworden sind – allen Menschen. Die neutestamentlichen Autoren wollten zum Ausdruck bringen: Das so sinnlos und unbegreiflich erscheinende Leiden und Sterben Jesu war in Wahrheit nicht sinnlos, sondern es diente dem Ziel „unserer Gerechtsprechung” (Röm 4,25), unserer Befreiung vom bösen Äon (Gal 1,4) und unserer Hinführung zu Gott (1Petr 3,18).

Freilich stellt sich sofort die Frage, inwiefern der Tod Jesu Christi den Menschen zugutekommen kann. Wem war denn mit seinem Tod am Kreuz gedient? Wäre es nicht besser für die Menschen gewesen, wenn er weiter gelebt, die Nähe des Gottesreiches verkündigt, Vergebung zugesprochen, Dämonen ausgetrieben und Kranke geheilt hätte? Hat nicht schon der lebende Jesus den Menschen ihre Sünden vergeben, sie also vor Gott gerechtgesprochen – inwiefern dient denn sein Tod „unserer Gerechtsprechung”? Wie kann sein Tod vom Bösen befreien, wenn nirgends deutlicher wird als am Kreuz, wie groß die Macht des Bösen ist? Ist das Kreuz nicht gerade der Sieg des Bösen statt Befreiung davon? Und wollte man schon annehmen, dass Jesu Tod irgendwie seinen Peinigern und Mördern zugutekam, so bleibt doch die Frage: Was hat sein Tod mit den Sündern aller Zeiten zu tun – mit den Menschen, die vor ihm lebten, und denen, die nach ihm lebten, bis hin zu uns? Wir werden diesen Fragen in den folgenden Kapiteln nachgehen.

Wir lieben die Eindeutigkeit, sehnen uns nach Klarheit. In einer komplizierten, unübersichtlichen Welt, in der viele Werte und Normen verschwimmen, vieles, was einmal galt, in Frage gestellt wird, wünschen wir uns vielleicht wenigstens in der Bibel Klarheit. Möge doch wenigstens dies eine klar sein: Christus ist für unsere Sünden gestorben. Aber dieses „für unsere Sünden” ist mehr eine Frage als eine Antwort. Es ist ein erster Hinweis, dass sein Tod irgendetwas mit unseren Sünden zu tun hat. Doch schon stocke ich: Was sind denn eigentlich meine Sünden? Wiegen sie so schwer, dass Christus für sie sterben musste? Bin ich etwa für seinen Tod am Kreuz verantwortlich? Eine solche Vorstellung kann belasten, kann Gewissensnöte hervorrufen. Wie viele Menschen mögen schon unter dieser Vorstellung gelitten haben: Ich bin verantwortlich für diesen qualvollen Tod am Kreuz. Ich bin ein so schlechter Mensch, dass Christus für mich leiden und sterben musste. Er hat das alles nur für mich getan, damit ich erlöst werde. Welch eine Bürde laden wir Menschen auf, wenn wir sie auf diese Weise verantwortlich machen für Jesu Tod am Kreuz! Nein, mit der Formulierung „für unsere Sünden gestorben” ist noch nicht viel gesagt, nur eine erste Andeutung gegeben. Die Fragen fangen jetzt erst an. Es braucht noch Aufklärung, die Mühe der Gedanken, des Nachdenkens über das, was das Neue Testament sonst noch dazu sagt.

2.3. Christi Lebenshingabe für uns

In etlichen Texten stellt das Neue Testament fest, dass Jesus „für uns” gestorben ist. Statt „für uns” können auch andere Formulierungen benutzt werden, die sich fast immer auf eine Vielzahl von Menschen beziehen1. Ich unterscheide diese Formulierungen von den eben besprochenen, die von Jesu Leiden und Sterben „für unsere Sünden” reden2. Ein Teil der biblischen Belege gibt als Motiv des Sterbens Jesu seine oder Gottes Liebe an. Hier seien als Beispiele genannt:

Röm 5,6-8

Christus ist, als wir noch schwach waren, schon zur damaligen Zeit für Gottlose gestorben.

Denn für einen Gerechten wird kaum jemand sterben; aber für den Guten [oder: das Gute] wagt jemand vielleicht sogar zu sterben.

Gott erweist jedoch seine Liebe zu uns dadurch, dass Christus für uns gestorben ist, als wir noch Sünder waren.

Gal 2,20b

[… der Sohn Gottes],

der mich geliebt und sich für mich hingegeben hat.

Joh 10,11b (vgl. V 15)

Der gute Hirte gibt sein Leben hin für die Schafe.

1Joh 3,16

Daran haben wir die Liebe erkannt,

dass jener für uns sein Leben eingesetzt hat.

Auch wir sind es schuldig, für die Brüder das Leben einzusetzen3.

Zunächst ist festzuhalten, dass Jesus nicht „für Gott” starb, sondern „für uns”. Damit ist ausgeschlossen, dass der Sohn Gottes sich in den Tod gab, um den Zorn seines Vaters im Himmel zu besänftigen oder ihm in anderer Weise Genüge zu tun. Nicht Gott ist Nutznießer des Todes Jesu, sondern im Gegenteil die „Gottlosen” sind es (Röm 5,6; Ez 33,11a). Wie aber ist dieses „für uns” zu verstehen?

Drei der soeben zitierten Bibelstellen nennen ausdrücklich Jesu oder Gottes Liebe als Grund für Jesu Tod. Schon die hellenistische* Freundschaftsethik kannte den Gedanken, dass ein Mensch aus Liebe zu seinem Freund für diesen sein eigenes Leben hingibt, um dessen Leben zu schützen und Unheil oder Gefahr von ihm abzuwenden4. Der römische Philosoph Seneca (ca. 1-65 n.Chr.) gründete diese Liebestat auf das Streben des Weisen nach sittlicher Vollkommenheit5. Der neutestamentliche Befund legt jedenfalls nahe, Jesu Tod „für uns” als Liebestat zu verstehen mit dem Ziel, Unheil und Gefahr von den Menschen abzuwenden6. Das gilt auch für die Stellen, an denen von Liebe nicht ausdrücklich die Rede ist. Dass zum Beispiel der gute Hirte Unheil und Gefahr von seinen Schafen abwenden will und sie in diesem Sinne liebt, ist vorausgesetzt. Gerade dadurch unterscheidet er sich vom Lohnknecht, dem an den Schafen nichts gelegen ist und dem es nur darum geht, sein eigenes Leben zu retten (Joh 10,12f). Dass es um Heil und Leben für die Menschen geht, bringt Röm 5,9-11 zum Ausdruck, wo Paulus als Wirkung des Todes Jesu ausdrücklich die Gerechtsprechung der Menschen, ihre Versöhnung mit Gott und Rettung vor seinem Zorn nennt. Das Motiv für Jesu Lebenshingabe ist nicht sein Streben nach sittlicher Vervollkommnung, sondern die Liebe Gottes zu den Sündern (Röm 5,8), die auch dem Sohn Gottes eigen ist (Gal 2,20b) und die im Kreuzestod ihren stärksten Ausdruck findet7.

Diese Liebe aber hat Jesus schon vor seinem Tod vielfach erwiesen, indem er sich den Sündern zugewandt, mit ihnen gespeist und ihnen die Nähe der Gottesherrschaft verkündigt (Mk 2,15 parr; Lk 19,1-10), Kranke geheilt und Sünden vergeben hat (Mk 2,1-12 parr; Lk 7,36-50). Bei alldem scheute er Konflikte mit den religiösen Autoritäten nicht, sondern hielt an seiner Liebe fest, auch als die Machthaber ihn mit dem Tode bedrohten. Insofern war seine Lebenshingabe am Kreuz die konsequente Fortführung dessen, was er gelebt hatte, indem er sich dem Dienst an den Kranken, religiös Verachteten und vor Gott Schuldigen hingab. Mit seinem ganzen Leben einschließlich seines Sterbens diente Jesus den Menschen, um Unheil und Gefahr von ihnen abzuwenden, nämlich das Unheil und die Gefahr eines eingeschränkten, unerfüllten irdischen Lebens und eines dem eschatologischen* Gericht Gottes verfallenen Lebens. Das bedeutet für Jesu Tod am Kreuz, dass dieser nicht isoliert am Ende seines Lebens steht, sondern nur zusammen mit seinem Leben verständlich ist. Sein Sterben war demnach nicht einfach Abbruch oder Scheitern seiner den Menschen dienenden Lebenspraxis, sondern im Abbruch und „Scheitern” derselben ihre konsequente Fortführung und extremste Ausprägung.

Jesu Passion ist historisch die Folge davon, dass sein Heilsangebot abgelehnt wurde. Schon mit dieser Ablehnung beginnt sein Leiden. Was das nach damaligem Verständnis für diejenigen bedeutete, die den Messias nicht als solchen anerkannten, führt Volker Hampel aus: „Nach der alttestamentlichjüdischen Messiaserwartung ist die einzig mögliche Folge solcher Abweisung die Gerichtsdrohung über die Feinde des Messias, das heißt: deren Verdammnis und Vernichtung”8. „Der Messias galt als Herrscher und Richter über die gottlosen Menschen; diese werden ,in seine Hände dahingegeben’, damit er sie richte, strafe und vernichte ([…] vgl. nur syrBar 70,9: ,… und alle {gemeint sind die Sünder und Gottlosen}, die sich {bis dahin} retten konnten … werden in die Hände meines Knechts, des Messias, dahingegeben werden’). Jesus kehrt das Ganze um, indem er die traditionellen Rollen vertauscht. Die Menschen werden nicht in die Hände des Messias gegeben, sondern er in ihre. […] Für seine Zeitgenossen war solches undenkbar. Ein Messiasprätendent*, dem dies widerfuhr, konnte nicht der Messias sein”9. Dass Jesus die Vernichtung der ihn verfolgenden und mit dem Tode bedrohenden Feinde bewusst ablehnte, obwohl er die Möglichkeit gehabt hätte, auf diese Weise seiner Verhaftung zu entgehen, wird ausdrücklich in Mt 26,51-54 vermerkt.

Drei Beobachtungen möchte ich noch anfügen: In Röm 5,8 stellt Paulus fest, dass Gott seine Liebe gegenwärtig durch ein Ereignis der Vergangenheit erweist. Der Apostel sagt nicht: „Gott hat seine Liebe zu uns dadurch erwiesen, dass Christus für uns gestorben ist”, sondern er benutzt das Präsens: „Gott erweist seine Liebe zu uns dadurch, dass Christus für uns gestorben ist”. Das besagt: Gott tut seine Liebe gegenwärtig kund im vergangenen Ereignis des Todes Christi am Kreuz. Wer der Liebe Gottes gewiss werden will, soll nicht so sehr auf andere Ereignisse der Gegenwart oder Vergangenheit blicken, sondern vor allem auf das Ereignis des Kreuzestodes Christi. Das bedeutet nicht, dass es Gottes Liebe nicht schon vorher in der Geschichte Israels und der anderen Völker und nachher in der Kirchen- und Weltgeschichte bis heute gab und gibt. Aber im Kreuzestod Christi kristallisiert sich Gottes Liebe, sammelt und konzentriert sie sich wie ein Lichtstrahl in seinem Brennpunkt10. Alle vergangene, gegenwärtige und zukünftige Liebe Gottes ist in diesem Ereignis erkennbar. Dieser Gedanke ist von erheblicher Bedeutung und wird uns noch beschäftigen.