Bubble

Schrottwelt

Kine lag auf einer Bank auf dem Friedhof und strengte sich mächtig an, nicht ans Schwimmen zu denken. Und sie dachte auch wirklich an was ganz anderes. Sie dachte, dass die Bank in einem hässlichen Kotzgrün gestrichen war, dass der eine Eisenfuß schief stand und sich das ganze Ding dadurch nach vorn neigte. Weil sie deshalb nicht richtig darauf liegen konnte, musste sie sich festhalten, um nicht abzurutschen. Kein Schwein an diesem Scheißort hatte Lust, sie zu reparieren; denn auf einem verwilderten Friedhof wollte wohl sowieso kein Mensch sitzen.

Was, wenn genau das Gegenteil stimmte? Was, wenn hier niemand saß, weil man auf der Bank nicht sitzen konnte? Hatten die darüber mal nachgedacht? Nein. Hatten sie natürlich nicht! In Mottenburg dachte niemand nach. Das war die einzige Stadt auf der Welt, in der die Einwohner nur ein Gehirn für alle hatten. Und die einzige Stadt, die auf die Idee kommen konnte, sich Kotzgrün als offizielle Farbe auszusuchen. Alter Falter, sie hoffte, dass sie alle einfach krepierten … Kine verzog den Mund. Sie konnte den Gedanken fast schmecken: säuerlich und schleimig. Ein köstlicher Gedanke. Und der hatte nichts mit Schwimmen zu tun. Denn daran dachte sie nicht. Überhaupt nicht.

Sie seufzte, drehte sich auf die Seite und griff nach dem Pappbecher mit Kakao, den sie auf den Boden gestellt hatte. Der war inzwischen kalt geworden. Sie trank trotzdem einen Schluck und starrte gleichzeitig die uralten Grabsteine an. Totes Laub hatte sich um sie angehäuft wie um Magneten. Todesmagneten. Schief und moosbewachsen, mit Engeln und Schnörkelschrift.

Schnörkelschrift … Voll peinlich und so typisch Mottenburg. Diese popelige Stadt, die keine Schwimmhalle hätte haben dürfen.

Nie im Leben – oder nie im Tod – stünde auf ihrem Grabstein etwas in Schnörkelschrift. Bloß einen Totenkopf würde sie da haben. Einen Totenkopf und ihren Namen. Kine, sollte da stehen. Oder: Hier ruht Kine. Zwölf Jahre Sklavin. Endlich frei.

Aber bis dahin war sie traurigerweise am Leben, und der Friedhof war der einzige Freiraum, den sie hatte. Hier hatte sie nach der Schrottschule ihre Ruhe. Hier konnte sie liegen, ohne von Kleinhirnen umgeben zu sein, bis sie wieder wusste, wie richtig atmen ging. Das hier war ihre Bubble in der Stadt. Normale Leute hingen nicht gern auf dem Friedhof ab. Die hatten sicher Schiss, dass der Tod ansteckend sein könnte, dass sie bloß einen Grabstein angucken mussten, um wie eine Rosine zu verschrumpeln.

Oder vielleicht hatten sie auch zu viele Zombie-Serien geschaut? Wohl kaum … Leute, die Zombie-Serien guckten, waren nicht so wahnsinnig langweilig.

Kine hatte noch nie Angst vor den Toten gehabt. Die Lebenden waren ihr Problem. Lebende Leute zwangen sie, Dinge zu tun, die sie hasste.

Zum hundertsten Mal versuchte sie, auf Gründe zu kommen, wie sie dem Schwimmen entgehen konnte; aber was auch immer sie sich ausdachte, hatte sie vorher schon mal ausprobiert: Sie hatte geschwänzt. Sie war aus der Schule abgehauen. Sie hatte jede Krankheit aus dem medizinischen Lexikon vorgetäuscht: Akute Kotzeritis, Grippe, Masern, Fieberwahn. Sie hatte sogar gefakt, sie wäre wasserscheu, aber mit der Performance hätte sie nicht gerade eine Rolle in einem Film gekriegt, um es mal so auszudrücken. Was sollte sie also jetzt machen? Von zu Hause weglaufen?

Daran hatte sie schon gedacht. Oft. Einfach abhauen und ein eigenes Leben leben. Machen, was sie wollte, lernen, was sie wollte, und den Rest vergessen. Alle Menschen waren frei geboren, oder etwa nicht?

Aber wo sollte sie wohnen? Wovon sollte sie leben? Sie musste doch was zu essen haben. Und um was zu essen zu kriegen, musste sie zu Hause wohnen, und um zu Hause zu wohnen, musste sie zur Schule gehen. Was war das für eine beschissene Welt, die Kinder zwang, für Essen zu schwimmen?! Gab es für so was nicht das Jugendamt?

Ein blutrotes Blatt segelte vor ihrer Nase Richtung Boden und landete in ihrem Pappbecher. Kurz kämpfte es um sein Leben, bevor es im Kakao ertrank. Kine setzte sich auf und schielte zum Sünder, einem nackten Baum, der sich über sie beugte. Das allerletzte Blatt hatte sich natürlich festgeklammert und nur diesen einen Moment abgewartet, um sie zu vergiften.

Oder vielleicht war es so etwas wie eine Vorwarnung, dass sie im Becken ertrinken würde? Sie dachte nicht ans Schwimmen, wie schon gesagt. Sie war mit ihren Gedanken bei der Krähe, die auf dem Baum saß und ihren Schnabel an einem knubbeligen Ast wetzte. Konnten Krähen schwimmen?

»Aaaaarrgghh!« Kine sprang auf und verpasste ihrem Rucksack einen Tritt. Der flog gegen einen Grabstein, spuckte das Etui aus und landete mit einem Klatsch im gefrorenen Laub.

Beschissener Schrottort! Schrottschule! Schrottwelt! Schrottrucksack! Lieber würde sie den Rucksack aufessen, als in die Schule zu gehen. Ja, den ganzen Rucksack! Auch die schimmelige Brotscheibe in der Außentasche. Die traute sie sich schon seit zwei Wochen nicht mehr aufzumachen.

Sie hatte vorgehabt, das alte Pausenbrot wegzuwerfen, klar, aber das hatte sie auf den nächsten Tag verschoben. Am nächsten Tag hatte sie es vergessen. Noch einen Tag später wollte sie nicht mehr daran denken. Am Ende hatte sie sich gedacht, was auch immer da in der Außentasche lebte, verdiente es, in Ruhe gelassen zu werden. Da konnte inzwischen ein kleiner Dschungel gewachsen sein. Mit bisher unbekannten Lebensformen. Vielleicht hatte sie eine neue Art von Pilz erschaffen, der lebensgefährliche Krankheiten oder so was heilen konnte. Die Zukunft würde ihr dafür dankbar sein. Aber ganz egal, zu was die Leberwurst mutiert war, sie hätte es gut gelaunt verspeist, damit ihr die ganze Schule erspart bliebe.

Die Krähe glitt auf ausgebreiteten Flügeln auf den Boden und landete neben ihrem Rucksack. Sie pickte mit dem Schnabel an ihrem Etui herum. Kine hätte auch die Krähe verputzt. Roh. Mit Federn.

Ihr war schwindelig, wie sie da so stand. Als gäbe es sie eigentlich gar nicht. Nicht richtig. So war das, vor etwas Angst zu haben. Richtige Angst. Dann rückte alles ganz weit weg. Das Blut hörte auf, durch ihren Körper zu fließen, es sickerte einfach in ihre Füße und machte sie leer und schwer. Sie war wie ihr Schulrucksack: ein schlampiger Behälter voller Schimmelpilz.

Das Schlimmste war, dass sie ziemlich gut im Schwimmen war. Keine olympische Hoffnung, zugegeben. Aber sie war nicht die Schlechteste in der Klasse. Auch nicht die Beste, das war das Synchron-Duo. Die beiden waren im Wasser echt crazy, das musste man ihnen lassen. Aber auf alle Fälle konnte sie länger schwimmen als Jarle. Vielleicht …

Der bloße Gedanke an ihn brachte sie zum Kochen. Kack-Jarle. Poser-Jarle. König Jarle, wie er sich nannte. Der King der Gang. In der Gang waren die schlimmsten Leute, die der Planet je ausgebuddelt hatte. Außerdem war er hohl in der Birne, weil er nicht wusste, dass ein Jarl bei den Wikingern so was wie ein Fürst war. Man konnte nicht König und Fürst zur gleichen Zeit sein, aber das raffte so ein Brotgehirn wie der ja nicht.

Wenn jemand es verdiente, hier auf diesem Friedhof zu verrotten, dann war das Jarle. Mottenburg wäre ohne ihn ein besserer Ort gewesen.

Kine trank den Pappbecher in einem Zug aus und bekam das Blatt in den Hals. Sie hustete es hoch und schnaubte es mit dem letzten Rest Kakao wieder aus. Braune Milch tropfte ihr aus der Nase. Ihre Augen brannten.

Sie warf den Becher weg und kickte gegen den Boden, sodass Erde aufflog. Die Krähe hüpfte ein Stück weiter und starrte sie an.

»Was glotzt du so?!« Kine hob ihr Etui auf. Der Reißverschluss war schon lange kaputt, in der Mitte festgehakt, sodass die Buntstifte herausgefallen waren. Sie lagen verstreut im Laub. Kine kniete sich hin, um sie einzusammeln, während sie mit den Tränen kämpfte.

Ihr Knie schlug auf etwas Hartes. Schmerz schoss ihr Bein hoch. Sie stand wieder auf und rieb sich die Kniescheibe. Auf dem Boden, wo sie gehockt hatte, funkelte es. Eine Glasscherbe? Kine trat nach ihr, aber sie saß felsenfest. Sie trat wieder zu. Und wieder. Trat fester zu, bis die Zehen brannten. Es hagelte schwarze Erde und gefrorenes Laub. Sie hoffte, es wäre mehr als nur eine Glasscherbe. Sie hoffte, es wäre etwas richtig Schönes und Teures und dass es in tausend Stück zersprang. In hunderttausend.

»Verfluchter Scheißdreck … Kack …«

Plötzlich wurde ihr klar, dass sie nicht mehr allein war. Sie schaute hoch. Eine alte Frau mit vor Schreck aufgerissenen Augen stand direkt vor ihr. Kine schluckte das letzte Wort hinunter. Ihr Fuß blieb bei einem Tritt in der Luft hängen, als wäre er abgestorben.

Die alte Frau zog die Augenbrauen so hoch, dass es aussah, als wären sie an ihrer Perücke festgeklebt. Und sie hatte keinen Hals. Der Kopf saß direkt auf einem dicken, orangefarbenen Pelzkragen. Es sah aus, als ob ein Fuchs an ihr hochgekrabbelt wäre, um unter ihrem Gesicht zu sterben. Rosa Lippenstift war in die Falten um ihren Mund gelaufen, der sich gerade zum Schimpfen öffnete.

Kine zwang ihren Körper zu reagieren. Sie riss den Rucksack an sich und rannte los. Zum Glück war die Pforte so kaputt, dass sie sie nicht mehr auffummeln musste. Sie brauchte einfach nur durch die Gitterstäbe zu schlüpfen. Flüche wirbelten ihr zischend hinterher, bestimmt viel schlimmere als ihre eigenen. Nicht mal mehr auf dem Friedhof war man in Sicherheit.

Der Kloß in ihrem Hals wuchs beim Laufen. Noah rief ihr aus dem Kaffeewagen auf der anderen Seite der Würgerstraße etwas hinterher. Er hatte ihr wieder den Kakao ausgegeben, aber trotzdem tat sie, als hörte sie ihn nicht. Sie drängelte sich nur an schlecht gelaunten Leuten vorbei. Überall Leute! Hupende Autos. Auf dieser Welt gab es keinen einzigen Ort, wo sie allein sein konnte.

Was hatte da nur in der Erde geglitzert?

Nicht dass es noch eine Rolle spielte, jetzt war es zu spät, um sich darüber Gedanken zu machen. Es würde ihr sowieso nie gehören. Wahrscheinlich zog die durchgeknallte Alte von Fuchsmörderin mit dem Ding ab. Megaungerecht.

Alte Leute brauchten doch nichts mehr; die Glücklichen, die bald starben. Und wenn sie endlich tot waren, konnte sie niemand mehr zwingen aufzustehen, um zum Schwimmen oder zum Singen zu gehen. Wäre sie doch bloß schon alt! Wie viele Jahre waren es noch, bis sie in Rente gehen konnte?

Kine war zwar nicht gerade die Beste in Kopfrechnen, aber bis dahin dauerte es bestimmt noch mindestens fünfzig Jahre. Mit anderen Worten: Keine Chance, dass es noch vor morgen passieren würde.

Der Mantel der Enttäuschung

Kine wachte mit dem Gefühl auf, dass der Weltuntergang gleich um die Ecke lauerte. Ein ganz normaler Tag, mit anderen Worten.

Sie wachte fast immer auf, kurz bevor der Wecker losheulte. Das Gehirn zerrte sie aus reiner Selbstverteidigung aus dem Land der Träume, weil das Klingeln das grausamste Geräusch war, das jemals von einem menschlichen Wesen erfunden wurde. Ein alles durchdringendes Piepen, das immer lauter wurde, je weiter es sich in ihren Schädel bohrte.

Der Wecker war ein Folterwerkzeug aus dem Mittelalter, und sie musste ihn benutzen, weil Mama die Eingebung gehabt hatte, dass man nicht mit dem Handy neben dem Bett schlafen sollte. Und wenn Mama Eingebungen hatte, dann musste einfach die Erde angehalten und gehorcht werden. Mama war wie eine Möwe, kreiste in der Luft und nervte so lange mit schriller Stimme rum, bis sie ihren Willen durchgesetzt hatte.

Das Schlimmste war, dass die Katze sich weigerte, bei ihr im Bett zu schlafen, nur wegen des beschissenen Weckers. Tipsi hatte sich zu Tode erschreckt, als er das erste Mal klingelte, und schlauerweise seitdem einen großen Bogen um das Ungeheuer gemacht.

Kine streckte den Arm unter der Decke hervor, tastete nach der Uhr und schlug auf die Taste. Im Zimmer war es eiskalt. Möwen-Mama hatte so ein Ding gekauft, das die Heizung nachts automatisch runterdrehte. Um Strom zu sparen, sagte sie. Der eigentliche Grund war natürlich, Kines Gehirn so weit runterzukühlen, bis sie schlapp und willenlos wie ein Zombie wurde.

Kine öffnete ein Auge. Das Datumsfeld auf der Uhr zeigte Freitag, den 13. November. Genauso gut hätte das Bild eines Totenkopfes zu sehen sein können.

Der Schwimmunterricht war ein Kloß im Bauch gewesen, doch in der Nacht war er hochgeklettert, ganz bis in den Hals. Und kurz bevor sie daran erstickt wäre, war sie aufgewacht. Kurz vorm Folterwecker. Aber sie hatte wenigstens einen Plan.

Gut, vorher hatte sie auch schon eine Million Pläne gehabt, aber dieser hier war anders. Das hier war der Plan einer Chefin.

Vorher hatte sie immer den Fehler gemacht, Ausreden zu erfinden. Jeder Vollpfosten hätte das durchschauen können, und all ihre Versuche, sich zu drücken, machten die Leute misstrauisch. So konnte das natürlich nichts werden.

Kine setzte sich auf und holte den Brief hervor, der versteckt unterm Kopfkissen lag. Sie hatte ihn gestern Abend geschrieben, und nun sollte er ihr zu einem ganzen Tag Freiheit verhelfen. Sie faltete ihn sorgfältig auseinander und legte ihn aufs Bett. Sollte sie vielleicht zuerst das Bett machen? Nein … Papa würde misstrauisch werden, wahrscheinlich auch glauben, dass mit ihr ernsthaft was nicht stimmte. Alles musste ganz normal aussehen.

Sie schaute nach ihren Klamotten. Die lagen über den ganzen Boden verteilt. Mama nannte das Chaos, Kine hatte aber ein System, das Mama nie begreifen würde. Je näher am Bett, umso sauberer waren die Anziehsachen. Die, die sie gestern angehabt hatte, lagen beim Fußende; die an der Tür waren ungefähr eine Woche alt. Und dann lagen Montag, Dienstag und Mittwoch dazwischen. Volle Kontrolle.

Kine zog sich an, versteckte den roten Rucksack im Schrank und las den Brief noch einmal durch.

 

Papa

Ich hatte einen Albtraum und bin früh aufgewacht. Konnte nicht mehr einschlafen. Bin zur Schule. Doch, habe meinen Badeanzug mitgenommen. Bis heute Nachmittag.

Kine

 

Perfekt. Kurz und sachlich. Das war das Beste. Lange und komplizierte Lügen flogen immer auf, hatte sie mal irgendwo gehört. Und kein Wort davon, sich vor irgendetwas zu drücken. Das hier war ein Zettel von einer gehorsamen Tochter mit einem eingefrorenen Gehirn. Der Albtraum war ein Geniestreich, wenn man sie fragte. Der würde ihr tonnenweise Mitgefühl bringen. Sie würde Papa leidtun. Arme Kine, die nicht schlafen konnte und trotzdem tapfer in die Schule ging.

Kine ignorierte den Stich von schlechtem Gewissen, legte sich auf den Bauch und robbte unters Bett. Dort entdeckte sie, dass nicht alles, womit Mama rumnervte, total falsch war. Staubsaugen war zum Beispiel gar keine so schlechte Idee. Das sollte sie irgendwann einmal ausprobieren.

Papa rief von der Küche aus nach ihr. Erst einmal, dann noch einmal. Nach einer Weile hörte sie die Treppe knarren. Dann klopfte er an die Tür.

Diesmal lief alles nach Plan, Papa war so leicht berechenbar, dass es schon lächerlich war. Kine gönnte sich ein Lächeln, was dazu führte, dass sie fast eine Staubflocke eingeatmet hätte. Die blieb gefährlich dicht vor ihrem Mund liegen.

»Kine?«

Sie lag mäuschenstill, als die Tür aufging. Von dort, wo sie lag, konnte sie nur seine Füße sehen. Die kamen näher, Schritt für Schritt. Er trug Wollsocken, weil der Boden in der Küche immer eiskalt war. Die eine hatte ein Loch in der Ferse. Papa hatte das Problem mit Strümpfen unter den Socken gelöst.

Er blieb vor dem Bett stehen. Kine hörte, dass er den Brief nahm. Die Staubflocke kitzelte an den Lippen, und sie hielt die Luft an. Nur noch wenige Sekunden, und dann war sie auf der sicheren Seite. Er würde zur Arbeit fahren, und Kine konnte den ganzen Tag chillen, Spiele spielen und Cornflakes essen.

Papa machte einen Schritt rückwärts. Gut. Dann war er wieder auf dem Weg nach draußen. Sie schloss die Augen und betete still, dass er sich beeilte. Sie öffnete sie wieder und starrte direkt in sein Gesicht. Kine heulte vor Schreck auf und schob sich weiter zur Wand. Alter Falter, so musste sich Tipsi fühlen, wenn der Staubsauger im Anmarsch war.

Papa streckte seinen Arm unters Bett und packte sie am Fußgelenk. Sie kam noch nicht mal zum Denken, kriegte nur totale Panik und trat nach ihm. Das nützte natürlich nichts, weil er viel stärker war als sie. Er zog sie gnadenlos hervor wie eine Flickenpuppe. Ihre Wange wischte über den Boden, und sie bekam den Mund voll Staub.

»Ich bin fast zwölf!«, rief sie aus Protest. Doch wenn es eine Regel gab, die besagte, dass man eine fast Zwölfjährige nicht unter dem Bett vorzerren durfte, dann hatte Papa eindeutig noch nie was davon gehört. Er ließ nicht eher los, bis sie mitten im Zimmer lag. Kine blieb schwer schnaufend auf dem Bauch liegen. Sie weigerte sich, sich umzudrehen. Das hier war das Peinlichste, Schlimmste, das Erniedrigendste …

»Das ist Kindesmisshandlung!«, schrie sie, begriff aber, dass die Behauptung mehr Wirkung gehabt hätte, wenn ihre Stimme nicht von einem stinkenden T-Shirt, das beim Vorziehen an ihr hängen geblieben war, halb erstickt worden wäre. Es war rosa, was darauf schließen ließ, dass es schon, seit sie in die Vierte ging, dort unter dem Bett gewohnt hatte.

Papa reagierte nicht. Dann drehte sie sich doch um und guckte hoch zu ihm. Er stand da wie ein bärtiger Riese. Alles überragend und unerschütterlich. Das erinnerte Kine an damals, als sie versucht hatte, ihn umzuwerfen, gemeinsam mit Aurora und Vivi. Das war viele Jahre her. Drei Freundinnen gegen einen Mann, aber sie hatten es trotzdem nicht geschafft.

Er war nicht wütend. Papa wurde so gut wie nie wütend, er war etwas viel Schlimmeres: enttäuscht. Das war der schlimmste Ausdruck, den sie kannte, eine dicke Schicht aus Enttäuschung hüllte ihn ein: ein Mantel der Enttäuschung. Unsichtbar, bedeckte ihn aber trotzdem von Kopf bis Fuß und war aus allem zusammengenäht, was sie je falsch gemacht hatte.

Wenigstens sagte er nichts. Meckerte nicht. Das war Mamas Ding: Reden und Rumnerven. Zum Glück war sie gerade beim Yoga-Kurs.

»Das Frühstück steht auf dem Tisch«, knurrte Papa. Er verließ das Zimmer und machte die Tür etwas zu laut hinter sich zu.

»Diktator!«, rief sie ihm nach.

Sie rappelte sich auf und bürstete sich Staub aus den Haaren, wie im Versuch, ihre Ehre zu retten; wenn sie jemals eine Ehre gehabt hatte, dann lag sie jetzt auf alle Fälle unterm Bett. Ganz hinten, zwischen einem Pullover, den sie mit Absicht verbummelt hatte, und einer Tube Glitzerkleber. Die Erniedrigung wollte sie nicht loslassen. Kurz dachte sie, sie würde gleich weinen, war aber zu wütend. Weil niemand irgendwas kapierte. Weil sie zu Sachen gezwungen wurde, die sie überhaupt nicht machen wollte.

Sie öffnete den Schrank, den Mama sie gezwungen hatte aufzuräumen, holte den Rucksack raus, den sie gezwungen wurde zu benutzen, ging die Treppe nach unten, die knarrte, und in die Küche, in der sie gezwungen wurde zu essen. Papa hatte die Cornflakes auf den Tisch gestellt. Kine setzte sich auf einen Stuhl, der wie immer wackelig war, goss sich Magermilch ein, die sie gezwungen wurde zu trinken, weil Mama meinte, Vollmilch wäre zu fett, und aß mit einem Löffel, den sie gezwungen wurde zu nehmen, obwohl er zu klein war. Weder Tee- noch Esslöffel, sondern irgendwas dazwischen.

Es knirschte, als sie aß. Verstohlen sah sie Papa an. Er hatte den Computer eingeschaltet und las Nachrichten. Kine hatte das Gefühl, dass sie jetzt quitt waren, denn das machte er nie, wenn Mama zu Hause war. Computer hatten in der Küche nichts zu suchen.

Mama war bis zur Lächerlichkeit davon besessen, dass Dinge einen festen Platz hatten. Sogar Bakterien. Soweit Kine das verstanden hatte, galt das vor allem für die Bakterien im Bad und in der Küche; wenn die miteinander in Berührung kamen, konnte Krieg ausbrechen. Unsichtbare Wesen in der Badewanne hatten also Erzfeinde in der Spülmaschine. Und trotzdem behaupteten die beiden, dass bei ihr die Fantasie überkochte? Alter Falter …

Wegen so was glaubten die Leute, Mama wäre supergesund. Supergesunde Synnøve, sozusagen. Aber wenn sie das wäre, dann würde sie nicht heimlich Macarons futtern. Mama glaubte, niemand würde das mitkriegen, aber Kine wusste Bescheid. Sie hatte sie in ihrer Sporttasche gesehen, mehrere Male. Das erste Mal war es am schlimmsten gewesen, sie erinnerte sich noch daran. Zwei knallrosa Macarons in einer durchsichtigen Plastikschachtel, in der Platz für acht war. Acht! Mama hatte also schon sechs Stück aufgemampft, ohne zu teilen, und obendrein auch noch Macarons, die sie Kine verboten hatte, weil das die allerübelsten Zuckerbomben waren. Das war Betrug!

Kine hatte das mit keinem Wort erwähnt, obwohl Mama immer sagte, man sollte über alles reden. Sie redete liebend gern. So viel, dass sie oft auch mit sich selbst redete. Das war auch ein Grund, warum der Computer nicht in der Küche sein durfte; man sollte nicht auf den Bildschirm glotzen, sondern am Tisch miteinander reden. Natürlich nie über Dinge, die Kine lustig fand. Bloß über Scheißdinge, Arbeitsdinge.

Papa redete über Geologie, Steine und Erdbeben. All die wahnsinnig großen Dinge, die schieflaufen konnten. Mama redete über Hygiene und Bakterien im Essen und all die klitzekleinen Dinge, die schieflaufen konnten.

Dass eine Person, der so klar war, dass alles den Bach runtergehen konnte, sich trotzdem an Magermilch aufhängte, war einfach geisteskrank.

Kine wusch ihre Schale aus und stellte sie in die Spülmaschine, auch dazu wurde sie jedes Mal gezwungen, wenn sie gegessen hatte. Sie ging in den Flur und zog die dicke Jacke an, zu der Mama sie gezwungen hatte, weil es Winter und zu kalt für ihre kakigrüne Lieblingsjacke war. Der Flur war winzig klein, und die Küchentür stand immer offen, darum konnte sie Papa noch sehen. Sie zog die Kapuze über den Kopf, damit sie das Gefühl bekam, allein zu sein. Hätte Papa mitfühlen können, wie schlecht ihr jetzt war, hätte er sie nie in die Schule geschickt. Aber er hatte kein Stück Mitleid, saß bloß da wie ein haariger Orang-Utan in einem karierten Hemd.

Da schoss ihr der Gedanke durch den Kopf, dass ihre Eltern beide an Tiere erinnerten. An einen haarigen Orang-Utan und an eine meckernde Möwe. War es da ein Wunder, dass sie kurz vorm Austicken war?

Papa guckte hoch und schob die Zuckerschale in ihre Richtung.

»Hier. Nimm die mit in den Bus.«

»Zucker? In den Bus?« Kine glotzte ihn an. Jetzt war der Alte total durchgeknallt.

»Ja«, sagte er. »Du bist zu sauer, um mitfahren zu dürfen.«

Kine hatte jede Menge megagute Antworten, sagte aber keinen Ton. Auf dem Weg nach draußen wäre sie fast über den Stapel mit den verpackten Weihnachtsgeschenken gestolpert. Morgen war der letzte Tag zum Abschicken, damit sie noch rechtzeitig zum Fest ankamen, und Mama hatte einen totalen Schaden, wenn es um Termine ging. Kine murrte, während sie die Treppe nach unten ging, vier Stockwerke ohne Fahrstuhl, um mit dem Bus an einen öden Ort gekarrt zu werden, wo es Lehrkräften perversen Spaß machte, Kinder zum Schwimmen und Singen zu zwingen.

Knoblauch und Engelskostüme

Die Haltestelle Im Umweg lag beinahe direkt vor der Haustür. Das war aber auch schon das einzig Gute, was man vom Schulweg sagen konnte. Der Bus war ein Wrack, das ins Museum gehörte; gefahren wurde er von einem nervösen Deutschen, der mindestens fünfzig war und Gerwin hieß. Er hatte strähniges Haar und einen Bierbauch. Kine konnte mit beidem leben, aber nicht mit seinem Knoblauchatem. Er nahm Knoblauch nicht als Gewürz wie andere normale Menschen, sondern aß ganze Zehen. Er rupfte sie von einem langen Knoblauchzopf ab, der wie ein abschreckendes Duftdings an der Windschutzscheibe hing.

Sie hatten sich natürlich beschwert. Henriette hatte dafür den Auftrag gekriegt, weil sie seit ihrem neunten Lebensjahr profimäßig als Babysitterin jobbte und zu der Sorte Mädchen gehörte, der Erwachsene zuhörten. Aber das beeindruckte Gerwin nicht. »Nie krank, nie«, hatte er nur geantwortet und reingebissen.

Mit der Zeit hatten sie begriffen, dass er damit nicht nur sich selbst meinte. Gerwin war vermutlich davon überzeugt, nur durch ihn allein blieben die Kinder der Klausen-Schule am Leben. Als wären sie ohne Knoblauchzopf alle wie die Fliegen tot umgefallen.

Kine stieg ein und setzte sich auf den Platz vor der mittleren Tür. Das war fast wie hinten sitzen, aber nicht ganz hinten, denn da saßen Monrad und Tommy, wichtige Mitglieder der Gang. Sie klangen, als würden sie sich darüber streiten, ob es möglich war, ein Pausenbrot mit einem normalen Feuerzeug anzuzünden. Monrad bestritt das, wahrscheinlich weil er es ausprobiert hatte.

Der Bus fuhr los und machte die üblichen Schrotthaufengeräusche. Die mit silberfarbenem Superklebeband reparierte Tür heulte wie immer ein paarmal auf, weil sie nicht mehr richtig zuging. Dann ratterten sie mit Gerappel und Geruckel los. Gerwin kannte nur eine Art zu bremsen, und die war beinhart.

Der Bus schaukelte immer dieselbe Strecke ab, auch dort entlang, wo schon seit hundert Jahren keine Schulkinder mehr wohnten, aber Gerwin weigerte sich, eine andere Route zu fahren. Er war schon immer diesen Weg gefahren und würde das in Zukunft auch immer so machen. Er weigerte sich ebenfalls, ihnen zuzuhören, wenn sie ihm von der Abkürzung über den Marktplatz erzählten. Er wäre wohl vor Schock tot vom Sitz gekippt, wenn er plötzlich eine neue Strecke hätte fahren sollen.

Der Bus bremste scharf in der Kleinen Wackelgasse, und Aurora und Vivi stiegen ein. Sie rümpften die Nase, als sie sich an der unsichtbaren Knoblauchwand vorbeikämpften, die heute ihren besonders kräftigen Tag hatte. Dann ließen sie sich auf die Plätze vor Kine plumpsen und schnappten nach Luft.

Aurora drehte sich zu ihr um. »Das Schlimmste ist, dass ich Knoblauch eigentlich liebe!«, erklärte sie, ohne Zeit mit einer Begrüßung zu verschwenden.

»Ich auch«, meinte Kine. »Aber mir ist er echt am liebsten, wenn er nicht älter ist als ich.«

Vivi lachte so, dass sie schnaubte. Das machte sie immer, als fände sie es plötzlich peinlich und versuchte, das Lachen zu unterdrücken. Ihr blondes Haar stand in alle Richtungen ab, und sie trug einen grünen Wollpullover. Sie hatte große Ähnlichkeit mit einem etwas schlappen Löwenzahn. Wahrscheinlich war die Ernährung schuld. Bestimmt zu wenig Zucker. Ihre Mutter war in dem Punkt ein bisschen psycho, noch schlimmer als Mama; darum lebte Vivi von so widerlichem Zeug wie Grünkohl und ökologischen Körnern.

Aurora war das genaue Gegenteil. Sie hatte dunkle Haut und den Kopf voller dichter schwarzer Locken, in denen wohl alle Radiergummis saßen, die sie seit ihrem Schulstart verloren hatte. Heute hatte sie sich ein paar bunte Filzstifte ins Haar gesteckt. Ihre Klamotten nähte sie meistens selbst, nicht weil sie das musste, sondern weil ihr Nähen Spaß machte. Kine spürte das Gewicht des Handys, das sie in einem Beutel um den Hals trug. Sie hatte vorigen Sommer versucht, ihn selbst zu nähen, hatte aber mittendrin aufgegeben. Aurora hatte den Beutel für sie fertiggestellt.

Aurora hatte auch vor nichts Angst. Wäre Kine eine gewesen, die eine beste Freundin hätte haben wollen, dann hätte sie sich Aurora ausgesucht. Aber in Wahrheit hing sie mit Aurora und Vivi ab, weil die beiden ein Team waren. Total verschieden, aber voneinander abhängig. Das war auch gut so. Kine brauchte das Gefühl nicht, dass sie auf Teufel komm raus alles Mögliche mit anderen zusammen machen musste.

Vivi kniete sich auf den Sitz und beugte sich mit dem Mobiltelefon in der Hand über die Sitzlehne zu Kine. »Alles gut bei dir?«

Ihre Stimme war so voller übertriebener Fürsorge, dass sie sich wie eine Mutter aus einem Zeichentrickfilm anhörte.

»Klar ist alles gut bei ihr. Hör auf rumzunerven!«, antwortete Aurora.

»Ja, aber …« Vivi scrollte auf ihrem Handy. »Also, hier steht, dass es gute Gründe gibt, warum man Schwimmen nicht mag. Becken sind Bakteriennester, wenn alle im selben Wasser sind und Leute reinpinkeln – auch wenn die sagen, dass sie es nicht tun –, und wenn sie alle Bakterien fertigmachen wollen, müssen sie so viel Chlor reinkippen, dass es an ein Wunder grenzt, dass sich einem nicht die Haut abpellt; also eigentlich ist es Kine, die das kapiert hat, und alle anderen, die – ey?!«

Aurora riss ihr das Handy weg und steckte es in ihre eigene Tasche. Das passierte sonst immer erst beim Mittagessen; das hier musste ein neuer Rekord sein.

»Was haben wir abgemacht?«, fragte Aurora.

Vivi setzte sich wieder hin und ließ den Kopf hängen. »Keine Panik-News«, murmelte sie.

»Gut. Du kriegst es in der ersten Pause zurück, wenn du versprichst, nichts über Weltuntergang zu teilen.«

Vivi widersprach nicht. Kine glaubte, dass sie es eigentlich mochte, dass jemand auf sie aufpasste. Die Freundinnen waren gleich alt, sie hatten sogar beide im Februar Geburtstag, aber Aurora hatte immer älter gewirkt. Sie kriegte nie Paranoia und konnte Übertreibungen nicht ausstehen. Nicht einmal Flüche. Viele fanden das langweilig, aber Aurora kratzte das nicht. Auf sie konnte man sich felsenfest verlassen. Kine hatte das Gefühl, nichts war wirklich ernst, bevor Aurora es laut aussprach. Sogar die größten Krisen in Kines Leben hatte sie eingedampft.

Der Bus bog zur Haltestelle ab und legte eine Vollbremsung vor der Klausen-Schule hin. Ein mehrstöckiges Gebäude aus roten Ziegelsteinen und mit Wänden, die schräg nach außen standen und aussahen, als könnten sie jeden Augenblick umfallen. Eine Uhr, die nie gegangen war, hing über dem Eingang; und Gerüchten zufolge lag eine tote Ratte in einer Regenrinne; denn es stank immer, wenn es regnete. Sämtliche Steinplatten auf der Treppe waren locker, genauso wie die Kleiderhaken im Flur.

Nichts funktionierte. Am allerwenigsten die Schüler und Schülerinnen, die dorthin gingen. Den Beweis konnten alle am Fußballtor besichtigen, wo Monrad es bereits vor der ersten Stunde gelungen war, Aslaks Mütze anzuzünden, und die Mädchen panisch darauf herumtrampelten, um das Feuer zu löschen.

Kine schleppte sich die Treppen hoch und kroch auf ihren Platz ganz hinten im Klassenzimmer. Es hatte eine Art Verhandlung mit Aurora und Vivi gegeben, weil die beiden am liebsten vorne sitzen wollten. Kine hatte am Ende gesagt, dass sie auf jeden Fall hinten sitzen würde, also saßen sie entweder mit ihr zusammen oder ließen sie alleine sitzen. Eigentlich hatte sie nie verstanden, warum die beiden sie nicht einfach alleine sitzen gelassen hatten.

Vor der Tafel stand Lehrer Aufsatz und wippte vor und zurück, während er darauf wartete, dass alle sich gesetzt hatten. Offensichtlich hatte er etwas auf dem Herzen; und Kine war sich ziemlich sicher, dass es was mit dem bescheuerten Weihnachts-Chor zu tun hatte. Seit Wochen gab es kein anderes Thema mehr. Aufsatz kam mit seinem ewig langen Namen Maksimillian ursprünglich aus Schweden. Und in Kines Welt sprachen sich alle mit Du und dem Vornamen an. Wenn man seinen allerdings aussprechen wollte, brauchte man dreimal so lange wie bei seinem neuen, darum hieß er bei allen einfach nur Aufsatz.

Er war ein bisschen vornehm, obwohl Kine das nie laut gesagt hätte. Irgendwie sanft. Als wäre er einer Reklame für Weichspüler entsprungen. Er war groß und dünn, hatte blonde Locken und einen Pony, den er ständig zurückwarf. Seine Socken waren farblich immer auf ein anderes Kleidungsstück abgestimmt, heute waren sie hellblau wie die Weste. Außerdem roch er immer gut.

Die Jungs in der Gang behaupteten, er wäre andersrum. Es hatte eine Weile gedauert, bis Kine kapiert hatte, was sie damit meinten. Andersrum bedeutete, dass er Männer mochte, keine Frauen. Kine war das schnurzegal, sie mochte niemanden, weder Jungs noch Mädchen. Am allerwenigsten Jarle. Ihr Blick wanderte zu seinem Platz, sie wurde aber von Aufsatz gestört, der in die Hände klatschte.

»Hört mal! Auf uns wartet eine neue Herausforderung. Es hat ein paar Beschwerden gegeben.« Er holte tief Luft, bevor er weiterredete: »Schon wieder.«

Kine konnte hören, wie Henriette Tamara zuflüsterte: »Garantiert von meiner Mutter, sie war diejenige, die wollte, dass das Jesuskind dunkle Haut hat, die hatte er bestimmt auch in Wirklichkeit.«

Tamara schnaubte. »Nix da, mein Vater ist schuld, dass wir das ganze Krippenspiel canceln müssen, er hat gesagt, das ist Gehirnwäsche!«

Sie kicherten los.

»Das ist nicht zum Lachen!«, kreischte Aufsatz. Das sah ihm gar nicht ähnlich. Sonst war er immer die Ruhe selbst, doch so langsam lagen bei ihm bestimmt die Nerven blank. Die Eltern hatten sich von Anfang an in alles eingemischt, von den Kostümen bis zu den Liedern. Was am Anfang als episches Theater mit Geld vom Stadtrat geplant gewesen war, war zu einem Klassenchor geschrumpft, der ein paar beschränkte Weihnachtslieder singen sollte, und das brachte ihn immer mehr zur Verzweiflung.

In Kine keimte Hoffnung auf. Vielleicht hatte er jetzt endlich die Nase voll? Vielleicht wurde das Ganze abgesagt? Sie kreuzte die Finger und dachte ganz fest: Absagen, absagen, absagen!

»Können wir das Ganze nicht einfach lassen?«, fragte Jarle, fast wie ein Echo ihrer Gedanken. Kine guckte ihn verstohlen an. Auch er saß in der hintersten Ecke, nur auf der anderen Seite, und kippelte mit seinem Stuhl. Sein braunes Haar war wild und nach vorn geweht, als versuchte er, wie eine Manga-Figur auszusehen. König Jarle. Idiot Jarle. Kann-sogar-mal-was-Schlaues-sagen-Jarle.

Die ganze Klasse stimmte ihm zu; denn so machte man das, wenn Jarle den Mund öffnete. Kine war hin- und hergerissen zwischen dem Wunsch, dass alles abgesagt wurde, und dem Widerwillen, Jarle zu unterstützen. Kine hielt die Klappe.

»Thank you!«, rief Tommy, der sich für den Besten in Englisch hielt. »Das Geld können wir für eine Million andere Dinge besser gebrauchen.«

Kine brannte die Frage auf der Zunge, ob es ihm nicht genug Geld einbrachte, wenn er so viele Sachen stahl, behielt es aber für sich. Alle wussten, dass er klaute. Er ließ die lächerlichsten Dinge aus der Schule mitgehen, alles, von Bleistiften bis Schraubenziehern, die er in den Pausen für einen Wucherpreis zu verticken versuchte. Er kam damit einzig und allein durch, weil er ein Clown war. Er brachte Leute zum Lachen, und dann war so was offensichtlich in Ordnung.

»Nein!«, schrie Aufsatz. Er holte Luft und gewann sein Gleichgewicht zurück. »Nein …«, wiederholte er ruhiger. »Es gibt keine Krise, wir schaffen das. Figuren haben eine andere Farbe bekommen, Figuren sind entfernt worden, wir haben umweltverträgliche Kostüme ausgesucht, wir haben die ganze Vorstellung zeitlich gestrafft und für Parkmöglichkeiten gesorgt. Wenn wir das hinbekommen haben, dann kriegen wir auch glutenfreie Kekse hin. Aber die Kostüme sind schon längst bestellt, daran ändern wir also nichts mehr! Dienstag werden sie geliefert, und es gibt Engel, und wenn das das Letzte ist, was ich mache! Schluss, Ende, aus.«

Kine lehnte sich über ihren Tisch und stöhnte. Alle Hoffnung war verflogen. Die Weihnachtsvorstellung war in trockenen Tüchern, und sie würde gezwungen werden mitzumachen. Sie. Mit der falschesten Singstimme auf der ganzen Welt. Sie würde gezwungen werden, sich ein hässliches Engelskostüm überzustülpen, auf dem Marktplatz wie ausgestellt rumzustehen vor der halben Stadt, um beknackte Weihnachtslieder unter dem größten Tannenbaum der Welt zu trällern. Nur weil der Stadtrat herausgefunden hatte, dass das eine gute Möglichkeit war, um Touristen anzulocken. Als ob auch nur ein Mensch auf der Welt freiwillig ins kotzgrüne Mottenburg kommen würde.

Und jetzt dauerte es nur noch wenige Stunden bis zu dem, wovor sie am meisten Angst hatte. Konnte es noch schlimmer werden?

Sie schaute hoch zur baufälligen Decke. Die würde ihnen früher oder später bestimmt auf den Kopf fallen, warum also dann nicht jetzt? Genau jetzt?

War das etwa zu viel verlangt?

Verrückte Schimpansen

Unten am Marktplatz, eingekeilt zwischen Einkaufszentrum und Bibliothek, stand die Schwimmhalle. Oder die Todesfalle, wie Kine sie am liebsten nannte. Nicht ganz unwahrscheinlich, dass es sie schon zu Zeiten der Dinosaurier dort gab. Ein Wasserloch für prähistorische Echsen.

Sie beschrieb mit ihren hohen Fenstern einen Bogen. Die weiße Mauer mit den vielen Rissen sah aus, als wäre sie schon oft zersprungen und dann immer wieder zusammengeklebt worden. In nicht allzu ferner Zukunft würde die Todesfalle ihren allerletzten Seufzer ausstoßen und einstürzen, Krankenwagen würden angeheult kommen und die ganze Klasse 6B platt wie Flundern unter den Trümmern finden, neben versteinerten Stegosauriern. Die Rektorin würde sich im Fernsehen ihre Krokodilstränen abwischen und behaupten, dass das aus heiterem Himmel passiert war und wie sehr sie wünschte, jemand hätte sie alle vor dem katastrophalen Zustand der Schwimmhalle gewarnt. Als ob das nicht auf jedem Elternabend Thema gewesen wäre.

Das Schlimmste war, dass die Schwimmhalle von der Schule fußläufig zu erreichen war, wie man das nannte. Für Giraffen war das bestimmt fußläufig. Ein Mensch brauchte fast zehn Minuten dahin und noch länger wieder zurück. Weil es bergauf ging. Mit nassen Haaren. Bei fünfzehn Grad minus. Es grenzte schon an ein Wunder, dass die Schüler und Schülerinnen den Winter überlebten. Keine Überraschung, dass Gerwin glaubte, dass das was mit seinem Knoblauch zu tun hatte.

Die Klasse drängelte durch die Türen, alle auf einmal, wie eine Schafherde. Während die anderen in der Umkleide verschwanden, ging Kine zur Quälerin. Eigentlich hieß sie Oda Kveler, aber alle nannten sie Quälerin, wenn sie nicht in Hörweite war. Nicht nur, weil sie Sportlehrerin war, sondern weil es stimmte. Sie war eine echte Quälerin. Gnadenlos wie ein Hai und auch mit dem Lächeln eines Raubfisches. Jetzt stand sie mit den Händen auf dem Rücken in militärgrüner Hose da und starrte sie an. Kine fand, ihre Augen sähen hungrig aus, als hätte sie bloß auf sie gewartet.

»Oda, ich habe …«

»Ist dir schlecht?«, unterbrach die Quälerin sie mit gespieltem Mitgefühl und stark gerolltem R. »Mir war auch mal schlecht. Nur ein einziges Mal habe ich beim Sport gefehlt, und das war, als mir der Blinddarm rausgenommen wurde.«

Kine biss sich auf die Lippe. Das hatte sie mindestens schon zehn Mal von ihr zu hören gekriegt. Das Problem war, dass die Geschichte sich jedes Mal veränderte, jedes Mal gab es einen anderen Grund. Der Blinddarm, ein Brand, eine Rettungsaktion, eine Schneelawine … Wahrscheinlich alles eine glatte Lüge. Die Quälerin hatte bestimmt noch nie im Leben eine Sportstunde verpasst.

»Nein, ich habe …« Kine schluckte. »Ich habe wieder meinen Badeanzug vergessen, darum kann ich nicht …«

»Hier.«

Plötzlich hing ein schwarzer Badeanzug am Zeigefinger der Quälerin. Als wäre er wie durch Zauberhand aus einer Dimension für alte, mottenzerfressene Badeanzüge dorthin gebeamt worden. Die Quälerin grinste übers ganze Gesicht, sodass es aussah, als würde gleich die untere Hälfte abfallen.

Kine murmelte etwas, das vielleicht einem »Danke« ähnelte, nahm den Badeanzug und schlich widerwillig in die Umkleide.

Die anderen Mädchen waren schon alle unter der Dusche. Kine pellte sich aus den Klamotten und schloss sie mit dem Rucksack im Schrank ein. Kurz überlegte sie, ob sie sich auch gleich mit einschließen sollte, ließ es aber bleiben. Noch nicht einmal Vivi hätte da hineingepasst.

Sie zog den Badeanzug an. Er war eng, aber ihren eigenen konnte sie ja nun nicht nehmen, weil sie gesagt hatte, dass sie ihn vergessen hätte. Sie starrte sich im Spiegel an. Sie sah aus wie ein Pizzateig, den man in einen Badeanzug für Barbie-Puppen gequetscht hatte. Die Ausschnitte für Beine und Arme waren mit einer weißen Gummikante eingefasst, die eingerissen war. Kleine Fäden hingen aus den Nähten. Sie sah aus wie die Hauptfigur in einem Horrorfilm.

Super … Das Leben war vorbei. Dem war nichts mehr hinzuzufügen. Sie würde niemals die Oberstufe erleben.

Sie ging unter die Dusche und wartete ab, bis alle anderen zum Becken gegangen waren; dann kam sie hinterher und versuchte, sich so klein wie möglich zu machen. Die Fenster waren beschlagen, jedenfalls konnte niemand von draußen in die Halle schauen. Die anderen waren schon im Wasser, in bunten Badeanzügen und Badehosen, die passten. Kine unterdrückte ein Wimmern.

Die Fliesen unter den Füßen waren kalt. Viele hatten einen Sprung, auch die auf dem Boden des Beckens, wo in den Ecken so was wie grüner Schmodder wucherte.

»Neuer Badeanzug, Bubble?«

Die Stimme dröhnte durch die ganze Schwimmhalle. König Jarle. Scheiß-Jarle. Der Gang-Boss. Es war seine Schuld, dass sie Schwimmen hasste. Seine Schuld, dass sie Bubble war und nicht Kine. Jarles Wort war Gesetz, ganz egal wie schwachsinnig es war. Jarle hatte die Macht, über das Leben anderer zu bestimmen. Diese Macht hatte ihm niemand gegeben, die hatte er sich einfach genommen. Auf der ganzen Schule gab es kaum einen Spitznamen, der nicht von Jarle kam. Oder wenigstens zur Absegnung bei ihm durchgehen musste. Er war so was wie der Leiter in einer Art Mobbing-Büro, das Bewerbungen entgegennahm, wie man Leute nennen durfte. Es war an ihm, sie abzunicken oder mit einem Kopfschütteln abzulehnen.