MOONLIGHT
WOLVES

DAS RUDEL DER FINSTERNIS

CHARLY ART

KOSMOS

Umschlaggestaltung: Carolin Liepins, München unter Verwendung von Motiven von Kompaniets Taras/shutterstock, Anna Chelnokova/shutterstock, one AND only/shutterstock, Ant_art/shutterstock, prapann/shutterstock, mrjo/shutterstock

Unser gesamtes lieferbares Programm und viele

weitere Informationen zu unseren Büchern,

Spielen, Experimentierkästen, Autoren und

Aktivitäten findest du unter kosmos.de

© 2020, Franckh-Kosmos Verlags-GmbH & Co. KG, Stuttgart

Alle Rechte vorbehalten

ISBN 978-3-440-50258-7

eBook-Konvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

ornament_wolf_01.ai

Prolog

Ein voller Mond leuchtete am Himmel und ließ das Gebirge silbern glühen. Gespenstig still lag die Landschaft da, fast so, als wären alle Lebewesen, die dort einst gelebt hatten, für immer fortgegangen.

Vier majestätische Wölfe, die auf einem Vorsprung unterhalb eines Gipfels thronten, suchten mit scharfen Blicken die mondbeschienen Berge und einsamen Täler ab. Blut glänzte dunkel an ihren Pfoten, ihre Pelze waren zerfetzt und erzählten von einer brutalen Schlacht. Die Ohren des größten Wolfes, des ältesten von ihnen, zuckten.

»Sie kommen zurück.«

Seine Stimme glich einem ruhigen Flüstern, doch die geweiteten Augen verrieten seine Furcht. Die Begleiter folgten dem Blick des Grauen in eine scheinbar verlassene Senke. Ihre in der Nacht funkelnden Augen bemerkten verstohlene Bewegungen und im Mondlicht blitzende Zähne. Unruhe überkam die drei Wölfe an der Seite des Ältesten, als sie die drohende Gefahr erblickten. Ein großer, hellbrauner Wolf wandte sein Gesicht dem Grauen zu.

»Was sollen wir tun?«

Die Angst, die in seiner Stimme lag, brachte die Wölfin neben ihm dazu, ihren schönen silbernen Pelz an sein Fell zu pressen, um ihm so beizustehen.

»Wir werden natürlich kämpfen!«

Die Antwort kam vom jüngsten der vier. Sein dunkler Pelz war mit unzähligen Wunden übersät, doch seine Augen glühten hell und furchtlos, während er den Hellbraunen fixierte. Der jedoch tat den Ausruf des jungen Wolfes mit einem Ohrenzucken ab und schaute weiterhin zum Ältesten. Dieser wich dem Blick seiner Gefährten aus und starrte hinab ins Tal, als würde er die Zerstörung seines Lebenswerkes mit ansehen.

Es dauerte eine ganze Weile, bis er – immer noch mit ruhiger Stimme – fortfuhr: »Die Rudel können sich glücklich schätzen, dass sie solch tapfere Wölfe wie dich haben, um ihre Welpen auszubilden.« Nun endlich glitt der Blick des Wolfes zu seinen Begleitern und richtete sich auf den jungen Wolf. »Aber ich kann es nicht zulassen, dass wir eine schon verlorene Schlacht weiterführen. Dieses Mal sind wir mit Wunden davongekommen, doch beim nächsten Mal bezahlen wir unseren Mut vielleicht mit dem Leben!« Er hielt inne, als würde es ihm zu große Schmerzen bereiten, fortzufahren, doch schließlich sagte er mit gebrochener Stimme: »Es hat keinen Sinn, wir müssen das Wächtergebirge aufgeben.«

Der Jüngste zuckte zusammen, als wäre er in einen Dorn getreten.

»Graupelz, das kann nicht dein Ernst sein!« Seine Stimme hallte schrill von den Felswänden wider. »Wie können wir es zulassen, dass sie das Wächtergebirge übernehmen?«

Der graue Wolf erwiderte den Blick des jüngeren und ein Ausdruck tiefen Schmerzes schimmerte darin. »Wir haben keine andere Wahl, Sturmnacht. Wir müssen gehen.« Noch einen Herzschlag lang sah er dem Dunklen in die vor Entsetzen geweiteten Augen, dann zuckte seine Rute gebieterisch in die Höhe. Ein unmissverständlicher Befehl. Die silberne Wölfin berührte den Jüngsten sanft mit der Nase oberhalb einer tiefen Wunde an der Schulter, dann wandte sie sich ab und sprang das restliche Stück des Hanges hinauf, bis sie den höchsten Punkt des Berges erreicht hatte. Der große Hellbraune folgte ihr stumm. Pelz an Pelz verschwanden sie über die Kuppe und ließen Sturmnacht und Graupelz alleine zurück.

»Das können wir nicht tun, Graupelz! Wo sollen wir leben, wenn nicht hier? Wo sollen wir Wächter denn die Welpen der Rudel ausbilden, wenn nicht an diesem heiligen Ort?«, fragte Sturmnacht entrüstet. Die Stimme des Schwarzen glich mehr dem verängstigten Winseln eines Jungen als den Worten eines Wächters.

»Das Rudel der ewigen Jagd wacht über uns, Sturmnacht! Es wird eine Antwort auf deine Fragen finden. Ich kann nicht mehr tun, als uns von hier fortzubringen!«

Ein wildes Feuer loderte in den Augen des jungen Wolfes auf. Er öffnete das Maul, um eine weitere trotzige Bemerkung von sich zu geben, doch Graupelz beugte sich vor und legte ihm behutsam die Schnauze auf die Stirn.

»Lass diesen Ort los, Sturmnacht.«

Dann wandte er sich von ihm ab und setzte mit langen Sprüngen den anderen Wölfen nach. Sturmnacht seufzte tief, dann begann er ebenfalls den Aufstieg. Als er am Gipfel des Berges angekommen war, blieb er stehen und wandte sich um. Er musterte nochmals das Tal, das in Schatten verborgen unter ihm lag, und nun konnte er die schimmernden Pelze deutlicher erkennen. Geräuschlos schoben sie sich im Mondlicht umher und bedeckten bereits ein riesiges Felsplateau mit der unendlichen Anzahl ihrer Körper. Keine Frage, seit dem letzten Kampf waren es mehr geworden. Dem jungen Wächter lief ein Schauder über den Rücken, als er den unheimlichen Geruch seiner Feinde wahrnahm. Er wirbelte herum und jagte mit langen Sprüngen hinter den anderen her. Und mit jedem Pfotenschritt entfernte er sich weiter von dem einzigen Zuhause, das er je gekannt hatte.

8299.jpg
ornament_wolf_02.ai

1. Kapitel

Ein warmer Wind zerzauste Tamanis Pelz und brachte die Gerüche seiner Heimat mit sich. Der junge Wolf sog den vertrauten Duft gierig ein, dann setzte er sich wieder in Bewegung, um den älteren Wölfen seines Rudels zu folgen. Die kleine Gruppe, die Tamani und die anderen jüngsten Mitglieder nach Hause führen sollte, bestand aus fünf Wölfen. An der Spitze schritten mit erhobener Rute Rex und Tara Seite an Seite. Hinter ihnen liefen zwei jüngere Rudelwölfe. Beide hatten grau gemustertes Fell, wie es für das Eisrudel üblich war. Anschließend kamen die jungen Heimkehrer. Das Schlusslicht des Trupps bildete ein älterer Wolf mit dichtem, tiefgrauem Fell. An ihn konnte Tamani sich noch aus seiner Welpenzeit erinnern, er hieß Kamos. Tamani zuckte freudig mit den Ohren, als er an das Wiedersehen mit seinen Eltern und ihrem kleinen Trupp dachte, das früher am Tag stattgefunden hatte. Während Rex Tamani und seinen beiden Geschwistern voller Stolz die Schnauze auf den Kopf gelegt hatte, war Tara hin und her gesprungen, hatte ihre Jungen sorgenvoll beschnüffelt und ihnen dann voller Zuneigung den Pelz geleckt. Noch immer prickelte Tamanis Körper in einer seltsamen Mischung aus Freude und Verlegenheit.

Neko und Aris hatten sich während der Begrüßung abseits gehalten und immer wieder ängstliche Blicke gewechselt. Als Tamani dann von ihrer Ausbildung im Wächtergebirge berichtet und den Wölfen des Eisrudels erklärt hatte, warum die zwei jungen Wölfe bei ihnen waren, hatten Rex und Tara den beiden schließlich gestattet, mit zur Höhle des Eisrudels zu ziehen. Dort wollten sie prüfen, ob die beiden sich als Eisrudelwölfe eignen würden.

Tamani war froh, dass sein Geburtsrudel nicht übermäßig auf die Schilderung seiner Rolle im Kampf gegen die Schattenwölfe reagiert hatte. Zwar schienen Rex und Tara stolz darauf zu sein, dass eines ihrer Jungen eine solch wichtige Schlacht entschieden hatte, doch es sah nicht danach aus, als würden sie ihn im Rudel deshalb anders behandeln.

Tamani konzentrierte sich wieder auf den schmalen, leicht ansteigenden Pfad. Sie folgten ihm schon eine ganze Weile und Tamanis Pfoten schmerzten von der langen Heimreise. Trotzdem war er wild entschlossen zu beweisen, dass er mit den Rudelführern Schritt halten konnte.

Endlich machte der Pfad eine kleine Biegung nach links und der Weg wurde flacher. Tamani und die anderen jungen Wölfe sprangen nun schneller voran, denn auch der Rest des Trupps trabte zügig vorwärts, geradewegs auf einen kleinen felsigen Absatz zu. Es sah fast so aus, als würde es dahinter direkt in die Tiefe gehen, doch bei näherem Hinsehen erkannte Tamani, dass dies einfach der höchste Punkt des Weges war. Er machte ein paar weitere Sätze, doch als er schließlich die Felskuppe erreicht hatte, blieb er stehen. Seine Augen weiteten sich vor Staunen und seine Ohren zuckten. Von diesem Punkt aus konnte man den größten Teil seines Heimatrevieres überblicken. Vor ihm breitete sich am Fuße des Gebirges eine riesige Grasebene aus, umgeben von einem mächtigen Wald. Und gegenüber des Gebirges, auf dem sie sich befanden, konnte Tamani die steil aufragenden Felswände einer weiteren Bergkette erkennen, die sich über die Landschaft erhob. Er spürte Fell an seiner Seite entlangstreichen und hörte Kora überwältigt keuchen, als auch sie das Revier vor sich betrachtete. Nun kamen Ravi, Neko und Aris, und auch sie wirkten fasziniert von der Größe und Schönheit des Gebietes. Tamani hörte ein Lachen hinter sich, und als er sich umwandte, sah er Kamos, der die fünf jungen Wölfe belustigt beobachtete.

»So ging es noch jedem Welpen an diesem Ort«, erklärte der Alte und Tamani sah, dass seine dunkelblauen Augen vor Stolz glühten. »Man gewöhnt sich mit der Zeit an diese Aussicht, aber dennoch bleibt sie immer etwas Besonderes.«

Tamani nickte und richtete seinen Blick wieder auf das Tal. In einer kleinen Einbuchtung am Waldrand glaubte er, große Tiere zu erkennen, die friedlich grasten und sich dabei träge voranschoben. Vielleicht sind das Elche, überlegte er, ehe Koras Worte seine Gedanken unterbrachen: »Ist das da vorne das Eisgebirge?«

Tamani folgte ihrem Blick zu den gegenüberliegenden Bergen.

»Ja, genau. Und dort ist auch unsere Höhle.«

»Dann muss das die große Ebene sein«, staunte seine Schwester. Tamani teilte ihre Bewunderung für die Landschaft vor sich. Auch er selbst hatte das Revier des Eisrudels nicht so groß in Erinnerung gehabt. Doch nun, da er es von hier aus überblicken konnte, schien es in seiner Größe sogar das Gebiet des Wächtergebirges zu übertreffen.

Wie schön wäre es, wenn Pala nun bei uns sein könnte, dachte Tamani traurig. Er hätte die Heimkehr zum Eisrudel gerne mit seinem verstorbenen Bruder erlebt. Hoffentlich sieht er uns wenigstens von den ewigen Jagdgründen aus zu. Er wollte seine Gedanken gerade mitteilen, als Kamos mit tiefer und zugleich belustigter Stimme sagte: »Es freut mich, dass euch unser Revier so begeistert, aber wenn wir nicht bald weitergehen, verlieren wir den Anschluss.«

Tamani blickte den Pfad entlang, der sich hinab ins Tal schlängelte, und erkannte, dass der ältere Wolf recht hatte. Die vier anderen Wölfe bogen gerade um eine Ansammlung von Felsen und verschwanden aus seinem Sichtfeld. Tamani fixierte die Stelle, an der die letzte Schwanzspitze gerade verschwunden war, und hetzte los. Es dauerte nicht lange, bis er die Vorhut eingeholt hatte. Um so wenig Aufsehen wie möglich zu erregen, reihte er sich einfach stumm hinter den vier Wölfen ein. Hastige Pfotenschritte hinter ihm verrieten, dass die anderen ebenfalls aufgeholt hatten. Ohne ein Wort zu wechseln, zog die Gruppe weiter und schon bald hatten sie das Gebirge verlassen und folgten einem schmalen Trampelpfad über die große Ebene auf das Eisgebirge zu. Tamani hatte den Blick fest auf die hohen Felswände gerichtet, sodass er erst bemerkte, dass sich Kora neben ihn schob, als ihr Fell das seine berührte. Obwohl er dadurch gezwungen war, im hohen Gras am Rand des Pfades zu laufen, störte es ihn kein bisschen. Ganz im Gegenteil, er mochte Koras aufgeweckte und zugleich liebevolle Art. Von all seinen Begleitern erinnerte sie ihn am meisten an Shira. Ein schmerzhafter Stich durchzuckte Tamani, als seine Gedanken zu der hellgrau-weißen, jungen Blutsrudelwölfin wanderten, in die er sich während seiner Ausbildung verliebt hatte. So viele Gefühle stürmten mit einem Mal auf ihn ein. Die Erinnerung an ihr weiches Fell, das Gefühl der Wärme, das er immer verspürt hatte, wenn er bei ihr gewesen war, und die Sehnsucht, sie zu sehen. Tamani musste an den Schwur denken, den sie an ihrem letzten Abend im Wächtergebirge gemeinsam geleistet hatten. Sie hatten einander versprochen, für ihre Liebe zu kämpfen, ganz gleich, was das heilige Gesetz oder ihre Rudel ihnen vorschrieben.

Bis heute Morgen hatte sich Tamani einreden können, dass sie das wirklich schaffen würden. Doch nun erinnerten die Wölfe aus seinem Geburtsrudel ihn an sein neues Leben mit ganz neuen Pflichten. Ein Leben, in dem er kaum die Möglichkeit haben würde, sich heimlich mit Shira zu treffen. Sie lebten zwar nicht in verfeindeten Rudeln, aber dennoch war es ihnen nicht erlaubt, befreundet zu sein oder gar wie früher miteinander Beute zu teilen. Vielleicht würden sie sogar irgendwann einmal gegeneinander kämpfen müssen. Eine Welle der Trauer überrollte Tamani und er musste sich mit all seiner Willenskraft dazu zwingen, ruhig weiterzulaufen, statt seinen Schmerz in den klaren Abendhimmel zu jaulen.

»Kannst du dich noch an die Höhle erinnern?« Koras Worte unterbrachen seine Gedanken. Tamani schüttelte sich kurz, bevor er antwortete: »Ich weiß nicht mehr genau, wie es darin aussah, aber ich erinnere mich an viele andere Dinge.« Kora nickte eifrig. »Ich weiß, was du meinst. In meinem Kopf sind auch nur die Erinnerungen an hellere und dunklere Schatten. An warmen Milchduft, die Gerüche unserer Eltern und des Rudels und an das laute Brausen von Wasser.« Tamani nickte. Auch in seinen Gedanken waren das die einzigen Merkmale der Höhle, aber irgendwie hatte er sie doch als etwas Vertrautes in Erinnerung.

»Weißt du noch die Namen von allen?«, fragte Kora weiter, etwas leiser. Tamani schüttelte verlegen den Kopf. Seine Schwester grinste erleichtert. »Da bin ich aber froh! Ich dachte schon, ich wäre die Einzige, die sich blamiert.« Tamani stimmte in ihr Lachen ein, bevor er hinzufügte: »An einige Namen werde ich mich sicher wieder erinnern, wenn ich die Wölfe sehe, aber an die beiden vor uns erinnere ich mich nicht.« Er nickte zu den beiden Graugemusterten vor ihnen.

»Ich mich auch nicht«, erwiderte Kora. Die Ohren des hinteren Wolfes zuckten und Tamani glaubte, ein ungehaltenes Brummen wahrzunehmen. Verlegen sah er zu seiner Schwester, die seinen Blick erwiderte, ebenso peinlich berührt, dann jedoch in ein nervöses Lachen verfiel. Tamani schloss sich ihr an, in der Hoffnung, dadurch seine Sorgen vergessen zu können.

Die Sonne versank bereits hinter den hohen Bäumen, als die kleine Gruppe den Aufstieg ins Eisgebirge begann. Sie hatten das Gebirge umrundet und waren nun auf der Seite, auf der die Höhle des Eisrudels lag. Tamani konnte das leise Brausen eines Wasserfalles hören – das bedeutete, dass sie bald da sein würden. Am liebsten wäre er vorwärtsgestürmt, trotz seiner wunden Pfoten. Aber sein Vater, der den kleinen Trupp anführte, gab ein langsameres Tempo vor und dem Jungwolf war klar, dass er sich daran halten musste. Trotzdem hielt er die Ohren gespitzt und suchte das helle Gestein nach dem Wasserfall ab, der ihm die Höhle zeigen würde. Die Gruppe bog um einen riesigen Felsen und das Tosen wurde lauter. Im goldenen Licht der untergehenden Sonne erkannte Tamani die Wand aus Wasser, die mit höllischem Lärm einen großen Abhang hinabfiel, um sich dann am Fuße des Gebirges in einem Becken zu sammeln. Ungeduld kribbelte durch den Körper des jungen Wolfes, als Rex nicht den Weg zum Wasserfall einschlug, sondern einen Pfad nahm, der sich in einer Art Schlucht bergauf wandte. Ein paar Augenblicke später hielt der Alphawolf an und sah sich nach dem Rest des Trupps um. Er schien sich kurz zu vergewissern, dass niemand fehlte, dann machte er einen Schritt nach vorne. Tamani beobachtete seinen Vater irritiert. Der Alphawolf stand am oberen Ende der Schlucht, die in eine plateauähnliche Fläche überging. Rex war zu einer niedrigen Felswand getreten, die an einer Stelle stark bewachsen war. Er schob seinen Kopf in das Gewirr aus Ranken und trat dann ganz hindurch. Tamani beobachtete gespannt, wie auch die anderen drei Wölfe zwischen den Ranken verschwanden, und trat schließlich auch an die Stelle. Nun konnte er erkennen, dass es keine gewöhnlichen Kletterpflanzen waren. Sie bildeten eine Art Vorhang und hinter diesem Vorhang klaffte ein Loch in der Felswand. Von außen war es kaum erkennbar, nur die Gerüche von vielen verschiedenen Wölfen deuteten an, dass dies nicht nur ein Felsspalt, sondern der Eingang zu einer Höhle war. Tamani spürte, wie sich Aufregung in seinem Bauch breitmachte, während er seinen Kopf vorsichtig durch die Ranken schob. Vor ihm lag leere Dunkelheit und das Brausen des Wasserfalles hallte leise, aber deutlich durch die Finsternis. Der Graue glitt ganz in die Höhle hinein und machte ein paar vorsichtige Schritte, um seinen Begleitern ebenfalls die Möglichkeit zu geben einzutreten. Er schwankte unsicher, denn der Boden neigte sich abwärts. Schnell erlangte Tamani jedoch sein Gleichgewicht wieder und stand sicher auf allen vier Pfoten. Als er eingetreten war, hatte er gedacht, in der Höhle wäre es stockdunkel. Aber nun, da sich seine Augen langsam an die Dunkelheit gewöhnten, erkannte er, dass der Raum von einer Öffnung am gegenüberliegenden Ende spärlich beleuchtet wurde.

Langsam konnte er die Umrisse der Höhle ausmachen. Sie war größer, als er vermutet hatte. Vor Tamanis Pfoten neigte sich der Untergrund hinab, während die Felswände gleichzeitig auseinanderliefen und den Blick auf einen großen, ebenen Platz freigaben. Tamani erkannte, dass es an der gegenüberliegenden Felswand zwei Öffnungen gab. Durch die eine kam blasses Licht, die andere wirkte wie das dunkle, weit aufgerissene Maul eines Waldläufers. Als er erkannte, dass der Platz voller Wölfe war, die dem Trupp mit glühenden Augen entgegenblickten, erstarrte Tamani und sein Pelz kribbelte vor Nervosität. Kora schob sich neben ihn und er zuckte vor Schreck zusammen. Er konnte sie nur an ihrem Geruch erkennen, denn selbst ihr schneeweißer Pelz wirkte in der Dunkelheit der Höhle wie ein Schatten. Tamani spürte, wie ihn seine Schwester leicht mit der Schulter anstieß. Anscheinend wollte sie, dass er weiterging, dorthin, wo auch Rex und Tara standen.

Trotz der Dunkelheit hatte Tamani keine Probleme, seine Eltern ausfindig zu machen. Ihre Silhouetten zeichneten sich scharf vor dem matten Licht ab, unverkennbar das Alphapaar. Tamani setzte sich vorsichtig in Bewegung und suchte den Weg hinab zu seinen Eltern, bis er den ebenen Bereich der Höhle erreicht hatte. Die Pfotenschritte hinter ihm verrieten, dass Kora, Ravi, Neko und Aris ihm folgten.

»Seid gegrüßt, Rex und Tara!« Eine dunkle Gestalt erhob sich aus dem Schatten und schritt mit stolz erhobenem Kopf hinüber zu den beiden Alphawölfen, bevor sie sich respektvoll vor ihnen verbeugte. Auch die anderen Wölfe in der Höhle erhoben sich nun und versammelten sich unter leisem Gemurmel um die Neuankömmlinge. Tamani betrachtete sie neugierig. Das Eisrudel musste um die zwanzig Wölfe zählen.

»Sind sie wohlbehalten zurück?« Die Stimme gehörte dem Wolf, der vor dem Alphapaar stand. In Tamanis Ohren klang sie vertraut.

»Wie viele sind es?«, fuhr der Wolf fort, als Rex genickt hatte.

»Fünf!«, erklärte Tara und in ihren Worten lag so viel Stolz, dass Tamanis Pelz vor Freude prickelte. Es kam nicht selten vor, dass nur wenige oder gar keine Jungwölfe von ihrer Ausbildung im Wächtergebirge zum Rudel zurückkehrten, und die Alphawölfin schien sehr froh zu sein, dass so viele ihrer Jungen wieder bei ihr waren.

»Fünf? Aber damals haben es doch nur vier Welpen bis auf die Scholle geschafft. Wie können dann fünf wieder hier sein?« Der Wolf klang verwirrt. Er richtete seine funkelnden Augen auf die Jungwölfe.

»Zwei weitere Jungwölfe haben sich unseren drei Jungen angeschlossen, um ebenfalls Eisrudelwölfe zu werden.« Rex’ Stimme klang gelassen, aber Tamani merkte, dass eine ungewohnte Autorität darin mitklang. »Wir besprechen das gleich noch in der Lichthöhle mit dem Ältestenrat«, fügte der Alphawolf hinzu, sodass allen klar war, dass er keinen Widerspruch duldete. Einen Herzschlag lang fixierte er sein Gegenüber noch, dann wandte er sich an die Jungwölfe: »Willkommen im Eisrudel! Ab sofort wird diese Höhle und dieses Revier eure Heimat sein. Das Rudel der ewigen Jagd hat euch mit Stärke und Mut durch eure Ausbildung und zurück bis zu uns geführt, dafür erweisen wir euch Ehre.« Rex senkte kurz den Kopf, während überall in der Höhle zustimmendes und zugleich freudiges Gemurmel aufstieg.

Mehrere Wölfe drängten sich um Tamani und seine Gefährten herum, hießen sie willkommen und streiften wohlwollend den Pelz des Grauen. Der Jungwolf zuckte verlegen mit den Ohren. Die Zeit, in der sie vom Eisrudel begrüßt wurden, kam ihm wie eine Ewigkeit vor.

Rex hob den Kopf, als die Stimmen schließlich verstummt waren und sich die Mitglieder des Rudels wieder zurück auf ihre Plätze begeben hatten. »Ihr seid sicher müde. Kamos zeigt euch eure Schlafplätze. Nehmt euch etwas Beute und ruht euch dann aus. Morgen erwartet euch ein anstrengender Tag.« Er nickte den Jungwölfen nochmals zu, dann wandte er sich um und steuerte auf den Gang zu, der die Höhle mit Licht füllte. Einige Wölfe folgten ihm, die meisten jedoch zogen sich in die Schatten der Höhle zurück und begannen, leise mit ihren Gefährten zu flüstern. Tara trat zu Kora, Ravi und Tamani. »Gute Nacht, meine Jungen«, sagte sie mit einem weichen Tonfall und strich nochmals liebevoll um Tamani und seine Geschwister herum. »Ich bin stolz, dass ihr eure Ausbildung beim Wächtergebirge so erfolgreich beendet habt. Ich bin mir sicher, ihr werdet euch gut im Eisrudel einleben.« Sie schenkte den Jungwölfen noch einen letzten warmen Blick, bevor sie Rex folgte.

»Nun, dann will ich euch mal eure Schlafplätze zeigen«, ertönte Kamos’ Stimme hinter Tamani. Der Graue drehte sich um und folgte dem älteren Wolf und den anderen Jungwölfen zu einer Felswand. Im fahlen Licht erkannte er ein großes Moospolster, das genug Platz für ihn und seine vier Begleiter bot. Tamani hörte seinen Magen knurren, als er den Beutegeruch wahrnahm, der sich mit dem Duft des frischen Mooses vermischte.

»Hier sind eure Schlafplätze und genug Beute, damit ihr euch stärken könnt«, erklärte der ältere Wolf. »Und was die Dunkelheit angeht: Gebt euren Augen ein paar Tage Zeit, dann werden sie sich daran gewöhnt haben.« Er blickte die Jungwölfe nochmals mit einem freundlichen Leuchten in den Augen an, dann trabte er davon.

Tamani sah ihm noch kurz nach, wie er auf die helle Öffnung zuhielt, in der Rex mit den anderen Wölfen verschwunden war, dann ließ er sich auf das Moos sinken. Obwohl sein Magen vor Hunger rumorte, nahm er nur ein paar Bissen von der Beute und ließ sich dann in eine Kuhle sinken. Er hörte, wie sich die anderen weiter über die Beute hermachten. Die Geräusche vermischten sich mit dem Gemurmel in der Höhle. Tamani ließ seinen Blick nochmals durch die Dunkelheit gleiten, bevor er zufrieden die Augen schloss und den Kopf auf seine Pfoten legte. Es dauerte nicht lange, bis er eingeschlafen war und sich das entfernte Brausen des Wasserfalles in seinen Träumen verlor.

8317.jpg
ornament_wolf_03.ai

2. Kapitel

»Tamani, wach auf!«

Der junge Wolf öffnete blinzelnd die Augen und erkannte im fahlen Licht der Höhle die Umrisse von Kora, die über ihm aufragte.

»Was ist denn los?«, murrte er und ließ seinen Kopf zurück auf die Pfoten sinken. Er fühlte sich erschöpft und kraftlos, so als hätte er die ganze Nacht über gekämpft, statt sich auszuruhen.

»Kamos war gerade bei uns«, erklärte Kora und in ihrer Stimme lag Dringlichkeit. »Er hat gesagt, wir sollen uns beeilen. Er erwartet uns vor der Höhle.« Tamani rappelte sich auf. »Dann los! Sind die anderen schon wach?« Kora nickte. »Ja, wir warten nur noch auf dich.« Der Graue zuckte verlegen mit den Ohren. Er war ihr Alphawelpe gewesen. Eigentlich hätte er selbst dafür sorgen sollen, dass alle wach waren. »Danke, dass du mich geweckt hast«, murmelte er gerade laut genug, dass ihn Kora hören konnte. Ihre Augen leuchteten gutmütig auf, dann beugte sie sich nach vorne und leckte ihm über den Kopf. »Keine Sorge, ich bin es gewohnt, dass meine Brüder ohne mich nichts auf die Reihe bekommen.« Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht und Tamani fühlte sich augenblicklich besser. Er nickte ihr zu und hob seine Stimme dann ein wenig: »Ich denke, wir sollten Kamos nicht länger warten lassen. Kommt!« Die anderen Jungwölfe schlossen sich ihm an. Vorsichtig suchte Tamani einen Weg den Abhang hinauf und schob sich schließlich durch die pflanzenverhangene Öffnung ins Freie. Vom Licht geblendet, taumelte er ein paar Schritte nach vorne und blieb dann stehen, um seinen Augen die Möglichkeit zu geben, sich langsam an die Helligkeit zu gewöhnen. Fast sofort erblickte er Kamos, der nur drei Wolfslängen von ihm und seinen Begleitern entfernt saß. Der Tiefgraue hatte die Pfoten ordentlich nebeneinander gesetzt und seine dunkelblauen Augen funkelten interessiert. Tamani spürte, wie ihn Ehrfurcht überkam beim Anblick des älteren Wolfes. Seine Körperhaltung verriet Tamani seinen hohen Rang im Rudel und machte dem Jungwolf unmissverständlich klar, wie niedrig er sich selbst einzuordnen hatte. Instinktiv legte er seine Ohren an und hielt die Rute gesenkt, als er zu ihm lief.

»Guten Morgen, Kamos«, begrüßte er den Älteren und bemerkte beschämt, wie unterwürfig seine Stimme klang. Ein amüsiertes Lächeln breitete sich auf Kamos’ Gesicht aus, während er die Begrüßung mit einem Nicken entgegennahm. »Guten Morgen, Jungwölfe. Ich weiß, dass ihr noch müde von den letzten Tagen sein müsst, aber ihr seid spät dran. Akai erwartet uns bereits am Donnerbecken.« In seinen dunklen Augen glomm etwas auf. War das etwa Besorgnis? Ehe Tamani weiter darüber nachdenken konnte, war Kamos bereits herumgewirbelt und preschte einen schmalen, ausgetretenen Pfad hinab. Sofort setzte sich Tamani in Bewegung und stürmte hinter ihm her. Seine Müdigkeit war vergessen, seine Sinne waren geschärft. Seine Geschwister, Neko und Aris folgten ihm. Kamos war trotz seines fortgeschrittenen Alters schnell und durch seine geschmeidigen Bewegungen wirkte es so, als würde er über den Pfad fliegen. Tamani bemühte sich, den Abstand zu verringern, doch als er um die nächste Ecke bog, explodierte plötzlich der Lärm des nahen Wasserfalles unmittelbar vor ihm. Erschrocken schlug er einen Haken und kam knapp hinter Kamos zum Stehen, der nun nur noch langsam voranschritt. Tamani glich sein Tempo an das des Älteren an, während sein Blick immer wieder zu dem gewaltigen Wasserfall flog, der nur wenige Pfotenschritte neben ihm die Felsen hinabstürzte.

»Seid vorsichtig!«, warnte Kamos von vorne, doch seine Stimme wurde vom Brausen des Wassers fast verschluckt. »Die Felsen sind durch die Gischt rutschig.« Tamani spürte, wie eine seiner Pfoten auf dem glatten Stein fast den Halt verlor. Er kam ins Straucheln, fing sich jedoch gleich wieder und suchte sich seinen Weg nun vorsichtiger den schmalen Felsgrat hinab. Hinter sich vernahm er das angestrengte Keuchen seiner Gefährten und trotz des überwältigenden Duftes von Quellwasser glaubte er, ihren Angstgeruch wahrzunehmen. Vermutlich fürchteten sich die anderen ebenso wie er selbst davor, den Halt zu verlieren und den Abgrund hinabzustürzen. Mit einem Mal ertönte ein warnendes Jaulen von Ravi, das den Lärm des herabstürzenden Wassers übertönte: »Kora, pass auf!« Unwillkürlich wirbelte Tamani herum. Seine Schwester, die hinter ihm gelaufen war, schien den Halt verloren zu haben. Sie war von dem schmalen Pfad abgekommen und hing an der Felskante neben dem Wassersturz! Nur ihre Vorderpfoten, die sie am Fels festgekrallt hatte, hinderten sie noch am Fallen. Tamani sprang zu ihr. Seine Pfoten glitten über den nassen Untergrund und fast wäre er selbst abgerutscht. Angst biss ihm in die Magengrube, doch er beugte sich nach vorne und packte seine Schwester am Nackenfell, ehe ihre Pfoten den Halt verlieren konnten. Mit all seiner Kraft versuchte er, sie hinaufzuziehen, doch der Boden war zu rutschig und Kora sackte ein Stück weiter ab. Tamani spürte, wie ihr ganzer Körper bebte, doch er schaffte es nicht alleine, ihr zu helfen! Gerade als ihn seine Kräfte zu verlassen drohten, wurde das Gewicht seiner Schwester leichter. Ravi hatte Kora ebenfalls gepackt.

»Los, zieh!«, brachte Tamanis Bruder durch ein Maul voller Fell zustande und so gut es ging stemmten sie sich nach hinten. Dann endlich hatten sie es geschafft und Kora lag wieder auf dem felsigen Pfad. Sie bebte noch immer vor Angst und ihre Augen waren weit aufgerissen. Ihr von der Gischt nasses Fell klebte an ihrem Körper, sodass sie klein und zerbrechlich wirkte. Tamani sah zu dem gewaltigen Wassersturz hinüber. Im Gegensatz dazu war sie tatsächlich klein und zerbrechlich. Er wollte sich gar nicht ausmalen, was geschehen wäre, wenn er und Ravi es nicht geschafft hätten, sie hochzuziehen. Zum Glück hatten ihre Kräfte ausgereicht.

»Kora! Ist alles in Ordnung?« Kamos kam den Pfad wieder hinaufgesprungen und sah die junge Wölfin mit schreckgeweiteten Augen an. Kora blickte zu ihm auf und nickte, während sich ein mattes Lächeln auf ihr Gesicht schlich. »Ja, alles gut. Tamani und Ravi haben mich gerettet.« Kamos nickte wohlwollend mit dem Kopf. Von der anderen Seite des Weges näherten sich Aris und Neko, die offenbar hinter der Gruppe zurückgefallen waren.

»Wir haben gesehen, was passiert ist!«, rief Neko. »Hast du dich verletzt?«

»Nein, keine Sorge, mir geht es gut.«

Der Schwarze atmete erleichtert auf und auch Aris entspannte sich.

»Bist du bereit weiterzugehen?«, fragte Kamos. Kora erhob sich langsam. Sie wirkte noch immer etwas unsicher, doch sie nickte und so setzte Kamos den Abstieg fort. Erleichterung überkam Tamani, als seine Pfoten endlich wieder trockenen Boden berührten und sich der Pfad verbreiterte. Jetzt konnten sie wieder schneller voranspringen, auf den riesigen Wald zu, der sich nicht weit entfernt am Fuße des Berges erstreckte. Dann entdeckte Tamani auch das große Becken, in dem sich das schäumende Wasser des Wasserfalles sammelte, bevor es in einen kleinen Fluss strömte, der im Wald verschwand. Diesen Ort musste Kamos vorhin gemeint haben, als er vom Donnerbecken gesprochen hatte.

Die schmale Fläche zwischen dem Wasserbecken und den Bäumen bestand aus Sandstein und erstreckte sich bis zur Mündung des Flusses. Tamanis Ohren zuckten überrascht. An der Mündung saß mit hocherhobenem Kopf ein großer Wolf und blickte Kamos und den fünf Jungwölfen entgegen. Sein Fell war von einem hellen Grau und seine Schultern beeindruckend breit. Als der Trupp mit Kamos an der Spitze die Sandsteinfläche erreichte, erhob sich der Wolf und trabte ihnen mit senkrecht gestellter Rute entgegen. »Ihr seid spät, Kamos. Die Sonne steht bereits kurz vor dem Aufgang.« Seine Stimme hatte etwas Strenges und Tadelndes. Tamani blieb stehen, als Kamos ihm mit der Rute ein Zeichen dazu gab.

»Ich weiß, Akai. Ich werde dafür sorgen, dass es nicht wieder vorkommt.« Überrascht betrachtete Tamani den älteren. Er hatte die Ohren eng an den Kopf angelegt und die Rute gesenkt, ein eindeutiges Zeichen der Unterwerfung. Wieso hatte dieser Akai so eine Autorität, obwohl Kamos ganz deutlich älter war? Trotz seiner Größe und des massigen Körpers schien er nur wenige Sonnenkreise älter zu sein als Tamani. Dennoch, sein sicheres Auftreten und seine Haltung flößten auch Tamani unwillkürlich Respekt ein. Akai entließ Kamos aus seinem forschenden Blick und fixierte stattdessen einen Jungwolf nach dem anderen. »Seid gegrüßt. Mein Name ist Akai und ich bin der Betawolf des Eisrudels.« Betawolf. Das Wort zuckte wie ein Blitz durch Tamani hindurch. Er hätte es kennen müssen!

Als keiner der Jungwölfe sich rührte, zuckte der Betawolf mit der Rute. »Jedes Mal dasselbe!«, knurrte er, doch aus seiner Stimme war Belustigung zu hören. »Ein Jahr sind diese Jungwölfe weg und schon haben sie alles über ihr Geburtsrudel vergessen!« Er machte eine kurze Pause, in der er jeden der jungen Wölfe nochmals musterte. »Wisst ihr, was ein Betawolf ist?« Einige Herzschläge lang herrschte Schweigen, bis Kora zögernd hervorbrachte: »Ein ranghoher Wolf im Rudel?« Auf Akais Gesicht zeigte sich ein Lächeln. »Richtig«, bestätigte er. »Der Betarang ist nach dem Alpharang der höchste im Rudel. Meine Ranggefährtin Alea und ich sind also so etwas wie Rex’ und Taras Stellvertreter. Wenn sie nicht dabei sind, führen wir die Jagd an und wir kümmern uns mit um ihre Jungen. Außerdem habe ich die Ehre, gemeinsam mit Kamos die Jungwölfe des Rudels nach ihrer Ausbildung im Wächtergebirge in unser Rudelleben einzuführen.« Die tiefblauen Augen des Betawolfes strahlten vor Stolz. »Nun, da ihr wisst, wer ich bin und was meine Aufgaben sind, würde ich gerne erfahren, wer ihr seid.« Tamani glaubte, gesehen zu haben, wie der Blick des Hellgrauen zu Neko und Aris gehuscht war, und er fragte sich unwillkürlich, ob er sie sich nur ihretwegen vorstellen ließ. Dann fiel ihm ein, dass es seine Aufgabe war, sich und seine Begleiter vorzustellen.

»Das ist meine Schwester Kora.« Tamani nickte zu ihr hinüber. Dann fuhr er fort: »Der Weiße dort ist mein Bruder Ravi und diese beiden hier sind Neko und Aris.« Nacheinander deutete er auf die genannten Jungwölfe. »Und ich bin Tamani.«

Akais Augen glommen auf. »Tamani? Du warst der Kleinste des Wurfes, nicht wahr? Nun, so klein bist du mittlerweile nicht mehr.« Tamani, von einem plötzlichen Gefühl des Stolzes erfüllt, reckte den Kopf in die Höhe.

»Es scheint mir, als wäre ich dieses Jahr auf eine aufgeweckte Truppe von Jungwölfen gestoßen.« Akai lachte, aber dann wich das gutmütige Leuchten in seinen Augen einem ernsten Ausdruck. »Sicher wollt ihr wissen, was euch bevorsteht?« Er wartete nicht auf eine Antwort, sondern sprach einfach weiter: »Heute werden wir euch die Grenzen des Reviers zeigen und in den folgenden Tagen werdet ihr euch mit der Jagd im Rudel beschäftigen und unsere Jagdtechniken erlernen.« Er hielt inne und fixierte mit seinem Blick Tamani. »Habt ihr das verstanden?« Der Jungwolf nickte stellvertretend für seine Gefährten.

»Gut. Dann kann eure Ausbildung jetzt beginnen!«

8332.jpg
ornament_wolf_04.ai

3. Kapitel

Tamani fühlte sich, als hätte ihn ein Waldläufer gepackt und mit aller Kraft zu Boden geschleudert. Was meinte Akai damit, ihre Ausbildung würde jetzt beginnen? Tamani und die anderen waren doch bereits den halben letzten Sonnenkreis ausgebildet worden! Er überlegte, ob es ihm erlaubt war, in der Gegenwart eines solch hochrangigen Wolfes unaufgefordert zu sprechen, da hob Kora neben ihm die Stimme: »Ausbildung? Was meinst du damit? Die Wächter haben uns bereits ausgebildet.«

Akai erwiderte ihren Blick. »Die Wächter haben euch beigebracht, wie ihr eure Instinkte einsetzt, wie man nach den Regeln lebt, die uns vom Rudel der ewigen Jagd gegeben wurden, und andere grundlegende Dinge. Aber jetzt beginnt eure eigentliche Ausbildung.« Er machte eine kurze Pause. »Kamos und ich werden euch in das Eisrudel einführen. Wir werden euch beibringen, wie wir hier jagen, euch unsere Reviergrenzen zeigen und euch in unsere Familiengruppe eingliedern, in der ihr den Rest eures Lebens verbringen werdet.« Tamani spürte eine angenehme Aufregung in sich aufsteigen. Am Anfang hatte ihn die Aussicht auf eine weitere Ausbildung verschreckt, doch nun merkte er, wie sehr er sich darüber freute, endlich ein fester Bestandteil seines Geburtsrudels zu werden.

Akai wandte seinen Kopf Kamos zu, der neben ihn getreten war. »Wir sollten losgehen.« Der ältere nickte und machte einen Schritt auf die fünf jüngeren Wölfe zu. »Wie Akai euch bereits erklärt hat, werden wir euch heute die Grenzen unseres Reviers zeigen. Ihr werdet lernen, diese Grenzen zu bewachen und zur Not mit Entschlossenheit und Wildheit zu verteidigen. Heute sind wir aber kein Grenztrupp, wir verhalten uns also ruhig. Redet nur, wenn unbedingt nötig, und hört genau zu, wenn Akai oder ich euch etwas erklären.« Die Augen des grauen Wolfes funkelten mahnend.

»Seid ihr bereit?«, fragte der Betawolf nun. Als niemand Einwände erhob, zuckte er gebieterisch mit der Rute und wandte sich um. Ohne auch nur einen Herzschlag lang zu zögern, machte er einen gewaltigen Satz und landete mit einem lauten Platschen im Fluss. Das Wasser reichte ihm bis zum Bauch, doch als würde es ihm nichts ausmachen, watete er einfach stumm vorwärts. Hinter ihm glitt Kamos ins Wasser und folgte dem Betawolf mit kräftigen Pfotenstößen. Tamani zögerte einen Augenblick, dann stieg Entschlossenheit in ihm auf. Er wollte sich vor den älteren Wölfen beweisen und sprang ebenfalls in den Fluss. Die Kälte des Wassers ließ ihn aufkeuchen. Puh, es war eindeutig kälter, als er es sich vorgestellt hatte! Hinter sich hörte Tamani Ravis angewidertes Knurren. Entschlossen biss er die Zähne zusammen und machte ein paar weitere Sprünge auf das andere Ufer zu, wo er sich voller Erleichterung aufs Trockene zog. Bald würde die Wärme der aufgehenden Sonne die Nässe vertreiben. Der Graue sah sich zu den anderen Jungwölfen um und erkannte, dass nur noch Aris und Ravi durch den Fluss wateten. Kora und Neko hatten sich bereits an Land gezogen und schüttelten sich Wassertropfen aus dem Fell. Tamanis Blick flog zu seinem Bruder Ravi zurück und er spürte eine bekannte Sorge in sich aufwallen. Der Tod von Maja, der Wölfin, die Ravi so geliebt hatte, hatte ihn für eine ganze Weile aus dem Gleichgewicht gebracht und noch immer wirkte er geschwächt.

Tamani ließ es zu, dass Kora und Neko an ihm vorbei hinter Akai und Kamos in den Wald preschten, während er wartete, bis sein Bruder hinter Aris das Ufer erklommen hatte. Erst dann setzte auch er sich in Bewegung. Nach ein paar Herzschlägen entspannte sich Tamani. Er genoss den frischen und zugleich vertrauten Geruch des Mischwaldes um sich herum und erfreute sich daran, dass ihm durch das schnelle Laufen wieder warm wurde. Bald war er bei Neko, überholte ihn und schob sich neben Kora. Er beschleunigte seinen Lauf noch ein wenig, bis er auch Kora hinter sich gelassen hatte und nur noch eine Wolfslänge von Kamos entfernt war. Er spürte, wie unbändige Energie durch seinen Körper pulsierte. Er war bereit, es mit jedem feindlichen Wolf aufzunehmen, der auch nur eine Pfote über die Grenze zum Revier des Eisrudels setzte.

Als Tamani bemerkte, wie die beiden älteren Wölfe vor ihm ihren Lauf verlangsamten, tat er es ihnen sofort gleich, bis er schließlich hinter ihnen hertrottete. Der Geruch in der Luft hatte sich verändert. Ein säuerlicher Gestank wehte ihm durch die Bäume entgegen. Schließlich ließ Akai sie anhalten, und nachdem er sich versichert hatte, dass alle Jungwölfe anwesend waren, fragte er mit gesenkter Stimme: »Könnt ihr das riechen?« Tamani und seine Begleiter nickten.

»Hier ist die Grenze zum Hinterland«, erklärte der Betawolf. »Wie ihr riecht, lebt dort ein anderes Rudel. Der Name dieses Rudels ist uns unbekannt, und da unser Revier das ihre vom großen Fjord trennt, gehören sie nicht zu unserem Bündnis.« Die Verachtung in Akais Blick war nicht zu übersehen. »Wie ihr sicher wisst, leben wir mit den Rudeln am großen Fjord in einem meist friedlichen Bündnis, denn da wir dieselben Gottheiten und Gesetze haben, kommt es nur selten zu größeren Auseinandersetzungen. Wir begegnen uns mit höflicher Distanz. Bei Rudeln, die nicht zum Bündnis gehören, ist jedoch Vorsicht geboten. Einige von ihnen mögen vielleicht ähnliche Moralvorstellungen haben wie wir, doch es gibt genug Rudel, die heimtückisch und bösartig sind!«

»Das fremde Rudel, dessen Revier hier an unseres grenzt, ist uns jedoch unterlegen«, fügte Kamos hinzu. »Sie haben sich nur selten über die Grenze gewagt. Und es jedes Mal bereut.« Tamani entdeckte einen harten Ausdruck in den Augen des älteren Wolfes, ganz so, als hätte er jedes Mal selbst dafür gesorgt, dass das fremde Rudel geflohen war.

»Es gibt viele Rudel, die nicht zu der Gemeinschaft am großen Fjord gehören«, sagte Akai und knurrte leise. »Prägt euch diesen Geruch gut ein, Jungwölfe.« Der Betawolf wandte sich von der Grenze ab, um weiterzulaufen, und gab seinem Trupp mit der Rute ein Zeichen, ihm zu folgen. Die Gruppe zog schweigend durch den Wald, begleitet vom Gesang einiger kleiner Vögel und dem rauen Krächzen der Raben.

Sie waren eine ganze Weile gelaufen, als Tamani einen neuen Geruch in der Luft wahrnahm. Als der Geruch stärker wurde, hielten sie erneut an. »Dort drüben ist die Grenze zum Revier des Wüstenrudels. Momentan sind sie uns friedlich gesinnt, aber ich rate euch trotzdem, ebenso aufmerksam mit dieser Grenze umzugehen wie mit der letzten. Solltet ihr Wölfe dieses Rudels treffen, seid höflich, vermeidet Provokationen und übertretet keinesfalls die Grenze.« Akais Blick schweifte über die Jungwölfe, als wollte er sich vergewissern, dass sie seinen Worten folgten, dann zuckte seine Rute in die Höhe und die Gruppe setzte sich wieder in Bewegung. Immer wieder wandte sich Tamani beim Laufen zu den anderen Jungwölfen um, doch niemand, nicht einmal Ravi, zeigte Anzeichen von Erschöpfung. Während sie dahintrabten, ließ der Graue seinen Blick über das Land jenseits der Grenze schweifen, in der Hoffnung, Telai oder seine Geschwister vom Wüstenrudel zu erblicken, doch sein Wunsch erfüllte sich nicht. Die Sonne kletterte stetig höher in den Himmel, während der kleine Trupp den Grenzmarkierungen folgte. Eine Weile liefen sie an einem kleinen Bach entlang, der dann aber tiefer ins Revier des Eisrudels hineinführte. Langsam spürte Tamani, wie seine anfängliche Energie abnahm. Nun wünschte er sich, am gestrigen Abend doch etwas mehr von der Beute gefressen zu haben.

Der unterholzreiche Mischwald war inzwischen einem eher kahlen Nadelwald gewichen und Tamani konnte fühlen, wie bei allen die Nervosität wuchs, während sie nahezu ungeschützt vorwärtstrabten. Schließlich begann sich der Wald zu lichten und vor der Gruppe ragten einige Felsen auf. Akai hielt genau auf die Steinbrocken zu und erklomm den ersten, während sich der restliche Trupp um ihn herum versammelte und zu ihm aufblickte. Das leise Rauschen des Meeres und der salzige Geruch, der in der Luft lag, verrieten Tamani, dass sich das Meer in der Nähe befand. Die Felsbrocken vor ihm versperrten ihm jedoch die Sicht darauf. Rechts von ihnen ragte in einiger Entfernung zudem die Bergspitze eines Gebirges auf. Gestern waren sie ganz in der Nähe an der Küste entlang zu ihren Rudeln zurückgereist. War das wirklich erst gestern gewesen? Akai unterbrach seine Gedanken: »Wir werden hier eine kurze Rast machen. In den Schatten der Felsen lässt sich sicher etwas Beute fangen. Wenn die Sonne ihren höchsten Punkt erreicht hat, gehen wir weiter. Solange habt ihr Zeit, wieder zu Kräften zu kommen.«

Zufrieden genoss Tamani die Wärme der Sonne und des Felsens unter ihm. Sein Magen war angenehm gefüllt, seine Muskeln gelockert. Als er hörte, wie sich die Wölfe um ihn herum regten, setzte er sich ebenfalls auf und richtete seinen Blick zum Himmel. Die Sonne stand genau über ihm und das hieß, dass ihre kurze Rast nun zu Ende war. Tamani erhob sich und sprang hinab auf den Waldboden zu den anderen, die sich bereits um Akai scharten.

»Kommt, wir gehen weiter.« Der Betawolf lief los, Kamos reihte sich ein und Tamani folgte ihm mit neu gewonnener Energie. Als Nächstes hielt sie der Hellgraue an der Stelle an, an der sie am gestrigen Tag auf ihre Eltern und die anderen drei Wölfe gestoßen waren. Ein neuer Geruch wehte in Tamanis Nase und unwillkürlich stockte ihm der Atem. Er richtete den Blick auf die unsichtbare Grenze vor ihm, während sein Herz wie wild hämmerte. Die Duftmarkierungen gehörten eindeutig zum Blutrudel, dem Rudel, dem Shira angehörte! Jemand stieß ihn mit der Schulter an. Tamani drehte sich zur Seite und schaute in Koras blaue Augen. An ihrem Blick erkannte er, dass sie wollte, dass er Akai zuhörte. Er nickte knapp und richtete seine ganze Aufmerksamkeit wieder auf den Betawolf.

»Wir werden nun an der Blutrudelgrenze entlanglaufen. Mit ihnen haben wir momentan keinen Konflikt, aber einem Blutrudelwolf darf man dennoch nie trauen!« Tamani spürte, wie sich ihm das Fell sträubte. Akai mochte der Betawolf des Eisrudels sein, aber er hatte kein Recht, das so zu verallgemeinern! Shira konnte man trauen!