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Kjersti Scheen

Die Spur der toten Engel - Norwegen-Krimi

Deutsch von
Annika Krummacher

Saga

1

In the still of the night.

Cole Porter

Noch herrschte schwarze Nacht.

Vorn zumindest – achtern leuchtete die Großstadt –, von den giftgelben Laternen am Containerhafen von Nedre Bekkelaget bis zum weißen Strahlenglanz von Aker Brygge.

Die See war dunkel und still, doch direkt unter ihr schäumte es grünlich, wo sich der Bug vorwärtspflügte, begleitet vom regelmäßigen Tuckern des Motors. Margaret Moss hing über der Reling und verfolgte mit den Augen die Bugwelle, die sich emporwälzte und nach hinten brauste. Sie fror, wollte aber nicht ins Steuerhaus zu Fischer Bertelsen.

Später, nicht jetzt.

Er würde nur von seiner Tochter sprechen.

Ihre eigene Tochter Karen hatte seit vielen Wochen kein Lebenszeichen mehr von sich gegeben. Margaret Moss kam heute nacht gut ohne die Töchter anderer Leute aus. Soweit es möglich war.

Sie schauderte.

Sie hatten gerade Langøyene und Rambergøya passiert. Vor ihnen lag der verlassene Fährkai von Nesoddtangen und wartete auf den nächsten Tag, der neue Passagiere mit Kreuzworträtseln und Walkmans bringen würde, die sich auf den Weg von der einigermaßen ländlichen Ruhe in Nesodden zu Oslos eher urbanem Rhythmus machten, ja, ja, Moss schauderte wieder.

Furchtbar, wie depressiv und ironisch sie sich in letzter Zeit fühlte. Ihr alter Begleiter und Alter ego, die Stimme im Kopf, die altmodisches Hörspiel produzierte, sendete mehr Störgeräusche als je zuvor: Und hier ist Margaret Moss (nennen Sie mich Moss, das ist am einfachsten), auf ihrem Weg aus den dunklen Hafenvierteln und hinaus zu einem neuen Fall, und die Nacht ist ebenso dunkel wie das Gewissen eines Pfarrers in Gesellschaft eines Transvestiten, hu, sie schüttelte sich wieder.

Seitliche Wellen brachten den Fischkutter kräftig ins Schaukeln, sie lehnte sich gegen die breite Reling und stemmte die Joggingschuhe gegen das Deck. Sie wartete, bis das Boot einen regelmäßigen südlichen Kurs erreicht hatte und aus dem Fjord hinausfuhr, dann richtete sie sich auf und atmete tief durch.

Schrecklich, wie angespannt sie heute nacht war.

Sie wußte nicht, wie es kam; düster starrte sie auf den Leuchtturm von Dyna, der steuerbords lag. Vielleicht sollte sie sich für den Posten eines Leuchtturmwärters an irgendeinem gottverlassenen Ort bewerben. Ein sogenanntes inneres Exil, wobei es sich da wohl eher um ein äußeres handeln würde, und außerdem waren die Leuchttürme heutzutage längst automatisiert und wärterlos.

Die meisten jedenfalls.

»Hallo! Kaffee!«

Sie drehte sich um. Willy Bertelsens Gesicht leuchtete bleich im Halbdunkel. Sie seufzte, dann nickte sie und balancierte nach achtern über das rutschige Deck.

Bald war es fünf. Es war Ende März, und der Tag dämmerte über den Hügeln im Osten.

 

Es war gemütlich drinnen im Steuerhaus, und der Kaffee war heiß. Sie trank ihre zweite Tasse, stand hinter Bertelsen und hatte etwas wacklige Beine. Eine Dünung, ein Gruß vom starken Wind der vergangenen Nacht, brachte den Fischkutter ins Schlingern. Willys Sohn Bjørn stieg die vordere Treppe hinauf, streckte sich und setzte sich auf die Luke. Er holte ein Päckchen Tabak aus der Hosentasche und begann, sich eine Zigarette zu drehen.

»Wie alt ist er?« fragte Moss und nickte hinüber zu dem Jungen dort draußen.

»Bald zwanzig«, sagte Willy Bertelsen. »Zwei Jahre älter als Bente.«

Sie bemerkte, wie er ihr einen raschen Blick zuwarf – der Frau, die er um Hilfe gebeten hatte, als seine Tochter verschwunden war. Sie stand mit dem Kaffeebecher in der Hand da, im Parka und mit einer Falte zwischen den Augenbrauen. »Dann ist er ein Jahr älter als meine Tochter«, sagte sie. »Karen.«

»Und was macht Ihre Tochter?« fragte Bertelsen höflich. Seine Tochter war seit mehreren Wochen spurlos verschwunden, und vermutlich pfiff er darauf, was anderer Leute Töchter trieben. Er hob die Hand und machte dem Jungen dort draußen ein Zeichen, vielleicht näherten sie sich den ersten Netzen.

»Sie macht gerade den ex. phil.«, sagte Moss. »Zulassungsprüfungen für die Uni. Aber sie lernt ja nicht, deshalb läuft es vermutlich nicht so doll.«

Genau wie ihre Mutter, glaubt, daß sie alles kann, ohne ein Buch zu öffnen, ja, ja.

»Sie wohnt also zu Hause, Ihre Tochter«, sagte Bertelsen.

»Nein«, sagte Moss.

Karen war in eine Wohngemeinschaft in der Altstadt gezogen. Inzwischen war sie offenbar nicht mehr nur Wochenendpunkerin. Zu Hause meldete sie sich auch nicht. Margaret Moss hatte das unangenehme Gefühl, daß ihre Tochter nichts von sich hören ließ, weil sie sich mit Dingen beschäftigte, über die sie nicht ausgefragt werden wollte. Und was hatte das zu bedeuten?

Alles.

Der Kutter hatte die Geschwindigkeit verringert. Sie befanden sich irgendwo zwischen Spro und Fagerstrand, dort vorne lag dunkel Håøya. Margaret trat aus dem Steuerhaus und atmete den Geruch von Meer ein: Ein sanfter Märzmorgen war im Entstehen begriffen, der schönes Wetter verhieß. Die Reling war feucht vom Tau, sie hielt sich fest und spürte, wie sich das Tuckern des Motors durch den ganzen Körper fortpflanzte. Sie wollte nicht an Karen denken, bestimmt ging es ihr gut. Daß sie nicht angerufen hatte, konnte ebensogut darauf hindeuten, daß sie sich darin übte, ihr eigenes Leben zu führen.

Es war nichts passiert.

Sie war inzwischen ein großes Mädchen und konnte auf sich selbst aufpassen. Außerdem waren es eher die Jungen, denen etwas zustieß, sie fielen der unprovozierten Gewalt, die unter ihnen herrschte, zum Opfer – dort in der Stadt hinter ihnen, die noch immer unterhalb der Hügel schlief. Sie drehte sich um, doch sie war nicht mehr zu sehen.

Auch auf See regte sich nichts.

Im inneren Oslofjord waren zwar nicht besonders viele Fischer registriert, aber einige gab es doch. Vielleicht lagen sie außerhalb des Drøbaksterskelen, sie wußte, einige von ihnen verfügten über Boote, die so schnell waren, daß sie in aller Herrgottsfrühe bis nach Færder und wieder zurückfahren konnten.

Ein Ruf des Jungen unterbrach die Stille.

Hinter ihr sagte Willy Bertelsen irgend etwas, und sie drehte sich um. »Er sagt, da vorne treibt irgendwas.«

Bjørn stand mit dem einen Fuß auf der Reling und zeigte ins Wasser. »Es sieht aus wie ein Netz«, rief er nach hinten. »Es hat einen Benzinkanister als Boje, der muß sich gelöst haben, er treibt herum. Sollen wir ihn hochnehmen?«

»Nein!« rief sein Vater zurück. »Paß nur auf, daß er nicht in die Schiffsschraube gerät!«

Er bereitete sich darauf vor, ihn in einem Bogen zu umschiffen, da rief der Junge wieder: »Stop! Warte mal, fahr rückwärts, verdammt! Rückwärts!«

Margaret ging nach vorne, während Bertelsen die Maschine auf Rückwärtsgang einstellte und die Gischt achtern aufschäumte. Sie lehnte sich vor, der Parka flatterte, und das Haar flog ihr um die Ohren.

»Da!« sagte der Junge und zeigte. »Da! Was zum Teufel ist das?«

Sie folgte seinem Blick. Etwas Schweres lag da und wurde im Wasser hin- und hergetrieben, am einen Ende war ein Plastikkanister befestigt, und als der Kutter langsam näherglitt, rollte es zur Seite und schlug gegen die Bootswand.

Sie trat schnell einen Schritt nach hinten.

»Eine Leiche«, sagte sie leise, so leise, daß sie glaubte, es wiederholen zu müssen, obwohl Bjørn Bertelsen sicher dasselbe sah wie sie. »Es ist eine Leiche!« rief sie, und jetzt hatte auch Willy es gehört, er kam mit langen Schritten nach vorne.

Der Motor tuckerte im Leerlauf, das Boot drehte sich langsam mit der Breitseite in die Wellen, während sie sich alle drei über die Reling lehnten.

»Verdammt«, sagte Willy Bertelsen schließlich. »Sicher ist das eine Leiche.«

 

Sie holten sie nicht an Bord.

Der Junge hing über der Reling und hielt sie mit einem Bootshaken fest, während sein Vater über Sprechfunk die Polizei anrief. Dann kam er wieder heraus. »Übernimm mal da drin«, sagte er kurz, und der Sohn nickte und ging. Sein Gesicht war in der Umgebung des Mundes ganz weiß.

Willy Bertelsen schob den Bootshaken etwas besser unter die Seile, mit denen zwei Füße in schwarzen Stiefeln zusammengebunden waren, und hatte einen verbissenen Gesichtsausdruck. »Ja, ja«, sagte er bloß. »Da ist ja für Sie aus der Angeltour nichts geworden, Moss.«

Sie antwortete nicht.

Weder das Alter noch das Geschlecht der Person dort unten im Meer ließ sich bestimmen. Die Haare wie Seegras um den Kopf, das Gesicht nach unten, der Rücken nach oben, halb in die Wasseroberfläche getaucht, ein Hosenboden, der dunkel von Feuchtigkeit war, ein rotes T-Shirt und dazwischen ein breiter Streifen bläulich weißer Haut. Sie räusperte sich. »Es ist auf jeden Fall kein Selbstmörder«, sagte sie mit rostiger Stimme. »Hier wollte irgend jemand etwas Lästiges loswerden.«

Willy Bertelsen wechselte die Hand, die Knöchel, die den Bootshaken umklammerten, waren weiß, denn es war mühsam, gegen die Wellen anzukämpfen. »Woher wissen Sie das?« fragte er.

»Ich weiß gar nichts«, sagte sie. »Aber hätten Sie sich Ihre Füße so zusammengebunden, wenn Sie vorhätten, ins Meer zu springen?«

Er sah sie an und schüttelte den Kopf. »Ich frage mich bloß, warum ein Schwimmer daran befestigt ist«, antwortete er nur.

»Der Kanister war vermutlich mit Sand oder Wasser gefüllt«, sagte Moss. »Er sollte wohl als Ballast dienen, nicht als Schwimmer. Dann ist irgendwas schiefgelaufen, und das Wasser, oder was auch immer, ist ausgelaufen. Wieviel faßt der Kanister, was meinen Sie?«

»Sieht aus wie ein Fünfundzwanzig-Liter-Kanister«, sagte Bertelsen.

»Der Verschluß sitzt noch drauf«, sagte Moss. »Kann es sein, daß der Kanister leckgeschlagen ist?«

»Gestern war doch so ein schreckliches Wetter«, sagte Bertelsen und blickte über die Reling. »Sturmböen, haben sie beim Wetterdienst gesagt. Anscheinend ist zuviel Lose gegeben worden.«

»Lose?«

»Sehen Sie nicht die Leine da, zwischen ... na ja, von der Leiche zum Kanister? Sie ist mindestens anderthalb Meter lang. Bei den Wellen gestern war der Kanister wahrscheinlich einem ziemlichen Zug ausgesetzt, vor allem, wenn ... das da, die Leiche, nach oben wollte. Die füllen sich mit Luft, wissen Sie. Ein unglaublicher Auftrieb. Und dann ist der Kanister über den Meeresgrund geschleift worden, in dieser Gegend gibt es viel scharfen Schiefer, und dann ist er wohl leckgeschlagen. Er sieht nicht aus wie die Kanister, die man sonst verwendet, das Plastik ist so dünn, vielleicht ist er eher fürs Campen geeignet.«

Er schaute wieder ins Wasser.

Margaret Moss tat dasselbe. Der eine Arm der Leiche klatschte gegen die Bootswand. Die Hand war klein. Vielleicht war es ein Mädchen? Sie konnte sich nicht dagegen wehren: Schnell versuchte sie sich zu erinnern, ob Karen ein rotes T-Shirt besaß.

Sie wußte es nicht.

Selbstverständlich war es nicht Karen.

Natürlich nicht!

Sie warf Bertelsen einen raschen Blick zu. Er hatte erzählt, daß Bente blond sei, konnte die hier blondes Haar gehabt haben, bevor es so salzwassernaß und tangartig geworden war? Sie glaubte es zwar nicht, hatte aber auch keinerlei Erfahrung mit Wasserleichen. Im Lauf der kurzen Zeit, die sie bei der Polizei gewesen war, hatte sie nur eine Wasserleiche gesehen, einen Penner, der vom Bootssteg gefallen war. Er hatte einige Tage im Wasser gelegen. Wie lange diese Leiche an den Stränden entlanggetrieben war, ließ sich nicht ohne weiteres sagen, aber der Körper in dem T-Shirt wirkte so aufgedunsen, daß es wohl schon eine ganze Weile sein mußte. Es graute ihr davor, daß die Polizei kommen und die Leiche umdrehen würde.

Sie blickte schnell zu Bertelsen hinüber. »Kommt die Wasserschutzpolizei hierher?«

»Ja«, sagte er, hielt den Bootshaken mit aller Kraft fest und versuchte, die Leiche ruhig treiben zu lassen.

Margaret dachte, es ging doch mit dem Teufel zu, daß sie ausgerechnet auf diese Tour mitgekommen war, auf der Bertelsen und sein Sohn eine Wasserleiche fanden. Sie schniefte und wischte sich mit dem Ärmel die Nase. Sie überlegte, ob sie Bertelsen bitten könnte, sie als seine Cousine oder so auszugeben, aber noch bevor sie den Gedanken zu Ende gedacht hatte, war ihr klar, daß das ein alberner Einfall war. Sie war Zeugin, sie würde auf dem Präsidium verhört werden, und sie würde gezwungen sein zu sagen, wer sie war.

Die erfolgloseste Detektivin der Stadt – at it again!

Verdammt!

Sie schniefte erneut und hielt sich an der Reling fest, während das Boot hin- und herschlingerte, und blickte hinüber zu den nördlichen Hügeln.

Das da im Meer war definitiv nicht sehenswert.

2

All your fears are foolish fancies, maybe.

Norton/Burnett

Es war Vormittag in Grønlandsleiret, der rote Gelenkbus schaukelte vorwärts und hielt mit einem so lauten Zischen der Druckluftbremsen, daß sich die Tauben von dem gelblich bleichen und matschigen Rasen im Park erhoben und fächerförmig in Richtung Polizeipräsidium flatterten.

Margaret Moss wühlte in ihrem Parka nach ihrer Fahrkarte. Nachdem sie sie entwertet hatte, setzte sie sich auf einen der hintersten Plätze und starrte müde und mit kleinen Augen durch ein Fenster, das grau von Schmutzspritzern war. Der Winter war lang gewesen, und jetzt war Frühling.

Eine Art Frühling jedenfalls. Unter den Büschen im Park lagen noch Schneereste, die aussahen wie die Laken in den Zimmern der Studentenwohnheime von Margarets Jugendlieben: grau.

Frühling in Oslo, der schmutzigsten Stadt der Welt.

Ein einziger Lichtstrahl im schwarzen Tunnel dieses Tages: Inspektor Averøy, ihr ehemaliger Vorgesetzter und alter Feind, hatte nicht mitbekommen, daß sie im Präsidium war. Das war immerhin etwas. Sie hatte sich für jemand von auswärts ausgegeben, aus Nordnorwegen.

Und die Leiche war die eines Mädchens. Das hatten sie gesehen, sobald die Wasserschutzpolizei gekommen war und sie aus dem Wasser geholt hatte. Jetzt durchforsteten sie vermutlich die Listen über vermißte Personen, versuchten herauszufinden, wie lange sie im Meer gelegen hatte, ob sie tot gewesen war, bevor man sie ins Wasser geworfen hatte.

Solche Sachen.

Mit denen Margaret Moss zum Glück nichts zu tun hatte. Zumindest war es kein Mädchen gewesen, das sie gekannt hatte.

Es zog im Magen. Wurde sie plötzlich reisekrank?

Da fiel ihr ein, daß sie seit beinahe achtzehn Stunden nichts mehr gegessen hatte. Der Bus hielt mit einem verdrießlichen Rülpser am Oslo City Einkaufszentrum, und ohne weiter nachzudenken, stieg sie aus. Es gab massenhaft Cafés im Oslo City.

Und eine Filiale des staatlichen Wein- und Spirituosenhandels.

Das brauchte sie.

Es würde ein langer Tag werden. Das tote Mädchen trieb in ihre Gedanken hinein und wieder hinaus, genau wie es von der See hin- und hergetrieben worden war.

Nach einem Krabbenbrot und einer Tasse Tee fühlte Moss sich allmählich etwas besser. Sie würde sich jedenfalls nicht mehr übergeben müssen.

Sie gähnte lange und schüttelte sich, sie spürte, daß sie einen pelzigen Belag auf den Zähnen hatte, und das Haar hatte sich draußen auf See verfilzt. Vermutlich hätte sie einen Blick in einen Spiegel werfen sollen, bevor sie ins Café ging. Besonders stadtfein war sie auch nicht in ihrem ausgeblichenen Parka, den verwaschenen Jeans und den schmutzigen Joggingschuhen.

Die Fahrt heute nacht war vergeblich gewesen, in jeder Hinsicht.

Warum hatte sie sich überhaupt in die Sache mit Bertelsens verschwundener Tochter hineinziehen lassen?

Gib’s zu, Moss. Du hast es nicht verwunden, daß du bei der Ortskundigkeitsprüfung für den Taxischein durchgefallen bist!

Nein, vermutlich hatte sie das nicht.

Sie hatte versucht, den Taxischein zu machen, hatte gemeint, es müsse ein leichtes Spiel sein für eine, die die Stadt wie ihre eigene Westentasche kannte. Eine, die in kalten und defekten Autos in jeder verdammten Nebenstraße von Oslo gesessen hatte, auf der Jagd nach untreuen Ehemännern und ebensolchen Ehefrauen. Daher hatte sie es mit dem Lernen nicht so genau genommen. Allerdings war sie deshalb durchgefallen, und so würde es weiterhin kein Zubrot zu dem wenigen geben, was sie als Privatdetektivin zusammenzukratzen vermochte. Typisch fehlgeschlagener Plan. Und davon hatte sie ja genug gehabt in ihrem Leben, von dem Tag, an dem sie als mittelmäßig erfolgreiche Schauspielerin das Nationaltheater verlassen hatte, über ein miserables juristisches Examen auf der Grenze zum Nichtbestehen, bis zu dem Tag, an dem sie im Jähzorn beim Polizeipräsidium von Oslo gekündigt hatte, noch vor Abschluß des praktischen Teils der Ausbildung, und als Privatdetektivin begonnen hatte.

Aus diesem Grund hatte sie auch keine Zulassung als Rechtsanwältin.

Und jetzt bekam sie nicht einmal eine Zulassung als Taxifahrerin.

Shit!

Und Karen wollte nicht mehr zu Hause wohnen, und anrufen tat sie auch nicht. Die depressive und ironische Verfassung war also kein Wunder. Und Moss wußte, daß eine solche Stimmung sie zu merkwürdigen Dingen verleitete. Zum Beispiel, nach den ausgerissenen Gören anderer Leute zu suchen. Die berühmten Nadeln im Heuhaufen. Normalerweise übernahm sie keine solchen Fälle, es hatte keinen Sinn, die Jugendlichen hauten aus freien Stücken ab und kamen erst zurück, wenn sie selbst Lust dazu hatten. Aber offenbar hatte sie ihren empfindsamen Tag gehabt, als Bertelsen sie gefragt hatte, ob sie ihm helfen könne. Der freundliche Bertelsen, bei dem sie manchmal Fisch kaufte, wenn er mit seinem Fischkutter unten an der Anlegebrücke beim Rathaus lag.

 

Das war vor drei Tagen. Sie war an den Beinen zu dünn bekleidet gewesen, hatte sich auf einen verräterischen Föhnwind verlassen und die hochhackigen Lederstiefeletten mit der dünnen Sohle angezogen. Mit klappernden Absätzen war sie gutgelaunt in die Stadt gegangen und hatte sich lediglich die Zeit genommen, von unterwegs anzurufen und sich nach dieser Taxiprüfung zu erkundigen.

Und dann war sie durchgefallen.

Sie hatte auf dem Platz vor dem Rathaus gestanden, und der Tag war plötzlich kalt und grau geworden.

Sie spürte, daß sie an den Beinen fror und wie die Blasenentzündung bereits wieder hinter der nächsten Ecke lauerte. Sie dachte daran, daß es heute auf den Tag vier Wochen her war, seit sie eine Art Lebenszeichen von Karen bekommen hatte, und daß zu Hause Rechnungen in Höhe von etwa 15 000 Kronen lagen. Da war sie aus der Telefonzelle und über den großen Platz gegangen, hatte das Glokkenspiel der Rathausuhr eine seltsame Version des Volksliedes ›På solen jeg ser‹ spielen hören und hatte sich dann in der Schlange bei Bertelsens Fischkutter wiedergefunden, wo sie um einen Liter Krabben und eine Portion Kabeljau gebeten hatte.

Irgend etwas mußte sie ja unternehmen.

Das Schiff hieß Oslopiken, das Oslomädel, und es hatte seinen Liegeplatz auf Nedre Bekkelaget. Baujahr 1939, der Motor war 1955 ausgewechselt worden, und jedes Frühjahr war das Deck lackiert und alles unterhalb der Wasserlinie mit Antifouling bestrichen worden.

Bertelsen selbst war etwa fünfzig Jahre alt, dünn und sehnig und mit einem Isländerpulli und einer orangefarbenen Kunststoffhose bekleidet. Er hatte sie mit einem hellblauen und bekümmerten Blick angesehen und gefragt, ob sie tatsächlich Detektivin sei.

So war es gekommen, daß Moss für eine Weile bei Bertelsen anmusterte.

Sie war über ein Deck geschlittert, das glatt war von Seewasser und Fischeingeweiden, und war ungeschickt die steile Treppe hinuntergeklettert.

Unter Deck roch es nach Sonnenöl, Fisch und Petterøes Tabakmischung. Warm war es außerdem, sie öffnete ihre Jacke und sah sich neugierig um. Oslopiken war gut instand gehalten. Ein Kessel brodelte auf dem Propangasherd, und Willy Bertelsen schüttete aus einer Papiertüte Kaffee hinein.

»Der gute alte Kochkaffee«, sagte er, wobei er ihr den Rücken zuwandte. »Es heißt, er sei voller Cholesterin, aber egal. Möchten Sie Sahne?«

»Nein danke«, sagte Moss und nahm den Becher in Empfang, der nach Waldwanderungen und fünfziger Jahren roch.

Unter der niedrigen Decke war es neblig von Zigarettenrauch gewesen, bis Bertelsen endlich auf das Thema gekommen war, das ihm am Herzen lag.

»Sie ist früher schon mal verschwunden«, sagte er. »Und man will ja auch nicht überreagieren. Das sag ich zu meiner Frau. Sie ist vielleicht bei einer Freundin, sag ich.«

»Wie lange ist sie schon weg?« fragte Moss.

Er sah sie unglücklich an. »Das ist es ja, was wir nicht wissen. Sie hat seit einem Jahr ein Zimmer bei ihrer Oma, eine Art Mansardenzimmer. In Tøyen. Aber sie – also die Oma, die Mutter meiner Frau –, die ist ja so senil und verwirrt, daß sie nicht mitkriegt, wenn jemand kommt oder geht, vermutlich wollte Bente deshalb so gerne da wohnen. Sie dachte, sie könnte machen, was sie wollte. Und die Alte, also die Oma, die kann sich nicht mehr daran erinnern, wann Bente zuletzt zu Hause war.«

Er blickte düster in den dickwandigen weißen Becher. »Viel Hilfe können wir von ihr also nicht erwarten!« Er blickte Moss mit rotgeränderten Augen an. »Das heißt, es kann schon viele Wochen hersein.«

»Und die Polizei?«

»Nein, das wollen wir ja nicht. Wenn sie jetzt beispielsweise nur einen Kerl kennengelernt hat ... Wissen Sie, sie bringt uns um, wenn wir die Polizei einschalten. Sie ist so eigensinnig, unsere Bente, das ist sie immer schon gewesen, hat gemacht, was sie wollte. Aber diesmal sind wir unruhig, das sind wir wirklich.«

Moss trank Kaffee und dachte nach. »Was hatten Sie denn gedacht, was ich machen sollte?« fragte sie schließlich.

Da schluckte Willy Bertelsen, so daß sein großer Adamsapfel hüpfte. »Ich dachte, Sie könnten mal einen abendlichen Stadtbummel machen«, sagte er dann.

 

So kam es, daß Moss in der Abenddämmerung des folgenden Tages, ausgerüstet mit dem Konfirmationsbild von Willy Bertelsens Tochter, in die Stadt ging. Sie lief die ganze Tollbugata hinunter und sah sich an jeder Straßenecke gut um, ging die Prinsensgate wieder hinauf, machte einen Schlenker durch die Øvre Vollgate und ging durch die Akersgata zurück zum Wessels plass. Sie ging und ging durch die frühlingsblaue Dunkelheit, während Straßenbahnen klingelten und Autos Wolken von Abgasen verbreiteten, und sie sah an den Straßenecken und Toreinfahrten mehr als genug verwahrloste und verfrorene Mädchen, aber keines, das Bente Bertelsen ähnlich sah.

Schließlich blieb sie bei einer stehen, die auf der Treppe vor dem Papierwarenladen in der Dronningens gate saß.

»Kann ich dich was fragen?«

Das Mädchen blickte auf, sie hatte blondiertes, beinahe weißes Haar und einen Herpesausschlag am Mund, der schlimm aussah. Sie antwortete nicht. Margaret Moss wühlte in ihrer Tasche. »Hier. Hast du die irgendwo gesehen?«

Das Mädchen nahm das Bild nicht, sie saß da, die Arme um den Körper geschlungen, und sah aus, als wäre ihr furchtbar kalt.

»Bist du von der Polizei?« fragte sie und verfolgte mit den Augen ein Auto, das gerade langsam vorbeifuhr.

»Nein«, sagte Moss. »Ich frage im Auftrag eines Vaters, der sich verdammte Sorgen macht.«

Das Mädchen streckte widerwillig die Hand aus, betrachtete das Bild und zuckte mit den Schultern. »Kommt mir nicht bekannt vor. Wie alt ist sie denn?«

»Fünfzehn auf dem Bild, inzwischen achtzehn«, sagte Moss.

Das Mädchen schüttelte den Kopf und gab ihr das Bild zurück.

»Hättest du es mir gesagt, wenn du gewußt hättest, wer es ist?« fragte Moss. Das Mädchen zuckte wieder mit den Schultern. »Weiß nicht. Wenn ich wüßte, daß sie nicht will, daß ihre Leute sie finden, hätte ich nichts gesagt. Aber ich kenne sie nicht. Echt nicht.«

Sie schob die Hände unter die Pobacken, fröstelte.

»Es muß verdammt kalt sein, auf dieser Treppe zu sitzen«, brach es aus Moss hervor.

»Kalt? Verdammt, ich hab jetzt schon seit vier Monaten ’ne Blasenentzündung! Die Antibiotika helfen nicht.«

»Du hättest dich wärmer anziehen sollen«, sagte Moss, die auch eine Mutter war.

Das Mädchen verzog den Mund, so daß die Wunde im Mundwinkel aufplatzte. »Wollunterhosen? In diesem Job? Gute Idee. Hör mal, kannst du nicht abhauen? Du vergraulst mir die Kunden, ich will hier echt nicht länger sitzen als nötig!«

»Brauchst du Geld?« fragte Moss und fühlte sich dumm.

»Wenn du zweitausend Kröten hast, schon«, sagte das Mädchen.

Moss, die gerade mal hundertzwanzig Kronen im Portemonnaie hatte, drehte sich um und ging.

Als sie zu Hause war, rief sie Willy Bertelsen an. Er sprach leise und murmelnd, und sie begriff, daß er seiner Frau nichts davon erzählt hatte, daß er jemanden in die Stadt geschickt hatte, um nach der Tochter zu suchen. »Können Sie nicht morgen mal zum Anleger runterkommen, dann können wir uns näher unterhalten«, hatte er gesagt, und da hatte sie aus einem Impuls heraus geantwortet, daß sie gerne mitkommen und Netze einholen würde.

Er hatte gezögert. Hatte gesagt, daß es kalt sei und daß sie schon um vier Uhr morgens losführen.

»Ist in Ordnung«, hatte Moss erwidert. »Ich fühle mich wohl auf See, und ich habe nichts vor, was ich versäumen würde.«

Und das war der Grund gewesen, warum sie zehn Stunden später auf dem Vordeck gestanden hatte, als die Oslopiken auf das schwarze Wasser des Bunnefjord hinausgetukkert war.

 

Margaret Moss sah auf ihre Armbanduhr, es war bald zwei. Sie erhob sich, nahm ihre Umhängetasche und den Beutel aus dem Schnapsladen und ging steifbeinig zur Rolltreppe, auf der sich die Rentner aus Bjerke und Etterstad drängten, auf der Jagd nach Adrenalinstößen im Alltag.

Draußen wehte ihr Straßenstaub in großen Wolken entgegen, sie kniff die Augen zusammen und stemmte sich gegen den Wind. Während sie an der Ampel wartete, sah sie plötzlich, wie ihr eine bekannte Gestalt auf dem Bürgersteig entgegenkam, ihr Herz übersprang einen Schlag und raste dann davon.

Es war Karen.

Zusammen mit einem langen Kerl mit rasiertem Kopf, Lederjacke, Skaterhose und einem riesigen Hund, dessen Leine am ehesten einer Wäscheleine ähnelte.

Sie öffnete den Mund, um zu rufen, doch da hatte Karen sie schon entdeckt, und im Handumdrehen war sie auf der Straße. Sie rannte, daß ihr Haar flatterte, bahnte sich einen Weg zwischen den hupenden Autos und lief hinüber auf die andere Straßenseite.

»Verdammt noch mal!« rief Margaret in den Verkehrslärm. »Stop!«

Ob sie die Autos oder ihre Tochter meinte, wußte sie nicht einmal selbst. Sie begann auch zu laufen, aber ein riesiger Schatten glitt von links heran, und sie hielt sofort an.

Mit einer Straßenbahn sollte man sich lieber nicht anlegen. Sie hat einen langen Bremsweg und hat einem die Beine abgetrennt, ehe man selbst und der Fahrer sich’s versehen haben.

Als die Verkehrslage endlich wieder etwas klarer war, sah sie den Jungen und Karen drüben auf der anderen Straßenseite, ganz hinten am Zeitungskiosk. Er hielt sie am Arm und blickte zu Margaret hinüber, die die Straße bei grünem Licht überquerte. Sie hatte das unangenehme Gefühl, daß er und nicht ihre Tochter stehengeblieben war, um zu warten.

Seine Augen unter den dunklen Brauen waren überraschend leberblümchenblau. Als sie bei ihnen war, ließ er Karen los und drehte sich zum Gehen. »Bis später«, sagte er über die Schulter hinweg, dann gingen er und der Hund über die Straße in Richtung Kirkeristen.

Karen begegnete dem Blick ihrer Mutter und zuckte mit den Schultern. »Okay«, sagte sie. »Es ist ja gar nicht so, daß ich nicht mit dir reden will.«

»Aha«, sagte Moss.

3

Look at me, I’m as helpless

as a kitten up a tree.

Burke/Garner

»Du hast mir da überhaupt nicht reinzureden«, sagte Karen, als sie im Taxi saßen, und starrte vor sich hin. »Du hast doch selbst niemals ein geordnetes Leben geführt.«

Nein, das hatte sie natürlich nicht, Margaret Moss sah aus dem Autofenster. Sie fuhren Richtung Smestad, so schnell, daß der Kies eines langen Winters hochspritzte. »Kannst du begreifen, warum sie nie die Straßen kehren?«

»Nein«, sagte Karen.

»Dafür bezahlen wir doch Steuern, oder etwa nicht?« sagte Margaret.

»Weiß nicht, ich hab noch nie welche gezahlt«, sagte Karen. »Mama, er ist ein anständiger Typ, echt jetzt.«

»Warum meldest du dich denn nie zu Hause?« fragte Margaret.

»Ach Mann«, sagte Karen. Dann schwieg sie und kaute auf der Innenseite ihrer Wange.

»Hat er gesessen?« fragte Margaret.

»Nein!«

Karen kaute weiter, blickte hartnäckig aus dem Fenster.

»Okay, was ist es dann?« sagte Margaret.

»Ich wußte, daß du Streß machst«, sagte Karen. Dann drehte sie sich um und betrachtete ihre Mutter eingehend. »Pfui Teufel, wie siehst du eigentlich aus? Hast du dich heute nicht gekämmt, oder was?«

»Nein«, sagte Margaret. »Ich ... ach, Karen, ich ... wir haben eine Wasserleiche gefunden! Heute frühmorgens, draußen bei Fagerstrand, sie lag mit dem Gesicht im Wasser, und einen ganz kurzen Moment habe ich gedacht, du bist das!«

Ohne Vorwarnung begann sie zu weinen. Sie beugte sich vornüber und preßte die eine Hand vor den Mund.

»Was?« sagte Karen. »Wo bist du gewesen?«

»Auf einem Schiff«, sagte Margaret, ohne die Hand wegzunehmen. »Sie hatte ein rotes T-Shirt an, und ich wußte nicht, ob es deines war, ich wasche ja nicht mehr deine Wäsche.«

Sie weinte und weinte, und als das Taxi in Smestad vor der verfallenen Villa im funktionalistischen Baustil anhielt, mußte Karen in ihrer Umhängetasche nach Geld suchen, um zu zahlen. Dann stiegen sie aus, und Karen sah unentschlossen aus, bevor sie einen Arm um den Rücken ihrer Mutter legte und sie die schmale Auffahrt entlang stützte.

Als sie an die Haustür kamen, stand dort eine alte Dame in schmutzigen rosafarbenen Pantoffeln, heruntergerutschten Kreppstrümpfen und einem Tweedrock voll weißer Katzenhaare. Margarets Tante Maisen.

»Das schlägt doch dem Faß den Boden aus!« sagte sie und tippte die Asche von ihrer Zigarette ab, die sie zwischen zwei Fingern hielt. »Wart ihr alle beide auf Zechtour?«

 

Eine Viertelstunde später lag Margaret in der Badewanne und hörte ihre Tante und Karen draußen in der Küche laut reden. Maisen lachte ihr gackerndes Lachen, dann erklangen Karens schnelle Schritte im Flur, und die Tür öffnete sich mit einem Knall.

»Willst du Tee oder Kaffee?«

»Kaffee«, sagte Margaret, die eigentlich vorgehabt hatte, sich einen Wodka zu gönnen. »Ich habe schon im Oslo City Tee getrunken.«

»Oh Mann«, sagte Karen. »Du hältst dich aber auch an den merkwürdigsten Orten auf. Vermutlich wolltest du in die Weinhandlung.«

»Ja, das wollte ich vermutlich», sagte Margaret Moss laut zu sich selbst, denn Karen hatte schon die Tür hinter sich geschlossen und war wieder in die Küche gegangen.

Dann saßen sie zusammen wie schon so oft. Tante Maisen, die mit zitternden, blau geäderten Händen ihre Tasse festhielt, während die Zigarettenasche über ihren Pullover rieselte, der früher vielleicht sogar schön und teuer gewesen war, Karen mit ihrer neuesten Frisur, streichholzkurz und schwarz-blau-gestreift, und Margaret im Frotteebademantel, das Haar in ein Handtuch gewickelt.

Plötzlich ging es ihr beinahe richtig gut.

Sie spürte, wie Wochen der Unruhe von ihr glitten, weil ihre Tochter hier saß und weder ertrunken noch unglücklich war. Jedenfalls nicht unglücklicher als sonst.

»Leg mal diese Miene ab, die du gerade machst, ich hab nicht vor, wieder nach Hause zu ziehen«, sagte Karen und schenkte sich Tee nach.

»Schon gut«, sagte Moss. »Kannst du ein bißchen erzählen, was du gerade so machst?«

Es stellte sich heraus, daß der Junge aus der Nähe von Tønsberg stammte und Vebjørn hieß, aber der Name schien ihm nicht besonders zu gefallen, denn er nannte sich Vokter, der Wächter.

»Ach Gott«, sagte Margaret. »Warum denn das?«

»Weiß ich nicht«, antwortete Karen. »Es gefällt ihm wohl einfach. Mama! Es ist nicht so, wie du denkst! Er hat nicht ... er hat nicht in Ullersmo oder so gesessen! Er ist nur ... er hat bloß ... Ach, Mama! Er ist total nett. Wirklich!«

Es wurde still. Die Kolsås-Bahn arbeitete sich von der Haltestelle Smestad aus langsam bergauf, eine Kohlmeise hing kopfüber in der halben Kokosnuß vor dem Fenster und sang zizibäh-zizibäh.

»Eigentlich sah eher der Hund aus wie ein Wächter«, sagte Margaret schließlich.

»Er heißt Vebjørn«, sagte Karen. »Ist das nicht witzig?«

»Doch«, sagte Margaret und seufzte.

»Ich hab mir einen Job besorgt«, sagte Karen nach einer Weile.

»Wo denn?« fragten Margaret Moss und die Tante im Chor.

»Im Kindergarten«, antwortete Karen und blickte triumphierend in die Runde. »Oben auf Ekeberg. Wirklich wahr. Ich hab ihn gestern gekriegt. Ich bleib auf alle Fälle bis zum Sommer. Vielleicht auch länger.«

»Hat er denn Arbeit, dein Typ?« fragte Margaret und hätte sich selbst ins Gesicht schlagen können, weil sie so dumm war, denn natürlich hatte er keine Arbeit, und jetzt hatte sie den großen Auftritt von Karen vermasselt.

Von Karen, die noch nie einen Job gehabt hatte.

»Er kriegt demnächst eine«, sagte Karen und sah an ihrer Mutter vorbei. »Es liegt nicht daran, daß er es nicht versuchen würde. Aber er muß so viel anderes machen. Ich meine, er hat zwischendurch immer mal wieder irgendwelche Jobs.«

»Ich glaube, ich brauche jetzt trotzdem einen Wodka«, sagte Margaret und erhob sich langsam. »Und du, Maisen?«

»Meine Güte, es ist ja ein bißchen früh, und eigentlich mag ich ja keinen Wodka«, sagte die Tante und sah munter aus. »Aber ich kann mich ja hinterher immer noch ein bißchen hinlegen.«

Und während der Märztag verging, Tante Maisens Zigaretten das Wohnzimmer mit blauem Rauch füllten und der Wodka seine Wirkung auf Margaret Moss’ Nerven und das Mundwerk der Tante zeigte, saß Karen mit angezogenen Füßen da, wippte eine halbleere Teetasse hin und her und gähnte.

Maisen befand sich mitten in einer ihrer längeren Ausführungen über das Leben am Theater, damals, als sie Schauspielerin und alles viel besser gewesen war. Margaret schwebte in einem Nebel von Müdigkeit und Alkohol und rief sich ins Gedächtnis, daß sie noch immer nicht vernünftig mit ihrer Tochter gesprochen hatte. »... und damals war er brillant, sag ich euch, er ... oh, ihr wißt, wen ich meine, der mit dem Schnurrbart, er ist inzwischen tot, aber, ach, wie hieß er noch, hilf mir mal, Margaret!« unterbrach die Tante irritiert ihre Gedanken.

»Mjøen«, sagte Margaret aufs Geratewohl. Das stimmte oft, denn es hatte in dieser Familie viele Schauspieler gegeben. Und auch jetzt schien es zuzutreffen, die Tante zwitscherte erleichtert weiter, während Margaret Karen im Sofa anschaute.

Sie wohnte in der Altstadt mit einem Typen zusammen, über den sie nicht sprechen wollte.

Sie wirkte auch mager, die Schlüsselbeine traten auf eine ungesunde Weise hervor, wie sie es sonst nicht taten.

»Ißt du auch mal was?« fragte Margaret und unterbrach den Redestrom ihrer Tante.

»Essen?« erwiderte Karen. »Was meinst du?«

»Imbißbudenessen?« meinte Moss.

»Bohnen«, antwortete Karen. »Linsen, Kichererbsen, mengenweise Gemüse. Kauf ich in Einwanderergeschäften. Sehr billig und viel gesünder als das ganze eklige Zeug, das du dir so reinstopfst. Wenn du dir überhaupt mal was reinstopfst – ich wette mit dir, daß du hier diejenige bist, die an der Imbißbude ißt!«

Margaret sah beschämt unter sich. Es stimmte, daß sie es mit dem Kochen nicht so genau nahm, jetzt, wo Karen nicht mehr zu Hause wohnte. Eine begnadete Köchin war sie ohnehin nie gewesen.

»Du bist so dünn«, sagte sie sauer.

»Ja, das kann man von dir jedenfalls nicht behaupten«, sagte Karen.

Tante Maisen, die Konfrontationen haßte, griff sich ihre Zigaretten und das Feuerzeug, während sie sich und den Sessel, auf dem sie gesessen hatte, von Asche befreite. »Nein, ich glaube, ich leg mich ein bißchen hin«, sagte sie rasch. »Früher war das anders. Da konnte ich die ganze Nacht aufbleiben.«

»Das kannst du immer noch«, sagte Karen. »Wenn du dich nur vorher etwas ausruhst.«

 

Sie versöhnten sich über einem Nudelgericht, das sie in trauter Zweisamkeit zubereiteten. Es gelang Margaret, sich nach nichts anderem als dem Essen zu erkundigen, und Karen ihrerseits war versöhnlich genug, um ihrer Mutter beizubringen, wie man Spaghettisoße kocht, ohne etwas im Schrank zu haben.

»Hab ich von Vokter gelernt«, sagte sie geschäftig und raspelte alte Käserinden in einen tiefen Teller. »Er kann fast alles, weißt du?«

Sie aßen, während Margarets Augen die ganze Zeit zuzufallen drohten, und Karen erzählte eifrig vom Kindergarten Eikenøtten, von ihrer Wohngemeinschaft und der Kunst, Sauerteigbrot zu backen, während die Dunkelheit draußen sich verdichtete. Das letzte, was Margaret in ihrem müden Gehirn wahrnahm, bevor sie am Tisch einschlief, war das Haar des ertrunkenen Mädchens: Wie Seegras oder braune Bindfäden schwamm es auf der Wasseroberfläche.