3Urs Stäheli

Soziologie der Entnetzung

Suhrkamp

7Einleitung

Die Fäden der Netzwerke, die einst die Befreiung aus starren sozialen Beziehungen versprochen haben, entpuppen sich immer deutlicher als Fallen. Trapped in the Net ist etwa der bezeichnende Titel eine der vielen populären netzkritischen Interventionen.[1]  Das Versprechen der Netzwerke hat sich in die Furcht verwandelt, sich nicht mehr aus ihren Fängen entwinden zu können, ja, sogar langsam von diesen stranguliert zu werden. Solche Krisendiagnosen betreffen nicht nur die Sozialen Medien, die schon lange mit dem Vorwurf konfrontiert sind, ihre User*innen so zu vereinnahmen, dass diese nicht mehr von ihnen loskommen. Auf ähnliche Kritiken stoßen wir in nahezu allen gesellschaftlichen Bereichen. Hatte etwa die netzwerkförmige Organisation die Figur des umtriebigen Netzwerkers als Ideal der Selbstbestimmung hervorgebracht, so wird ihm inzwischen die Vernetzungsarbeit immer mehr zur Last.[2]  Wurden kritische Infrastrukturen wie Kraftwerke und militärische Kommandozentren zunächst gerade durch ihre Vernetzung vor konzentrierten Angriffen geschützt, so ist diese heute zum drängenden Sicherheitsproblem geworden. Dass die Netzwerksemantik viele ihrer politischen Versprechen nicht gehalten hat, wird auch an der Neucodierung von politischem Widerstand deutlich. Die identitätspolitische Forderung nach Anerkennung – und damit die Integration in ein hegemoniales Netzwerk – erhält nun Konkurrenz durch die Suche nach Taktiken des Entzugs und der Unwahrnehmbarkeit. Die Frage, wie stark und auf welche Weise Gesellschaften vernetzt sein sollen, eröffnet ein heftig umstrittenes Terrain, auf dem sich auch neue Formen der Souveränität abzeichnen.

Ohne eine Kulturkritik der Netzwerkgesellschaft entwerfen zu wollen, möchte ich diese Kritiken ernst nehmen, denn sie weisen auf eine Erschöpfung des Netzwerkdenkens und Netzwerkhandelns hin – auf eine Erschöpfung, die sich, lange bevor sie in der 8Sozial- und Medientheorie registriert worden ist, als drängendes praktisches Problem geäußert hat. Während Netzwerktheorien unentwegt von der unendlichen Erweiterbarkeit auch als politisches Projekt träumen (wie zum Beispiel in Bruno Latours Forderung nach einem »Parlament der Dinge« deutlich wird[3] ), erscheint diese Forderung den vernetzten Subjekten mehr und mehr als Zumutung. Die Sehnsucht danach, nicht kommunizieren zu müssen, nicht erreichbar zu sein und nicht beobachtet zu werden, nimmt Zuflucht in nostalgischen Figuren einer besseren Welt jenseits der Vernetzung. Bemerkenswert ist, dass es sich hierbei nicht nur um den erschöpften Netzwerker handelt, sondern dass das Management des Netzwerks selbst mit dieser net fatigue konfrontiert ist – und dies keineswegs aus romantisierenden Gründen, sondern um die Überlebensfähigkeit von Netzwerken sichern zu können. Netzwerke drohen sich mit sich selbst zu verstricken, bis hin zur Paralyse, und suchen Abhilfe in neu zu entwickelnden Techniken der Entnetzung.

In diesem Buch verfolge ich drei Ziele: Erstens soll eine Soziologie der Vernetzungskritik skizziert werden; zweitens soll Entnetzung als theoretische Herausforderung für relationale Theorien ausgewiesen werden, um theoretische Figuren des Arelationalen entwickeln zu können; und drittens soll exemplarisch auf unterschiedlichen Feldern (Organisation, digitale Netzwerke, kritische Infrastrukturen) eine Genealogie des Entnetzungsdenkens und von Entnetzungspraktiken entworfen werden. Auch wenn diese Analysen an einigen Stellen zu zeitdiagnostischen Beobachtungen führen, so will dieses Buch weder besorgte Zeitdiagnose noch Entnetzungsratgeber sein. Sein Ausgangspunkt war vielmehr meine Beobachtung, dass einerseits Kritiken an der Vernetzung sich häufen, andererseits aber kein theoretisches Vokabular zur Verfügung steht, um Entnetzung verstehen und analysieren zu können. In der Tat hat das Buch einen seiner Anfänge in einem Projekt zu neuen Formen der Vernetzung – dem Graduiertenkolleg »Lose Verbindungen: Kollektivität im digitalen und urbanen Raum«, das von 2015 bis 2017 an der Universität Hamburg angesiedelt war. Das Kolleg interessierte sich dafür, wie sich durch neue netzwerkförmige Verbindungen Formen der Kollektivität verändern, vielleicht sogar neue bewegliche 9Kollektivitäten entstehen. Es operierte damit innerhalb eines recht euphorischen Netzwerkdenkens, markierte aber mit dem Titel »Lose Verbindungen« bereits auch dessen Grenzen: Was würde es bedeuten, wenn Verbindungen dermaßen deintensiviert und abgeschwächt würden, dass kaum noch von Verbindungen die Rede sein kann? Warum soll die Verbindung in den Vordergrund gestellt werden, und nicht die Distanz, die Unaffizierbarkeit oder der verbindungslose Rest des Verbindungsgeschehens? Die Genese dieses Buches inspirierte auch dessen Organisation: Von einer Analyse der Vernetzungskritik bewegt es sich hin zu ersten Analytiken einer Soziologie der Entnetzung.

Soziale und kulturelle Kritiken der Übervernetzung sind also der Ausgangspunkt meines Unterfangens, die ich als Spuren für ein Unbehagen am Netzwerken selbst lese. Zu diesem Zweck werde ich in Teil I ein Panorama der Vernetzungskritik in unterschiedlichen sozialen Feldern entwerfen, das von der übervernetzten Organisation über den ängstlichen Überwachungsstaat bis hin zu kritischen Infrastrukturen reicht. Die Heterogenität dieser Felder ist bewusst gewählt, da ich davon ausgehe, dass die Kritik an der Übervernetzung keineswegs auf einen sozialen Bereich beschränkt ist, sondern sich in nahezu allen gesellschaftlichen und kulturellen Bereichen etabliert hat. Das Vokabular der Kritik wird sich allerdings stark unterscheiden; es umfasst ebenso technokratische wie humanistische Register, widerständige Losungen ebenso wie souveräne. Ich werde die These entwickeln, dass diese durchgängige, wenn auch im Detail sehr unterschiedliche Kritik auf die Selbstbezüglichkeit von Vernetzung reagiert – auf die Vernetzung um ihrer selbst willen. Damit ist bereits angedeutet, dass die Krise der Vernetzung nicht allein auf Digitalisierungsprozesse zurückzuführen ist, da sich die Selbstreferenz der Vernetzung bereits um 1900 zu installieren beginnt. Man denke etwa an die Diskurse über Neurasthenie, Geselligkeit und Schüchternheit.

Kritiken an der Übervernetzung darzustellen, bedeutet, ihren Impuls aufzunehmen, ohne ihnen in allen Hinsichten zu folgen. In der Tat mögen diese Kritiken manchmal nachgerade hilflos in ihrem Ringen um eine Sprache der Entnetzung wirken; auch suchen sie häufig Zuflucht in nostalgischen und romantisierten Vorstellungen einer »echteren« oder »authentischeren« Welt. Wie ich zeigen möchte, sollte man diese affektive und imaginäre Aufladung 10der Entnetzung als Sehnsuchtsort nicht nur als naive ideologische Täuschung abtun, und zwar deshalb, weil diese zur Funktionsweise von Entnetzung dazugehört. Es scheint kaum ein Entrinnen von diesem Effekt zu geben – sobald man von Entnetzung spricht, werden entsprechende Phantasmen angeregt. Dies mag im ersten Augenblick ärgerlich sein, zumindest dann, wenn man solcherart Romantisierungen kritisch gegenübersteht. Auf den zweiten Blick zeigt sich allerdings, dass diese Aufladung nicht bloß ein Erkenntnishindernis ist, macht sie doch darauf aufmerksam, dass die Rede von Entnetzung keine neutrale oder objektive sein kann – dass es also keinen reinen Zustand der Entnetzung geben kann. Aus diesem Grund werde ich argumentieren, dass die imaginäre Dimension notwendigerweise den Praktiken und Techniken der Entnetzung innewohnt und es ein analytischer Fehler wäre, sie beseitigen zu wollen, um so einen bereinigten Begriff der Entnetzung zu gewinnen.

Die Lektüre der Übervernetzungskritiken ist ein gutes Fundament, um über den Status von Vernetzung nachzudenken. Übervernetzung suggeriert die Möglichkeit einer angemessenen Vernetzung – sei es eine, die menschlichen Vernetzungsbedürfnissen entspricht, oder eine, die effizient und sicher ist. Es wird sich jedoch herausstellen, dass solche Annahmen einer angemessenen, »normalen« Vernetzung fatal sind, weil sie Übervernetzung zu einem vermeidbaren Übel machen. Übervernetzung kann dann auf vielfache Weise pathologisiert und problematisiert werden, ohne das eigentliche Problem in den Blick zu bekommen, das mit der Vernetzung selbst zu tun hat. Ich werde dagegen vorschlagen, das Überborden der Vernetzung nicht als Ausnahme, Fehler oder Unfall anzusehen, sondern als konstitutiven Bestandteil des Netzwerkens. Netzwerke haben per se einen exzessiven Charakter, sind immer schon von einem Netzwerkfieber befallen, immer schon vom Verlangen geprägt, neue Verbindungen zu schaffen und Muster zu identifizieren. In die Netzwerke schreibt sich damit, wie ich argumentieren werde, ein Moment der Apophänie – der unkontrollierten Lust am Muster – ein. Dies bedeutet, dass der Begriff des Netzwerks ebenso wenig ein neutraler Begriff ist wie jener der Entnetzung. Wir sind mit der nahezu umgekehrten Situation konfrontiert: So schwer es fällt, Entnetzung nicht nur als Fluchtbewegung in übersichtlichere Zusammenhänge zu sehen, so schwer fällt es auch, das Netzwerk 11nicht nur als technische Beschreibung von Beziehungen zu verstehen. Während bei der Entnetzung die imaginäre Aufladung zu verdecken droht, dass gerade mit ihrer Hilfe konkrete Praktiken und Techniken der Entnetzung entworfen und ausprobiert werden, so tendiert der Begriff des Netzwerks dazu, seine eigene imaginäre Grundlage auszublenden, um auf diese Weise einen Objektivitätseffekt zu erzielen. Die Notwendigkeit einer solchen Entobjektivierung des Netzwerkbegriffs kündigt sich also indirekt bereits in den Kritiken der Übervernetzung an. Daher muss der Begriff des Netzwerks entnaturalisiert werden: Er darf nicht als bloße sozialstrukturelle Beschreibung begriffen werden, sondern ist als imaginär strukturierte Ordnungstechnik zu verstehen, die mit eigenen politischen Rationalitäten und Kontrollformen verbunden ist.

Die Analyse der Vernetzungskritik wirft also bereits eine Reihe von theoretischen Fragen auf. Das, worauf diese Kritiken indirekt aufmerksam machen, ist das Netzwerkfieber, das heißt die fatale Unentrinnbarkeit des Netzwerkens. Genau diese Unentrinnbarkeit charakterisiert jedoch auch die Architektur von relationalen Theorien, wenn auch nicht durchgängig. Ich werde zu zeigen versuchen, wie sich an den Rändern dieser Theorien Momente der Arelationalität formieren, die sich nicht vollständig in Relata eines Beziehungsgefüges auflösen lassen. Es geht darum, Begriffe für diesen hartnäckigen Rest zu finden; mehr noch, über die Begrifflichkeit des Restes hinauszukommen, um Entnetzung nicht nur als Nebeneffekt oder Unfall des Vernetzungsgeschehens denken zu können. Eine Soziologie der Entnetzung ist demzufolge nicht als Soziologie der Störung angelegt, sondern richtet sich auf jene Praktiken, Techniken und Imaginationen, mit deren Hilfe ein entnetzter Zustand geschaffen werden soll.

So verstanden, operiert Entnetzung notwendigerweise paradox, da sie mit den Mitteln der Netzwerke an deren Auflösung arbeitet. Es ist daher nötig, Entnetzung gleichzeitig als Vernetzungsgeschehen und als Entnetzungsgeschehen zu denken. Sobald man sich begrifflich von dieser Ambivalenz löst, läuft man Gefahr, das zu verlieren, was Entnetzung ausmacht. Gibt man die Ambivalenz zugunsten der Vernetzungsseite auf, müssen alle Phänomene der Entnetzung als ebenso vergebliche wie naive Versuche gelesen werden, der allumfassenden Logik der Vernetzung zu entkommen. Entnetzung wäre dann lediglich eine nicht einmal besonders raffinierte 12Ideologie, nicht mehr als ein Eskapismus der Netzwerkgesellschaft. Höhnisch mag man dann den Entnetzungspraktiker*innen und -theoretiker*innen vorwerfen, dass sie bereits das grundlegendste Axiom der Netzwerkgesellschaft nicht verstanden haben: dass es kein Außen von Netzwerken gibt und dass daher jede Form der Entnetzung eine naive subjektivistische Selbsttäuschung ist. Wenn man jedoch umgekehrt diese begriffliche Ambivalenz zugunsten der Entnetzungsseite auflöst, dann drohen romantisierende Vorstellungen eines unvernetzten Außen, das unabhängig vom Netzwerkgeschehen existiert und durch individuelle Askese und individuelle Praktiken des Ausstiegs erreichbar wäre. Das Entnetzte figuriert dann als ein Sehnsuchtsort, dessen soziale und technologische Verfasstheit aus dem Blick gerät. Ein derart naturalisiertes Entnetztes entzieht sich systematisch einer kritischen Analyse der disziplinierenden und kontrollierenden Effekte von Entnetzung.

Es gilt also, Denkfiguren zu entwickeln, mit deren Hilfe sich diese begriffliche Ambivalenz erkunden und erfassen lässt. Zu diesem Zweck untersuche ich in Teil II fünf konsequent relationale Sozialtheorien im Hinblick darauf, ob und, falls ja, wie sich in ihnen Grenzen der Relationalität bemerkbar machen: Die Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT) Bruno Latours, die Systemtheorie Niklas Luhmanns, die Rhizomatik Gilles Deleuze’, die poststrukturalistische Diskurstheorie von Ernesto Laclau und Chantal Mouffe sowie Georg Simmels Soziologie der Wechselwirkungen. All diesen ansonsten sehr unterschiedlichen Sozialtheorien ist gemeinsam, dass sie antiessentialistisch gebaut sind, das heißt sämtliche sozialen Entitäten als Produkte oder Effekte relationalen Geschehens denken. Diese Relationalität hat unterschiedliche Namen: Assoziation (Latour), Konnektivität (Luhmann), rhizomatische Konnektion (Deleuze), Artikulation (Laclau/Mouffe) und Wechselwirkungen (Simmel).

Das Problem, mit dem die genannten Theorien konfrontiert sind, besteht darin, auch Gegenbegriffe für das Beziehungsgeschehen entwickeln zu müssen – und sei es nur, um diese sogleich wieder aus der Analyse auszuschließen. So finden sich einzelne Hinweise auf ein Denken der Arelationalität als soziomaterielles Phänomen: bei Latour die Figur des Plasmas als dasjenige, das den Netzwerken entgeht; bei Luhmann die Anschlussunfähigkeit als eine spezifische Fähigkeit, es nicht zur Verbindung kommen zu lassen; bei Deleuze die Vakuolen als dem rhizomatischen Geschehen enthobene Orte 13des Nichtgeschehens; und bei Laclau die diskursiven Ruinen als Ergebnisse von Disartikulationspraktiken oder die Indifferenz (Simmel) als Moment der Nichtadressierbarkeit inmitten sozialer Wechselwirkungen.

Entscheidend ist für mich, dass in diesen Figuren oder Begriffen die oben thematisierte Ambivalenz weiterlebt. Denn sie bezeichnen nicht ein unzugängliches Außen relationaler Gefüge, sondern befinden sich inmitten von diesen und entfalten durch diese Positionierung erst ihre eigentümliche Faszinationskraft. Auf der Grundlage dieser Lektüren unternehme ich einen ersten Anlauf einer Analytik der Entnetzung – nicht angelegt als eine große Metatheorie, sondern eher als eine Bricolage unterschiedlicher Momente, mittels deren sich Entnetzung genauer erfassen lassen soll. Um Entnetzung von bloßen Störungen und Unfällen abzugrenzen, werde ich von »Taktiken« und »Strategien« der Entnetzung sprechen. Auf diese Weise soll die Gerichtetheit von Praktiken der Entnetzung in den Blick geraten, ohne diese subjekttheoretisch zu erklären.

Da es mir in diesem Buch nicht darum geht, einen abstrakten begrifflichen Rahmen zu entwerfen, um ihn dann unterschiedlichen Phänomenen überzustülpen, handelt es sich bei meiner Analytik der Entnetzung um eine Zwischenstation, die einerseits bereits von den danach folgenden exemplarischen Analysen informiert ist, andererseits aber noch so im Fluss ist, dass sie durch diese Analysen weiterentwickelt wird. Als Bindeglied zwischen den feldspezifischen Genealogien der Entnetzung und meinen theoretischen Lektüren fungiert Teil III, in dem es um Sozialfiguren der Entnetzung gehen wird. Ich werde dazu den Begriff der Sozialfiguren entpersonalisieren, um eine subjekttheoretische Zuspitzung der Entnetzungsproblematik zu vermeiden. Anhand der Figuren des Schüchternen, des Ladenhüters und des Bufferings werde ich fragen, wie Entnetzung in populären Diskursen verhandelt wird. Diese Figuren stehen exemplarisch für drei unterschiedliche Entitäten der Entnetzung: der Schüchterne für entnetzte Subjekte, der Ladenhüter für entnetzte Dinge und das Buffering für entnetzte Daten. Wie ich argumentieren werde, stellt sich dadurch aber auch die konzeptuelle Frage, welchen Status entnetzte Einheiten haben, bzw. wie diese gefasst werden könnten, ohne eine atomistische Perspektive zu verfolgen.

Schließlich möchte ich in Teil IV exemplarisch aufzeigen, wie 14sich in Auseinandersetzung mit der Kritik an der Übervernetzung ein praktisches Wissen der Entnetzung formiert und welche Praktiken und Techniken es hervorbringt. Ich werde mich auf drei unterschiedliche exemplarische Felder der Entnetzung konzentrieren: Organisationen, digitale Netzwerke und kritische Infrastrukturen. Zwar überlappen diese drei Felder auf vielfältige Weise – man denke nur an die Digitalisierung von Organisationen und deren Sicherheitsinfrastrukturen –, aber dennoch handelt es sich insofern um distinkte Felder, als sie unterschiedliche Traditionen der Reflexion herausgebildet haben: die Organisationstheorie, die Medientheorie und die Infrastruktur- beziehungsweise Security Studies. Auch wenn sich diese Diskussionen wechselseitig kaum beachten, formulieren sie ähnliche Problemlagen der Übervernetzung. Wir werden aber sehen, dass sich die Kriterien für dieses »Über«, also dafür, was wann als »zu viel« gilt, je nach Feld beträchtlich voneinander unterscheiden. Ich gehe bewusst von Feldern aus, um nicht ein überlastetes, zu entnetzendes Subjekt als Ausgangspunkt zu nehmen. Nur so kann es gelingen zu verstehen, wie Entnetzung im Zusammenspiel mit Vernetzung zustande kommt – als Bündel taktischer und strategischer Praktiken, die auf Problemlagen in den jeweiligen Felder bezogen sind.

Die bereits in Teil III geleistete Analyse der Sozialfiguren gibt zwar wichtige Hinweise auf die jeweilige Problematisierung von Übervernetzung, bedarf aber der Ergänzung durch andere Wissensformen, die das Entwerfen von Entnetzungspraktiken begünstigen und anregen. Zu diesen gehören fiktionale populärkulturelle Thematisierungen von Entnetzung, künstlerische Projekte sowie konkrete Versuche, Entnetzungstechniken zu etablieren. So wird zum Beispiel das Konzept des organisatorischen Slacks, das für fehlallokierte, überflüssige Ressourcen steht, auf die populärkulturelle Figur des Slackers bezogen; künstlerische Installationen zu Datenabfall stoßen auf medientechnische Diskussionen zum Löschen; Techniken zur Sicherung von Daten in IT-Diskursen begegnen Johnny Mnemonic, einem frühen Helden der Cyberpunkliteratur. Die Einbettung in fiktionale Materialien erlaubt es, den Experimentalcharakter der Entwicklung von Entnetzung deutlicher herauszuarbeiten. Wenn es richtig ist, dass Entnetzungspraktiken immer auch Imaginationen der Entnetzung mitproduzieren, dann kann diese imaginäre Dimension durch Fiktionen besonders gut 15erfasst werden. Das bedeutet aber keineswegs, dass ich von einer strikten Trennung zwischen Fiktion und Realität ausgehe, ganz im Gegenteil: Auch konkrete Versuche der Entnetzung werden von fiktionalen Darstellungen der gewünschten Entnetzungseffekte begleitet und entwickeln Bilder der Übervernetzung. Dadurch, dass sich unterschiedliche Materialtypen begegnen, können die imaginären Aspekte akzentuiert werden, genauso wie die fiktionalen Darstellungen auf die in ihnen entworfenen Praktiken hin lesbar werden.

Mit Blick auf die vielgestaltige und reiche Geschichte der Entnetzungspraktiken muss meine Analyse der drei Felder notgedrungen exemplarisch bleiben. Ich biete keine große Erzählung der Entnetzung, sondern konzentriere mich auf einzelne Episoden, Konstellationen und Figuren, die als Vignetten für unterschiedliche Aspekte dienen sollen. In diesem Sinne arbeitet meine Analyse des Organisationsfelds im ersten Kapitel von Teil IV heraus, wie erste Vorstellungen und Konzepte von Entnetzung noch vor der heutigen Netzwerkorganisation entwickelt worden sind – als gleichsam präadaptive Antworten auf künftige Probleme. Die fraglichen organisationstheoretischen Konzepte werden dadurch attraktiv, dass sie nicht nur als Deskriptionen fungieren, sondern dass sie auch neue Managementtechniken ermöglichen. Der in diesem Zusammenhang zu diskutierende Begriff der losen Kopplung ist beispielsweise sowohl deskriptiv als auch präskriptiv angelegt; er hilft bei der Diagnose der Beziehungsdichte und ist Grundlage von Techniken zu ihrer Lockerung bis hin zum decoupling. Die Analyse von organisationstheoretischen Konzepten ergänze ich durch typische Phänomene der Organisationsentnetzung, wie sie etwa die Gegenbewegungen zum Ideal offener Kommunikation im Open Office hervorgebracht haben. Das Entnetzungswissen in Organisationen wirft auch ein Schlaglicht auf einen wichtigen allgemeinen Aspekt von Entnetzung. Entnetzung geschieht nicht einfach, sondern sie muss organisiert werden – sei es durch wohlüberlegte Strategien, sei es durch Ad-hoc-Taktiken.

Ich habe schon erwähnt, dass sich erste Formen der Entnetzung im Feld der Organisation vor dem Einzug der Digitalisierung etabliert haben; und selbst in der modernen Organisation zeigt sich Übervernetzung nicht nur als Problem der digitalen Vernetzung im engeren Sinne (etwa in Gestalt der Überforderung durch per16manente Erreichbarkeit), sondern auch unabhängig davon in der generellen Steigerung von Vernetzungsaktivitäten (etwa durch die Zumutungen der forciert zwanglosen Teamarbeit). Nebenbei zeigt sich dadurch, dass eine Analyse der Digitalisierung, welche diese als Virtualisierung denkt, deren soziale Relevanz unterschätzt. Denn sie ist blind dafür, dass auch durch digitale Medientechniken geformte Vernetzungsanforderungen sich nicht mehr um die Unterscheidung zwischen Online und Offline scheren. Dies ist der Einsatzpunkt des zweiten Kapitels in diesem Teil IV, in dem eine doppelte Perspektive auf Entnetzung eingenommen wird, um die Grenzen digitaler Anschlussfähigkeit zu diskutieren: Einerseits geht es um Entnetzung auf der Ebene von Medientechniken, andererseits um Entnetzung auf der Ebene subjektiver Erfahrung. Der Blick auf die Medientechniken interessiert sich für die Entnetzung von Daten innerhalb digitaler Infrastrukturen. Auf welche Weise leben Daten, die ihre Anschlussfähigkeit verloren haben, weiter? Dies wird mich zur Diskussion verlorener Datenpakete, ihres Fortlebens als »schmutzige« Daten und der Datenhygiene führen. Die Beschreibung dieser anschlusslosen Daten nutzt häufig organische Metaphern, beispielsweise die der Zersetzung oder des digitalen Verfalls. Mit dem Begriff der internalisierenden Analogisierung verstehe ich diese Metaphern als Versuche, im Inneren von digitalen Netzwerken ein Außen zu schaffen und die Endlichkeit digitaler Verbindungen denkmöglich zu machen. Beim Blick auf die subjektiven Erfahrungen interessieren mich die Strategien der externalisierenden Analogisierung, die einen analogen Ort außerhalb digitaler Netzwerke schaffen sollen. Exemplarisch diskutiere ich dies am Beispiel des Digital-Detox-Tourismus und an den Kämpfen um ein »Recht auf Diskonnektion« in Unternehmen. Dabei betont mein Begriff der Analogisierung, dass das Analoge zwar auch, aber eben nicht nur ein Phantasma ist. Es existiert nicht immer schon, sondern muss durch spezifische Praktiken erst hergestellt werden.

Schließlich befasse ich mich im letzten Kapitel von Teil IV mit dem Feld der Sicherheitsdiskurse und Sicherheitstechniken zum Schutz kritischer Infrastrukturen. Wie kann gezielt Anschlussunfähigkeit hergestellt werden, um wichtige Daten und Server zu schützen? Zwei Schauplätze, die gleichermaßen in der IT-Community und in der Populärkultur prominent geworden sind, dienen mir als Ausgangspunkt: die Idee eines Air Gaps (das heißt eines Luft17grabens in Netzwerken), mit dessen Hilfe eine perfekte Isolierung von Infrastrukturen möglich sein soll; und das Sneakernet (buchstäblich ein Turnschuhnetzwerk), welches menschliche Körper gerade wegen ihrer digitalen Anschlussunfähigkeit in eigenständigen Botennetzwerken einsetzt. Mich interessiert weniger, ob etwa das Air-Gap-Modell funktioniert, sondern ich stelle die Frage, welche Vorstellungen der Entnetzung sich in solchen Modellen äußern. Es geht also zum einen und zunächst um Entnetzungsstrategien, welche Netzwerke durch Isolierungsmaßnahmen schützen sollen, ohne sie zu zerstören, und zum zweiten um Entnetzungstaktiken und -strategien, welche unmittelbar in das Netzwerkgeschehen eingreifen. Die Figur des Kill Switch (Ausschalters) soll gefährlichen Netzwerkdynamiken als letzte Option dadurch begegnen, dass ein Netzwerk ausgeschaltet werden kann. Wiederum ist es müßig, darüber zu streiten, ob ein solches Ausschalten möglich ist, sondern es geht um die diskursiven und praktischen Effekte eines solchen Schalters. Ich werde das Problem erneut aus zwei Perspektiven diskutieren: als präemptiven nationalstaatlichen Internet-Kill-Switch und als reaktiven Kill Switch zur Eindämmung eines feindlichen Virenangriffs. In den Sicherheitsdiskursen wird die Frage der Entnetzung häufig so stark radikalisiert, dass sich die Entnetzung als neue Grenzziehung entpuppt: sei es als Isolation, sei es als Ausschalten. Solche Grenzziehungsprojekte sind aber gerade wegen ihrer Unmöglichkeit für eine Soziologie der Entnetzung interessant. Denn das, was sie zu bewirken imstande sind, kommt nicht erst dann zum Tragen, wenn es erfolgreich durchgeführt wurde, sondern bereits dadurch, dass sie mediale Infrastrukturen und Akteure auf die mögliche Abschaltung des Internets vorbereitet. In diesem Kapitel zeigt sich besonders deutlich der politische Charakter von Entnetzung: Die Fähigkeit zur Entnetzung könnte neue Formen der politischen Souveränität ankündigen. Der Teil schließt mit einer kurzen Analyse von Cyberapokalypsen, die jenen Zustand imaginieren, der viele Sicherheitsfantasien implizit anleitet: den vollständigen Zusammenbruch digitaler Infrastrukturen durch einen Virenangriff. Dabei geht es mir nicht so sehr um die Katastrophe selbst, sondern ich versuche, diesen Szenarien ihr apokalyptisches Pathos zu nehmen, um sie als ein weiteres diskursives Terrain zu lesen, das Praktiken der Entnetzung inspiriert.

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18Die letzten Seiten dieses Buch wurden während der Corona-Pandemie geschrieben, zu der bereits erste soziologische und kulturtheoretische Analysen erschienen sind. Dennoch habe ich mich dagegen entschieden, aus diesem Buch auf den letzten Metern ein »Pandemiebuch« zu machen. Ich teile mit McKenzie Wark die Vorbehalte gegenüber einer zeitnahen Einordnung unvorhergesehener Ereignisse in etablierte theoretische Modelle, sei es das des Ausnahmezustands oder das der funktionalen Differenzierung.[4]  Theorie droht dann schnell, töricht und selbstverliebt dazustehen, die Position eines allwissenden Erzählers einzunehmen, der entweder die Erfüllung der eigenen Diagnosen erschreckt feiert oder eilig nach Gründen sucht, warum es doch anders gekommen ist als vom eigenen Ansatz prognostiziert, ohne diesen selbst in Frage zu stellen. Damit will ich nicht sagen, dass theoretische Analysen nichts zu den gegenwärtigen Entwicklungen zu sagen hätten und sagen könnten.

Gewiss gehören Pandemien zu jenen Phänomenen, in denen sich globale Anschlussfähigkeit kristallisiert: Globale Vernetzung wird plötzlich als Gefährdung sichtbar und sich selbst zum Problem. Die Logik der Ansteckung als unkontrollierte Form der Vernetzung hat viele der Positionen, die ich in diesem Buch diskutiere, geprägt: von den sich über Ansteckung fortsetzenden Nachahmungsketten bei Gabriel Tarde bis hin zur viralen Logik der rhizomatischen Netzwerke bei Deleuze. Diese Logik steht für die Eskalationsdynamik von Netzwerken und für ihre Unkontrollierbarkeit. Wie schon angedeutet, sind genau solche Dynamiken zum Gegenstand von Kritiken geworden und haben zur Entwicklung von Praktiken der Entnetzung geführt. Einige der hier diskutierten Figuren erscheinen im Lichte der Pandemie allerdings in einem neuen Licht oder haben eine unerwartete Prominenz gewonnen. Die Figur des Schüchternen wird nun nicht mehr nur als defizienter Netzwerker gesehen, sondern als kompetenter Praktiker des »social distancing«; das Buffering hat sich durch die verstärkte digitale Vernetzung im Home Office und beim E-Learning zu einem Bandweitenproblem gesteigert, das mit neuen Politiken der Regulierung von Datenströ19men einhergeht; und der Ladenhüter, die unbewegte Ware, ist zum deutlich sichtbaren, massenweisen Ausdruck von ins Stocken geratenen Zirkulationsströmen geworden.

Die gegenwärtigen Diskurse um die erzwungene Entnetzung während der Pandemie teilen mit der Geschichte des Entnetzungsdenkens das Oszillieren zwischen Romantisierung und Kontrollvisionen. So werden Momente der Entschleunigung als neue Resonanzerfahrungen verklärt, wird eine geradezu anthropologische Opposition zwischen Sozialität und Distanz aufgemacht oder von der managerialen Kontrollierbarkeit von Entnetzung geträumt. Der Blick auf die Genealogie des Entnetzungsdenkens mag auf die Schwierigkeiten solcher Diagnosen hinweisen und die notwendige Ambivalenz von Praktiken und Vorstellungen der Entnetzung betonen, aber er kann nicht einer sorgfältigen Analyse der sich neu abzeichnenden Formen der Entnetzung samt ihrer Effekte vorgreifen. Entnetzung bedarf gleichermaßen der grundbegrifflichen Arbeit wie auch der Historisierung; sie muss in je konkreten Konstellationen freigelegt und in ihrer Spezifizität verstanden werden. Damit will ich mich aber keinesfalls in den Chor jener pompösen Stimmen einreihen, die behaupten, nun müsse alles radikal neu gedacht werden. Auch dies scheint mir ein Symptom theoretischer Selbstüberschätzung zu sein sowie das Kennzeichen einer aktivistischen Soziologie, die das Neue prämiert und das Obsolete schnell auszuklammern sucht. Ich werde in diesem Buch versuchen, einen behutsameren Weg einzuschlagen: den der Entwicklung einer provisorischen und gewiss auch brüchigen Analytik der Entnetzung, die sich nicht einfach von der Tradition des relationalen Denkens freischwimmen kann, sondern ihrer bedarf, um überhaupt erst über Entnetzung nachdenken zu können.

21I.Netzwerkfieber: Zeitdiagnosen der Übervernetzung