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Moana

und das Wasser des Lebens

Eva Haring-Kappel

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Impressum:

Personen und Handlungen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.

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Erstauflage 2019

Cover gestaltet mit einem Bild von

© bruniewska – Adobe Stock lizenziert

Lektorat: Redaktions- und Literaturbüro MTM: www.literaturredaktion.de

ISBN: 978-3-86196-821-4 - Taschenbuch

ISBN: 978-3-96074-088-9 - E-Book

*

Inhalt

Prolog

Wie alles begann

Ein Tag in Moanas Leben

Die Geschichte von der großen Stadt

Toco, der grüne Junge

Tocos geheimer Plan

Das Feuerpferd

Die Stadt

Der Großvater

Geister

Ramir

Katzenjammer

Baba Jaga

Das Wasser des Lebens

Abschied von Ramir

In der Stadt

Das kranke Kind

Hoch in den Lüften

Wieder zurück

*

Prolog

Manche Kinder fürchten sich, wenn es dunkel wird, nicht so Moana, sie liebte die Dunkelheit. Die letzte Stunde des Tages, wenn das Licht blasser wurde und sich wie ein schwindender Rest Erinnerung über die Landschaft ergoss, war für sie die spannendste Zeit.

Wenn es Abend wurde, war das Lager plötzlich wie verwandelt. Sobald die Dämmerung hereinbrach und die Sonne am Horizont verschwunden war, wurden die Schatten schnell länger, die Konturen verwischten und sogar die Baracken sahen jetzt schön aus.

Das Licht, das von Westen her immer weicher wurde, legte sich wie eine beschützende Hand über die Landschaft. Die Stille kam wie Nebel angekrochen und es war, als würde die Natur noch einmal tief Atem schöpfen, bevor die Dunkelheit hereinbrach und die Welt scheinbar ängstlich die Luft anhielt. Und plötzlich wurde alles ganz schwarz, so als hätte jemand sehr Großes, einen riesigen Hut über die ganze Welt gestülpt. Bis, ja bis sich vielleicht der Mond kühl und unnahbar hinter dem Wolkenvorhang zeigte.

Dann war die Nacht da und mit ihr die Fieberträume, die manchmal die Kranken auf den Flügeln der Fantasie davontrugen.

*

Wie alles begann

„Sicher ist es mittlerweile schon Mitternacht“, dachte Moana in jener Nacht, bevor alles begann, „vielleicht brauche ich etwas frische Luft.“

Wie so oft zuvor, stand sie auch dieses Mal leise auf und schlich auf nackten Füßen ins Freie. Sofort umfing sie die Dunkelheit wie ein schützender Mantel aus schwarzem Samt, der auch alle Geräusche aufzusaugen schien, denn es war ganz still.

„Ist es normal, dass es soooo dunkel und sooo still ist?“, überlegte das kleine Mädchen.

Moana orientierte sich nur mit ihrer Nase. Sie schnüffelte wie ein kleines Hündchen und begab sich auf ihre Hände und Knie, um dann auf allen vieren loszukrabbeln. Obwohl diese Art der Fortbewegung sonst nur kleine Kinder wählen, die noch nicht laufen können, fühlte sie sich so sicherer in dieser absoluten Dunkelheit. Moana streckte ihre Nase hoch in die Luft und schnüffelte, da war Ellas Hütte, man konnte es riechen, es roch nach welkendem, faulendem Gemüse. Daneben war die Baracke von Wanja und Erin, es roch nicht nach Fisch, aber nach Brackwasser, das hieß, sie hatten wieder nichts gefangen. Dann kamen noch andere Hütten, Zelte und Behausungen, viele Menschen lebten hier und es wurden jeden Tag mehr. Moana kannte mittlerweile nicht mehr alle. Aber die letzte Baracke vor dem Fluss war die von Fedor und Minna. Die beiden waren Moanas Freunde. Sie waren schon sehr alt und lebten nahe am Wasser am Ende des Lagers. Direkt neben ihrem Verschlag wuchs ein großer Busch, der bis spät in den Herbst hinein große, weiße Blüten trug und wunderbar duftete. Dieses Blütenparfüm vermischte sich nun mit dem fauligen Geruch des Flusses.

Moana war an sein Ufer gelangt. Hier waren alle Gerüche noch intensiver, die guten wie die schlechten, und alles zusammen roch mittlerweile vertraut.

Früher, zu einer Zeit, an die sich Moana jedenfalls nicht mehr gut erinnern konnte, war das Wasser des Flusses klar gewesen und hatte blaugrün geschimmert. Das erzählte Papa manchmal. „Es tummelten sich Fische darin und manche davon waren so lang wie mein ganzer Arm!“, prahlte er dann.

Moana konnte das gar nicht glauben, denn jetzt war der Fluss eine schmutzige, schwarze Brühe, die nach Chemikalien und Abwässern stank. Man konnte zwar nicht sehen, ob es noch Fische darin gab, aber Wanja und Erin sollten es langsam wissen. Moana setzt sich vorsichtig in das Ufergras. Manchmal lagen hier Scherben oder alte Dosen, und wenn man nicht aufpasste, konnte man sich ziemlich verletzen.

Es war noch immer völlig dunkel, als sich das Mädchen wieder auf seine Hände und Knie begab, um weiterzukrabbeln. Die Wege zwischen den Hütten und Baracken kannte Moana inzwischen im Schlaf, doch plötzlich hielt sie abrupt inne. Etwas war da, auch wenn sie in dieser undurchdringlichen Finsternis nichts erkennen konnte. Sie war eben mit etwas oder jemandem zusammengestoßen. Verwirrt rieb sie sich den Kopf und versuchte, zu erkennen, was es gewesen sein könnte. Vorsichtig tastete sie mit ihrer Hand die Umgebung ab und gerade, als sie erleichtert ausatmen wollte, weil sie nichts gefunden hatte, spürte sie unter ihren Fingern etwas Rundes, Längliches, offenbar Schuppenbedecktes.

Während ihr Herz einen heftigen Plumps tat, zuckte ihre Hand erschrocken zurück.

Gerade in diesem Augenblick riss die dichte Wolkendecke auf und das silberne Licht des Mondes ergoss sich auf die Wege und Pfade des Lagers und gab der ganzen Szene etwas Kaltes, Schneidendes.

Jetzt erblickte Moana eine sonderbare Gestalt, die da vor ihr am Boden lag. Es war ein grüner Junge.

Ja, sein Körper war von Kopf bis Fuß mit grünen Schuppen bedeckt, die matt im spärlichen Mondlicht schimmerten. Er war nackt, bis auf eine bauschige, weiße Hose, die knapp unter seinem Nabel begann und bis zu seinen Knien reichte. Seine Augen waren geschlossen und er wirkte fast wie eine Puppe, so leblos und starr lag er da.

„Hallo?“ Die Stimme des Mädchens war leise und zitterte zögernd durch die Dunkelheit, die sich jedoch sofort wieder in unnahbarer Stille um die beiden Gestalten am Boden schloss.

Man musste zu dieser Stunde vorsichtig sein, das wusste Moana. Nie konnte man wissen, wer sich im Lager herumtrieb. Die Welt hier war so trügerisch wie das Leben selbst.

„Hallo?“, versuchte sie es noch einmal, dieses Mal ein wenig lauter. In Momenten wie diesen galt es jedoch, sich nicht nur vor den Lebenden in Acht zu nehmen, nein, auch die Toten stiegen um diese Zeit gerne aus ihren Gräbern, verließen den Friedhof und trieben sich an Orten herum, an denen sie eigentlich nichts zu suchen hatten. Das hatten Fedor und Minna, die beide so alt wie die Welt waren und daher über solche Dinge Bescheid wussten, Moana erzählt.

Der Junge, der nun vor ihr auf dem Boden lag, rührte sich nicht. „Vielleicht ist er tot? Womöglich ist er einer von jenen Toten, die immer in Minnas und Fedors Geschichten auftauchen?“

Zögernd beugte sie sich über seinen Kopf und hielt ihr Ohr über seinen Mund und seine Nase. Zuerst hörte sie gar nichts. Dann vernahm sie ganz leise Atemzüge. „Er lebt!“ Irgendwie fühlte sie sich erleichtert.

Moana betrachtete ihn nun eingehender. Sein Gesicht war, bis auf die Tatsache, dass es über und über mit zarten, grünen Schuppen bedeckt war, das eines ganz normalen Jungen. Besser gesagt, das eines sehr hübschen, normalen Jungen. Dunkles, lockiges Haar fiel ihm bis auf die schmalen Schultern.

Jetzt konnte sie auch sehen, dass sich seine Brust ganz sachte hob und senkte. Er atmete ruhig und gleichmäßig. „Er schläft!“, stellt das Mädchen fest.