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Je höher ich komme, desto langsamer werden meine Schritte. Der Boden im Treppenhaus ist hässlich, liebloses Terrazzo aus den Fünfzigerjahren, rot-graue Splitter in schmutzigem Weiß. Ich hätte auch den Aufzug nehmen können, aber in Aufzügen kriege ich Beklemmungen. Vor der Tür im zweiten Stock bleibe ich stehen. »Berliner Krisendienst« steht neben dem Klingelschild. Ich höre Schritte hinter mir. Eine Frau schnauft die Treppen herauf, ich tue unbeteiligt, krame in meiner Handtasche, senke den Blick. Sie verschwindet in der Lungenfacharztpraxis nebenan.

Unschlüssig trete ich einen Schritt zurück und schaue aus dem Fenster. Es regnet, die Pfützen stehen auf der Straße wie ganze Teiche. Noch ist nicht Abend, aber es kommt mir vor, als wäre ich in die dunkelste Stadt der Welt gezogen. Voller Sprühregen und hängender Mundwinkel und voller Hundekot und einsamer Mädchen mit weinrotem Lippenstift. Nur diese großen, weiten Plätze, auf denen man atmen kann, die sind meine Rettung. Aber auch das klappt in letzter Zeit nicht mehr so gut und hier, in dem Treppenhaus, das nach billigem Parfum riecht und nach Schweiß, schon gar nicht.

In meiner rechten Manteltasche suchen meine Finger nach dem Pfefferminzöl. Ich drehe die Verschlusskappe auf, lege den Kopf in den Nacken und lasse einen Tropfen auf meine Zunge fallen. Tränen schießen mir in die Augen. Der ätherische Nebel zieht in Sekundenschnelle durch meinen ganzen Kopf, den Rachen, die Nebenhöhlen, bis in die Ohren. Ich lehne mich an die Wand und schließe die Augen. In meinem Kopf wird es still. Langjährige Konditionierung macht das möglich. Allein der Geruch von Pfefferminze hat mittlerweile eine beruhigende Wirkung auf mich. Skill nennen das die Therapeuten: einen Reiz setzen, der die überstarke Spannung im Körper bei Angstzuständen regulieren soll. Es funktioniert. Nicht immer, aber zumindest jetzt, für den Moment. Langsam öffne ich meine Augen, wische mit dem Handrücken die Tränen ab. Was jetzt? Klingeln oder umkehren?

Berliner Krisendienst. Ich starre auf die Schrift, blau auf weiß. Darüber das Logo, konzentrische Kreise mit Lücken darin, wahrscheinlich wie in den Köpfen der Menschen, die hier klingeln. Die nicht mehr wissen, wie es weitergehen soll.

Wer hat wohl schon alles auf diesen Knopf gedrückt und warum? Ist es bei mir überhaupt schlimm genug?

Ich bin doch nur eine von Hunderten junger Frauen, die jedes Jahr nach Berlin ziehen, um sich ein besseres Leben aufzubauen, und die schließlich an einem Sonntagnachmittag feststellen, dass sie ihren ganzen seelischen Grießbrei in ihrem Koffer mitgebracht haben. Zählt das überhaupt in der Hauptstadt der Einsamkeit?

Immerhin, eine kaputte Ehe steht schon in meiner Bilanz. Und eine hübsche Reihe von Psychotherapien, aufgereiht in meinem Lebenslauf wie auf einer Perlenschnur, zwischen den Jahren 12 und 32. Sie alle haben geholfen, aber keine genug. Die Leere ist immer noch da, die wehtut, wenn alles andere still wird und man im Bett liegt und so früh wach wird, dass die feierwütige Nachbarin schräg unten links noch nicht einmal zu Bett gegangen ist. Wenn ich in letzter Zeit allein in meiner Wohnung bin, bekomme ich ernsthaft Angst, verrückt zu werden. Deshalb renne ich seit Wochen durch die Stadt, studiere Schaufenster in Einkaufscentern und Bildbände über längst verstorbene Schauspieler in den Bibliotheken, laufe über Wochenmärkte und Stadtteilfeste, nur um unter Menschen zu sein. Betont langsam, damit der Kontakt zur Welt möglichst lange hält. Abends bin ich davon so erschöpft, vom Einsam-unter-vielen-Sein, dass ich gerade noch so die Futterdosen für die Katzen öffnen kann, bevor ich mich im Mantel aufs Bett lege und bei laufendem Radio einschlafe. Mich weckt der Wetterbericht, und er ist immer schlecht. Wegen der Ängste und der Leere kann ich nicht mehr arbeiten, und ich weiß nicht, wovon ich im nächsten Monat meine Miete zahlen soll. Okay, es ist doch schlimm genug. Mein Finger ruht für drei Sekunden auf dem Klingelknopf. Nichts passiert. Ist niemand da? Gerade als ich mich umdrehen will, geht die Tür auf. Ein Mann Mitte vierzig im Wollpullover, mit Bart und Brille schaut mich an, ohne zu lächeln.

»Hallo«, sagt er. »Haben Sie einen Termin?«

Mir wird heiß und kalt zugleich.

»Nein, äh, ich komme einfach so.«

Er nickt.

»Na, dann kommen Sie rein.«

Ich mache zwei Schritte über die Türschwelle. Meine Stiefeletten sinken in blaugrauen Filzteppich.

»Einen Augenblick bitte.«

Der Krisendienstmitarbeiter deutet auf eine Reihe Sessel ohne Armlehne und verschwindet. Ich nehme Platz und sehe mich um. An der Wand hängt ein Regal mit Flyern von Selbsthilfegruppen. Rote, pinke, gelbe, blaue. Als ob Probleme weniger wiegen würden, wenn man sie auf farbiges Papier druckt. Hilfe für Depressive, Unterstützung bei Partnerschaftskonflikten, eine Selbsthilfegruppe für Alleinerziehende, eine Gruppe für Angehörige von Alkoholiker*innen, Austausch für Betroffene von Esssucht, eine Trauergruppe. Es scheint, als ob es in Berlin eine ganze Menge Menschen mit Lücken gäbe.

Der Kopf des Mitarbeiters erscheint um die Ecke: »Kommen Sie bitte?«

Ich folge ihm. Ein kleines quadratisches Zimmer, zwei sich gegenüberstehende Sessel. Typisches Therapiesetting, denke ich. Damit kenne ich mich aus. Ich schäle mich aus meinem Mantel. Interessiert, aber ohne sensationslustigen Beigeschmack, richtet der Berater seinen Blick auf mich und faltet seine Hände im Schoß.

»So …«, sagt er. »Was kann ich für Sie tun? Warum sind Sie hier?«

Eine einfache Frage. Tausend Antwortmöglichkeiten: die Trennung von meinem Mann. Der Umzug, weit weg von allem Vertrauten, ins sechshundert Kilometer entfernte Berlin. Mein Kontostand. Die Unfähigkeit, allein zu sein. Die Unfähigkeit, mit anderen zusammen zu sein. Oder die starke Anziehung, die Bahngleise und Hochhausdächer in letzter Zeit manchmal auf mich ausüben. Dabei will ich dieses Leben. Ich will es wie jemand, der Bäume umarmt und sich nicht darum schert, ob sie nass sind.

Ich seufze. Schüttele den Kopf. Öffne den Mund und schließe ihn wieder.

»Ich weiß nicht«, sage ich schließlich. »Ich weiß einfach nicht … Wie findet man den Mut, trotz all der Angst zu leben?«

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Meine Eltern, selber ratlos, ließen mich vorangehen. Sie sahen, wie schwer ich es hatte, aber sie wussten auch, dass es etwas in mir gab, das Richtung Heilung strebte. Also stimmten sie dem Umzug zu. Wir packten meine Sachen und ich zog in die Wohnung meiner Mutter, 35 Quadratmeter im Erdgeschoss des rosafarbenen Hochhauses. Dort fand ich, was ich mir erhofft hatte: Wärme, Unterstützung, Verständnis. Wir besorgten einen leuchtend roten Schulranzen für meinen anstehenden Wechsel in die weiterführende Schule. Alles sollte besser werden. Und die Voraussetzungen waren gut, das Gymnasium, auf das ich kam, war klein, familiär, die Lehrer*innen zeigten viel Verständnis für meine Erkrankung. Kam ich früher als geplant nach Hause, war meine Mutter nie böse. Ich schloss neue Freundschaften, ich meldete mich für die Kunst AG an, nahm an einem Geschichtenwettbewerb teil. Aber die Pfeiler der Angst blieben genau da im Boden, wo sie sich Jahre zuvor eingegraben hatten. Sie saßen schon zu fest. Und jetzt ließ sich der Rückstand, der sich durch meine Fehlstunden ansammelte, längst nicht mehr so leicht aufholen wie in der Grundschule. Meine Leistungen rutschten ab. Alles neigte sich gefährlich zur Seite, ich sah es, aber – wie gegensteuern? Die Dinge begannen mir zu entgleiten.

Je mehr ich die Kontrolle über mein Leben verlor, umso mehr sehnte ich mich nach Halt. Ich entwickelte eine Zwangsstörung in Form von Berührungs- und Ordnungszwängen. Ich musste das Holz an den Türrahmen in einer bestimmten Weise berühren und abklopfen, durfte nur auf bestimmten Gehwegplatten laufen, und wenn ich zwischen mehreren Gegenständen einen auswählen sollte, beim Einkaufen oder Kochen, brauchte ich eine gefühlte Ewigkeit, bis ich den richtigen fand. Wenn ich es richtig machte, konnte ich verhindern, dass etwas Schlimmes passieren würde. So zumindest meine Theorie. Die Zwänge verschafften mir eine Illusion von Sicherheit, sie waren eine Art innerer Schlangenbeschwörung, die mir für einige kurze Momente das Gefühl gab, Katastrophen abwenden und unliebsame Befürchtungen neutralisieren zu können. Mit meinen magischen Zwangshandlungen versuchte ich, den Ablauf der Dinge günstig zu beeinflussen. Aber genauso wenig, wie der Schlangenbeschwörer mit den Tönen seiner Flöte die Schlange wirklich zähmen kann – Schlangen sind schließlich taub –, konnten meine seltsamen Behelfshandlungen meine Ängste wirklich beeindrucken. Sie wirkten immer nur kurz und festigten parallel dazu mein Selbstbild, irgendwie komisch und anders zu sein.

In meiner Jackentasche trug ich jetzt immer einen Notfallbeutel. Darin enthalten ein Sammelsurium an Hilfsmitteln, die sich im Kampf gegen die Übelkeit als mehr oder weniger wirksam erwiesen hatten: Minzöl. Teebaumöl. Spearmint-Kaugummi. Da alles, was nach Pfefferminze schmeckte, gut wirkte, Minzöl aber auf Dauer für mein Taschengeldbudget zu teuer war, griff ich zu Zahnpasta. Halb leere Blend-a-med-Tuben beulten meine Jacken- und Hosentaschen aus. Überall klebten angelutschte Lakritzschnecken, weil ich irgendwo gehört hatte, dass Lakritze gegen Übelkeit half. Einmal fiel in der großen Pause meine Jacke vom Stuhl, und der Inhalt des Beutels kullerte über den blauen PVC-Boden. Hastig sammelte ich alles wieder ein, aber als ich am nächsten Tag an einer Gruppe Jungs aus meiner Klasse vorbeiging, stießen sie einander in die Rippen und ich hörte, wie einer von ihnen seinen Freunden zuraunte: »Die ist voll komisch, die frisst Zahnpasta.«

All das war mir entsetzlich peinlich. Wie sollte ich erklären, warum ich ohne den Geschmack von Minze kaum durch den Tag kam? Wie sollte ich Außenstehenden verständlich machen, dass ich einen Raum nicht verlassen konnte, wenn ich den Türrahmen nicht an der richtigen Stelle berührt hatte?

Die Ängste waren unsichtbar gewesen – die Zwänge fielen auf. Und so kam ich mit elf Jahren zu meinem ersten Therapeuten, Herrn Stein, einem Mann Ende fünfzig mit einer Brille mit eindrucksvoll dicken Gläsern. Oben auf dem Kopf hatte er keine Haare mehr, dafür wuchsen sie links und rechts über den Ohren in krausen Büscheln wie zwei Sträuße Petersilie. Er sprach mit einer lieben, hohen Stimme. Manchmal schloss er minutenlang die Augen, bis ich nicht sicher war, ob sie hinter den Brillengläsern nur eine Pause brauchten oder ob er eingeschlafen war.

Seine Praxis lag auf einer Verkehrsinsel, auf der nur ein einziges Haus stand. Rings um das zweistöckige Gebäude wuchsen hohe, dunkle Tannen. Während der Stunden saß ich, geschützt von dem kleinen Wäldchen, in einem cremefarbenen Schwingsessel und wippte leicht vor und zurück – nicht zu sehr, damit mir nicht schlecht wurde –, während ums uns herum der Feierabendverkehr brauste. Herr Stein, den meine Mutter und ich nach einiger Zeit nur noch »Steini« nannten, gewann mein Vertrauen durch einen Löwen. Es war ein Kuscheltierlöwe von beeindruckender Größe, aber klein genug, dass er auf meinem Schoß sitzen und mit uns Gespräche führen konnte. Der Löwe konnte Dinge sagen, die ich nicht sagen konnte, und fungierte als Sprachrohr zwischen mir und der Welt. Der Löwe wünschte sich zum Beispiel mehr exklusive Papa-Zeit. Er wünschte sich auch, dass meine Eltern mehr miteinander und weniger übereinander redeten.

Als Herr Stein der Meinung war, dass das für mein Alter und diesen Zeitpunkt maximale therapeutische Ergebnis herausgeholt worden war und ich an Stabilität gewonnen hatte, endete diese erste Therapie. »Gesund« war ich nicht, aber man hoffte, dass ich leidig genug funktionierte, um wieder an einem normalen Alltag und der Schule teilnehmen zu können.

Die Hoffnung auf dauerhafte Besserung zerschlug sich schnell. Das lag auch daran, dass meine Mutter zwar liebevoll und fürsorglich, gleichzeitig aber chronisch krank war. Das Leben, das sie mir vorlebte, war eines in ständiger Habachtstellung. Kurz bevor ich zu ihr gezogen war, war sie wegen schwerster Migräne frühberentet worden. Die Attacken kamen und gingen abrupt und legten alle paar Tage unseren Alltag lahm. Dann saß ich im abgedunkelten Zimmer auf ihrer Bettkante und las ihr im Dämmerlicht aus meinen Büchern vor, im Flüsterton, bis sie vor Erschöpfung irgendwann einschlief. Durch die unvorhersehbaren Anfälle war unser Alltag extrem kurzstreckenorientiert. Langfristige Planungen? Nahezu ein Ding der Unmöglichkeit. Ihren Geburtstag feierte sie lieber nicht, weil sie ja nie wusste, wie es ihr »an diesem Tag gehen würde«. Wenn ich in den Sommerferien länger bei meinem Vater war, schickte sie mir Urlaubskarten mit Bildern von französischen Campingplätzen. Darauf beschrieb sie in den ersten Sätzen ausführlich die Art, Intensität und Dauer ihrer Kopfschmerzen, bevor sie erzählte, wie gut das pain au chocolat schmeckte oder was für eine zutrauliche Katze sie getroffen hatte.

Ohne es richtig zu bemerken, begann ich, ihre Sicht auf das Leben zu übernehmen. Besonders ein Gedanke setzte sich bei mir fest: Dein Körper ist unberechenbar. Jederzeit kann er dich hinterrücks außer Gefecht setzen. Fatal war das besonders, weil damit im Grunde genommen alles zu einer potenziellen Gefahr wurde: die Welt da draußen, die mich ohnehin schon verunsicherte – und die Welt in mir, in meinem Körper. Ich erlebte ihn nicht als eine solide Basis, sondern als Variable, auf die ich mich besser nicht verließ. So entwickelte ich neben der Brechphobie auch eine zunehmende Angst vor schlimmen körperlichen Krankheiten, im Fachjargon Hypochondrie genannt.

Das Leiden und die Angst davor, bei wichtigen Terminen und Verpflichtungen auszufallen, war jedenfalls etwas, das meine Mutter und mich verband. Wir konnten beide nicht, wie wir wollten. Das Haus zu verlassen, war uns an vielen Tagen nicht möglich: mir nicht aus Angst, ihr nicht, weil in ihrem Kopf ein Krieg herrschte. Oft sagte sie Dinge wie: »Du verstehst, wie das ist, mein Mäuschen!«

Erst später, als ich in noch folgenden Therapien die Herkunft meiner Glaubenssätze aufdröselte, verstand ich, wieso das chronische Kranksein meiner Mutter dazu beitrug, dass sich meine Ängste manifestierten: Kinder orientieren sich am Verhalten ihrer Bezugspersonen. Manchmal entsteht zwischen Eltern und Kindern eine unausgesprochene Komplizenschaft, ein Sich-auf-die-Seite-der-Eltern-Schlagen – selbst wenn es das eigene Unglück bedeutet. Da mir die Nähe meiner Mutter in meiner frühen Kindheit nicht sicher gewesen war, griff ich dankbar nach jedem verbindenden Element. Etwas, das uns nicht trennte, sondern zusammenschweißte. Wenn wir zusammen litten, waren wir weniger allein. Wir waren nicht so, wie die Welt uns brauchte, aber wir brauchten einander. Es war der unterbewusste Versuch, Bindung herzustellen und aufrechtzuerhalten, aber wir zahlten einen hohen Preis. Schlug ich morgens die Augen auf, war das Erste, was ich tat, meinen Körper auf etwaige Schmerzen, Angst oder nahendes Unwohlsein abzuscannen. Seine Unversehrtheit war nicht mehr selbstverständlich.

Auf meinen Halbjahreszeugnissen begannen sich die Fehlstunden in beachtlicher Höhe zu sammeln. Würde ich überhaupt das Klassenziel erreichen? Ich lernte den Stoff nach, aber die Lücken wurden so groß, dass ich ihre Enden aus dem Blick verlor.

In den Augen der Gesellschaft funktionierte ich schlecht. Für die Kunst war ich gerade richtig. Meine Schulhefte und Tagebücher füllten sich mit Gedichten, Zeichnungen, Liedtexten. Ein vor mir liegendes Blatt blieb nie länger als fünf Minuten leer. Manchmal wollte ich aufgeräumter sein, ordentlich auf den Linien schreiben, wie die Klassenkameradin, die neben mir saß, ihre sauberen Hefte mit sehr geraden Buchstaben und Zahlen füllte, aber es war zwecklos. Bald ragten Landschaften aus Mathematikaufgaben hervor, und Wortinseln annektierten jeden Zwischenraum. An den Wochenenden ging ich oft in den Keller, in dem mein Vater sich ein Atelier eingerichtet hatte. Dort saß ich auf dem alten Sofa mit den losen Sprungfedern und blätterte in Bildbänden oder seinen Skizzenbüchern. Mein Vater malte oder spielte Gitarre, der Raum roch nach Terpentin und Zigarettenrauch, auf dem Plattenspieler knackte Vinyl. Obwohl wir im Keller saßen, war es wärmer als im ganzen Rest des Hauses.

Mit meinem Vater verband mich nicht nur die Liebe zur Kunst, wir teilten auch das, was er immer als »die wichtigste Sache neben Essen und Trinken« betitelte – Humor. Wir mochten ihn schwarz. Weil er von meinen zunehmend hypochondrischen Ängsten wusste, begrüßte er mich, wenn ich die Kellertür öffnete, oft mit den Worten: »Na? Was haben wir denn heute?«

Ich blieb dann stehen und sagte mit tiefer, bedeutungsschwangerer Stimme: »Einen Gehirntumor.«

Oder: »Lungenkrebs.«

Oder: »Es ist ein Herzinfarkt.«

Mein Vater nickte dann dazu mit ebenso ernstem Gesicht und sagte langsam und bedächtig: »Verstehe«, woraufhin wir jedes Mal in befreites Lachen ausbrachen.

Kunst war mein Gegengewicht zu Schmerz und Traurigkeit. Ich fand Trost in Büchern, ich presste sie an mein Herz wie eine alte Freundin, die man nach langer Zeit wiedersieht und die sich in dem Moment der Begegnung auf einen Schlag so vertraut anfühlt, als wäre sie nie weg gewesen. Ich wurde satt von Kunstbildbänden oder Musikstücken oder Kurzgeschichten, satt auf eine Weise, die mich alles, was nicht funktionierte, doch aushalten ließ. Den Künstler*innen fühlte ich mich emotional verwandt. Ich sah, was sie sahen, den Schmerz und seine betäubende Intensität und die Schönheit der Dinge und ihre ungeheure Tiefe. Meinem Vater blieb meine erwachende Begeisterung für die Sprache nicht verborgen und zu meinem 14. Geburtstag schenkte er mir eine Liste, einen persönlich für mich zusammengesuchten Literaturkanon mit Büchern, die er liebte und die Teil seiner umfangreichen Bibliothek waren.

Auf der ersten dieser Listen stand auch Hermann Hesse. In seine Bücher konnte ich eintauchen. Manchmal war es so, als schriebe er direkt zu mir, als wären es keine Bücher, sondern Briefe. Besonders galt das für Unterm Rad, die Geschichte des begabten Klosterschülers Hans, der im Eifer, seine Ausbildung mit Erfolg und besten Aussichten abzuschließen, die Verbindung zu allem verliert, das ihm Freude gemacht hat. Der Schüler zerbricht an der leistungsorientierten Pädagogik, aber auch daran, dass sein Umfeld und er selbst auf seine besondere Sensibilität keine Rücksicht nehmen. Statt schonend mit dem umzugehen, was ihn ausmacht, soll er für ein System passend gemacht werden, in das er niemals hineinpassen kann.

Gesteigerte Empfindsamkeit und verminderte Belastbarkeit gingen bei Hesse Hand in Hand – bei seinen Protagonisten, aber auch in seinem eigenen, von Depressionen begleiteten Leben. Schreiben war für Hesse, der als »Autor der Krise« gilt, Selbstanalyse, Medizin und Bewältigungsversuch in einem. Das Leben literarisch zu meistern, war seine Form der Therapie.

Er schaffte es, mich davon zu überzeugen, dass das Dichten und Träumen Wert hatten, dass sie das Herz lebendig und die Seele in Bewegung hielten. Aber seine Worte warnten mich auch davor, dass dieser Weg in einer Gesellschaft, die vor allem auf Leistung, Prestige und finanzielle Sicherheit setzte, der weniger begangene Pfad war. Bücher wie seine waren überlebenswichtig für mich. Weil ich mich in den Gedanken und Gefühlen anderer wiederfinden konnte, weil ich mich in ihnen spiegelte. Und nach dieser Erfahrung hatte ich mich so sehr gesehnt, in einer Welt, in der ich mich oft so deplatziert fühlte.

Meine Eltern suchten weiter nach Unterstützung. Im Sommer 1999 ging ich zu einem Kinder- und Jugendpsychiater im Frankfurter Westen. Seine Methode war die Traumanalyse. Nachdem er alle spitzen Gegenstände aus dem ersten Traum, den ich ihm erzählte, als Phallussymbole gedeutet hatte, war ich erschrocken und peinlich berührt. Als 14-Jährige wollte ich diese Art von Gespräch mit einem fremden älteren Mann nicht führen. Ich starrte Löcher in den abgewetzten Perserteppich und erzählte von diesem Tag an nur noch von Träumen, die mir weniger symbolhaft erschienen und in denen garantiert keine Stäbe, Rohre oder Höhlen vorkamen. Trotzdem wurde das Thema Sexualität mit dem Beginn der Pubertät omnipräsent. Kichernd stöberten meine Freundinnen und ich in der Bravo, kauften erste BHs und warteten auf unsere Periode wie auf eine Auszeichnung. Jungs, Make-up, Klamotten, all das wurde immer wichtiger. Weil mein täglicher Kampf mit der Angst so anstrengend war, fand ich die Vorstellung, dass mein Leben sich eines Tages durch die Liebe unbeschwerter anfühlen würde, sehr verlockend. In einigen Punkten erfüllte ich nicht die Erwartungen der Gesellschaft, aber auf diesen setzte ich große Hoffnungen. Noch war das alles vage. Wie es sich anfühlte, wirklich verliebt zu sein, das war mehr Ahnung als Wirklichkeit, aber dieses eine große Missverständnis, die Annahme, dass eine Liebesbeziehung mich endlich glücklich machen würde, warf schon in jener Zeit ihren langen Schatten voraus. Und sie waren doch überall: glückliche Paare, in den Märchen, in den Zeitschriften, auf den Plakatwänden. Die ganze Welt schien verliebt und in den Filmen, die wir sahen, wurden aus schüchternen Zahnspangenmädchen Abschlussballprinzessinnen, die mit dem Kapitän des Footballteams zusammenkamen, und Leonardo DiCaprio versank für seine große Liebe sogar gleich im Atlantik. Dass sich das Leben von Frauen vorwiegend darum drehte, den passenden Mann zu finden, schien auf ganz natürliche Weise Bestandteil weiblicher Lebenswirklichkeit zu sein – und wir hinterfragten es auch nicht.

Während meine Freundinnen und ich darauf warteten, dass die Liebe unser Dasein adelte, machten wir Bekanntschaft mit ungebetenen Zaungästen. Die, die auf unsere Verwandlung zu jungen Frauen reagierten, waren nicht die Jungs aus der Oberstufe, die wir heimlich anhimmelten. Es waren ältere Männer. Männer in der U-Bahn, Männer auf der Straße und, besonders verstörend, Männer im Familien- und Bekanntenkreis. Ihre unverhohlenen Komplimente, Anzüglichkeiten und lüsternen Blicke riefen bei mir Ekel und Abscheu hervor. Wenn das die Welt der Erwachsenen war, wollte ich lieber nicht dazugehören. Ich legte die engen Tops und kurzen Röcke in den Schrank und schlüpfte in Kapuzenpullover, um mich der Aufmerksamkeit für meinen sich verändernden Körper von unerwünschter Seite zu entziehen. Ob es damit zu tun hatte, kann ich nicht mit Sicherheit sagen – aber kurz nachdem ich das erste Mal meine Tage bekam, war mir wieder öfter schlecht, und ich begann, wieder weniger zu essen. Nachdem ich einige Zeit ohne nennenswerte Fortschritte bei dem Traum-Analytiker verbracht hatte, holte mich die Wirklichkeit ein: Mein Gewicht war inzwischen bedrohlich niedrig. Der Therapeut empfahl meinen Eltern, mich in einer psychosomatischen Klinik vorzustellen.

Die letzte Schulstunde, die ich besuchte, bevor ich meinen Klinikkoffer packte, war der Musikunterricht. Eine fahle Herbstsonne schien in den Musiksaal, mein Lehrer mit dem weißen Haarkranz, der sich ringförmig um seine spiegelnde Glatze legte, saß am Klavier. Er hatte Noten ausgeteilt und schlug die ersten Töne an.

»Yesterday, all my troubles seemed so far away, now it looks as though they’re here to stay, oh, I believe in yesterday.«2

Mir blieben die Zeilen im Hals stecken. Die Noten auf dem Papier verschwammen vor meinen Augen zu schwarzen schweren Tropfen. Es war das erste Mal, dass ich mich nicht mehr durchmogeln konnte. Es war das erste Mal, dass ich meine Krankheit nicht mehr ausgleichen konnte durch Fleiß oder Anpassung oder den Versuch, irgendwelche Hilfsmittel zu benutzen. Meine Freundinnen packten für die Herbstferien bei ihren Großeltern, ich für die Klinik. Hausschuhe, Nachthemden, ein Radio.

Als meine Mutter mich Richtung Klinik fuhr, spürte ich jeden Kilometer, den ich zwischen mich und meine gewohnte Welt legte, beinahe körperlich. Nach zwei Stunden Fahrt erreichten wir ein kleines Städtchen, das sich in ein Tal schmiegte. Wir durchquerten es und fuhren am Ortsausgang eine steile Straße hinauf. Dort tauchte vor der Frontscheibe die Klinik auf, ein Gebäude in Hanglage mit Blick über die Hügel und Wälder. Meine Mutter hievte meinen Koffer aus dem Auto, dessen schiere Größe mir Schauer über den Rücken laufen ließ: So lange sollte ich hierbleiben? Eine Schwester nahm uns in Empfang. Sie stellte mich auf die Waage, maß meine Körpergröße und machte für meine Patientinnenakte ein Polaroidfoto von mir – auf dem Papier, das sie aus der Kamera zog und zum Trocknen in der Luft herumwedelte, erschien das Bild eines blassen, abgemagerten Gesichts, das ich mit meinem eigenen kaum in Verbindung bringen konnte.

Die ersten Tage schlich ich mit gesenktem Blick durch die Klinik. Lange Gänge, fremde Menschen, ein ungewohnter Tagesablauf, der durch einen Stundenplan klar geregelt war. Einzeltherapie, Gruppentherapie, Kunsttherapie, therapeutisches Reiten. Und immer wieder: Essen zu festen Zeiten. Nachts lag ich schlaflos in meinem Bett und lauschte den fremden Geräuschen und der fremden Stille. Ich rief meine Mutter an und bettelte darum, wieder nach Hause kommen zu dürfen. Aber meine Mutter wusste, dass ich zu Hause keine Perspektive hatte. Die Klinik war die Brücke, über die ich in mein neues Leben gehen musste. Der Moment, in dem meine Füße den alten Boden nicht mehr berührten, aber auch noch nicht den neuen, fühlte sich an wie freier Fall. Wenn ich es gar nicht mehr aushielt, schlüpfte ich noch vor dem Frühstück in meinen Anorak und streunte durch die Wiesen und Wälder hinter dem Klinikgelände, kletterte hoch auf den Hügel, wo eine einsame Bank zu dieser frühen Stunde immer unbesetzt war. Von dort blickte ich lange ins Tal, sah den Zugvögeln nach, die sich in den Süden aufmachten, ihren pfeilförmigen Formationen, die zu kleinen Punkten zusammenschrumpften, bis sie nicht mehr zu sehen waren. Meist blieb ich dort oben, bis der Nebel, der in weißen langen Schwaden durch das Tal kroch, sich in den ersten Sonnenstrahlen des Tages von einem Augenblick zum nächsten in Luft auflöste. Im Anschluss stahl ich mich in die Gemeinschaftsküche und trank ein paar Tassen Früchtetee, um beim morgendlichen Wiegen schwerer zu sein, als ich war.

In der Klinik besuchte ich keine Schule, obwohl es die Möglichkeit dazu gab. Meine Eltern hatten in Absprache mit meiner Therapeutin beschlossen, dass ich lieber ein Jahr nachholen und mich dafür ganz auf die Therapie konzentrieren sollte. Offiziell galt ich in der Klinik als eins der »dünnen Mädchen«. Dabei merkte ich schnell, ich war nicht wie die anderen, die unter Magersucht – Anorexie – oder Ess-Brech-Sucht – Bulimie – litten. Sie alle hatten panische Angst davor, zuzunehmen: Der Gedanke war mir völlig fremd. Wenn wir unseren Nachmittagspudding holten und mit Löffeln bewaffnet vor unserer Schale saßen, hatten wir zwar alle Angst – aber die Schlacht, die wir schlagen mussten, war nicht die gleiche. Während die meisten der Mädchen sich trotz ihres Untergewichts für zu dick hielten und in dem wässrigen Schokopudding nichts anderes sahen als unnötige Kalorien, fürchtete ich nur, dass mir vom Essen schlecht würde. Niemand kontrollierte, wie viel wir wirklich aßen. Deshalb blieben meine Portionen zu klein, zu vorsichtig – und ich nahm, ohne es zu wollen, weiter ab. Ausgerechnet als meine schon vertraut gewordene Therapeutin im Weihnachtsurlaub war, zitierte man mich deshalb zum Gespräch bei einem Ersatztherapeuten, Herrn Wiesinger. Ich kannte ihn aus den Gruppentherapien. Er war direkt und setzte auf Konfrontation. Nach dem Mittagessen winkte er mich in sein Sprechzimmer neben dem Speisesaal. Mit weichen Knien schloss ich die Tür hinter mir und nahm ihm gegenüber Platz.

Zwischen uns, auf dem Tisch, lag meine Gewichtskurve.

Wie ich befürchtet hatte, kam Herr Wiesinger ohne Umschweife zum Punkt.

»Kea«, sagte er und klopfte auf die Kurve auf dem Millimeterpapier – der Abwärtstrend war klar erkennbar. »Wir haben dein Gewicht jetzt einige Wochen kontrolliert. Wir hatten eine Vereinbarung. Erinnerst du dich?«

Ich nickte. Zu Therapiebeginn hatte ich einen Patientinnen-Vertrag unterschreiben müssen. Darin war klar geregelt, dass ich alles tun würde, um zuzunehmen. Ganz offensichtlich hielt ich mich nicht daran. Herr Wiesinger sah mich forschend an. Ich schluckte. Scheiße. Ich hatte das geahnt. Aber irgendwie hatte ich gehofft, doch so durchzukommen. Herr Wiesinger faltete die Kurve zusammen und schob sie in meine Akte. Er beugte sich nach vorne.

»Schau mich mal an«, sagte er. Ich hob den Kopf. Ich hatte Angst davor, dass er wütend war, Angst, dass sie dachten, dass ich versagte. Aber seine Augen waren nicht wütend. Sie waren nur sehr eindringlich.

»Kea«, setzte er erneut an. »Ich muss dir das jetzt ganz klar so sagen: Wir schauen dir nicht dabei zu, wie du verhungerst.«

Erschrocken starrte ich ihn an. Verhungern – jetzt übertrieben sie aber! So schlimm stand es nun wirklich nicht! Ich spürte, wie sich in meinem Hals ein Kloß bildete. Statt etwas zu entgegnen, schwieg ich und biss mir auf die Lippe. Ich wollte nicht weinen.

Herr Wiesinger atmete hörbar aus. Er lehnte sich in seinem Sessel zurück, verschränkte die Arme hinterm Kopf und sah mich an.

»Also – du hast jetzt zwei Möglichkeiten. Entweder du erreichst dein nächstes Wochenziel auf der Gewichtskurve – oder wir verlegen dich ins Krankenhaus. Dann bekommst du eine Magensonde und wirst zwangsernährt.«

Ich schnappte nach Luft. Krankenhaus. Magensonde. Zwangsernährung. Fremde Ärzte, ein fremdes Krankenhaus, ein Schlauch, der durch meine Speiseröhre geschoben wurde – ich konnte den Würgereiz förmlich spüren, den ein solches Prozedere auslöste. Obwohl es gerade um mein Leben ging, galt mein erster Gedanke dem möglichen Erbrechen. Das war die eine Sache, die ich unter allen Umständen vermeiden musste. Das Einsetzen einer Magensonde – ich spürte, dass ich das nie und nimmer durchstehen konnte. Vor Entsetzen fing ich an zu weinen. Herr Wiesinger griff ins Regal, stellte eine Taschentuchbox vor mich hin. Eine Weile sagten wir nichts. Ich putzte mir geräuschvoll die Nase. Nachdenklich schaute er mich an. Dann beugte er sich nach vorne, um mir in die Augen zu sehen, und sagte, mit wärmerer Stimme dieses Mal: »Du hast der Schwester erzählt, dass deine Regel ausgeblieben ist. Dein Körper stellt bereits die nicht überlebenswichtigen Funktionen ein. Ist dir klar, dass du sterben kannst, wenn du so weitermachst?«

Es war mir nicht klar gewesen. Aber es wurde mir klar, hier, in diesem Moment, im Zimmer von Herrn Wiesinger, auf einem hässlichen Schwingsessel, auf dem meine Beine lagen wie zwei dünne Schilfrohre in einem See aus blauem Velours. Jetzt weinte ich richtig. Es war diese Art von Weinen, die noch aus der Kindheit übrig ist, die Tränen schossen mit so viel Druck aus meinen Augen, dass die Lider anschwollen, dick und gummiartig, und das Schluchzen, das meinen ganzen Körper schüttelte, machte blubbernde Geräusche. Ich drückte meine Katzenwärmflasche an mich. Ich war 14 Jahre alt. Ich war weit weg von zu Hause. Ich wollte nicht sterben.

Wendepunkte sind selten die Punkte mit der schönen Aussicht. Das Gespräch mit Herrn Wiesinger war für mich ein solcher Wendepunkt. Für seine direkte Art werde ich ihm immer dankbar sein. Seine Worte erschütterten mich bis in die Grundfesten, und genau das hatte ich gebraucht, um aufzuwachen. Weiterhin bei jedem Anflug von Übelkeit die Nahrungsaufnahme einzustellen, war einfach nicht mehr drin. In der Klinik lernte ich, das Gefühl in meinem Bauch in Schweregrade zu unterteilen – leichte Übelkeit: Das hieß trotzdem essen. Mäßige Übelkeit, aber kein Brechreiz: Auch das hieß, trotzdem zu essen. Nach und nach erweiterte ich so meine Toleranzgrenze. Oft saß ich weinend am Tisch und brauchte ewig, um Gabel für Gabel an meinen Mund zu führen. Manchmal saß eine der Pflegekräfte bei mir und hielt meine Hand, wenn das Frühstück wieder einmal zu einem Kampf ausartete und sich die Rosinen in meinem Müsli mit dicken Tränen vermischten. Es waren harte Tage, Tage, an denen mein Wille zu leben größer sein musste als meine Angst. Zusätzlich zu den Mahlzeiten erhielt ich Fresubin, eine kalorienreiche Flüssignahrung, die ich auf Geheiß der Ärztin mehrmals täglich im Schwesternzimmer mit zugehaltener Nase herunterschütten musste. Ob mir schlecht war oder nicht, die Tasse musste geleert werden. Meine Anstrengungen wurden belohnt. Ich erreichte mein Wochenziel. Und das danach. Und auch das in der dritten Woche. Langsam, aber stetig zeigte die Kurve in meiner Akte nach oben.

Stationäre Therapie holt nicht alles auf einmal hoch. Sie funktioniert nach dem Zwiebelprinzip – nach und nach brechen die Schalen auf, die Blockaden lösen sich und geben Thema um Thema frei, das aus der Tiefe oder der Verschwiegenheit an die Oberfläche treibt.

Nach drei Monaten Aufenthalt beichtete ich meiner Therapeutin das Geheimnis hinter meinem Katzenkuscheltier. Ich trug es ständig mit mir herum. Die herausnehmbare Wärmflasche darin war heiß. Sehr heiß. Do not use boiling water, stand auf dem Flaschenhals aus Gummi, aber ich nutzte ausschließlich kochendes Wasser, weil die Flasche nur dann die Hitze erreichte, die ich brauchte. Die, die am Bauch so stark brannte, dass es außen mehr wehtat als innen. Mehr weh als die Gefühle darin und mehr weh als die ungewohnte Menge an Lebensmitteln in meinem Bauch. Von der Hitze war die Haut mittlerweile an vielen Stellen schon offen und bildete Blasen. Meine Therapeutin nickte verständnisvoll, aber wir beide wussten, was mein Geständnis bedeutete: Von diesem Moment an hatte ich Wärmflaschenverbot. Täglich kontrollierte eine Schwester meinen Bauch und cremte ihn mit Wundsalbe ein. Das verhinderte zumindest, dass mir fühlbare Narben blieben. Nur rot marmoriert wird mein Bauch für immer sein. Eine Erinnerung an die Zeit, als ich mich das erste Mal für mein Leben entscheiden musste.

Je mehr ich in der Klinik lernte, über meine Gefühle zu sprechen, statt sie mit Zwängen und Selbstverletzungen zu übertünchen, umso besser gelang es mir, sie zu verstehen, zu sortieren und zu verarbeiten. Insgesamt blieb ich sechs Monate auf der Station, genügend Zeit, um neue Verhaltensweisen zu üben und zu festigen. Langsam entwickelte sich ein Selbstbewusstsein, mit dem ich erste Schritte in die neue Freiheit wagen konnte. Ein Stadtbummel. Mit den anderen zum Eisessen gehen. Mir das erste Mal in der Küche Nachschlag holen, an dem Tag, als es Gemüselasagne gab. Die Köch*innen strahlten, als hätte ich ihnen einen Orden an die Schürze geheftet.

Vorm Eingang der Klinik streckten die ersten Narzissen ihre Köpfe aus der Erde. Mein Gewicht stieg nach Plan, meine Regel setzte wieder ein. Alle Zeichen standen auf Genesung, und als ich eines Morgens auf meiner Spazierrunde entdeckte, dass die Knospen an den Zweigen der Kirschbäume kurz vor der Blüte standen, war das Ende meiner Klinikzeit gekommen. Das Auto meiner Mutter tauchte zwischen den Hügeln auf, mein Koffer verschwand darin, eine Tüte mit Abschiedsgeschenken hielt ich auf dem Schoß. Wir rollten den Hügel hinab, Richtung Heimat. Am Himmel stand nur eine Handvoll Wolken, hoch und durchsichtig, ich kurbelte die Scheiben herunter und winkte meinen ehemaligen Mitpatient*innen noch lange aus dem Seitenfenster zu.

Zu Hause wurde ich, wie besprochen, nach sechs Monaten Klinikaufenthalt eine Klasse heruntergestuft. Diese Veränderung machte mir schwer zu schaffen. Im Pausenhof stand ich mit meiner alten Klasse zusammen und jedes Mal, wenn das Klingeln uns trennte und wir in zwei verschiedene Richtungen auseinandergingen, versetzte es mir einen schmerzhaften Stich. Tagelang bekniete ich meine Eltern und Lehrer*innen, und schließlich gaben sie nach: Ich bekam die Chance, den Stoff des letzten halben Jahres nachzuholen und wieder zu meiner alten Stufe aufzuschließen. Meine Freundinnen begrüßten mich freudestrahlend und malten mir Glückskleeblätter und Sternschnuppen auf mein Mäppchen. Es wurde ein emsiger Sommer. Statt im Freibad saß ich in meinem Zimmer über meinen Büchern. Am Ende erkämpfte ich mir den Platz in meiner alten Klasse zurück. Ich war unglaublich stolz und hatte das Gefühl, mir jetzt genau den Startpunkt in ein neues Leben geschaffen zu haben, den ich gebraucht hatte. Ich wollte noch mal neu beginnen. Ich wollte ein kleines Stückchen Leichtigkeit.