Über das Buch

Rosie und Laura sind so verschieden, wie zwei Schwestern nur sein können. Doch sie haben sich ihr Leben lang aufeinander verlassen können. Als Laura nach einem Blind Date spurlos verschwindet, setzt Rosie alles daran, sie zu finden. Irgendetwas muss bei diesem Date furchtbar schiefgegangen sein. Ist Laura in Gefahr – oder auf der Flucht, weil sie selbst etwas Schreckliches getan hat? Denn Laura stand schon einmal unter Verdacht, einen Mord begangen zu haben. Damals fand man keine Beweise gegen sie. Aber die Zweifel blieben. Auch bei Rosie.

 

Von Wendy Walker ist bei dtv außerdem erschienen:

Herzschlag der Angst

Über Wendy Walker

Wendy Walker ist Anwältin mit Schwerpunkt Familienrecht. Sie lebt in Connecticut und hat bereits mehrere Bestseller veröffentlicht. ›Die Nacht zuvor‹ wird fürs TV verfilmt, Produzentin ist Eva Longoria.

In liebevoller Erinnerung an
Estel Herbowy Kempf (19152017)

1

Laura Lochner. Erste Sitzung.
Vor vier Monaten. New York City.

Laura: Ich weiß nicht, ob das hier eine gute Idee ist.

Dr. Brody: Das entscheiden Sie, Laura.

Laura: Wenn Sie nun versuchen, mich zu heilen, und ich danach noch kaputter bin?

Dr. Brody: Und wenn nicht?

Laura: Ich habe Angst, zurückzukehren. In die Vergangenheit. Zu dem Abend im Wald. Ein Stück Erinnerung fehlt noch immer.

Dr. Brody: Es liegt bei Ihnen. Nur Sie können das entscheiden.

Laura: Ich hatte sie in der Hand. Die Waffe, mit der er getötet wurde. Aber die Nacht damals hat mich nicht verändert. Sie hat mir nur gezeigt, was ich schon immer war.

Dr. Brody: Dann fangen wir damit an. Erzählen Sie mir von dem Mädchen, das Sie schon immer waren.

5

Laura. Die Nacht zuvor. Donnerstag, 19:30 Uhr.
Branston, CT.

Jonathan. John. Johnny. Jack. Als ich in die Stadt fahre, frage ich mich, wie ihn die Leute wohl nennen.

Es ist viel Verkehr, und ich bin spät dran. Bauarbeiten. Die Straße wird einspurig. Scheiße. Zuspätkommen ist gut. Lass ihn warten! Das sage ich mir selbst. Ich kann eine der Frauen sein, die damit durchkommen. Ihren Eifer verstecken. Ihr Verlangen verstecken.

Ich spiele mit dem Gedanken, ihm eine Nachricht zu schicken, aber er hat gesagt, er möge keine SMS. Anrufen will ich nicht, weil es ein bisschen extrem wäre. Und natürlich ist mein Akku schwach, weil ich das Ladegerät in meinem Zimmer vergessen habe. Es ist ja nicht so, als würde Rosie eins im Auto aufbewahren.

Er wird schon zehn Minuten warten. Oder?

Im Wagen riecht es nach Goldfischli und Apfelsaft. Rosie macht ihn jede Woche sauber, aber das nützt nichts. Sie riecht es vermutlich gar nicht mehr, weil sie sich daran gewöhnt hat, genau wie an den abgestandenen Kaffee, nach dem die ganze Küche riecht, bis Joe von der Arbeit kommt und die Kanne endlich ausschüttet.

Vorher ist die Küche Rosies Reich, und meist sitzt sie da und starrt ins Leere, während Mason Zeichentrickfilme schaut. Sie gießt mir abgestandenen Kaffee ein (um den Bourbon-Kater zu vertreiben, den ich mir an langen Abenden mit Joe und Gabe angetrunken habe) und rezitiert Mantras aus ihren feministischen Zeiten, während sie mir im selben Atemzug Verschönerungstipps gibt.

Du brauchst keinen Mann, Laura. Für gar nichts.

Sie kann leicht behaupten, man brauche etwas nicht, wenn sie es selbst in Händen hält. Sie könnte ebenso gut sagen, sie brauche keinen Kaffee, während sie die zweite Tasse inhaliert.

Trotzdem erinnere ich mich an ihren Ratschlag, als mich die Angst überkommt, er könnte gehen, nur weil ich zehn Minuten zu spät dran bin.

Ich brauche keinen Mann.

Nachdem ich mich jahrelang gefragt hatte, warum es mir so schwerfiel, einen Mann zu finden, der mich liebte, war es mir endlich gelungen.

Er war nicht lange bei mir geblieben, doch während ich ihn hatte, löste er eine ganze Lawine von Bedürfnissen aus. Das Bedürfnis, festgehalten und berührt zu werden. Das Bedürfnis, zu lachen und zu weinen und die Seele eines anderen Menschen zu erforschen. Das Bedürfnis, gesehen zu werden. Gekannt zu werden. Nicht die wilde und furchtlose Kriegerin zu sein, die die Welt eroberte, sondern das kleine Mädchen, das an einem Ärmel oder Mantelsaum zupfte und bittend hochschaute. Das immer in der törichten Hoffnung hochschaute, jemand werde zurückschauen und sich freuen, es zu sehen.

Meine albernen Tagträume sind wirklich jämmerlich.

Jonathan Fields … wirst du Nathan genannt? Oder Nate?

Ich frage mich, ob er im richtigen Leben auch so gut aussieht. Ich frage mich, ob seine Haare so dunkel und dicht sind wie auf den Fotos, seine Augen so blau. Sein Körper so durchtrainiert, wie er sich unter dem Hemd abzeichnet. Ich frage mich, ob ich in seinen Augen das sehen werde, was ich liebe. Schalk. Nur ein bisschen. Nicht die Art, die mein altes Ich mochte. Nur genug, um es ruhigzustellen.

Doch was immer ich auch sehen mag, wenn ich Jonathan Fields zum ersten Mal erblicke, ich werde es nicht ignorieren. Ich werde nicht so tun, als wäre er der Richtige, wenn alles darauf hindeutet, dass er der Falsche ist. Aber ich werde auch keine Beweise erfinden, um mir einzureden, dass er der Falsche ist, wenn er der Richtige ist.

Mein Mangel an Instinkt ist ein Handicap. Dieser Abend wird nicht einfach.

Jonathan Fields. Ich bin fast da.

Vorbei an der Baustelle auf der Main Street. Ich biege links in die Hyde und dann in die Richmond. Entdecke eine Parklücke mit Parkuhr und fahre hinein. Wir sind in einem Irish Pub verabredet. Er wird von einem schicken Restaurant und einem Italiener flankiert. Im Sommer kann man draußen sitzen. Als Jugendliche kamen wir mit falschen Ausweisen rein. Das ist heute wohl schwieriger. Oder sie haben gelernt, die Ausweise besser zu fälschen. Unsere waren noch jämmerlicher als meine Tagträume.

Ich habe so viele Erinnerungen an meine Kindheit in dieser Stadt. Seit ich wieder hier bin, kriechen sie aus allen Ecken.

Jonathan Fields hat diesen Treffpunkt vorgeschlagen. Er sagte, er wohne in der Nähe und sei Stammgast, die Barkeeper würden ihm oft einen Whisky ausgeben. Nicht dass er sich keinen leisten könne, hatte er hinzugefügt. Ich habe nicht mit diesen Informationen gearbeitet. Habe mein Gerüst zu Hause gelassen. Heute Abend gibt es keine Erfindungen. Keine Rekonstruktionen. Kein absichtliches Wegschauen. Ich hatte einen exzellenten Therapeuten, selbst wenn ich eine schreckliche Patientin gewesen sein muss.

Ich klappe den Spiegel in der Sonnenblende auf und überprüfe mein Aussehen. Die Wimperntusche ist nicht verschmiert. Die Wangen sind rosig. Ich ziehe den kirschroten Lippenstift nach, weil ich mir auf die Lippe gebissen habe. Reibe mit dem Finger ein bisschen Farbe von den Zähnen. Lippenstift auf den Zähnen geht gar nicht. Wäre ein fataler Fehler gewesen.

Verdammt! Bin ich meine eigene Mutter geworden? Ich klappe den Spiegel zu und starre durch die Windschutzscheibe auf die Straße. Nachdem Dick uns verlassen hatte, konnte unsere Mutter nur schlafen und essen, wenn sie einen Freund hatte, und sie machte wirklich vor nichts und niemandem Halt. Sie ging fast jeden Abend weg, und ich weiß noch, dass ich sie dafür gehasst habe.

Wie sehe ich aus, Mädels?

Das ist uns scheißegal, Mom. Wir müssen lernen und Klassenarbeiten schreiben und haben unsere Periode und bekommen Brüste und haben mit all den anderen Foltern der Pubertät zu kämpfen – allein – danke für gar nichts.

Ich will nicht jemand sein, den ich hasse. Aber das ist vielleicht nötig.

Da ist wieder das Ding in meinem Bauch. Keine richtige Angst. Keine richtige Nervosität. Es ist ein ganz bestimmtes Gefühl, das nur unter diesen Umständen auftritt – beim ersten Date nach einer schlimmen Trennung. Es ist Hoffnung, aber eine sehr zerbrechliche. Eine, die im Sterben liegt. Die Menschen versammeln sich um sie und beten. Ein Priester beugt sich über sie und gibt ihr die Sterbesakramente. Ein Teil von mir hat sie schon betrauert. Ein anderer Teil kann es erst, wenn sie ganz und gar tot ist, vielleicht auch erst, wenn sie tief unter der Erde liegt.

Ich brauche so schnell wie möglich was zu trinken.

Hand am Türgriff, Tür öffnen. Tasche nehmen, Handy, Schlüssel. Tür schließen. Wagen abschließen. Es ist 19:38 Uhr.

Ich überquere die Straße, als wäre mir alles egal, gehe bis zur nächsten Ecke. Mein Herz schlägt schneller, das nervt. Ich atme langsamer, das macht es noch schlimmer. Ich kann spüren, wie meine Wangen noch röter werden.

Draußen steht eine kleine Gruppe Leute, sie rauchen und lachen. Sie genießen offenbar die Happy Hour. Ich gehe an ihnen vorbei zur Tür, ziehe am Griff. Trete ein.

In der Kneipe ist es dunkel. Gedämpftes Licht. Holzvertäfelung. Weiter hinten stehen Tische, vorn spielt laute Musik, es ist sehr voll. Alle Altersgruppen sind vertreten, nur die mittlere nicht. Leute mittleren Alters sind zu Hause bei ihren Kindern. Schließlich ist Donnerstag.

Ich betrachte die Menge. Zwei freche Mädels rechts von mir, betrunken und schlampig. Sie reden mit drei jungen Managertypen. Arschlöcher. Ich frage mich, wie das funktionieren soll. Links von mir stehen fünf Kolleginnen aus einer Arztpraxis. Sie tragen noch ihre zuckerwattebunten Poloshirts und Namensschilder. In der Mitte ist die Theke, daran aufgereiht eine Ansammlung von Männern und Frauen. Keiner ist allein. Scheiße. Ist er gegangen? Hat er mich abgeschrieben? Nein, nein, nein! Der Gedanke zerreißt mich förmlich, und ich begreife, wie verletzlich ich heute Abend bin.

Es gefällt mir nicht, verletzlich zu sein. Ich fühle mich wie ein wildes Tier, das in eine Ecke gedrängt wurde. Dem nichts anderes übrig bleibt, als sich den Weg freizukämpfen. Das erinnert mich an Dinge, an die ich mich nicht erinnern möchte. So viele Fehler. So viel Reue. Sie blitzen auf, fluten herein wie Sarin-Gas, vernichten jeden Nerv in meinem Körper. Lähmen mich mit Selbsthass.

Jetzt wird mir klar, dass ich angefangen habe, an Jonathan Fields zu glauben, obwohl er nichts als ein Name und eine Stimme und eine Geschichte auf einer Internetseite ist. Ich habe alles durch meinen Kopf wirbeln lassen und ihn zu einem echten Menschen gemacht, wie ein Kind mit einem imaginären Freund. Wahnsinn. Verzweiflung. Es ist mir wieder passiert. Ich habe mich nicht an die Regeln gehalten. Das verheißt nichts Gutes.

Ich spüre eine Hand auf der Schulter und drehe mich um.

»Laura?«, fragt er. Da ist er … Jonathan Fields, der mich vor mir selbst rettet. Der sich vor mir rettet, obwohl er das nicht weiß.

Er ist schön. Ich keuche beinahe auf, so schön ist er. Und dabei habe ich noch nicht mal was getrunken.

Blaue Augen. Dunkle Haare. Wie auf den Fotos auf der Profilseite. Doch sein Gesicht weist Züge auf, die die Fotos nicht hatten einfangen können. Seine Wangenknochen, die eine perfekte Nase einrahmen. Sein Lächeln, bei dem er den einen Mundwinkel höher zieht als den anderen, eher entwaffnend als selbstzufrieden. Und dann sein Körper – dieser schlanke, durchtrainierte Körper, der sich mit maskuliner Anmut bewegt.

All das stürzt auf mich ein und wirft mich beinahe um.

»Ja. Jonathan?« Ich bin jetzt vollkommen gefasst. Ich weiß nicht, wie das möglich ist, denn die emotionale Kehrtwende hat mich beinahe erschlagen. Am liebsten würde ich auf Rosies Dachboden unter die Decke kriechen und aus der Welt verschwinden.

Er mustert mich von oben bis unten. Es fühlt sich ein bisschen seltsam an, wenn ich ehrlich bin, aber wenn er auch nur im Entferntesten so empfindet wie ich, wäre es gar nicht seltsam. Denn ich bin wie geblendet infolge eines Adrenalinschubs. Ich habe jedes Gefühl für mich selbst verloren.

Dann spricht er.

»Tut mir leid, es ist nur … du bist wirklich schön.«

Ich lasse die Worte herein, damit mein Gehirn sie verarbeiten kann. Ich reiße mich zusammen. Vertreibe das Sarin aus meinem Blut. Das Adrenalin verflüchtigt sich auch, und die Worte dringen zu mir durch. Sie klingen aufrichtig. Gut. Und erklären seinen forschenden Blick. Gut. Alles gut.

Ich lächle. Ich muss mich dazu zwingen. Stimmen hallen in der Ferne wider. Die meiner Schwester. Die Geister der Vergangenheit. Sie sagen mir, ich sollte nicht hier sein.

Geh nach Hause. Kriech unter die Decke.

Er schaut sich um. Seine Augen verweilen auf dem Hinterzimmer mit den Tischen. Sein Lächeln verschwindet, aber nur für eine Sekunde.

»Hör mal, hier ist es so voll. Ich würde lieber irgendwohin gehen, wo es ruhiger ist, damit wir uns unterhalten und ein bisschen kennenlernen können.«

Da hat er nicht unrecht. Es ist laut und riecht nach abgestandenem Bier. Die Leute lachen zu schrill, weil sie donnerstags um Viertel vor acht betrunken sind. Und er will reden. Ein gutes Zeichen. Ich weiche vom Rand eines emotionalen Infernos zurück.

»Sicher«, sage ich und lächle wieder.

Er berührt meinen Arm und führt mich vor sich her zur Tür. Als wir hinausgehen, vorbei an den Schlampen und Arschlöchern und Zuckerwatteuniformen, höre ich, wie jemand seinen Namen ruft. Ich will mich zu den Tischen umdrehen, denn von dort ist die Stimme gekommen, aber er geht an mir vorbei und winkt mich mit. Er öffnet die Tür und schiebt mich nach draußen. Biegt um die Ecke Richmond und Maple. Geht weiter bis zum Parkplatz einer Apotheke.

Ich folge ihm, frage nicht, wohin wir gehen.

Warum, weiß ich nicht.

Na ja, so ganz stimmt das nicht.

Er dreht sich zu mir um, schaut über meine Schulter, dann lächelt er mich an.

»Tut mir leid. Ich konnte mich da drinnen nicht mehr denken hören. Es gibt solche Tage.«

Ich weiß genau, was ich zu sagen habe.

»Alles gut. Die Tage kenne ich auch. Was möchtest du machen?« Ich bin so verständnisvoll. Es geht nur um dich, Jonathan Fields.

Er deutet auf ein Gebäude weiter unten an der Straße.

»Ich wohne da drüben. Mein Wagen steht in der Garage. Sollen wir ans Wasser fahren? Da unten gibt es eine Menge Restaurants.«

»Klar!«, sage ich begeistert. Was immer du willst, Jonathan Fields.

Wir gehen los.

»Ich hoffe, du verstehst das nicht falsch, aber ich war so erleichtert, als ich dich gesehen habe.«

Jetzt verstehe ich. Er hat sich irgendwo hinten versteckt, um mich in Augenschein zu nehmen.

»Was hättest du gemacht, wenn ich alt, fett und hässlich gewesen wäre?« Es klingt aalglatt, und ich hasse mich dafür. Ich kann Rosie förmlich hören. Herrgott noch mal, das kann doch nicht so schwer sein – sei einfach mal nett! Nett. Sei nett. Nicht aalglatt. Nicht respektlos.

Aber er lacht. Er findet meine Respektlosigkeit amüsant. Ich bemühe mich, keine voreiligen Schlüsse zu ziehen. Vielleicht ist er einfach nur nervös. Leute lachen, wenn sie nervös sind. Das heißt nicht, dass er mein altes Ich sieht. Mein wirkliches Ich. Und es mag. Es heißt gar nichts. Wir sind uns gerade erst begegnet. Erfinde ihn nicht.

Und – ich bin diejenige, die nervös sein sollte. Ich gehe jetzt in eine Tiefgarage. Allein mit diesem Mann. Diesem Fremden. Weit und breit ist niemand zu sehen.

Er holt seinen Schlüssel heraus und drückt den Knopf. Ein Toyota leuchtet auf. Nicht gerade der Wagen, den ich bei einem 40-jährigen Banker ohne Kinder erwartet hätte. Das ist jedenfalls nicht der schwarze BMW, von dem er mir geschrieben hat.

Nicht dass mir Geld wichtig wäre. Ich habe mich schon in alle möglichen Männer verliebt. Lehrer. Studenten. Einen Handwerker. Es passt nur einfach nicht zusammen. Aber was weiß ich schon über Scheidung und Alimente, die Kosten für ein Haus und eine Wohnung? Gar nichts. Na ja, ein bisschen vielleicht. Es ist nicht gerade höhere Mathematik. Vielleicht ist der BMW in der Werkstatt. Ich bin sehr gut darin, Geschichten zu erfinden.

Außerdem ist es zu spät. Er öffnet mir die Tür, und ich steige ein. Sie fällt zu, und mein Magen zieht sich zusammen.

Es sollte einfach sein. Ich sollte heute Abend mein neues Ich sein. Nur ein Mädchen, das ein Kleid trägt und ein Date hat. Mein Kopf hämmert. Ich bin so müde von der emotionalen Achterbahn der letzten Viertelstunde. Fakten wirbeln unablässig durch meinen Kopf. Das Auto. Seine Geschichte …

Und die Frauenstimme, die ihn gerufen hatte, worauf wir eilig die Kneipe verlassen hatten.

Bitte mach, dass ich mich irre, Jonathan Fields.

Bitte sei der Mann, als der du dich vorgestellt hast. Bitte, bitte, bitte.

Denn ich weiß nicht, was ich tue, wenn du es nicht bist.

3

Rosie Ferro. Heute. Freitag, 05:00 Uhr.
Branston, CT.

Etwas stimmt nicht.

Rosie spürte es, sowie sie im dämmrigen Zimmer die Augen öffnete. Ein zwei Jahre alter Körper hatte sich neben ihr eingerollt. Mason suchte nachts stets die Wärme seiner Eltern. Joe war weg, seine Decke zurückgeschlagen, vermutlich hatte er sich in einem Anfall von Frust aufs Sofa unten im Familienzimmer begeben. Das Bett war nicht mehr groß genug für drei, und keiner von ihnen besaß die Energie, Mason den nächtlichen Umzug abzugewöhnen.

Das Nachtlicht reichte aus, um sein süßes, unschuldiges Gesicht zu erkennen. Weiß wie Schnee mit dem dunklen Haarschopf, genau wie bei seinem Vater. Ein kleines Mann-Kind.

Sie drückte die Wange gegen seine weiche Haut.

»Okay«, flüsterte sie sich selber zu. »Alles okay.«

Aber sie glaubte nicht daran.

Sie griff nach dem Handy auf dem Nachttisch. Es war fünf Uhr, was auch das Pochen in ihrem Kopf erklärte. Sie waren später als üblich ins Bett gegangen. Mason war ruhelos gewesen und wollte nicht schlafen.

Nachdem Rosie fünf Geschichten erzählt und neben seinem Bett gesessen hatte, bis er eingeschlafen war, hatte sie zwei Benadryl mit einem Glas Wein heruntergespült. Sie wusste, dass sie nur zur Ruhe kommen würde, wenn sie sich ausknockte.

Joe hatte nicht nach dem Grund gefragt. Den kannte er nur zu gut. Sie war gereizt, seit Laura bei ihnen eingezogen war. Rosie war mit dem Minivan in die Stadt gefahren und hatte ihrer Schwester beim Packen geholfen wie eine Bärenmutter, die ihr Junges von einer Klippe rettet. Und wie eine Bärenmutter hatte sie auch zu Hause nicht aufgehört, sich Sorgen zu machen und ihre Schwester zu beobachten, aber möglichst unauffällig, um es nicht noch schlimmer zu machen. Diese Aufgabe hatte jeden Nerv in ihrem Körper in Alarm versetzt, bereit, auf jede Krise zu reagieren.

Joe hatte sie auf die Stirn geküsst, als sie, eingerollt zu einer Kugel, im Bett gelegen und ins Leere gestarrt hatte. Ihre Gedanken waren von einem schlimmen Szenario zum nächsten gerast, während sie darauf wartete, dass die Medikamente und der Wein endlich wirkten.

Es geht ihr gut, hatte Joe gesagt. Es ist doch nur ein Date.

Er war wieder nach unten gegangen, um eine Sportsendung zu schauen und Bier zu trinken. Er hatte beinahe übermütig gewirkt, als er das Zimmer verließ, weil er den Fernseher und das gesamte Erdgeschoss ausnahmsweise für sich allein hatte. Ihr Haus war klein, und mit Laura darin war es noch kleiner geworden.

Joe und Laura steckten immer irgendwo zusammen – in der Küche oder im Familienzimmer – und stachelten einander mit ihrem sarkastischen Humor an. Und auch Gabe kam jetzt öfter als sonst vorbei, und zwar ohne Melissa (zum Glück, denn Rosie hatte sich nie an sie gewöhnen können). Joe war ein anderer Mensch, wenn er mit Laura und Gabe zusammen war. Dann war er wieder der starke, gut aussehende Junge, der die ganze Welt beherrschte. Oder zumindest die Deer Hill Lane. Es war etwas in seiner Stimme und seinem Lächeln. Unbezähmbares Selbstvertrauen. Sie vermisste es, ihn so zu sehen. Doch die Zeit bewegte sich nur in eine Richtung. Sie waren keine Kinder mehr.

Joe sagte, er mache sich keine Sorgen um Laura, und Rosie wollte nicht mehr deswegen streiten. Er hatte immer eine Antwort, zu der ihr nichts mehr einfiel.

Du kennst sie nicht so gut wie ich.

Ehrlich? Ich bin doch mit euch beiden aufgewachsen.

Aber …

Kein Aber … Was weißt du über Laura, das ich nicht weiß?

Nichts – und dennoch ist es anders, eine Geschichte zu hören, als sie selbst zu erleben. Sie zu sehen und zu fühlen und die ungreifbaren, unbeschreiblichen Dinge aufzunehmen, die sich tief in einem festsetzen. Joe hatte gesagt, er fände es nicht beunruhigend, dass Laura ein Date mit einem Fremden aus dem Internet hatte, obwohl sie erst wenige Wochen zuvor aus ihrem alten Leben geflohen war. Wegen eines Mannes, der sie abserviert hatte, nachdem sie ihm ihr Herz geschenkt hatte, was immer das auch heißen mochte.

Tatsache: Laura hatte diesen Freund nie erwähnt, bis sie nach Hause gekommen war. Wie ernst konnte es schon gewesen sein? Und doch hatte er sie dazu gebracht, eine Pause im Job einzulegen – einem begehrten Job, den man ihr nicht lange freihalten würde.

Laura hatte zweifellos Pech mit Männern. Für einen so klugen Menschen – und das war sie – beging sie erstaunlich oft den gleichen Fehler. Aus einem Grund, den Joe nicht zu verstehen, den er nicht zu spüren schien. Die letzte Trennung war nur ein Symptom.

Oder eine Warnung.

Rosie drückte die Lippen auf Masons warme Wange und kroch vorsichtig aus dem Bett. Sie ging auf Zehenspitzen aus dem Zimmer, durch den Flur und die Treppe hinunter. Ihr Mann lag auf dem Sofa, sein großer, stämmiger Körper suchte unter einer kleinen Decke Wärme.

Rosie trat ans Erkerfenster, schaute auf die Straße hinaus und nach rechts zur Einfahrt, wo normalerweise ihr Wagen stand.

Sie sah sich forschend um. Die Straße hinunter nach rechts, dann nach links. Ihr Verstand schaltete einen Gang höher.

Sie ging zum Sofa und legte Joe die Hand auf den Arm, bis er sich rührte.

»Was ist los?«, murmelte er. »Wie spät ist es?«

»Fünf.«

»Was ist passiert? Mason …«

»Dem geht’s gut. Er schläft.«

Rosie legte sich auf das Fleckchen Sofa, das noch frei war, und drückte sich an ihn. Er öffnete die Arme und zog sie an sich. Seine Wärme, seine körperliche Kraft ließen sie seufzen.

»Was ist dann?«, flüsterte er.

»Der Wagen ist noch nicht da.«

»Welcher Wagen?«

»Mein Wagen. Mit dem Laura zu ihrem Date gefahren ist.«

Joe küsste sie aufs Ohr und lachte. »Schön für sie.«

Rosie stieß ihn weg und setzte sich auf, schaute zwischen Joe und der leeren Einfahrt hin und her.

»Das ist nicht komisch!«

»Die Pferde sind mit ihr durchgegangen. Na und?« Joe strich mit der Hand über ihren Oberschenkel. »Vielleicht wäre das auch eine gute Idee für uns.«

»Stopp.« Rosie schob seine Hand weg und stand auf. Sie ging ans Fenster, die Arme verschränkt, die Schultern angespannt. »Findest du es nicht seltsam, wie sie plötzlich drauf ist? Online-Dating. Über Nacht wegbleiben.«

Joe setzte sich jetzt auch auf und zog die Decke um die nackten Schultern. »Sie will sich nur über sich selbst klar werden, das ist alles. Vielleicht wird es Zeit. Vielleicht ist sie es leid, immer wegzulaufen.«

Rosie dachte nach. Laura hatte die Stadt gleich nach der Highschool verlassen. Sie hatte nie zurückgeschaut, war nur in den Ferien gelegentlich vorbeigekommen. Hatte Geschenke für Mason geschickt, angerufen und gesimst und gemailt. Aber sie war nie länger bei ihnen geblieben. Wenn Rosie sie sehen wollte, fuhr sie mit Mason in die Stadt und zwang Laura, Teil ihres Lebens zu sein.

Und jetzt war sie plötzlich hier. Wollte sich verändern. Suchte nach dem richtigen Mann. Trug Make-up und Kleider. Fragte Rosie um Rat, während sie sie früher als Mädchen bezeichnet hatte, als wäre dies die schlimmste Beleidigung.

Na los! Sei kein Mädchen!

Mein Gott, wie sie damals alle in die Gefahr gelockt hatte. Auf Bäume, die höher als das Dach waren. Auf den nur halb gefrorenen Teich.

Na los!

Hinter den Häusern lag ein Naturschutzgebiet. Weite Wälder, Wanderwege und Bäche, die ihnen als Spielplatz gedient hatten. Laura war die Jüngste, und alle hatten sich bemüht, sie vor sich selbst zu beschützen.

Sie hatte die Aufmerksamkeit anderer wie ein verhungerndes Tier aufgesogen, zuerst die der Nachbarskinder und später die der Nonnen in der katholischen Schule, auf die die Geschwister gingen.

St. Mark’s von der Heiligen Dreifaltigkeit. Es war ein Witz in ihrer protestantischen Familie. In der Stadt gab es ganz passable Schulen bis zur achten Klasse, aber darüber hinaus waren die Klassenverbände zu groß und chaotisch. Privatschulen waren teuer. Genauso wie die Häuser in den umliegenden Kleinstädten mit öffentlichen Schulen, die für die Kinder ein Sprungbrett für die Aufnahme in die besten Colleges waren. Eine konfessionelle Schule war die beste Wahl für Familien wie die von Rosie und Laura, vor allem, nachdem ihr Vater sie verlassen hatte.

Die Lehrerinnen hatten Laura vergöttert. In der achten Klasse wurde sie beim Rauchen erwischt, doch was immer sie auch anstellte, sie redeten mit ihr wie mit einem Lämmchen, das ohne Herdeninstinkt geboren war. Es gibt einen guten Grund, bei der Herde zu bleiben, sagten sie zu ihr. Nämlich das Überleben.

Wenn du die Herde verlässt, kommen die Wölfe.

Und Laura hatte immer die gleiche Antwort gegeben.

Super, ich mag Wölfe.

Rosie schaute wieder zu Joe.

»Ich sehe mal in ihrem Zimmer nach.«

»Lass das.« Er flehte sie beinahe an.

»Wieso?«

»Du weckst sie doch nur auf, wenn sie ein Uber genommen hat und jetzt schläft. Und sie hat schlecht geschlafen, seit sie hier ist. Sie wird noch zu einem Zombie.«

»Aber wenn ihr was passiert ist?«

»Es war doch nur ein Date.«

»Mit einem Typen aus dem Internet.«

»Das ist heute nun mal üblich. Außerdem ist er steinalt und fährt einen BMW

Rosie seufzte. »Ich habe trotzdem ein schlechtes Gefühl.«

»Das hast du um diese Jahreszeit immer.«

Da hatte er recht. Es war noch nicht September, aber der typische Geruch lag schon in der Luft, der Wechsel der Jahreszeit, Feuer, all das weckte Erinnerungen, die nie einen festen Ort in ihr gefunden hatten. Und wenn sie einmal aus den Winkeln ihrer Erinnerung krochen, liefen sie bis zum Ende durch.

Kühle Nachtluft, Rauch und Hitze, die von einem Feuer herüberwehten. Knackende Zweige, noch nicht ganz tot. Noch nicht bereit, zu verbrennen …

»Und wenn es nun doch mit Laura zu tun hat? Wenn es ein Zeichen ist?« Rosie ging wieder zum Sofa und baute sich vor ihrem Mann auf.

»Bitte weck sie nicht. Ich kann um fünf Uhr morgens keinen Schwesternkrieg ertragen.«

»Ich muss einfach nachsehen. Ich bin auch ganz leise.«

Joe griff nach ihrem Handgelenk, ließ aber los, als sie ihren Arm wegzog.

Es gab so vieles, das sie noch immer nicht über Lauras Rückkehr wussten. Sie hatte nie den Namen des Mannes erwähnt, der ihr das Herz gebrochen hatte. Sie nannten ihn nur »Arschloch«. Oder »A-Loch«, wenn Mason im Zimmer war. Das war Joes Idee gewesen. Keiner von ihnen wollte Laura bedrängen, wenn sie noch nicht bereit war, darüber zu sprechen.

Doch viele Teile ihrer Story passten einfach nicht zusammen.

Zum ersten Mal im Leben dachte ich, ich hätte alles richtig gemacht.

Sie sagte, sie sei bei einem Therapeuten gewesen, um ihre schlechten Gewohnheiten abzulegen, um sich zu verändern. Doch wenn sie alles richtig gemacht hätte, wäre ihr Freund wohl kaum verschwunden.

Die Nonnen in St. Mark’s hatten recht gehabt, sie verließ immer die Sicherheit der Herde. Und Laura hatte auch recht. Sie mochte Wölfe.

Doch Laura war kein Lamm.

Rosie blieb oben an der Treppe stehen und gab sich der Erinnerung hin.

Billiges Bier in Plastikbechern. Zigaretten. Lipgloss mit Geschmack. Insektenspray …

Es war eine Tradition am letzten Tag des Sommers, dem letzten Samstagabend, bevor die Schule wieder anfing.

Branston war eine Kleinstadt, eingerahmt vom Long Island Sound auf der einen und von den Waldgebieten des Staates New York auf der anderen Seite. Nördlich der Deer Hill Lane erstreckte sich das Naturschutzgebiet mit der Schlucht und dem Fluss. Dahinter lagen nur Wälder und gewellte Ackerflächen.

Von New York City aus war es nicht weit, aber Laura war nie wieder in Branston gewesen. Nicht ein einziges Mal in elf Jahren.

Es war jedes Jahr das Gleiche. Dutzende einheimischer Jugendlicher, die beinahe platzten vor Aufregung beim Gedanken an all das Neue, das in der Luft lag. Eine neue Jahreszeit. Eine neue Klasse. Älter werden. Neue Dinge wollen. Neue Dinge fürchten. Neue Dinge brauchen. Die Hoffnung, die gegen die Angst kämpfte, so wie der Sommer gegen den Herbst. Rosie konnte das Gefühl noch immer heraufbeschwören.

Sie hatten auf einem Schotterweg geparkt und waren zu einer kleinen Lichtung gegangen. Die Musik ging im Lärm betrunkener Teenager unter. Sie war im zweiten Jahr auf dem College, Laura in der Abschlussklasse der Highschool. Joe war an diesem Abend nicht auf der Party gewesen. Seine Familie hatte ein letztes Wochenende im Haus am Cape verbringen wollen. Und Gabe war schon wieder auf dem College. So kam es, dass nur Rosie und Laura dort gewesen waren. Und nur Rosie hatte den Schrei im Wald gehört.

Rosie ging leise über den Hartholzboden. Ihr Haus war ein Cape Cod aus den 1930ern. Die Böden oben waren aus Vogelaugenahorn, prachtvoll, aber alt, und knarrten bei jedem Schritt. Sie schaffte es am Schlafzimmer vorbei, ohne ihren Sohn zu wecken.

Laura schlief auf dem umgebauten Dachboden. Das Zimmer lag am Ende des Flurs, hinter dem Gästebad. Es brannte kein Licht, die Tür war geschlossen.

Rosie machte noch einen Schritt, setzte den Fuß behutsam auf, verlagerte ihr Gewicht.

Dann hielt sie inne, war sich plötzlich bewusst, dass sie voller Panik in ihrem eigenen Haus umherschlich, wie sie es getan hatte, als Mason gerade geboren war. Wie oft hatte sie ihn aus einem friedlichen Schlaf geweckt, nur um sicherzugehen, dass er noch atmete? Ihre Ängste waren nicht normal.

Oder vielleicht doch. Vielleicht waren sie durchaus begründet.

Rosie hatte ihre Schwester seit ihrer Geburt beschützt. Sie hatte es im Blut, in den Knochen. Aber es hatte nie gereicht. Letztlich hatte sie versagt.

Der Geruch des Feuers. Der Schrei im Wald …

Den würde sie nie vergessen. Sie würde ihn immer hören. Der Wald war auf einen Schlag still geworden. Niemand hatte sich gerührt. Alle waren wie erstarrt und fragten sich, was sie da gehört hatten. Warteten ab, ob er noch einmal ertönen würde. Und so war es. Ein zweiter Schrei. Rosie hatte sich am Feuer nach Laura umgesehen. Als ihre Beine schon in Richtung Straße liefen, wo die Autos parkten, woher der Schrei gekommen war, hatte sie noch Ausschau gehalten und gehofft, sie hätte sich geirrt. Dass der Schrei nicht von ihrer Schwester gekommen war.

Noch zwei Schritte, dann stand sie vor der Tür zum Dachzimmer. Sie drückte das Ohr ans Holz und horchte. Auf den Fernseher. Auf Musik. Laura schlief manchmal ein, während noch Geräte liefen. Aber alles war still.

Sie legte die Hand auf den Türknauf und drehte ihn sanft. Auch er knarrte, war alt. Und die Tür klemmte. Man kam einfach nicht ins Zimmer, ohne denjenigen, der dort schlief, zu wecken. Aber das war ihr egal, denn die Erinnerung war wieder da.

Sie waren zur Straße gelaufen, durchs Dickicht, einen richtigen Weg gab es nicht. Es war dunkel gewesen. Jemand hatte eine Taschenlampe dabei, die hatten sie eingeschaltet. Jemand anderes war ins Auto gestiegen und hatte die Scheinwerfer eingeschaltet. Aus den Schreien war ein Schluchzen geworden. Auf der Straße fanden sie zwei Gestalten. Eine stand, die andere lag ganz still auf dem Schotter …

Rosie stieß langsam die Tür auf. Sie waren nicht im Wald. Was immer sie in diesem Zimmer finden würde, es hatte nichts zu bedeuten. Laura war eine erwachsene Frau. Vielleicht war sie zu betrunken gewesen, um noch zu fahren, und bei ihm geblieben. Vielleicht hatte sie auch mit ihm geschlafen. Sie hatte versprochen, mit dem Wagen nach Hause zu kommen, aber solche Versprechen wurden ständig gebrochen. Vor allem von Laura. Vor allem, wenn es um Männer ging. Die Sehnsucht und das Verlangen, die nie befriedigt wurden, waren stärker als jede gute Absicht.

Und wenn sie mit ihm geschlafen hatte? Joe hatte recht: Der Typ war älter. Vierzig und geschieden. Geradezu langweilig sicher.

Doch all die Vernunft konnte nichts ausrichten. Die Vergangenheit, der Schrei im Wald. Und der Junge, der zu Füßen ihrer Schwester lag. Die Erinnerung lief unbarmherzig weiter, wie ein Film.

Sie war zu Laura gerannt, atemlos, weil sie ständig ihren Namen gerufen hatte. Laura! Dann, beim Näherkommen, ihr Gesichtsausdruck. Entsetzen. Fassungslosigkeit. Und der Junge auf dem Boden. Die Blutlache um seinen Kopf. Lauras erste Liebe. Der ihr das Herz gebrochen hatte. Tot.

Der Film lief bis zum Ende. Wie immer. Rosie blinzelte, um das letzte Bild zu vertreiben.

Laura war zehn Jahre weg gewesen, aber das spielte keine Rolle. Rosie würde immer mit der nächsten Tragödie rechnen.

Nun, da die Tür offen war, schaltete sie das Licht ein.

Und fand ein leeres Bett.

4

Laura Lochner. Sechste Sitzung.
Vor drei Monaten. New York City.

Laura: Rosie meint, ich selbst wäre an allem schuld. Sie sagt, ich bin diejenige, die anderen das Herz bricht.

Dr. Brody: Was halten Sie davon? Was ist mit denen, die Sie geliebt haben?

Laura: Sie haben mich nicht geliebt. Sie dachten es nur.

Dr. Brody: Weil sie Sie nicht kannten?

Laura: Mag sein. Rosie sagt, ich würde mir Männer aussuchen, die mich nicht lieben. Ich würde sie aussuchen, weil sie mich nicht lieben. Aber warum sollte ich so etwas tun?

Dr. Brody: Um etwas zu beweisen.

Laura: Was denn?

Dr. Brody: Es wäre hilfreich, wenn Sie die Antwort selbst fänden.

Laura: Verstehen Sie mich nicht falsch, aber ich hasse Sie gerade ein bisschen.

2

Laura. Heute. Donnerstag, 19:00 Uhr.
Branston, Connecticut.

Lippenstift, kirschrot.

Ich wähle die Farbe, weil sie fröhlich ist und leuchtet. Optimismus in einem kleinen Röhrchen. Genau das brauche ich heute Abend.

Das Gästebad im Haus meiner Schwester ist unglaublich klein, mit Deckenschräge und einem winzigen, ovalen Spiegel. Der Lippenstift balanciert am Rand des Waschbeckens.

Ich trage ihn als Erstes auf, damit ich es mir nicht mehr anders überlegen kann, rolle den Optimismus quer über meine Lippen. Dann der Concealer. Zwei Streifen unter meine braunen Augen, schon verschwinden die dunklen Schatten wochenlanger Schlaflosigkeit. Roséfarbenes Rouge verleiht meinen Wangen Farbe. Sie haben viel zu lange keine Sonne gesehen.

Schlaflose schlafen tagsüber.

Meine Schwester Rosie hat mir ein hübsches Kleid geliehen. Schwarz mit winzigen Blümchen.

Trag doch zur Abwechslung mal ein Kleid. Dann fühlst du dich hübsch.

Rosie ist gerade dreißig geworden. Sie hat einen Ehemann und ein Kleinkind – Joe und Mason. Sie wohnen in einem Haus in den Hügeln von Branston, zehn Kilometer vom Stadtzentrum entfernt. Und eineinhalb Kilometer von dem Ort, an dem alles angefangen hat. Der Straße, in der wir aufgewachsen sind. Deer Hill Lane.

Rosie sagt, sie hätte ohnehin keine Gelegenheit, das Kleid zu tragen. Der Rock sei im Weg, wenn sie Mason nachjage, und abends reiche es höchstens für ein Bier im Einkaufszentrum, für alles andere sei sie zu müde. Es klingt, als vermisste sie die Zeit, in der sie nichts Besseres zu tun hatte, als sich zu schminken und schön anzuziehen. Dabei braucht sie weder das Kleid noch die Gelegenheit, es zu tragen, denn ihre Tage sind voller ungestümer Umarmungen und lautem Gelächter und klebriger Küsse.

Ihrem Mann Joe ist es ohnehin egal. Er vergöttert sie. Auch nach dreizehn Jahren Ehe. Auch nachdem sie in derselben Straße aufgewachsen sind. Auch mit Mason in ihrem Bett und einem alten Haus, an dem ständig etwas kaputtgeht, und obwohl Rosie nie ein Kleid trägt.

Er vergöttert sie, weil sie früher ständig hübsche Kleider für ihn getragen hat und er noch immer diesen Menschen in ihr sieht.

So ein Mensch muss ich heute Abend sein.

Ich wühle in einem Haufen Handtücher und Kleidungsstücken nach meinem Handy. Dann rufe ich in der App das Profil auf und wecke die Hoffnung. Jonathan Fields. Sein Name klingt wie ein Lied.

Jonathan Fields. Ich habe ihn auf einer Dating-Website namens findlove.com entdeckt. Dieser Name sagt alles. Jonathan Fields ist vierzig. Seine Frau hat ihn vor einem Jahr verlassen, weil sie nicht schwanger werden konnte. Das Haus hat sie behalten. Er fährt einen schwarzen BMW.

Das hat er mir erzählt.

Ich habe mit Jonathan Fields telefoniert. Er sagte, er möge weder E-Mails noch SMS, die seien zu unpersönlich. Eigentlich hasse er Online-Dating, aber ein Freund habe seine Verlobte über findlove.com gefunden. Es sei kein Portal für schnelle Affären. Nicht eben mal schnell über den Touchscreen wischen. Man brauche eine Stunde, um sein Profil zu erstellen. Die Fotos würden geprüft und genehmigt. Jonathan Fields sagte, es sei, als würde die eigene Großmutter ein Blind Date organisieren, worüber ich lachen musste.

Jonathan Fields sagte, mein Lachen gefalle ihm.

Mir gefiel seine Stimme, und nun, da ich mich an sie erinnere, wird mir ganz warm. Ich merke, wie sich meine Mundwinkel nach oben kräuseln. Ein Lächeln.

Ein verdammtes Lächeln.

Ich habe viel von meinem Job erzählt, was es leichter machte, wenig über mich zu verraten.

Ich habe einen eindrucksvollen Lebenslauf vorzuweisen, nachdem ich mir mein Leben lang ein Bein ausgerissen habe. Princeton … MBA an der Columbia … Job an der Wall Street!

»Wall Street« ist ein Begriff, der immer zieht, so antiquiert er mittlerweile sein mag. Ich arbeite in Midtown, weitab der Wall Street. Und die Firma, bei der ich bin, ist nicht annähernd so sexy wie Goldman Sachs. Ich sitze am Schreibtisch und lese Zeug und schreibe Zeug und hoffe bei Gott, dass es richtig ist, was ich schreibe, weil die Leute in unserer Firma auf meinen Rat hin Geschäfte machen. Den Rat einer 28-Jährigen, die einen Seelenklempner braucht, der ihr sagt, wie sie sich benehmen soll.

Jonathan Fields arbeitet bei einem Hedgefonds in Downtown Manhattan, daher versteht er meine Arbeit.

Das hat er jedenfalls gesagt.

Ich habe nichts über meine Kindheit hier erzählt, in der ich mit den Nachbarskindern durch den Wald hinter unserem Haus gestreunt bin. Ich und Rosie – und Joe, dessen Familie in unserer Straße wohnte, bis er auf die Highschool kam und sie weiter in die Stadt zogen.

Ich habe ihm auch nicht erzählt, weshalb ich jahrelang nicht mehr hier gewesen bin.

Ich nutze keine sozialen Medien, niemals, also kann er mich nicht überprüfen. Ich habe ihm auch nicht den Nachnamen meines Vaters verraten. Lochner. Über Google stößt man noch immer auf Laura Lochner und das, was sie vor Jahren getan oder nicht getan hat – die können sich nie so recht entscheiden. Seit ich von hier weggegangen bin, benutze ich meinen mittleren Namen, den Nachnamen meiner Mutter. Heart. Laura Heart. Ist das nicht ironisch? Ich habe mich nach dem einen Ding in meinem Inneren benannt, das sich kaputt anfühlt.

Verschweigen ist nicht lügen.

Rosie hat Joes Nachnamen Ferro angenommen, sodass es in ganz Connecticut keine Lochners mehr aus unserem Klan gibt.

Ich sagte ihm, ich käme im Minivan meiner Schwester. Er sei blau. Und peinlich. Ich müsse mir ein neues Auto kaufen, aber ich hätte immer so schrecklich viel zu tun.

Es klopft. Ich mache auf, Joe steht verlegen vor mir. Er trägt noch den Anzug aus der Kanzlei, hat aber die Krawatte gelockert und den ersten Hemdknopf geöffnet. Joe ist eins siebenundachtzig und kommt kaum durch den Türrahmen, ohne sich zu bücken. Sein Bauch wölbt sich über die Hose, die zu eng geworden ist. Aber er sieht trotzdem attraktiv aus.

»Ich soll dir sagen, du sollst das Kleid anziehen«, sagt er, als würde es ihm die Eier abklemmen, über Frauenkleidung zu sprechen.

Von unten erklingt die Stimme meiner Schwester. »Zieh das verdammte Kleid an, das ich dir gegeben habe!«

Joe lächelt und reicht mir ein Glas Bourbon. »Deine Schwester mit ihrem Mundwerk. Unser Kind ist jetzt schon gearscht.«

Ich merke, wie mein Lächeln breiter wird, und würde am liebsten weinen. Joe liebt meine Schwester. Sie liebt ihn. Beide lieben Mason. Liebe, Liebe, Liebe. Ich bin von ihr umgeben und bereue, dass ich so lange nicht hier war. Doch ich weiß auch, weshalb ich weggegangen bin. Die Liebe ist zwar hier, aber ich bekomme sie nicht zu fassen.

Ich trinke einen Schluck Bourbon.

»Na ja, das war zu erwarten, oder? Du hast eine Lochner geheiratet.«

Joe verdreht die Augen. Schüttelt den Kopf. »Ich weiß. Kann ich noch aussteigen?«

»Schwerlich.«

Joe seufzt. Er wirft einen Blick auf das Kleid, das an der Stange des Duschvorhangs hängt. »Na schön. Zieh einfach das Kleid an. Und dieser Typ – falls sich herausstellt, dass er ein mieser Kerl ist, trete ich ihm so gewaltig in den Arsch …«

Ich nicke. »Kapiert. Kleid. Arschtritt.«

Als er weiterspricht, verblasst mein Lächeln. »Bist du sicher, dass du schon so weit bist?«

Ich bin wegen eines Mannes heimgekehrt, wegen einer Trennung, das ist alles, was sie wissen. Mir fehlte der Mut, ihnen mehr zu erzählen. Sie sind glücklich, dass ich wieder da bin. Überglücklich. Und ich könnte es nicht ertragen, ihnen dieses Gefühl zu nehmen, indem ich ein weiteres dunkles Kapitel meines Lebens enthülle. Sie haben keine Antworten von mir verlangt, was mir verrät, dass sie mit dem Schlimmsten rechnen – und es eigentlich gar nicht wissen wollen. Vielleicht ist der Glaube daran, dass ich mich geändert habe, für sie genauso wichtig wie für mich. Vielleicht können wir von jetzt an eine normale Familie sein, weil ich nicht mehr ich bin.

Trotzdem muss es ein bisschen übertrieben wirken, dass ich in meinem begehrten Job eine Auszeit nehme, dass eine erwachsene Frau wegen einer Trennung bei der Familie ihrer Schwester einzieht. Der Trennung von einem Mann, dem sie nie begegnet sind, von dem sie nicht einmal gehört hatten. Wie ernst kann das schon gewesen sein? Rosie verströmt diese Frage permanent, das merke ich genau.

Mir fällt wieder ein, was Joe gerade gesagt hat. Bin ich schon so weit? Ich schaue ihn an und zucke mit den Schultern. »Wahrscheinlich nicht.«

»Super«, sagt er sarkastisch.

Fast das gleiche Gespräch hatten wir schon früher am Tag, in der Küche. Joe lief im Kreis, wischte die Arbeitsplatte ab, horchte auf die Geräusche der Spülmaschine und schien zufrieden, dass er alles wieder in Ordnung gebracht hatte, nachdem er von der Arbeit gekommen war. (Er ist ordentlich. Rosie nicht.) Er ist wie ein glücklicher Hamster in seinem Laufrad.

Amüsier dich einfach. Denk nicht zu viel darüber nach. Ich würde barfuß über Scherben laufen, um einen Abend für mich zu haben!

Rosie hatte seinen Arm geboxt, und er hatte theatralisch geseufzt, als sehnte er sich nach seinem Leben als Single zurück. Das taten beide gern. Rosie morgens, wenn sie mir in der Küche Kaffee macht und sich über den langen Tag beklagt, der vor ihr liegt. Joe abends, wenn wir mit unserem Bourbon allein sind. Dann schiebt er seine zotteligen schwarzen Haare nach hinten, damit ich den zurückweichenden Haaransatz sehe. Siehst du das? Ich werde vor lauter Langeweile kahl!

Doch alles, was ich sehe, ist die Wahrheit. Ich kann sie sehen, wenn sie Mason in die Arme nehmen oder sich heimlich küssen, wenn sie sich unbeobachtet fühlen. Alles andere ist nur Gerede.

So reden glückliche Menschen, wenn sie wollen, dass wir anderen uns besser fühlen.

Unser Freund Gabe war vorhin auch da und hatte gute Ratschläge beigesteuert. Als wir Kinder waren, war Gabe der Vierte im Bunde unserer Räuberbande gewesen. Er hatte mit seinen Eltern und seinem älteren Bruder gleich nebenan gewohnt, bevor der auf die Militärakademie und danach zur Armee gegangen war. Gabe wohnt jetzt in dem Haus, in dem er aufgewachsen ist. Er hat es seiner Mutter abgekauft, nachdem sein Vater gestorben und sie nach Florida gezogen war.

Seltsam, dass die drei noch hier sind. Genau dort, wo ich sie vor zehn Jahren zurückgelassen habe.

Gabe hat letztes Jahr eine Frau geheiratet, die er bei der Arbeit kennengelernt hat. Melissa. Sie war seine Klientin, aber darüber spricht er nie, weil es peinlich und unpassend ist – seine Worte. Gabe beschäftigt sich mit IT-Forensik und arbeitet gelegentlich für misstrauische Ehepartner oder Ehepartnerinnen wie Melissa. Er hatte die Beweise gefunden, die zu ihrer Scheidung führten, und jetzt ist sie mit ihm verheiratet.