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Inga Markovits

Diener
zweier Herren

DDR-Juristen zwischen
Recht und Macht

Ch. Links Verlag, Berlin

Für Daniel, Stefanie, Benjamin,
Julia und Rebecca

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der
Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Angaben
sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.

1. Auflage, Juni 2020,
entspricht der 1. Druckauflage vom Juni 2020
© Christoph Links Verlag GmbH
Prinzenstraße 85 D, 10969 Berlin, Tel.: (030) 44 02 32-0
www.christoph-links-verlag.de; mail@christoph-links-verlag.de
Umschlaggestaltung und Satz: Nadja Caspar, Ch. Links Verlag

ISBN 978-3-96289-085-8
eISBN 978-3-86284-478-4

INHALT

Dank

Vorbemerkungen

VORWORT

DIE ERSTE GESCHICHTE

Anpassung und willige Unterwerfung
unter die Parteibeschlüsse

DIE ZWEITE GESCHICHTE

Der mürrische Gehorsam von Revisionisten

DIE DRITTE GESCHICHTE

Verschleiß des politischen Glaubens
an den Sozialismus

SCHLUSSFOLGERUNGEN

ANHANG

Anmerkungen

Abkürzungen

Personenregister

Die Autorin

Dank

Dieses Buch beruht weitgehend auf Archivforschung. Archivforschung ist zeitraubend und arbeitsintensiv, vor allem, wenn die Archive in Berlin angesiedelt sind und die Benutzerin in Texas wohnt und arbeitet. Ich brauchte mehr Zeit, als ich mir eingestehen mag, und viele Flüge über den Atlantik, um das Material für dieses Buch zu sammeln. Auf beiden Seiten des Ozeans fand ich Hilfe und Unterstützung, für die ich mich bedanken möchte.

Die University of Texas Law School gab mir die Flexibilität, meine Lehrverpflichtungen meinen Reiseplänen anzupassen. Jon Pratter von der U. T. Law Library versorgte mich schnell und erfindungsreich mit allen Veröffentlichungen, die ich brauchte. Ein anregendes Semester als Fellow der American Academy in Berlin-Wannsee half bei der Ausarbeitung der Grundlinien des Buches.

Ich habe mit vielen Menschen über mein Projekt gesprochen und bin ihnen allen dankbar dafür, mir zugehört und sich auf meine Fragen eingelassen zu haben. Mein Mann (und Kollege an der University of Texas) Dick Markovits passte seinen Terminkalender, so gut es ging, meinen Archivausflügen an und ließ sich, wenn ich aus den Akten wieder in die Gegenwart zurückkehrte, geduldig über meine Entdeckungen berichten. Michael Stolleis half mit Rat und Zuspruch; Hubert Rottleuthner half mit nützlichen Informationen. Zwei ostdeutsche Kolleginnen – Tatjana Ansbach und Rosemarie Will – haben meine Arbeit immer wieder mit Einwänden, Fragen, Anregungen und Ergänzungen vorangebracht. Das Echo meiner Zuhörer hat mir dabei geholfen, aus der Masse meiner Daten ein Manuskript zu machen. Die Irrtümer und Fehler in diesem Buch sind alle meine eigenen.

Vorbemerkungen

Ein Wort zum meinem politischen Vokabular. Dies ist ein Buch einer Auslandsdeutschen über innerdeutsche Rechtsgeschichte. Das kann gelegentlich zu sprachlichen Dissonanzen zwischen mir und meinen ost- und westdeutschen Lesern führen.

Schon zu Beginn der Teilung Deutschlands begannen die beiden feindlichen Brüder damit, durch den Gebrauch bestimmter Worte und Wortschöpfungen die Gegenseite zu irritieren und zu delegitimieren. Die Formel »sogenannte DDR« in den Adenauer-Jahren bestritt die eigene Staatlichkeit der DDR. Wer die DDR »Mitteldeutschland« nannte, leugnete die Endgültigkeit der Oder-Neiße-Grenze. Westdeutsche schrieben Ost-Berlin mit einem Bindestrich, um geltend zu machen, dass es nicht mehr sei als ein Teil der Großstadt Berlin. Ostdeutsche schrieben Ostberlin und meinten damit manchmal auch »Hauptstadt der DDR«.

Auch nach der Wiedervereinigung lebte die ost-westdeutsche Zweisprachigkeit weiter; nunmehr belastet durch die Selbstgefälligkeit der Sieger, die schon immer Recht gehabt haben wollen, und die Verletzlichkeit der Verlierer, die die Authentizität ihres eigenen Lebens verteidigen. »BRD« zum Beispiel, die Abkürzung, die die SED gebrauchte, wenn sie von der Bundesrepublik sprach, ist jetzt in Ostdeutschland tabu, weil es peinlich ist, wie ein Parteifunktionär zu klingen. »Unrechtsstaat«, das Wort, mit dem westdeutsche Sprecher 40 Jahre DDR-Geschichte in einen totalitären Topf werfen, behauptet mehr, als es beweisen kann, und dient nicht der Verständigung, sondern stärkt nur das Selbstgefühl des Sprechers. Das Wort »Wende« ist ebenfalls ein umstrittener Begriff. Westdeutsche haben kein Problem damit. Aber ostdeutsche Sprecher missbilligen die Farblosigkeit des Wortes, das nicht erkennen lässt, wer die Wende in Gang brachte, und ersetzen es gerne mit dem Begriff »friedliche Revolution«. Aber auch »friedliche Revolution« ist ein Kürzel, das der Ehrenrettung des ostdeutschen Sprechers dienen soll, aber für das es eigentlich einer gründlichen Analyse bedarf, um herauszufinden, was an ihm berechtigt ist. Es gibt sicherlich noch viele andere politisch brisante Vokabeln dieser Art.

Ich habe beschlossen, in diesem Buch ost- und westdeutsche Sprachsensibilitäten zu ignorieren. Zwar werde ich mich in einem längeren Abschnitt mit dem Problem des »Unrechtsstaats« beschäftigen, weil es zu meinem Thema »Recht und Macht« gehört. Sonst werde ich mir keine Mühe geben, meinen Text ost- oder westdeutschen sprachlichen Vorlieben anzugleichen. Ich habe zwei Pässe, einen deutschen und einen amerikanischen, und nehme mir in meiner Eigenschaft als Amerikanerin das Recht, die Worte zu gebrauchen, die klar und eindeutig beschreiben, was ich meine. »Wende« zum Beispiel bedeutetet »Richtungsänderung«. Dass 1989/90 eine wichtige Richtungsänderung in Ostdeutschland stattfand, kann nicht bezweifelt werden. Das genügt mir.

Zu meiner Fußnoten-Praxis in diesem Buch. Normalerweise verlangt ein Buch, das auch den Anspruch auf Wissenschaftlichkeit erhebt, genaue Belege für alle in ihm benutzten Tatsachen und Zitate. Aber mein Buch stützt sich so wenig auf die Veröffentlichungen anderer Wissenschaftler und so sehr auf meine Entdeckungen nicht mehr zu zählender Spuren, die meine Protagonisten in den Akten hinterließen, dass die Angabe genauer Fundstellen für jede meiner Begegnungen mit ihnen mein Buch überlasten und einem Leser nicht viel helfen würde. Der größte Teil meines Materials stammt aus vier Archiven: dem Archiv der Humboldt-Universität, dem Bundesarchiv (und der ihm angegliederten Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR), dem Landesarchiv Berlin und dem Archiv der Behörde des Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen. Weil ich in meiner Arbeit nicht nach den kanonischen Ereignissen der DDR-Geschichte suchte, sondern nach individuellen Verhaltensweisen einzelner Personen, wären meine Daten, selbst bei Angabe einer Fundstelle, in oft nicht-paginierten Akten schwer zu überprüfen.

Daher beschränken sich meine Fußnoten in diesem Buch auf bereits veröffentlichte Quellen. Meine Daten aus den Akten sind dann in Anführungszeichen gesetzt, wenn sie – dem Aktenbericht zufolge – wörtlich so von jemandem gesagt oder geschrieben wurden. Alle Beschreibungen von Verhältnissen und Ereignissen und alle Zahlen beruhen auf den Berichten von Dabeigewesenen. Die Signaturen der von mir benutzten Quellen habe ich für mich selbst und für die Beantwortung etwaiger Nachfragen notiert. Im Übrigen muss ich mich auf das Vertrauen meiner Leser in die Glaubwürdigkeit meiner Forschungen verlassen.

VORWORT

Die Frage nach der Rolle von Recht und Juristen bei dem Verfall einer Demokratie scheint besonders angemessen in einem Land, das in knapp 90 Jahren den Aufstieg und Untergang von zwei (sehr verschiedenen) Diktaturen erlebte. Wie verhielten sich deutsche Juristen gegenüber der einen und der anderen machtbesessenen Partei? Kooperierten sie oder versuchten sie, Unrecht zu begrenzen? Es ist einfacher für historische Sieger, dieser Frage nachzugehen, als für Besiegte. 1947 wurde sie, zum ersten Mal mit besonderem Blick auf die beteiligten Juristen, von einem amerikanischen Militärrichter in einem Nachfolgeverfahren zum Nürnberger Prozess gestellt, in dem 16 hohe Ministerialbeamte und Richter des Dritten Reichs wegen »Verbrechen gegen die Menschlichkeit« angeklagt wurden, die sie durch Terrorurteile in den von Deutschland im Krieg besetzten Gebieten begangen hatten. Es gab vier Freisprüche und 14, zum Teil lebenslange, Freiheitsstrafen.

Aber schon bald nach der Gründung der Bundesrepublik 1949 wurden alle Verurteilten vorzeitig aus der Haft entlassen. Indem sie den Nürnberger Angeklagten ihre Straftaten vergaben, vergaben viele Überlebende der Hitler-Jahre auch sich selbst. 1951 wurde durch die Wiedereingliederung des Berufsbeamtentums fast der gesamte Staatsapparat des Dritten Reichs in den der Bundesrepublik übernommen.1 Der neue Staat brauchte vor allem Juristen: Richter, Verwaltungsleute, Juraprofessoren. Kein Nazi-Richter wurde in der BRD je wegen eines Rechtsprechungsakts verurteilt.2 Für Selbstbeschuldigungen gab es jetzt keine Zeit und Energie. Die beste Bewältigung einer verbrecherischen Vergangenheit schien in den Nachkriegsjahren das Vergessen.

Es brauchte fast 20 Jahre, bis eine neue Generation begann, zu fragen, warum Juristen so willig gewesen waren, sich dem Nazi-Regime zu unterwerfen. In den 1960er Jahren erschienen eine Reihe von Untersuchungen und Dokumentationen zur Justiz im Dritten Reich. 1968 erklärte Bernd Rüthers in seiner Habilitationsschrift Die unbegrenzte Auslegung die Anpassungsfähigkeit von Richtern und Wissenschaftlern an ein Unrechtsregime mit ihrer Fähigkeit, einen servilen Gesetzespositivismus mit der Einblendung übergesetzlicher Werte wie »Volksgemeinschaft« oder »Führerwille« zu verbinden.

Aber in den 1970er Jahren trat wieder wissenschaftliche Stille ein. Fast kein Jurist schrieb über die Justiz im Dritten Reich. Erst in den 1980er Jahren kam es zu einer wahren Flut von Veröffentlichungen, die die Unmenschlichkeit und den Rassenwahn des Nazi-Rechts bloßlegten. Das bekannteste Buch unter ihnen war Ingo Müllers Furchtbare Juristen,3 das detaillierte Schilderungen von Unrechtsentscheidungen aller Art enthält und in viele Sprachen übersetzt wurde. Es gab Bücher über die schlimmsten Gerichte des Dritten Reichs (Volksgerichtshof und Sondergerichte), über Nazi-Rechtswissenschaftler und ihre Theorien, über den Justizalltag in den Hitler-Jahren und eine Reihe empirischer Untersuchungen zur Rechtsprechung einzelner Gerichte (in Hamburg, Celle, Oldenburg oder Köln). Niemand konnte seit diesen Enthüllungen von Nazi-Rechtsmissbräuchen mehr die Mitschuld von Juristen an den Verbrechen des Dritten Reichs bestreiten. »Juristen sind zu allem fähig«, hieß es in einem Spiegel-Interview mit dem Richter des Bundesverfassungsgerichts Martin Hirsch im Mai 1981.

Als im November 1989 die zweite deutsche Diktatur zusammenbrach, gab es in der Bundesrepublik ein Muster dafür, wie Recht und Justiz der untergegangenen DDR einzuschätzen waren. Die BRD als geschichtliche Siegerin konnte alle Fragen stellen und würde mit der Verdammung des untergegangenen Unrechtssystems nicht so lange warten wie letztes Mal. Es gab viele strukturelle Ähnlichkeiten zwischen Nationalsozialismus und Sozialismus: ein Einparteienstaat, keine freien Wahlen, keine Gewaltenteilung, keine Redefreiheit, die Unterordnung des Individuums unter die »Volksgemeinschaft« oder das »Kollektiv«. Bernd Rüthers präsentierte 1992 seine These von der besonderen »Ideologieanfälligkeit« von Juristen, die eher als Angehörige anderer Berufe bereit seien, sich einem totalitären System in die Arme zu werfen.4 Wie ihre Vorgänger im Dritten Reich hatten auch DDR-Juristen die Politik ihrer Auftraggeber bereitwillig ausgeführt und durch ihre wissenschaftliche Arbeit unterstützt. Ihre Nähe zu einem Staat, der offensichtlich kein Rechtsstaat gewesen war, erweckte Zweifel an ihrer Fähigkeit, nach 1989 umzulernen.

So war es folgerichtig, dass nach der Wende keiner ostdeutschen Berufsgruppe so viel Abweisung und so viele politische Verdächtigungen widerfuhren wie den Juristen. Alle DDR-Richter und -Staatsanwälte mussten sich erneut um ihre Arbeitsstellen bewerben und ihre Eignung für das Amt in einer demokratischen Justiz nachweisen. Die meisten Juraprofessoren wurden »abgewickelt«. Alle DDR-Rechtsanwälte wurden automatisch auf mögliche Verbindungen zum Ministerium für Staatssicherheit (MfS) überprüft. Das plakative Bild vom »Unrechtsstaat«, das zumindest für Westdeutsche jahrzehntelang ausreichte, um das andere Deutschland angemessen zu beschreiben, ist auch 30 Jahre nach dem Fall der Mauer nur teilweise verblasst. Ein Versuch der rot-grünen Bundesregierung, durch Einsetzung einer Expertenkommission die deutsche »Erinnerungspolitik« in Sachen DDR in eine nuanciertere und nachdenklichere Richtung zu lenken, scheiterte 2005 am Widerstand westdeutscher Konservativer und ostdeutscher Opferverbände.5 Noch 2014 kam es in Thüringen zur Bildung einer Koalition von Linken, Grünen und SPD nur unter der Bedingung, dass alle beteiligten Parteien das Wort »Unrechtsstaat« als nützliche politische Vokabel akzeptierten.

So weit der heutige Erkenntnisstand zur Vergleichbarkeit der Rolle von Juristen im Nationalsozialismus und im Sozialismus. Mir erscheint die bisherige Sicht der Dinge plakativ und selbstgerecht. DDR und Drittes Reich waren sich nicht ähnlich genug, um unter einen analytischen Hut gebracht zu werden. Die Argumentation von Wissenschaftlern wie Bernd Rüthers (der es »leichtfertig« nennt, die Vergleichbarkeit des Unrechts im Dritten Reich und im Sozialismus zu bestreiten), beruht nicht auf Archivstudien, sondern ist am Schreibtisch entwickelt worden. Sie schließt von der Theorie auf den Alltag und vom Extremen auf das Normale. Als Law-&-Society-Historikerin verspreche ich mir mehr davon, in umgekehrter Richtung vorzugehen.

So kam ich auf den Gedanken, die Rolle von Recht und Juristen in einer Diktatur nicht durch abstrakte Systemvergleiche zu ergründen, sondern durch die genaue Beobachtung einer konkreten Gruppe von Juristen in der gemäßigten und langlebigen Diktatur der DDR, die in ihren Konfrontationen mit der Partei täglich entscheiden mussten, welchem Herrn sie dienen wollten: dem Recht oder der Macht. Wir kennen die Rechtsbrüche des Dritten Reichs vor allem aus Gerichtsurteilen und aus den Veröffentlichungen ihrer Rechtswissenschaftler. Über die DDR stehen uns heute weit mehr alltägliche und persönliche Informationen zur Verfügung, aus denen wir erfahren können, wessen Geistes Kind ihre Juristen waren. »Sie sind eine Kriegsgewinnlerin«, sagte einmal ein ostdeutscher Kollege zu mir, und er hatte recht: Der Kollaps der DDR brachte mir durch die Öffnung ihrer Archive ungeahnte Forschungschancen.

Die Gruppe, die ich mir als Labor für diese Studie ausgesucht habe, ist die Juristische Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin (HUB). Den Grund für meine Wahl und die Methode, mit der ich herausfinden möchte, wie sehr sich die HUB-Juristen der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) anpassten, beschreibe ich im nächsten Abschnitt.

Das Projekt

Als es die DDR noch gab, wussten wir im Westen nicht viel darüber, was auf der anderen Seite der Mauer täglich vor sich ging. Die SED ließ sich nicht gern in die Karten schauen, und ohne Pressefreiheit, zugängliche Statistiken, verlässliche Selbstdarstellungen und dergleichen waren wir auf Spekulationen angewiesen, was drüben los war. Jetzt, wo es die DDR nicht mehr gibt, aber alle ihre Archive offen stehen, ist sie zu einem Schlaraffenland für Historiker, Soziologen, Journalisten und andere Leute geworden, die erkunden wollen, wie es dort »eigentlich gewesen ist«. Dieselbe SED, die sich vom Westen nicht in die Karten sehen ließ, schuf ein internes Informationssystem, in dem alle Amtsinhaber in der DDR auf allen Ebenen der Macht der jeweiligen über ihnen stehenden Autorität so oft berichten mussten, was in ihrem Arbeitsbereich geschah, und ihrerseits so oft von höheren Instanzen inspiziert wurden, dass die Summe all dieser Untersuchungen, Sitzungsprotokolle, Reporte, Kritiken, Fragebögen, Korrespondenzen und Meldungen fast so etwas wie ein Tagebuch des Partei- und Regierungsalltags in der DDR abgibt. In vielen Texten beschreiben die Beteiligten ihre Arbeit mit eigenen Worten, und man hat fast das Gefühl, bei der Berichterstattung mit am Tisch zu sitzen. Alle diese Quellen waren nie dafür bestimmt, von mir und meinen Lesern eingesehen zu werden. Jetzt erlauben sie jedem mit genug Zeit und Neugier für Archivbesuche, genauere Fragen an ein untergegangenes Gesellschaftssystem zu stellen, als es sich je selbst stellte, und wahrscheinlich auch als wir in einem Land mit Amtsgeheimnissen und Datenschutz an unsere eigene Gesellschaft stellen könnten.

Zwar sind noch immer die meisten Untersuchungen, die sich heute mit der plötzlich offengelegten DDR-Geschichte beschäftigen, von unseren Erinnerungen an den Kalten Krieg und dem Wunsch geprägt, mit der Verurteilung der DDR schon immer Recht gehabt zu haben. 90 Prozent der Anträge ans Bundesarchiv, DDR-Akten einzusehen, beziehen sich auf Unterlagen der SED-Spitze (Politbüro und Zentralkomitee), wo Archivbesucher die schlimmsten Machtmissbräuche des Systems vermuten. Aber ich wollte wissen, was sich in Bodennähe der Gesellschaft zutrug. Daher die Wahl meines »Labors« für diese Studie. Eine juristische Fakultät ist ein besonders geeignetes Sample für meine Zwecke: klein und überschaubar (aber mit wechselnden Mitgliedern, deren Kommen und Gehen die Veränderungen über 40 Jahre reflektieren); eine Gruppe, die viele schriftliche Spuren hinterlassen hat, die für den SED-Staat wichtig genug war, um von der Partei intensiv angeleitet und überwacht zu werden, und artikuliert genug, um auf diese Überwachung zu reagieren; gleichzeitig ein Kollektiv mit engen menschlichen Beziehungen, die auch die persönliche Bedeutung des Sozialismus im Arbeitsleben der Akteure reflektieren.

Von den juristischen Fakultäten in der DDR war die der HUB als Hauptstadtfakultät die sichtbarste. Vielleicht auch die wichtigste: Sie bildete als einzige Fakultät des Landes die Richter und Rechtsanwälte in der DDR und einen Teil der Staatsanwälte aus. HUB-Juristen waren entscheidend an der Gesetzgebungsarbeit des Ministeriums der Justiz beteiligt. Sie berieten das DDR-Außenministerium. Sie unterstützten die DDR-Regierung und die SED in vielen Angelegenheiten, die mit Recht zu tun hatten. Die SED war ihre wichtigste Auftraggeberin.

Trotzdem misstraute die Partei nicht nur den HUB-Juristen, sondern allen Juristen im Land. Glaubenssysteme, die eine nicht anzweifelbare Wahrheit verfechten, haben oft Probleme mit Juristen. »Juristen, böse Christen«, sagte Martin Luther: weil sie zu skeptisch sind, zu streitsüchtig, zu gern ihrem »einerseits« sofort ein »andererseits« folgen lassen, zu sehr an Geld interessiert, und weil sie (Luthers spezieller Vorwurf) »Werke« höher schätzen als »Glauben«.6 Ähnliche Eigenschaften mussten Juristen in der DDR auch der Partei verdächtig machen. Die SED verlangte von ihren Untertanen Gehorsam, Linientreue, Anpassung an das Kollektiv und Glauben an die Versprechungen des Sozialismus. Das Handwerk der Juristen erfordert Skepsis, Beweise, eine eindeutige Sprache, die Verhandelbarkeit von Positionen und Kompromissbereitschaft. Kein Wunder, dass Heinrich Toeplitz, ab 1960 Präsident des Obersten Gerichts der DDR, ostdeutsche Rechtsanwälte »das schwächste Glied« in der Befehlsstruktur der DDR nannte. Es gab an der Spitze der Partei so gut wie keine Juristen, nur sehr wenige Juristen in der ostdeutschen Verwaltung und nur die nötigsten Juristen in der Justiz. 1984/85 bildeten DDR-Universitäten pro 10 000 Einwohner nur zwei Juristen aus (kaum mehr als Kunststudenten); im Vergleich zu 15 Juristen in der Bundesrepublik und 22 in so debattierfreudigen Ländern wie Italien und Frankreich.

Wie reagierten die Angehörigen meines HUB-Labors auf das Misstrauen der Partei? Wie navigierten sie die Widersprüche zwischen einem Beruf, der von Zweifeln lebt, und der Partei, die darauf bestand, immer Recht zu haben? Waren sie eher bereit, Willkür von oben fraglos durchzusetzen, oder sie durch das Bestehen auf formalen Regeln abzumildern? Erwiesen sie sich in den 40 Jahren DDR-Geschichte womöglich (wie Luther und das Misstrauen der SED gegenüber ihren eigenen Juristen nahelegen) zwar nicht als »böse«, aber als unzuverlässige Sozialisten? Oder waren sie willige Diener des »Unrechtsstaats«?

Mir stand für die Beantwortung dieser Fragen ein sagenhafter Quellenreichtum zur Verfügung. Aber weil es mir nicht um kanonische Ereignisse und bekannte Persönlichkeiten geht, sondern um etwas, das man »historische Nebensächlichkeiten« nennen muss, sind diese Quellen weniger leicht erschließbar, als wenn ich, sagen wir, über die DDR-Außenpolitik schreiben wollte. Die Kataloge oder die digitalen Suchmaschinen von Archiven helfen mir nicht weiter. Ich konnte für dieses Buch nicht, wie Rechtswissenschaftler es sonst tun, eine These aufstellen, sie durch das Studium der einschlägigen Literatur und Rechtsprechung untermauern, meine eigenen Vorschläge für die Lösung eines Rechtsproblems entwickeln und, wie auf einem geraden Weg von A nach B, auf meine Schlussfolgerungen zustreben. Stattdessen ähnelte meine Arbeit einer Suche nach Ostereiern oder Pilzen. Ich wusste nicht, was ich finden würde: eine Moralpredigt des Dekans an seine Truppe? Einen politischen Streit zwischen Kollegen? Ein Parteiverfahren gegen einen Studenten? Ich konnte auch nicht voraussagen, wo meine Fundstücke versteckt sein würden. Um den Zwiespalt meiner Protagonisten zwischen den Anforderungen ihres Berufs und den Parteibeschlüssen der SED überhaupt zu sehen und zu interpretieren, brauchte ich aufschlussreiche Kleinigkeiten: organisatorische Veränderungen, Wortwechsel, Einwendungen, Zwischenfälle. Die Möglichkeiten schienen unbegrenzt. Ich musste mich, wie beim Pilzesuchen, auf meine Nase, meinen Instinkt und meine Vorkenntnisse des Terrains der DDR-Rechtsgeschichte verlassen. Bei meiner Arbeit konnte ich nicht auf die Hilfe eines Assistenten zurückgreifen, weil ihm nicht aufgefallen wäre, was mir auffiel. Ich wusste ja selbst nicht immer, wonach ich suchte. Aber ich wusste immer, ob ich es gefunden hatte oder nicht.

Die meisten Aufsätze und Bücher meiner Protagonisten waren nicht sehr hilfreich, weil in der juristischen Literatur der DDR zensiert und auch gelogen wurde. Auch die noch lebenden ehemaligen Mitglieder der Juristischen Fakultät der HUB konnte ich nur mit Vorsicht befragen, weil 30 Jahre nach dem Fall der Mauer ihre Erinnerungen durch die vielen Veränderungen in ihrem Leben wie durch Prismen so oft gebrochen sind, dass sie sich nicht mehr zuverlässig beschreiben lassen. Ich suchte nach den Reaktionen der HUB-Juristen auf ihre Alltagskonfrontationen mit der Macht und nach den Strategien, mit denen sie sich an die Macht anpassten, ihr auswichen, sich ihr vielleicht widersetzten, um so mit sich selbst im Reinen zu bleiben. Im Laufe der DDR-Geschichte gab es viele Ereignisse an der Humboldt-Universität, auf die meine Protagonisten reagieren mussten: drei Hochschulreformen; das Kommen und Gehen an ihrer Fakultät; Änderungen der Lehrpläne und der Reaktionen ihrer Studenten; politische Krisen wie den 17. Juni 1953, das Tauwetter nach Stalins Tod, den Mauerbau, der »Prager Frühling«; die Biermann-Ausbürgerung 1976 und fakultätsinterne Skandale aller Art. Diese Ereignisse benutzte ich als Lackmus-Tests, mit deren Hilfe ich die zwiespältige Position von Juristen in der Zwickmühle zwischen Recht und Macht untersuchen konnte.

So hatte sich am Ende meiner Archivarbeit auf meinem Schreibtisch ein Riesenhaufen von Puzzleteilen angesammelt, die ich nun zu einem sinnvollen Bild zusammensetzen sollte. Wie setzt man ein gigantisches Puzzle zusammen? Man starrt die Teile an und hofft, Gemeinsamkeiten zu entdecken. Man sortiert sie nach Farbe, Material, Alter und Provenienz, um zu sehen, was zusammenpasst. Man hält die Teile aneinander – mal so, mal so –, um wie ein Archäologe aus ein paar Scherben zu erraten, wie die Wölbung eines Ölkrugs verlaufen sein mag. Aber bei gründlicher Betrachtung erwiesen sich meine Fundstücke als so widersprüchlich, dass es unmöglich schien, aus ihnen ein in sich geschlossenes Bild zusammenzusetzen. Ich hätte jede Behauptung in diesem Buch sofort durch Gegenbeispiele qualifizieren müssen – so war es, aber so war es auch wieder nicht. »Was meint sie denn nun eigentlich?«, hätten irritierte Leser gefragt. Das Problem liegt nicht darin, dass ich mit fragwürdigem Material arbeitete. Im Gegenteil: Meine Archivfundstücke sind authentischer als abstrakte Schreibtischspekulationen über das Geschehene. Geschichte ist immer dreidimensional. Zu geradlinige Storylines lassen oft wichtige Abweichungen aus.

Daher mein Entschluss, das Material nicht zu einem Bild, sondern – in Rashomon-Manier – zu drei Bildern zusammenzusetzen. Ich will um die Geschichte der Juristischen Fakultät der Humboldt-Universität wie um eine Litfaßsäule herumgehen und die Erfahrungen meiner Protagonisten in den 40 Jahren der DDR aus drei verschiedenen Perspektiven beschreiben. Jede Geschichte beginnt mit demselben banalen Anfangssatz, jede folgt demselben Kalender der DDR-Geschichte, und jede endet mit ihrem Untergang. Aber ich benutze unterschiedliche Details für meine drei Geschichten, die ich nach der jeweiligen Perspektive ausgewählt habe, aus der sie die Erfahrungen der Fakultät beleuchten.

Die erste Geschichte ist die Geschichte der willigen und fraglosen Unterwerfung der HUB-Juristen unter die SED. »Natürlich. So war es«, werden die meisten Leser bei der Lektüre denken. Die zweite Geschichte verfolgt den mürrischen juristischen Eigensinn meiner Protagonisten und ihre Techniken, Parteibeschlüsse durch Weghören, Missverständnisse und dergleichen zu unterwandern und ihren eigenen Interessen zu folgen. Sie wird manche Leser verunsichern: »War es wirklich so?« Die dritte Geschichte beschreibt (jedenfalls was meine Juristen anbetrifft) den Verschleiß ihres politischen Glaubens und soll uns an der gängigen These von der »Ideologieanfälligkeit« von Juristen zweifeln lassen. Eine Vorwarnung: Manchmal benutze ich dasselbe Ereignis als Material für zwei Geschichten. »Davon hat sie doch schon einmal erzählt«, mag eine aufmerksame Leserin dann denken. Das stimmt. Aber ich will dasselbe Ereignis für meine Zwecke zweimal nutzen, um zu zeigen, dass man – je nach Perspektive – denselben Sachverhalt unterschiedlich sehen kann. Ich möchte meine Leser nicht nur informieren, sondern auch Zweifel in ihnen wecken: Ist das, was wir über Geschichte zu wissen glauben, die Widerspiegelung einer Realität oder das Produkt unserer eigenen Vorurteile?

Am Ende dieses Buches werde ich aus den drei Geschichten Schlussfolgerungen für die Rolle der HUB-Juristen in der SED-Diktatur ziehen und, darüber hinaus, über den Einfluss von Recht und Juristen einer so viel brutaleren Diktatur wie der des Dritten Reichs spekulieren.

DIE ERSTE GESCHICHTE

Anpassung und willige Unterwerfung unter die Parteibeschlüsse

Es war dem Druck und der Unterstützung der sowjetischen Besatzungsmacht geschuldet, dass die alte Berliner Friedrich-Wilhelms-Universität schon am 20. Januar 1946 (ein Dreivierteljahr nach dem Zusammenbruch und knapp drei Monate vor der Neugründung der Technischen Universität im englischen Sektor der Stadt) ihren Vorlesungsbetrieb wieder aufnehmen konnte. Allerdings wurde der Name »Friedrich Wilhelm« jetzt nicht mehr gebraucht. Die Universität Berlin wurde neu eröffnet. Zur Humboldt-Universität wurde sie erst 1948, nach dem Ausmarsch regimekritischer Studenten und der Gründung der neuen Freien Universität (FU) unter den Baumkronen Dahlems.

Berlin-Mitte lag in Trümmern. Mehr als die Hälfte des Universitätsgebäudes Unter den Linden war zerstört. Aber Universitäten waren wichtig, wenn die Besatzer den Nationalsozialismus aus den Köpfen der Besiegten vertreiben und eine neue Generation von Sozialisten heranziehen wollten. Die Berliner Universität war wegen des Viermächtestatus der Stadt besonders eng mit der Besatzungsmacht verknüpft: Sie unterstand unmittelbar der Deutschen Zentralverwaltung für Volksbildung und damit der Sowjetischen Militäradministration in Deutschland (SMAD). Am 8. Januar 1946 wurde die Zentralverwaltung durch den SMAD-Befehl Nr. 4 angewiesen, den Unterricht an der Berliner Universität in acht Fächern (darunter Jura und, ja, auch Theologie) wieder aufzunehmen. Die Vorlesungen begannen zwölf Tage später. Der Festakt zur Eröffnung fand am 29. Januar im Admiralspalast an der Friedrichstraße statt; auch die Staatsoper, sonst Ausweichquartier für die Universität, war zu zerstört. General Professor Pjotr Wassiljewitsch Solotuchin überbrachte die Glückwünsche der Sowjetunion.7

Wie beginnt man auf den Trümmern eines verbrecherischen Staates mit dem Aufbau einer besseren Gesellschaft? Die Russen hatten, angesichts Lenins Frage »Wer – wen?«, schon früh für einen Statthalter gesorgt, der die Umformung ihres Teils von Deutschland in ihrem Sinne organisieren und kontrollieren sollte. Noch vor der Kapitulation, Ende April 1945, war die »Gruppe Ulbricht« aus dem Moskauer Exil nach Deutschland geflogen worden, um mit der Arbeit anzufangen. Wie Wolfgang Leonhard, einer der mitreisenden Genossen, Jahre später berichtete, fiel in diesem Zusammenhang auch der viel zitierte Satz von Walter Ulbricht: »Es muß demokratisch aussehen, aber wir müssen alles in der Hand haben.«8 »Wir« stand für die Kommunistische Partei, die das Land regieren würde. Sie konsolidierte sich sehr schnell. Am 2. Juni 1945 forderte der SMAD-Befehl Nr. 2 zur Bildung »antifaschistisch-demokratischer Parteien« auf; schon am Tag danach wurde als erste Partei die KPD gegründet. SPD, CDU und die Liberal-Demokratische Partei Deutschlands folgten bald. Knapp vier Monate später, am 20. September 1945, als die Berliner Universität noch gar nicht offiziell aus den Ruinen auferstanden war, fand sich die erste Betriebsgruppe der KPD in der Charité zusammen. Im Dezember 1946 gab es eine zentrale Betriebsgruppe der (nunmehr) Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) an der Universität, der nicht nur Studenten, sondern auch Schüler angehörten.

Aber es sollte noch einige Jahre dauern, bis die Partei die Berliner Universität wirklich in der Hand hatte. In dem zerstörten, hungrigen und demoralisierten Land gab es dringlichere Probleme als die Wissenschaft. Vor allem musste die KPD, mit Hilfe der Russen, ihre eigene Position sichern und ausbauen: durch die Schaffung des »antifaschistisch-demokratischen Blocks« schon im Sommer 1945 (der die anderen neu gegründeten Parteien unter der Regie der KPD zusammenbrachte und damit als Konkurrenz ausschaltete); durch den »Vereinigungsparteitag« im April 1946 (auf dem sich die KPD, noch mit der Zustimmung vieler Sozialdemokraten, die SPD einverleibte und so zur SED wurde); und durch die Besetzung möglichst vieler Schaltstellen der Macht in ihrer Zone mit SED-Funktionären. Was auf den unteren Ebenen der Gesellschaft geschah, war noch nicht so wichtig. Im Juni 1947 zum Beispiel beklagen sich die Genossen an der Universität, dass sich die Berliner Kreisleitung bis jetzt »nicht um die Studenten gekümmert« habe. Noch ein Jahr später moniert das Zentralsekretariat der SED, »daß keine systematische Anleitung der Hochschulbetriebsgruppen durch die Kreis- und Landesleitung der Partei erfolgt«.

Bei allem, was in der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) geschah, hatten die Russen ohnehin das Sagen. Für die ostdeutschen Universitäten verfolgten sie vor allem zwei Ziele: die gründliche Entnazifizierung des Universitätsbetriebs und aller an ihm Beteiligten und die Brechung des bürgerlichen Bildungsprivilegs. Das zweite Ziel war leichter durchzusetzen als das erste: Es ging um die Zukunft, ein noch unbeschriebenes Blatt. Im Januar 1947 richtete die Deutsche Zentralverwaltung für Volksbildung im sowjetischen Auftrag Vorstudienanstalten ein, in denen junge Leute mit mindestens Volksschulabschluss in zwei oder drei Semestern auf ein Hochschulstudium vorbereitet wurden. Im Oktober 1949 wurde die Berliner Vorstudienanstalt als Arbeiter-und-Bauern-Fakultät in die Humboldt-Universität eingegliedert. Sicherlich hat es bürgerliche Zweifler an dieser antielitären Zulassungspolitik gegeben, aber ich bin ihnen in den Akten nicht begegnet. Parteimanipulationen mit dem Begriff Arbeiter- oder Bauernkind scheinen gelegentlich durch. Im Dezember 1947 kritisierte das Zentralsekretariat der SED die »sektiererische Einstellung vieler Genossen zur Intelligenz« und zu wenige Zulassungen aus Kreisen der »fortschrittlichen Intelligenz«. Aber dass in einer besseren Zukunft auch junge Leute studieren sollten, die früher von einem Studium nicht einmal träumen und es noch weniger bezahlen konnten, schien nach dem Zusammenbruch von 1945 vielen Menschen einzuleuchten. Im Studienjahr 1946/47 waren rund 12 Prozent der 358 Jurastudenten an der Berliner Universität Arbeiter- oder Bauernkinder; ein Jahr später waren es bei nunmehr 495 Studenten schon 21 Prozent. Auch die Entnazifizierung ließ sich bei jungen Leuten besser durchsetzen als bei den alten. Man brauchte nur die Zulassungsbedingungen zu entnazifizieren. Angehörige der NSDAP und ihrer Unterorganisationen waren vom Studium ausgeschlossen. Bei HJ- und BDM-Mitgliedern konnten Ausnahmen für Bewerber gemacht werden, die keine Ämter bekleidet hatten. Wenn einmal ein Studienanfänger durch die Maschen schlüpfte, war es nicht schlimm.

Das war bei den Universitätslehrern anders. Besonders was Juraprofessoren anbelangte, war die Lage kritisch. Weil sie im Dritten Reich Hitler williger gedient hatten als die Kollegen an manch anderen Fakultäten, war es schwierig, politisch unbelastete Juraprofessoren aufzutreiben. Schon im Juli 1945 hatte man sich an der Friedrich-Wilhelms-Universität Gedanken darüber gemacht, wie nach der Katastrophe des Zusammenbruchs ein mehr oder weniger normaler Unterricht wieder aufzubauen sei. Wer von den Berliner Professoren lebte noch in Berlin? Wusste man, wo? Wer stand zur Verfügung? Das Rektorat beauftragte die verschiedenen Fakultäten, Maximal- und Minimallisten der Vorlesungen aufzustellen, die sie mit den noch vorhandenen Lehrern besetzen könnten. Die Juristische Fakultät hatte unter anderem Justus Hedemann für Familienrecht und Carl Schmitt für Völkerrecht und Verwaltungsrecht anzubieten.

Im Dezember 1945 befahlen die Sowjets Rektor Johannes Stroux, präzise Listen aller Professoren und ihrer politischen Verbindungen vorzulegen. Die Forderung machte den Plänen der Jurafakultät ein jähes Ende. Fast jeder Professor war in der NSDAP gewesen. Wer nicht in der NSDAP war, war im Rechtswahrerbund. Wer nicht im Rechtswahrerbund war, war in der SA. Nur zwei Juristen blieben übrig, deren Vergangenheit politisch unbefleckt genug war, dass man ihnen die Erziehung künftiger Richter und Rechtsanwälte in der SBZ anvertrauen konnte: Eduard Kohlrausch, ein bekannter Strafrechtler, der 1933 wegen Zusammenstößen mit SA-Rabauken an der Universität vom Amt als Rektor der Friedrich-Wilhelms-Universität zurückgetreten war, und Hans Peters, Verwaltungsrechtler, Katholik, im Krieg Offizier beim Luftwaffenführungsstab in Berlin und Mitglied des Kreisauer Kreises. Hermann Dersch, Arbeits- und Sozialversicherungsrechtler, der unter den Nazis seine Berliner Professur wegen seiner jüdischen Großmutter verloren hatte, kam als dritter Ehemaliger dazu.

Nun sollte die auferstandene Restfakultät rund 350 Jurastudenten unterrichten. Eduard Kohlrausch wurde ihr Dekan. »Mit uns drei Männern«, so Kohlrausch, war »ein auch nur halbwegs ordnungsgemäßer Lehrbetrieb völlig ausgeschlossen.«9 Im Sommer 1946 gab es zwar schon ein Zimmer für die Juristen (das sie mit den Theologen teilen mussten), auch einen (unzuverlässigen) Telefonanschluss. Aber die Rekrutierung neuer Professoren war das Hauptproblem. Traditionelle Berufungskriterien mussten jetzt flexibel werden. Es ging auch ohne Habilitation. Gelegentlich gelang es, anerkannte akademische Größen herbeizulocken, wie den Rechtshistoriker Heinrich Mitteis, der für kurze Zeit aus Rostock kam. Arthur Kanger, eigentlich Pharmakologe, kam als Kriminalist an die Berliner Fakultät. Eine Reihe der neuen Juraprofessoren kamen aus Karrieren, für deren Abbruch der Nationalsozialismus verantwortlich war: zum Beispiel Günter Brandt, der 1933 als »Mischling ersten Grades« sein Amt als Richter am Landgericht Berlin verloren und sich im Krieg als Repetitor durchgeschlagen hatte; oder Wilhelm Wengler, Völkerrechtler, der im Dritten Reich nur knapp der politischen Verfolgung entgangen war. Für die meisten Vorlesungen mussten noch jahrelang Lehrbeauftragte angeheuert werden, die aus allen Ecken der Rechtswissenschaft (und nicht nur der Rechtswissenschaft) kamen: Harald Poelchau zum Beispiel, der im Dritten Reich Gefängnispfarrer in Moabit gewesen war und jetzt »Kriminologie und Gefängniskunde« unterrichtete; Rechtsanwalt Götz Berger (der später als Verteidiger von Robert Havemann in Schwierigkeiten mit dem System geriet); der brandenburgische Ministerpräsident Karl Steinhoff (1952 als Innenminister von Ulbricht ausgebootet) oder die Leiterin der Personalabteilung der Deutschen Justizverwaltung, Hilde Benjamin. Walter Neye, ehemaliger Rechtsanwalt und Repetitor mit etwas undurchsichtigem politischen Lebenslauf, wurde 1947 als Lehrbeauftragter angeheuert, aber zum Professor befördert, als ein Ruf nach Rostock ihn den Berlinern wegzulocken drohte.10

Musste der Unterricht der neuen Zeit angepasst werden? Im Sommer 1946 gelang es Dekan Kohlrausch noch, mit der SMAD einen Vorlesungsplan für seine Jurastudenten auszuhandeln, der vom Sozialismus völlig unberührt war. In den ersten Jahren schien es den Sowjets nicht vor allem um Ideologie, sondern darum zu gehen, einen funktionierenden Universitätsbetrieb aufzubauen. 1947 wurde mit der Neuen Justiz (NJ) die erste juristische Zeitschrift in der SBZ ins Leben gerufen, auf deren Seiten die Teilung Deutschlands noch nicht festgeschrieben schien. In den ersten zwei Jahren waren in der »Bücherschau« der NJ fast ausschließlich westdeutsche Neuerscheinungen zu finden (auch weil es in der SBZ kaum neue Bücher gab), und viele Artikel kamen von Autoren, die bald in den Westen übersiedeln würden.

Auch Dekan Kohlrauschs Zeit an der Berliner Universität war nur kurz bemessen. Er scheiterte nicht an politischen Hindernissen, die ihm in den Weg gelegt wurden, sondern an seiner eigenen Vergangenheit. Am 18. Februar 1947 erschien in der West-Berliner Zeitung Telegraf ein Artikel mit der Überschrift »Fehl am Platze« über einen Kohlrausch-Aufsatz aus dem Jahre 1938, der einen Beschluss des Reichsgerichts zu Hitlers unsäglichem Gesetz zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre von 1935 kritisierte. Das »Blutschutzgesetz« verbot Ehen zwischen Juden und Nichtjuden und stellte Geschlechtsbeziehungen zwischen ihnen unter Strafe. Der Große Strafsenat des Reichsgerichts hatte diese Bestimmungen auch extraterritorial auf ein Paar angewandt, das in die Schweiz gefahren war, um dem Verbot zu entgehen. Kohlrausch hielt diese Entscheidung für falsch: nicht nur, weil das Reichsgericht die Ausweitung des Anwendungsbereiches des Gesetzes nicht begründet habe, sondern auch, weil denkbare juristische Begründungen (die der Autor eine nach der anderen durchgeht und widerlegt) in Widerspruch zu seinem Wortlaut stünden. War dies nicht ein Aufsatz, der ein widerwärtiges Nazi-Gesetz durch clevere Argumente zu unterlaufen versuchte? Nein, so einfach lagen die Dinge nicht. Kohlrauschs Besprechung klingt danach, als hielte er eine Änderung des Gesetzestextes de lege ferenda für durchaus wünschenswert, um ausländische Umgehungen zu verhindern; er schlägt eine metajuristische Interpretation der »Rassenschande« als »Landesverrat« vor (man weiß nicht, wie ernsthaft), mit der die sonst im Strafrecht unzulässige Analogie zu unterwandern sei, und er schreibt seinen Aufsatz in einer Sprache, die ein unmenschliches und widerwärtiges Gesetz so nüchtern und anteilnahmslos behandelt, als ob es um die Begrenzung der Anzahl von Stockwerken im Baurecht gehe.

Die Sprache ist eigentlich das Schlimmste. Ich suche nach einem Foto von Kohlrausch im Internet, um Aufschluss über den Mann zu finden, der diesen Aufsatz schrieb: ein schmallippiges, diszipliniertes, aristokratisches Gesicht. Es hilft mir nicht weiter. Kohlrauschs Berliner Zeitgenossen sind verunsichert und empört. Dekan Kohlrausch wird für das Wintersemester 1947/48 beurlaubt; Hans Peters übernimmt das Dekanat; ein Untersuchungsausschuss, dem auch drei westdeutsche Professoren angehören, soll der Affäre auf den Grund gehen. Aus aller Welt kommen Unterstützungsschreiben für den Beschuldigten: von jüdischen Kollegen, denen Kohlrausch im Dritten Reich geholfen hatte; von Gustav Radbruch aus Heidelberg; von der Mutter des im KZ ermordeten Rechtsanwalts Hans Litten, für den sich Kohlrausch beim Präsidenten des Volksgerichtshofs Roland Freisler einsetzte. Dekan Peters muss »jeden Tag zwei Stunden darauf verwenden, die Angelegenheit in Ordnung zu bringen«. Aber eine »eindeutige Erklärung«, vom Untersuchungsausschuss vorgeschlagen, will Kohlrausch nicht unterschreiben. Er ist bereit, seinen »Blutschutz«-Aufsatz zu bedauern, aber nicht, sich für ihn zu entschuldigen. So bleibt die Untersuchungsarbeit stecken, und Eduard Kohlrausch stirbt im Zorn am 22. Januar 1948, bevor es zu einer Entscheidung kommt.

Sein Nachfolger Hans Peters ist Verwaltungsrechtler: ein tatkräftiger, praktischer und unerschrockener Mann. Seine Studenten mögen ihn; er ist anschaulich und zugänglich. Peters scheint ein guter Alltagsmanager für seine Fakultät zu sein: Er beantragt die Erhöhung des Stromkontingents; sorgt für die gerechte Verteilung eines CARE-Pakets unter den Kollegen; versucht, die Bibliothek mit Bücherkäufen aus den Nachlässen von Berliner Rechtsanwälten aufzubessern. Zwar wird die Atmosphäre an der Universität zunehmend politischer, aber noch reichen die Parteibeschlüsse nicht bis in alle Ecken des Wissenschaftsbetriebs hinein. Im Sommer 1947 diskutiert die Juristische Fakultät darüber, ob »angesichts der grundlegenden Änderungen die Aufstellung eines völlig neuen Lehrplans« nötig sei. Man kommt zu dem Beschluss, dass radikale Neuerungen »im kommenden Semester noch nicht durchführbar« sind.

Hans Peters selbst, Vertreter der CDU im Berliner Abgeordnetenhaus und ein toleranter Mann, ist auch entspannt im Umgang mit Vertretern anderer politischer Überzeugungen. Für eine Weile ist sein Assistent Peter Alfons Steiniger (SED), Staats- und Völkerrechtler, der als Halbjude und tschechoslowakischer Staatsbürger das Dritte Reich auf abenteuerliche Weise überlebte und sich 1947 an der Berliner Universität mit einer Arbeit über »Das Blocksystem« habilitiert. Peters schreibt über ihn im September an Heinrich Mitteis: Die Arbeit sei »niveaumäßig gut«, aber sie »weicht in ihrer Grundauffassung sehr stark von Ihnen und mir ab. Es wird uns wahrscheinlich nichts anderes übrigbleiben, als ihn zum Professor zu berufen.« Bei den Juristen gibt es 13 unbesetzte Professuren, und Steiniger erhält schon im November 1947 einen vollen Lehrauftrag. Dekan Peters geht es um den guten Ruf und das Wohlergehen seiner Fakultät. Er verteidigt sie, wo er kann, gegen die »völlig ungerechtfertigten Anfeindungen aus Süd- und Westdeutschland«. Die Studenten, die im Frühjahr 1948 im Protest gegen den SED-Einfluss an der Berliner Universität zur Gründung einer »Freien Universität« in West-Berlin aufrufen, sieht er als Defätisten: »Wie eine Kampfuniversität, die den unergiebigen Auftrag hat, eine andere in derselben Stadt zu zerstören, politisch wirklich frei sein kann, ist das Geheimnis der Verteidiger dieses Gedankens.«11

So bemüht sich der Dekan, wie sein Vorgänger Kohlrausch, vor allem um die Rekrutierung neuer Juraprofessoren. Seine in alle Welt verschickten Einladungen stoßen fast immer auf Absagen. Leo Rosenberg und Rudolf Smend haben kein Interesse. Der Strafrechtler Richard Lange sagt aus »zwingenden Gründen des Gewissens und der wissenschaftlichen Überzeugung« ab. Robert Goldschmidt »verhandelt mit der sogenannten Freien Universität«. Werner Löffler »sieht keine weitere Entwicklung seiner akademischen Laufbahn« in Berlin. Kandidaten, die sich zu einem Gastsemester in Berlin überreden lassen, kommen für ein paar Monate, sehen sich um und fahren wieder nach Hause. Erich Genzmer stellt allerlei Bedingungen für sein Kommen (u. a. als »eine Art von Rückversicherung« eine Rechtsberaterstellung bei den Amerikanern zu erhalten) und bleibt dann doch in Hamburg. Ludwig Raiser bemängelt die Bibliotheksbedingungen in Berlin und kehrt nach Göttingen zurück.

Auch unter Hans Peters’ Regie ist die Fakultät immer noch